"Krebsstation" aus psychologischer Sicht
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ES GILT DAS GESPROCHENE WORT<br />
seinem widerspenstigen hellen Haarschopf wandte sich schweigend ab. Schwester<br />
Mita versteckte beide Hände hinter dem Rücken. ‚Nein, nein! Solche Aufträge …’<br />
‚Aber das ist doch nicht für Sie!’ Kapitalina Matwejewna hielt ihr die<br />
<strong>aus</strong>einandergefalteten Papierchen vor die Brust. ‚Aber da sich das nicht in offizieller<br />
Form erledigen lässt … Ich bezahle doch nur für die Arbeit! Und bitte Sie nur um die<br />
Liebenswürdigkeit, das Geld weiterzugeben!’“ (12)<br />
Es ist leicht, sich über diesen Aspekt des Rusanowschen Verhaltens zu echauffieren,<br />
aber ich glaube, in jedem von uns steckt zumindest ein wenig davon. Aber<br />
spätestens wenn unsere alten Eltern ins Heim, unser Kind ins Krankenh<strong>aus</strong> kommt,<br />
denken wir auch darüber nach, wie wir es hinbekommen können, dass der<br />
Angehörige gut wahrgenommen und behandelt wird, vielleicht in ein besseres<br />
Zimmer verlegt wird ohne Privatpatient zu sein usw. Die 20 oder 50 € für die<br />
Kaffeekasse des Personals ist uns allen vertraut. Wie weit wir gehen, eine kleine<br />
Gefälligkeit, Gefügigkeit an einzelnen Personen in Gang zu setzen – das ist sicher<br />
unterschiedlich. Das ist nichts grundsätzlich anderes als was Rusanows machen.<br />
Uns stößt vermutlich ihr offensichtlicher Stil ab, der auf einer Selbstüberzeugung<br />
beruht, dass man mehr wert ist, es besser verdient hat, es einem nicht zuzumuten<br />
mit dem „gemeinen Volk“ zusammen zu sein.<br />
„Die Rusanows liebten das Volk – ihr großes Volk! Sie dienten ihm und waren bereit,<br />
ihm ihr Leben zu opfern. Doch die Bevölkerung konnten sie ihm Laufe der Jahre<br />
immer weniger <strong>aus</strong>stehen – diese aufsässige Bevölkerung, die sich ewig drückte,<br />
aufbegehre und obendrein noch Forderungen stellte.“ (175) So halten sie Distanz,<br />
machen einen Bogen, Miliz und Gesetz schützen die Rusanows, aber halt mit<br />
Verspätung: Bei dem eigentlichen Zusammenstoß ist er schutzlos – „weder seine<br />
Position noch seine Verdienste können ihn schützen.“ (175) Der Flegel, der Mob<br />
kann ihn grundlos beleidigen, beschimpfen, mir nichts dir nichts mit der F<strong>aus</strong>t ins<br />
Gesicht schlagen. Das bedrückt ihn.<br />
Wir leben mit unseren Differenzen und wollen uns von einander unterscheiden, wir<br />
wollen auch nicht alle Gewohnheiten der Menschen um uns herum <strong>aus</strong>halten, weil<br />
wir einen Teil als Zumutung und nicht gut <strong>aus</strong>haltbar finden. Es gibt dafür keine<br />
Lösung. Sich moralisch zu echauffieren führt zu gar nichts; dieser Prozess läuft offen<br />
oder subtil, aber er läuft. (Beispiel Carola Stern und ihr Professortitel) Oft sind die<br />
Privilegien an Geld gekoppelt, wer viel oder mehr zahlt, kriegt andere<br />
Umgebungsbedingungen, gleichgültig wie er/sie dieses Geld verdient hat und ob<br />
andere die gleichen Chancen haben. Ich denke an die Bonizahlungen für Manager<br />
und Banker, die Arbeitsplätze vernichten und für solchermaßen Rentabelmachen von<br />
Betrieben und damit Aktien erhebliche Boni bekommen.<br />
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