"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
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ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Während seine Geschwulst wächst und ihm von der Seite auf den Hals drückt,<br />
ziehen die Verunglimpften, Denunzierten, die Verurteilten und in Lagern<br />
Weggesperrten vor seinem inneren Auge vorbei. Er wird vorgeführt. Er rechtfertigt<br />
innerlich, dass er den Mann anzeigen müssen, weil er ihm im Wege stand, die Frau,<br />
weil sie schwätzte, diese hatte ihm aber die Tochter anvertraut, weil sie glaubte, er<br />
sei gut, er aber diese dann auch anzeigte – weswegen kann er sich nicht mehr<br />
erinnern. Und nun ist sie halt tot, weil sie sich vor Angst umgebracht hat. So ist er<br />
nach dem fast erfolglosen Bemühen auf der Krebsstation Privilegien zu erhalten,<br />
beschäftigt mit seinem inneren Kaleidoskop. Seine Geschwulst wächst. Er soll vor<br />
das neue Gericht kommen, von dem er niemandem mehr kennt, denn die Zeiten<br />
sich, Russland säubert gerade einmal wieder seine Kader und seine ihm Gunst<br />
gewährenden Gönner werden abgesetzt, während er sich auf der Krebsstation<br />
befindet.<br />
Rusanow ist bedrückt, er sehnt seine nicht an Zweifeln leidende potente Ehefrau,<br />
seine viel versprechende, heitere und zuversichtliche Tochter herbei, die ihren Weg<br />
als zukünftige Schriftstellerin machen wird. Die starken Frauen sollen ihm die<br />
Hoffnung geben, dass „alles, alles <strong>aus</strong>gezeichnet“ wird und er sich „gar keine<br />
Sorgen“ machen muß, er „um die Gesundheit“ kämpfen soll. (252) Alle Grübeleien<br />
führen zu keiner Einkehr, dass er Unrecht getan hat. Psychoanalytiker würden<br />
sagen, die Abwehr und Verdrängung bleibt intakt.<br />
Ich will hier nicht anfangen, über ähnliche Strukturen in der DDR nachzudenken,<br />
auch wenn sich das aufdrängt, da es um den gesellschaftspolitischen Anspruch der<br />
Gleichheit in einem Arbeiter- und Bauernstaat ging. Ich möchte lieber die Brücke zum<br />
nationalsozialistischen Regime schlagen, da ich Tochter von Eltern bin, die in der<br />
ersten Zwanzigerhälfte des letzten Jahrhunderts geboren, ihre Jugend- und jungen<br />
Erwachsenenjahre in der Zeit des Nationalsozialismus verbrachten. Mein Vater<br />
wurde im April 1942 mit 19 Jahren eingezogen und kämpfte im Mittelabschnitt der<br />
Ostfront 246. Infanterie-Division. Nach der Vernichtung der 246. Infanterie-Division<br />
im Juni 1944 bei Witebsk kam er in ein Strafbataillon, das die Bahn von Witebsk<br />
nach Dünaburg baute. Innerhalb von 8 Wochen waren im Sept. 1944 von 1.200<br />
Strafgefangenen noch 300 am Leben, die anderen verhungert oder totgeschlagen. Er<br />
wird krank infolge einer Vergiftung mit Mutterkorn, fast blind, gelähmt, eine russischjüdische<br />
Ärztin behandelt ihn, wiederholte Bluttransfusionen, russische<br />
Krankenschwestern halten ihn mit am Leben. Er kommt auf einen der ersten<br />
Rücktransporte. Mit unter einem Zentner, Hungerödemen, Wasserbauch ist er<br />
Anfang September 1945 zurückgekehrt, er wurde fast nicht erkannt in seinem Dorf.<br />
Wir haben uns nie jemals über seine Kriegserlebnisse, die Kämpfe, das Grauen<br />
wirklich unterhalten können. Er war nur Opfer in seiner Wahrnehmung, und nur das<br />
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