freiheit der - Bund Freiheit der Wissenschaft eV
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Ulrich Sprenger<br />
<strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>?<br />
„Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also <strong>der</strong> Wahlspruch <strong>der</strong> Aufklärung.<br />
[...] Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfor<strong>der</strong>t als <strong>Freiheit</strong>; und zwar die unschädlichste<br />
unter allem, was nur <strong>Freiheit</strong> heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen<br />
Gebrauch zu machen.“<br />
Immanuel Kant (1724–1804), in: „Beantwortung <strong>der</strong> Frage: Was ist Aufklärung?“<br />
Der Arbeitskreis Gesamtschule e. V. existiert<br />
seit nunmehr zehn Jahren! Das<br />
nehmen wir zum Anlaß, drei Fragen zusammenzustellen,<br />
die wir seit einiger<br />
Zeit immer wie<strong>der</strong> ins öffentliche Bewußtsein<br />
zu bringen versuchen.<br />
Unsere 1. Frage: Warum konnte im<br />
Bereich <strong>der</strong> deutschen Bildungsforschung<br />
in wichtigen Angelegenheiten<br />
nicht schon viel früher von <strong>der</strong> Vernunft<br />
„in allen Stücken öffentlich Gebrauch“<br />
gemacht werden?<br />
Die 5. Ausgabe des Oerter/Montada<br />
(2002) enthält ein Kapitel über die<br />
„Entwicklung schulischer Leistungen“.<br />
Verfasser sind die Professoren Dr.<br />
Olaf Köller (bis 2002 Mitarbeiter am<br />
MPIB) und Dr. Jürgen Baumert (ab<br />
1996 Direktor am MPIB). Unter <strong>der</strong><br />
Überschrift „Frühe Differenzierung<br />
för<strong>der</strong>t leistungsstarke Schüler“ wird<br />
dort festgestellt: „Zusammenfassend<br />
zeigt sich zumindest für das deutsche<br />
Schulsystem, daß – bezogen auf die<br />
Leistungsentwicklung – leistungsstarke<br />
Schüler von <strong>der</strong> Differenzierung im Sekundarbereich<br />
profitieren.“ (S. 771)<br />
Die Ausführungen basieren auf einer Darstellung,<br />
die von Baumerts Vorgänger<br />
Professor Dr. Peter Martin Roe<strong>der</strong> und<br />
dessen Mitarbeiter Dr. Fritz Sang im Jahre<br />
1991 veröffentlicht wurde. Diese Darstellung<br />
hinwie<strong>der</strong>um basiert ihrerseits<br />
auf Daten des MPIB-Projektes „Schulleistung“<br />
aus den Jahren 1968 bis 1970.<br />
„Frühe Differenzierung för<strong>der</strong>t leistungsstarke<br />
Schüler!“ – Das heißt<br />
dann aber auch: Eine späte Differenzierung<br />
drückt leistungsstarke Schüler<br />
unter das Niveau ihrer Möglichkeiten.<br />
Den Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates<br />
entsprechend, wurden nach<br />
Ausweis von KMK-Statistiken im Jahre<br />
2000 mehr als ein Drittel aller deutschen<br />
Schülerinnen und Schüler auch in den 5.<br />
und 6. Jahrgängen noch in leistungsgemischten,<br />
heterogenen Lerngruppen unterrichtet.<br />
Die Mitteilungen im Oerter/Montada<br />
bestätigen nun, daß dies eine<br />
<strong>der</strong> Ursachen für das „miserable Abschneiden“<br />
<strong>der</strong> deutschen Schülerschaft<br />
bei internationalen Leistungsvergleichen<br />
ist.<br />
Unsere 2. Frage: Was ist im Herbst<br />
1998 geschehen? Wer hatte ein Interesse<br />
– und die Macht, Bildungsforscher<br />
daran zu hin<strong>der</strong>n, von ihrer<br />
Vernunft „in allen Stücken öffentlichen<br />
Gebrauch zu machen“?<br />
Wie bekannt, ist das Max-Planck-Institut<br />
für Bildungsforschung (MPIB) im<br />
Jahre 1963 von Dr. iur. h.c. Hellmut<br />
Becker gegründet worden. Er fungierte<br />
dort bis zu seiner Emeritierung als Gründungsdirektor.<br />
Ab 1965 war er auch<br />
Mitglied des Deutschen Bildungsrats.<br />
Dessen Unterausschuß „Experimentalprogramm“<br />
hat mit ihm als Vorsitzenden<br />
1968 jene folgenreichen „Empfehlungen<br />
zur Einrichtung von Schulversuchen<br />
mit Gesamtschulen“ konzipiert,<br />
die <strong>der</strong> Deutsche Bildungsrat dann im<br />
Januar 1969 verabschiedet hat.<br />
Nach Beckers Emeritierung im Jahre<br />
1981 gab es am MPIB bis zum Sommer<br />
1998 vorübergehend eine Phase verhaltener<br />
Transparenz. Ab 1984 ging man<br />
daran, aus dem Projekt „Schulleistung“<br />
die auf 150 000 Lochkarten gespeicherten<br />
„verarbeitbaren Datensätze für<br />
12 594 Schüler“ PC-tauglich zu transformieren.<br />
Im Jahre 1986 erschienen<br />
dann erste, allgemein gehaltene Informationen<br />
zur Entwicklung schulischer<br />
Leistungen, veröffentlicht von J. Baumert,<br />
P. M. Roe<strong>der</strong>, F. Sang und B.<br />
Schmitz, Titel: „Leistungsentwicklung<br />
und Ausgleich von Leistungsunterschieden<br />
in Gymnasialklassen“ (Zeitschrift<br />
für Pädagogik 5/1986, S. 639–660).<br />
Zitate aus <strong>der</strong> Zusammenfassung: „Ein<br />
Leistungsunterschiede ausgleichen<strong>der</strong><br />
Unterricht ist auch im selektiven Gymnasium<br />
<strong>der</strong> ausgehenden sechziger Jahre<br />
eine übliche Unterrichtsform. Das<br />
gilt selbst für die auslesebedeutsamen<br />
Fächer Deutsch, Englisch und Mathematik.<br />
[...] Auf zunehmende Streuung<br />
beziehungsweise ein geringes Vorkenntnisniveau<br />
antworten Lehrer offenbar<br />
unter an<strong>der</strong>em mit einer Verlangsamung<br />
des Unterrichtstempos und einer Intensivierung<br />
von Üben und Wie<strong>der</strong>holen.<br />
Diese repetitive Unterrichtsführung nützt<br />
wi<strong>der</strong> Erwarten Schülern mit ungünstigen<br />
Eingangsvoraussetzungen nur wenig,<br />
während die Lernfortschritte <strong>der</strong><br />
Schüler des oberen Leistungsdrittels<br />
merklich beeinträchtigt werden“ (S. 654).<br />
Damit war bereits 1986 nachgewiesen,<br />
daß es – zumindest in Deutschland –<br />
Grenzen <strong>der</strong> Heterogenität gibt, die<br />
nicht überschritten werden dürfen!<br />
1995 riet P. M. Roe<strong>der</strong> in einem umfangreichen<br />
Gutachten, unter Berufung auf<br />
Ergebnisse des MPIB-Projektes „Schulleistung“<br />
(1968–1970) und des MPIB-<br />
Projektes „Hauptschule/Gesamtschule“<br />
(1980), dringend davon ab, in Sachsen-<br />
Anhalt die För<strong>der</strong>stufe einzuführen (<strong>der</strong><br />
Text des Gutachtens von 1995 ist abrufbar<br />
unter www.ak-gesamtschule.de).<br />
1996 hieß es im Vorwort des 2. Zwischenberichtes<br />
über Ergebnisse des von<br />
Roe<strong>der</strong> und Baumert betreuten, 1991<br />
gestarteten MPIB-Projektes „BIJU“:<br />
„Wir haben uns bemüht, den Text so zu<br />
schreiben, daß er auch ohne Kenntnis<br />
<strong>der</strong> Statistik verständlich ist, aber doch<br />
so viele Informationen liefert, daß <strong>der</strong><br />
Leser sich ein selbständiges Urteil über<br />
unsere Interpretation <strong>der</strong> Ergebnisse<br />
bilden kann“. (S. 5).<br />
Und im Juni 1998 hatte Professor Baumert<br />
eine allgemeinverständliche Zusammenfassung<br />
von BIJU-Befunden<br />
angekündigt: „Der für ein breiteres Publikum<br />
gedachte, deskriptive Bericht<br />
über die schulischen Entwicklungs-<br />
1/2005 fdw 27