"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
Aber die Rusanows fordern die Vorrechte, weil sie Leistungen der Anpassung und<br />
Denunziation vollbracht haben und in einem hierarchisch organisierten<br />
Herrschaftssystem, was Gleichheit predigt, eine besondere Position erreicht haben.<br />
Pawel Rusanow hat Leichen im Keller. Seine Träume werden von Albträumen<br />
regiert. Die, die er denunzierte sollen rehabilitiert werden, werden zurückkehren,<br />
vielleicht ihre Wohnräume fordern, ihn konfrontieren, was er ihnen angetan hat. Er<br />
denunzierte, um die Wohnung der anderen zu kriegen, mehr Platz zu haben – nur<br />
sein Name hatte draußen bleiben sollen. Aber es kam her<strong>aus</strong>, weil Roditschew, der<br />
beseitigt werden sollte, einen Fürsprecher hatte, den Sekretär des Parteikomitees in<br />
der Fabrik, Gusun. Dieser setzte sich für Roditschew ein, er sei zuverlässig, forderte<br />
wahre Beweise der Unverlässlichkeit. Aber Rusanow war so vernetzt, dass auch<br />
Gusun nachts verhaftet wurde und beide „als Mitglieder einer konterrevolutionären<br />
Untergrundorganisation“ <strong>aus</strong> der Partei <strong>aus</strong>geschlossen, zu Lagerhaft verurteilt<br />
wurden. (162, 169)<br />
Die einzige Sorge, die Rusanow quält, ist, dass sein ehemaliger Nachbar Roditschew<br />
erfahren hat, wer ihn denunziert hatte. Er sieht es bis heute nicht als ehrlos, was er<br />
getan hat, auch „damals wäre doch niemandem der Gedanke gekommen, dass an<br />
seinem Verhalten etwas Ehrloses sei! In jener herrlichen, anständigen Zeit, den<br />
Jahren 1937-38, war die gesellschaftliche Atmosphäre endlich einmal von allem<br />
Schmutz gereinigt, damals konnte man frei atmen! Alle Lügner, Verleumder,<br />
Anhänger der eilfertigen Selbstkritik oder superklugen Intellektuellen waren<br />
verschwunden, zum Schweigen gebracht, und prinzipientreue, zuverlässige<br />
Staatsbürger wie Rusanow und seine Freunde gingen würdevoll mit erhobenem Kopf<br />
einher.“ (170)<br />
Aber damit nicht genug, Solschenizyn beschreibt akribisch, wie Rusanow neben der<br />
geheim zu haltenden, feigen Denunziation auch die Manipulation, die Bedrohung<br />
anderer, ihm zum Teil vertrauender Menschen, Arbeiter und Genossen, intellektuell<br />
Überlegener beherrschte. Er spielte seine selbstgerechte Selbstsicherheit <strong>aus</strong>, ließ<br />
sie im Ungewissen, verbreitet kultivierte Angst, die die Menschen klein macht.<br />
Fragten sie ängstlich, warum sie erst morgen kommen sollten, gab er keinen Grund<br />
zur Beruhigung an, sondern nur ein „nein, es geht nicht“. (172) Sie sollten schmoren,<br />
sich Gedanken machen, ihre Taten im Kopfkino durchgehen. Erinnern sie solche<br />
Situationen <strong>aus</strong> Ihrer Kindheit oder dem Arbeitsleben, wenn es bezüglich<br />
irgendwelcher Autoritätspersonen hieß oder heißt, „Du sollst zu … kommen.“ Frauen<br />
brachte er dazu, sich von ihren in Haft sitzenden Männern scheiden zu lassen.<br />
Umfassende Fragebögen holten <strong>aus</strong> den Menschen die persönlichsten Dinge<br />
her<strong>aus</strong>. Sie waren so <strong>aus</strong>gefeilt, dass die Personen sich in Widersprüche verwickeln<br />
mussten, wenn sie versuchten, etwas zu verbergen. (188 f)<br />
7