"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Das hat unsere Werteskala <strong>aus</strong>gemacht und es prägt mich bis heute: soziale<br />
Gerechtigkeit, gleiche Menschenwürde, für Schwächere sich zumindest einsetzen,<br />
auf ein soziales Gefüge achten, so dass nicht die niedersten Instinkte in uns<br />
durchbrechen. Carola Stern, die große politische Journalistin hat es so formuliert,<br />
dass „wir nach menschlichen Verhältnissen streben (müssen), die die Menschen<br />
nicht in Versuchung bringen, sich gegen andere Menschen schäbig zu benehmen.“ 9<br />
Wirtschaftlich ging es in den 70er Jahren in der Bundesrepublik aufwärts. Durch<br />
Wachstum, Umverteilungen, Schuldenmachen war dieser Gleichheitsansatz – auch<br />
wenn wir nicht alle gleich waren, aber die Chancen sollten verbessert werden –<br />
leichter finanzierbar. Ist heute alles ganz anders? „Das ist ein weites Feld“ wie<br />
Fontane sagt, nicht alles, aber vieles. Ich lasse das so stehen, wir können nachher<br />
darüber weiterreden.<br />
Solschenizyn ist aber für meines Erachtens hoch anzurechnen, dass er Rusanow<br />
nicht blind und platt verunglimpft, er b e s c h r e i b t ihn und seine Mischpoke,<br />
deren Denke, das ständige Ringen um Privilegien, seine Nicht-Einsichtigkeit, auch<br />
seine wiederholten Gedanken, wen er vom Krankenh<strong>aus</strong>personal, von seinen<br />
Mitpatienten wie wo <strong>aus</strong>liefern kann, um sich wieder in das System gut einzutakten,<br />
einfach sehr präzise. Es bleibt uns überlassen, wo wir uns in Anteilen wieder<br />
erkennen. Neben diesen eher psychologisierenden und individualisierenden Blick auf<br />
die Rusanows will ich Heinrich Bölls gesellschaftlichen Blick benennen. Böll nimmt<br />
folgende Einordnung der Rusanows vor: „Auch den heftigsten Befürwortern einer<br />
‚besseren Zukunft sollte es nicht schwer fallen, zu erkennen, dass nicht die<br />
Schriftsteller, sondern die ‚Rusanows’ die Krebsgeschwulste der Gesellschaft sind.<br />
Eine solche Erkenntnis könnte den sozialistischen Realismus nur befreien und seine<br />
Literatur so ‚konkurrenzfähig’ wie es Solschenizyns Roman ist.“ 10<br />
2. Oleg Kostoglotow oder der Wille ein selbst bestimmtes Leben zu führen<br />
Die Aufnahmesituation von Oleg Kostoglotow gestaltete sich so, dass er<br />
heruntergekommen und völlig durchnässt sich auf den desinfizierten Teil des<br />
Vestibüls hinlegte. Auf die Frage: „Wer sind Sie, sagte er „Ein M E N S C H.’“ (60)<br />
Alles hatte er probiert, billige Hotels, überall war er herumgelaufen. Sein Körper<br />
schmerzte, er kroch auf allen Vieren, konnte sich kaum hochziehen, geschweige<br />
denn als er endlich stand, seinen Sack mit den wenigen Habseligkeiten<br />
hochnehmen. Am nächsten Morgen wird er auf dem Treppenabsatz untergebracht.<br />
Das sind die Verhältnisse 1955 – langsam arbeitet man sich hoch, in die Säle, in die<br />
Betten.<br />
9 Stern, Carola: Doppelleben. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 137. Das Zitat geht im Original so<br />
weiter: „(…) Das gilt auf andere Weise als zur Zeit des Kalten Krieges auch für unsere Gegenwart.“<br />
10 Solschenizyn, Alexander: Krebsstation. Reinbek b. Hamburg 1968, Taschenbuch 1971/ 1993, Vorwort, S. 7.<br />
11