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"Krebsstation" aus psychologischer Sicht

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ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />

Gefühle über dieses Grauen lassen zu können, außer vermutlich in sich selbst<br />

wegzuschließen, mit dieser Generation und ihren nach dem Kriege gegründeten<br />

Familien etwas gemacht.<br />

Nach der akribischen Forschung der letzten zwei Jahrzehnte belegen viele<br />

Dokumente, insbesondere Feldpostbriefe, „dass es vielfach ‚ganz gewöhnliche<br />

Deutsche’ gewesen waren, die ohne Zwang am Völkermord teilnahmen, den sie<br />

offensichtlich für richtig hielten; es waren Angehörige der Wehrmacht oder von<br />

Polizeibataillonen, die keineswegs als besonders fanatische Nazis galten. Wie aber<br />

lässt sich erklären, was uns heute unfassbar erscheint, dass ‚normale Deutsche’<br />

hilflose Menschen misshandelten und töteten, auch ohne gezwungen zu sein, oder<br />

dass Ärzte, die der Fürsorge für Kranke und Hilfslose durch Eid verpflichtet sind,<br />

Menschen als Versuchsobjekte missbrauchten und umbrachten? Was für eine<br />

falsche Moral oder verinnerlichte Ideologie brachte sie dazu? 8 “ Aber die meisten<br />

Menschen verdrängten, spalteten ab, wollten darüber nicht reden, warum sie<br />

mitgemacht haben. Jeder hatte für sich seine Rechtfertigungen und war zu kurz<br />

gekommen.<br />

Für mich ist es ein ähnlicher Mechanismus, der Rusanow zu seinem<br />

Denunziantentum und seinen Vorteilsnahmen getrieben hat. Es gibt Vorteile und<br />

gesellschaftliche Positionen, Hierarchien zu verteilen. Wir wollen nicht völlig gleich<br />

sein, wir wollen es gut haben, unsere Verwandten oder Freunde sollen es gut haben,<br />

vielleicht auch noch der Nachbar oder eben auch gerade nicht. Kultur und Religion,<br />

gesellschaftliche Ideologien zähmen und überformen unsere menschliche Natur, so<br />

dass wir meistens zivilisiert leben. Davon scheint aber regelhaft in immer neuen<br />

Kreisläufen an wandernden Orten dieser Welt nichts zu tragen. Schauen Sie auf<br />

Krisenherde dieser Welt. In Deutschland herrscht seit 67 Jahren Frieden. Frei von<br />

Rassismus, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und ich will dazu die Angst<br />

benennen, wahrscheinlich die Angst vor dem Verlust wirtschaftlicher Privilegien, sind<br />

wir nicht. Ich war Jugendliche als Willy Brandt, der ja als Vaterlandsverräter<br />

genügend verunglimpft wurde, in einer Aufbruchszeit der Bundesrepublik für mehr<br />

Demokratie wagen eintrat, Bildungschancen erhöhen, Gleichheit vor dem Gesetz<br />

verbessern, Psychisch Kranke besser stellen, ihnen den gleichen Status, die<br />

gleichen Rechte verschaffen wie somatisch Kranke, Randgruppen integrieren usw.<br />

usw. – es ließe sich viel aufzählen <strong>aus</strong> jener Zeit.<br />

8 Mitscherlich-Nielsen, Margarete: Die Radikalität des Alters. Frankfurt: Fischer Verlag 2010, 7. Aufl. Aus<br />

dem Kapitel „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten: Medizin und Antisemitismus“, S. 43 – 61, hier S. 46.<br />

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