26.12.2012 Aufrufe

April 2011 - Bund Freiheit der Wissenschaft eV

April 2011 - Bund Freiheit der Wissenschaft eV

April 2011 - Bund Freiheit der Wissenschaft eV

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Nr. 1, <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online<br />

Lieber Leser<br />

Aus <strong>der</strong> Arbeit des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

37. Bildungspolitisches Forum – Ein multimedialer Bericht<br />

Hochschule<br />

Die Kampagne gegen zu Guttenberg – Ethik in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Von Winfried Holzapfel<br />

fdw-Spezial<br />

Anmerkungen zur bildungspolitischen Lage<br />

Von Hermann Giesecke<br />

Aus den <strong>Bund</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />

Baden-Württemberg<br />

Grüne Stimmenflut - Was geschieht mit Baden-Württembergs Schulen?<br />

Bayern<br />

Bericht über ein Symposium zur Hochschulreform in München<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

Von <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> 'OS' (Orientierungsstufe) zur Einführung <strong>der</strong> 'OS'<br />

(Oberschule)<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

„Jedem Kind gerecht werden“<br />

Bücherrevue<br />

Bücherrevue<br />

„Bildungsgerechtigkeit“ von Peter J. Brenner; „Gerücht und Revolution – Von<br />

<strong>der</strong> Macht des Weitererzählens“ von Eric Selbin; „Stop à l’arnaque du bac!“ –<br />

Stopp dem Abi-Schwindel von Jean-Robert Pitte<br />

Herausgeber: <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> – Redaktion: Dr. Winfried Holzapfel<br />

Internetauftritt: www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de<br />

1<br />

2<br />

6<br />

11<br />

15<br />

28<br />

31<br />

36<br />

38<br />

40


1<br />

Lieber Leser,<br />

auf vielen Politikfel<strong>der</strong>n ist Bewegung.<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Es bilden sich neue Koalitionen und neue Überzeugungen.<br />

Bedeutende Bereiche wie <strong>der</strong> <strong>der</strong> Energiepolitik und <strong>der</strong><br />

Außenpolitik sind von heftigen Debatten erfaßt worden.<br />

Die Politiker haben ein „Glaubwürdigkeitsproblem“, wenn<br />

sie Überzeugungen, die jahrzehntelang als unumstößlich<br />

galten, revidieren o<strong>der</strong> auch nur ein Überdenken<br />

ankündigen.<br />

Selbst wenn sie sich nur „Zeit nehmen“ (ein Moratorium),<br />

wird dies als bloße Taktik, die Wahlen geschuldet sei,<br />

abgestempelt.<br />

Ist dies aber nicht vielleicht nur eine mediale, unzulässige<br />

Vor-Verurteilung eines Handelns, zu dem es in jetziger Lage<br />

keine Alternative gibt ?<br />

Es ist richtig, daß man Politikern auf die Finger sieht und<br />

prüft, was sie sagen und tun, und kritisch beobachtet, in<br />

welchem Verhältnis Rede und Handeln stehen.<br />

Oberstudiendirektor Dr.<br />

Winfried Holzapfel ist einer<br />

<strong>der</strong> Vorsitzenden des <strong>Bund</strong>es<br />

<strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Es scheint aber manchmal in <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Medien zu kurz zu kommen, einmal das<br />

„Dafür“ darzustellen. Wir haben ein mediales Verdächtigungs- und Ablehnungsverhalten, das<br />

es schwer macht, komplexe Probleme sachlich zu erörtern. Keine Meldung, die nicht mit<br />

mindestens einer kritischen Stimme garniert wird, durch die ein Projekt in Mißkredit gezogen<br />

wird, bevor es noch überhaupt umfassend erklärt worden ist.<br />

So werden viele zu Stellungnahmen pro und contra genötigt, die noch gar nicht begriffen<br />

haben, worum es geht.<br />

Es gibt kaum Nachrichten, die keine emotionale Einfärbung haben.<br />

Emotionale Einfärbung verführt aber zur Parteinahme, noch bevor man seinen Standpunkt<br />

ausformuliert hat. So ergeben sich Streitorgien, die einer Streitkultur eindeutig abträglich<br />

sind.<br />

In „freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online“ äußern wir uns zu Themen <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>s- und<br />

Schulpolitik. Die Leitlinien und Grundsätze des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> sind die<br />

Richtschnur, gemäß <strong>der</strong> wir das, was geschieht, unter die Lupe nehmen.<br />

Wir nehmen Stellung zu Themen, die wir zuvor korrekt dargestellt haben o<strong>der</strong> bei denen wir<br />

vermuten dürfen, daß unsere Leser entsprechend informiert sind und sich gegenüber <strong>der</strong><br />

Meinung unserer Autoren souverän verhalten können.<br />

Als Internetzeitschrift wollen wir zusätzlich mehr und mehr die Möglichkeit nutzen, unseren<br />

Text mit den Nachrichtenquellen zu „verlinken“, so daß dadurch ein Informationsplus entsteht<br />

und unsere Stellungnahme von den interessierten Lesern besser eingeordnet werden kann.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


2<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Manchmal kopieren wir auch Pressemitteilungen in unsere Zeitschrift hinein, damit die<br />

Meinung an<strong>der</strong>er Organisationen sozusagen im Original nachzulesen ist.<br />

Wir hoffen, daß wir Ihnen, lieber Leser, Dinge nahe bringen können, die Sie interessieren,<br />

und daß Sie Freude daran haben, unsere Meinung zu lesen und sich damit auseinan<strong>der</strong> zu<br />

setzen. Wenn Sie sie teilen, umso besser.<br />

Schreiben Sie uns, wenn wir Ihre Meinung vervielfältigen sollen. Wir nehmen sie mit<br />

Interesse zur Kenntnis.<br />

Aus <strong>der</strong> Arbeit des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Ihr<br />

Winfried Holzapfel<br />

Am 21. Januar dieses Jahres fand in Berlin unter <strong>der</strong> Leitung des Vorsitzenden Dr. Hans<br />

Joachim Geisler die 20. ordentliche Mitglie<strong>der</strong>versammlung des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Wissenschaft</strong> statt.<br />

Dr. Geisler verlas einen umfangreichen Rechenschaftsbericht, in dem nochmals die<br />

Turbulenzen zwischen <strong>der</strong> 19. und 20. Mitglie<strong>der</strong>versammlung beschrieben wurden, als es auf<br />

zwei außerordentlichen Mitglie<strong>der</strong>versammlungen um die Fortexistenz des BFW ging und<br />

schließlich weitere Aktivitäten beschlossen wurden.<br />

Mit großer Zufriedenheit konnte Hans Joachim Geisler feststellen, daß <strong>der</strong> <strong>Bund</strong> sich<br />

inzwischen wie<strong>der</strong> konsolidiert und durch einige Neuerungen gut Fuß gefaßt hat. Dazu<br />

gehören die verstärkte Internetpräsenz, die Erweiterung <strong>der</strong> Interessentendatei und zwei<br />

Aktionsbündnisse in Berlin und Nordrhein-Westfalen, die im Bereich „Schule“ agieren.<br />

Auch die Zahl <strong>der</strong>er, die den Bologna-Prozeß an den deutschen Hochschulen kritisch sehen,<br />

scheint gewachsen zu sein. Jedenfalls erhält <strong>der</strong> <strong>Bund</strong> in diesem Punkt prominenten Zuspruch<br />

und Bestätigung. So schreibt beispielsweise Norbert Bolz in <strong>der</strong> Januarausgabe von<br />

„Forschung & Lehre“ : „Wäre es nicht an <strong>der</strong> Zeit, den <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> zu<br />

rehabilitieren? Das Programm wäre einfach und klar: <strong>Freiheit</strong> von Forschung und<br />

Lehre....Es geht nicht um Ausbildung, son<strong>der</strong>n um lebendigen Geist – das ist die Aktualität<br />

Humboldts.“ (Heft 1/11, S.9).<br />

****<br />

Beson<strong>der</strong>s hob Hans-Joachim Geisler das Bildungspolitische Forum im November in St.<br />

Augustin hervor, das anläßlich des 40jährigen Bestehens unter dem „Thema „Erinnerung und<br />

Ausblick“ stand und mit Vorträgen zum Unterthema: „Die Zukunft unserer<br />

Bildungseinrichtungen?“ zahlreiche Besucher anzog. (Siehe untenstehenden Bericht!)<br />

****<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


3<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Im weiteren Verlauf <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>versammlung gab es Neuwahlen, die im Ergebnis den<br />

Vorschlägen des Vorstands entsprachen.<br />

Dr. Hans Joachim Geisler legte auf eigenen Wunsch aus Altersgründen sein Amt als<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>, stellte sich aber zur weiteren Mitarbeit für Aufgaben im erweiterten<br />

Vorstand zur Verfügung. Seine Überlegungen wurden von <strong>der</strong> Versammlung durch ein<br />

entsprechendes Wahlverhalten respektiert. (Die Wahlergebnisse sind weiter unten aufgelistet.)<br />

****<br />

Am Ende <strong>der</strong> Versammlung durfte ich im Namen des Vorstands, <strong>der</strong> Versammlung und aller<br />

Mitglie<strong>der</strong> Hans Joachim Geisler für seine unermüdliche Arbeit für den <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Wissenschaft</strong> von <strong>der</strong> ersten Stunde an und in verschiedenen Funktionen danken.<br />

Hans Joachim Geisler hat umfassend die vielfältige Verwaltungsarbeit geleistet und dazu<br />

noch eine unaufgeregte und zielgerichtete Kommunikationsleistung in den ganzen <strong>Bund</strong><br />

hinein vollbracht. Mit den „Notizen zur Geschichte des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>“,<br />

<strong>der</strong>en zweiter Teil im vergangenen Herbst erschienen ist, hat er die Geschichte des <strong>Bund</strong>es<br />

<strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> in den Grundzügen bestens dokumentiert. Zusätzlich hat er weitere<br />

wichtige Aufgaben für den BFW erfüllt, die hier gar nicht alle aufgezählt werden können.<br />

Später im Jahr soll noch eine beson<strong>der</strong>e Ehrung erfolgen.<br />

****<br />

An dieser Stelle ist auch denjenigen zu danken, die nach vielen Jahren als Mitglie<strong>der</strong> aus dem<br />

Vorstand ausscheiden, Herrn Professor Dr. Wolfgang Dreybrodt/Bremen, Herrn Professor Dr.<br />

Rosenbaum/Greifswald und Herrn Professor Dr. Winfried Schlaffke/Köln. Sie haben die<br />

Arbeit <strong>der</strong> Vorsitzenden nach Kräften unterstützt.<br />

Erfreulicherweise stellen sich Wolfgang Dreybrodt und Hans-Dieter Rosenbaum weiterhin als<br />

Regionalbeauftragte zur Verfügung stellen (Siehe untenstehende Liste <strong>der</strong><br />

Regionalbeauftragten!)<br />

****<br />

Die Mitglie<strong>der</strong>versammlung war sich darin einig, daß auch etwas für die Mitglie<strong>der</strong>werbung<br />

getan werden müsse. So ergeht eine große Bitte an alle: Machen Sie in Ihrem Schüler- und<br />

Bekanntenkreis auf uns aufmerksam. Es ist immer nötig, für die <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> und<br />

ein leistungsorientiertes und humanes Bildungswesen zu kämpfen und Fehlentwicklungen zu<br />

verhin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zumindest anzuprangern. Dafür kann es nie genug Mitstreiter geben.<br />

Besuchen Sie unsere Website<br />

www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de<br />

Für Spenden auf unser Konto bei <strong>der</strong> Deutschen Bank sind wir dankbar:<br />

Deutsche Bank Ag, Bonn BLZ 38070024, Konto 0 233 858<br />

Winfried Holzapfel<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


4<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Personalien – Ergebnisse <strong>der</strong> Vorstandswahlen<br />

20. ordentliche Mitglie<strong>der</strong>versammlung am 21. Januar <strong>2011</strong> in Berlin<br />

20. ordentliche Mitglie<strong>der</strong>versammlung am 21. Januar in Berlin<br />

Ergebnisse <strong>der</strong> Vorstandswahlen (in alphabetischer Reihenfolge)<br />

Vorsitzende<br />

Oberstudiendirektor a.D. Dr. Winfried Holzapfel, Gel<strong>der</strong>n<br />

Professor Dr. Dr. Kurt J. Reinschke, Dresden<br />

Staatsrat a.D. Dr. Reiner Schmitz, Hamburg<br />

Schatzmeister<br />

Professor Dr. Günter Püttner<br />

Reiner Schmitz wurde zum Nachfolger<br />

von Hans Joachim Geisler als<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> gewählt.<br />

Erweiterter Vorstand<br />

Oberstudiendirektor Willi Eisele, Wolfratshausen<br />

Dr. Hans Joachim Geisler, Berlin<br />

Professor Dr. Dietmar Klenke, Pa<strong>der</strong>born<br />

Oberstudiendirektor Josef Kraus, Ergolding<br />

Dr. Brigitte Pötter, Mahlow<br />

Hans Joachim Geisler legte aus<br />

Altersgründen sein Amt als<br />

Vorsitzen<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>, bleibt aber<br />

als Vorstandsmitglied weiterhin<br />

für den <strong>Bund</strong> aktiv.<br />

Zur Person:<br />

Geb. 1947 in Holzbüttgen bei Neuss, verwitwet, vier<br />

erwachsene Kin<strong>der</strong>. 1972 Promotion zum Dr. phil.<br />

im Fach Philosophie in Freiburg. Nach dem<br />

Staatsexamen Unterricht in den Fächern<br />

Philosophie, Deutsch, Geschichte und Latein an<br />

Gymnasien in Hamburg. Schulleiter, danach<br />

Verwaltungsbeamter in Hamburg, dabei von 2002 bis<br />

2004 Leiter des Katholischen Schulamtes in<br />

Hamburg, anschließend bis Ende 2005 Staatsrat in<br />

<strong>der</strong> Behörde für Bildung und Sport <strong>der</strong> Hansestadt.<br />

Seit 2006 Regionalbeauftragter des BFW für<br />

Hamburg.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


5<br />

Verstärkt nach seiner Wahl den Vorstand<br />

des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>:<br />

Dietmar Klenke.<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Zur Person:<br />

Geb. 1954 in Warburg/Westf., verheiratet, zwei<br />

Kin<strong>der</strong>. Studium <strong>der</strong> Geschichte, Soziologie,<br />

Volkswirtschaftslehre und Musikwissenschaft in<br />

Köln und Münster. Promotion 1982 an <strong>der</strong><br />

Universität Münster und Zweites Staatsexamen für<br />

das Lehramt am Gymnasium in Rheine. Habilitation<br />

1992 in Neuerer Geschichte an <strong>der</strong> Universität<br />

Bielefeld. Seit 1997 Lehrstuhl für Neueste<br />

Geschichte am Historischen Institut <strong>der</strong> Universität<br />

Pa<strong>der</strong>born. Seit 2009 Forschungsschwerpunkt:<br />

Universitätsgeschichte.<br />

Die Aufgaben als Regionalbeauftragte des BFW sollen nach Absprache mit den Vorsitzenden<br />

weiterhin folgende Mitglie<strong>der</strong> wahrnehmen:<br />

Baden-Württemberg: Professor Dr. Jürgen Kullmann, Mössingen<br />

Bayern: Oberstudiendirektor Willi Eisele, Wolfratshausen<br />

Berlin und Brandenburg: Oberschulrat a.D. Gerhard Schmid, Berlin<br />

Bremen: Professor Dr. Wolfgang Dreybrodt, Bremen<br />

Hamburg: Staatsrat a.D. Dr. Reiner Schmitz, Hamburg<br />

Hessen: Privatdozent Dr. habil, Siegfried Uhl, Frankfurt/M.<br />

Mecklenburg-Vorpommern: Professor Dr. Klaus-Dieter Rosenbaum, Loitz<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen: Oberstudiendirektor Bernd Ostermeyer. Wienhausen<br />

Nordrhein-Westfalen: Studiendirektor Norbert Schlö<strong>der</strong>, Willich<br />

Sachsen: Professor Dr. Sigismund Kobe, Dresden<br />

Thüringen: Professor Dr. Gerd Wechsung, Cospeda<br />

Aufruf<br />

Wir möchten Sie, liebe Leser und Freunde des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>, anregen, uns<br />

Adressen zu vermitteln, an die wir „freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online“ über Internet senden können.<br />

Wir belästigen damit niemanden; denn „freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online“ kann bei Nichtgefallen<br />

leicht abbestellt o<strong>der</strong> „weggedrückt“ werden.<br />

An<strong>der</strong>erseits hat sich unser Leserkreis durch den Weiterversand aufgrund <strong>der</strong> Eigeninitiative mancher<br />

Mitglie<strong>der</strong> schon vergrößert. Dies möchten wir weiterentwickeln.<br />

Vielen Dank für Ihre Unterstützung!<br />

Die Vorsitzenden ihrerseits sind schnell erreichbar über folgende E-Mail-Adressen:<br />

dr.winfried.holzapfel@t-online.de<br />

kurt.reinschke@t-online.de<br />

reinerschmitzhh@yahoo.de<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


6<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

40 Jahre <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> – Erinnerung und Ausblick<br />

37. Bildungspolitisches Forum mit dem Thema: „Die Zukunft unserer Bildungseinrichtungen“<br />

Über das 37. Bildungspolitische<br />

Forum des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Wissenschaft</strong>, das anläßlich des<br />

40jährigen Bestehens des <strong>Bund</strong>es<br />

<strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> am 17.<br />

November 2010 in Sankt Augustin<br />

in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong><br />

Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

stattfand, haben wir schon auf<br />

unserer Website und im März-<br />

Rundbrief unsere Leser und<br />

interessierten Freunde unterrichtet.<br />

Einiges aus diesen Berichten finden<br />

Sie unten wie<strong>der</strong>.<br />

37. Bildungspolitisches Forum in Sankt Augustin<br />

Neu ist an dieser Stelle die Möglichkeit, in die Vorträge, die beim Forum gehalten wurden,<br />

hineinzuhören, sofern bei Ihnen die Technik dafür vorhanden ist.<br />

Sie finden die Angaben dazu unter dem Bildbericht.<br />

Forum in Sankt Augustin – Bildbericht<br />

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin for<strong>der</strong>te beim<br />

Forum:<br />

Verschulung des Studiums rückgängig<br />

machen!<br />

Universitäten dürfen nicht zu bloßen<br />

Lehranstalten verkommen.<br />

Mobilität für fortgeschrittene Studierende<br />

för<strong>der</strong>n! Eine Stiftungsuniversität etablieren!<br />

Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin<br />

In seinem Vortrag „Perspektiven <strong>der</strong> Universität <strong>der</strong> Zukunft“ bedauerte Professor Dr. Nida-<br />

Rümelin die Entwicklung, die die deutsche Universität durch den Bologna-Prozeß<br />

genommen habe. Zwar sei dieser Prozeß als solcher wohl unumkehrbar, jedoch könne durch<br />

die Besinnung auf Humboldt die Idee <strong>der</strong> Universität in Zukunft wie<strong>der</strong> zur Geltung<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


7<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

kommen.<br />

Gegen Ende seines Vortrags sagte <strong>der</strong> Referent: „Wir können nicht hinter Bologna zurück.<br />

Aber wir müssen die Stärken <strong>der</strong> Universität bewahren. Es ist eine nachholende Debatte<br />

nötig. Die Einheit von Forschung und Lehre muß gewahrt bleiben. Die Verschulung muß<br />

beendet werden.“<br />

Die Verschulung sei auch für die Persönlichkeitsentwicklung <strong>der</strong> Studierenden gefährlich,<br />

die keine Zeit mehr hätten, Bücher zu lesen, son<strong>der</strong>n nur noch die für ihre Prüfungen nötigen<br />

Papiere läsen. „Sie verlieren ihre Eigenständigkeit“. Eigenständige Urteilskraft sei aber so<br />

„wichtig wie nie“.<br />

Seine dritte For<strong>der</strong>ung war: „Wir brauchen Konzentration von Forschungsschwerpunkten“.<br />

Dem könne die Errichtung einer Stiftungsuniversität dienen. Sie müsse, aus <strong>Bund</strong>esmitteln<br />

geför<strong>der</strong>t, so ausgestattet sein, daß <strong>der</strong> gesamte <strong>Wissenschaft</strong>sbetrieb davon profitiere. Dies<br />

könne durch ihre Vernetzung mit den <strong>Wissenschaft</strong>szentren in Deutschland insgesamt<br />

geschehen. Die <strong>Wissenschaft</strong> selbst, nicht die Politik solle dieser Universität ihr Gepräge<br />

geben.<br />

Die Idee <strong>der</strong> Vereinheitlichung des europäischen Hochschulraums solle weiter verfolgt<br />

werden, jedoch dürfe sie in <strong>der</strong> Praxis nicht zu einer „Bürokratenidee“ verkommen.<br />

Die Rede Nida-Rümelins wurde im gegenwartskritischen wie im appellativen Teil vom<br />

Auditorium sehr positiv aufgenommen und fand auch auf dem folgenden Podium viel<br />

Zustimmung.<br />

Forum in Sankt Augustin - Hauptvorträge<br />

Vortrag von Hans Maier<br />

Vortrag von Josef Kraus<br />

Vortrag von Julian Nida-Rümelin<br />

Forum in Sankt Augustin – Weitere Mitschnitte<br />

Statement von Professor Dr. Heiner Müller-Merbach<br />

zum „segensreichen“ Wirken des CHE und <strong>der</strong><br />

Bertelsmann-Stiftung<br />

Anhören (*.mp3)<br />

Anhören (*.mp3)<br />

Anhören (*.mp3)<br />

Anhören (*.mp3)<br />

Bei Interesse können Sie den Ton - Mitschnitt des Forums auf DVD beim <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Wissenschaft</strong> bestellen. Zu diesem Zweck können Sie unsere E-Mailanschriften nutzen, aber<br />

auch Telefon o<strong>der</strong> Fax. Die DVD wird Ihnen kostenlos zugesandt.<br />

Der Ton-Mitschnitt enthält auch die Wortbeiträge von Jörg-Dieter Gauger, Hans Joachim<br />

Geisler und Svea Koischwitz sowie alle Podiumsdiskussionen. (Die Aufnahmequalität ist<br />

allerdings umständehalber nicht durchweg hochwertig.)<br />

Der BFW dankt Herrn Johannes Markner für liebenswürdige und umfassende Hilfe in allen<br />

organisatorischen und technischen Fragen.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


8<br />

Hinweis<br />

Am 8. März dieses Jahres hat Josef<br />

Kraus für „BILD.de“ „20<br />

Wahrheiten über Schule in<br />

Deutschland“ nie<strong>der</strong>geschrieben.<br />

Sie entsprechen – selbstverständlich –<br />

dem, was er in seinem Vortrag beim<br />

Forum ausgeführt hat.<br />

Sie finden sie hier:<br />

http://www.lehrerverband.de/wahrheit<br />

en.htm<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Hans Maier: Böse Jahre, gute Jahre<br />

(seit 18. März im Buchhandel, 24,95 Euro)<br />

Neue Bücher <strong>der</strong> Referenten<br />

Oberstudiendirektor<br />

Josef Kraus,<br />

Präsident des Deutschen<br />

Lehrerverbandes und<br />

Vorstandsmitglied des<br />

BFW<br />

Julian Nida-Rümelin/Klaus Kufeld: Die<br />

Gegenwart <strong>der</strong> Utopie: Zeitkritik und<br />

Denkwende (ab 3. Mai im Buchhandel, 20<br />

Euro)<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


9<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Im Zusammenhang mit dem Thema <strong>der</strong> Tagung von St. Augustin könnte folgen<strong>der</strong><br />

Buchtitel das Interesse unserer Leser finden:<br />

Dietmar Klenke, Beethoven und die Bonner Universität. Die Bachelor-Mephisto-Ballade<br />

von 1820, hrsg. von <strong>der</strong> Rheinischen Friedrich – Wilhelms - Universität Bonn, (mit Partitur<br />

und Audio - CD), Bonn <strong>2011</strong> (15,00 Euro)<br />

Das im Februar <strong>2011</strong> erschienene Buch über<br />

Beethovens Solidarität mit <strong>der</strong> Bonner<br />

Universität im Metternich-Zeitalter, verfaßt<br />

von (unserem neuen Vorstandsmitglied)<br />

Dietmar Klenke, berichtet von <strong>der</strong><br />

sensationellen Entdeckung eines für<br />

verschollen gehaltenen Beethoven-Werkes im<br />

Bonner Universitätsarchiv. Es handelt sich<br />

dabei um ein dreisätziges Klavierwerk mit<br />

dem ‚anmutigen’ Titel „Bachelor-Mephisto-<br />

Ballade“.<br />

Für uns, denen in erster Linie das Schicksal<br />

<strong>der</strong> heutigen Universitäten am Herzen liegt,<br />

könnte von Interesse sein, was den Autor,<br />

Professor für Geschichte an <strong>der</strong> Universität<br />

Pa<strong>der</strong>born, bewogen hat, solch ein<br />

„politsatirologisches“ Buch zu verfassen und<br />

dabei gleich eine Komposition im Stile<br />

Beethovens mitzuliefern. Was war <strong>der</strong><br />

Hintergrund des Buches?<br />

Als die deutschen Universitäten im Herbst 2009 vom einem bundesweiten Studentenstreik<br />

gegen die Bologna-Reformen und die Bachelorisierung des Lehrbetriebs erschüttert wurden,<br />

wagte es die Universität Bonn als erste deutsche Hochschule, die Zusammenarbeit mit dem<br />

machtvoll auftretenden Hochschul-Ranking <strong>der</strong> Bertelsmann-Stiftung aufzukündigen. Unter<br />

dem Eindruck dieser Geschehnisse kam <strong>der</strong> Autor des Buches auf die Idee, seinem<br />

wachsenden Unbehagen über die Zustände an den Universitäten auf satirische Weise<br />

Ausdruck zu verleihen. Das Ergebnis war, daß er ausgerechnet in Beethovens Geburtsstadt<br />

Bonn im Universitätsarchiv durch glücklichen Zufall ein verschollenes Klavierwerk des<br />

großen Meisters wie<strong>der</strong>entdeckt haben wollte, und zwar die heroische „Bachelor-Mephisto-<br />

Ballade“, mit <strong>der</strong> Beethoven von Wien aus den bedrängten Bonner Professoren und Studenten<br />

in <strong>der</strong> repressiven Metternich-Ära ab 1819 beispringen wollte. Selbstverständlich wurde das<br />

bei Beethovens freimaurerischem Bonner Verlegerfreund Simrock gedruckte Klavierwerk<br />

umgehend von <strong>der</strong> Polizei beschlagnahmt und harrte in einem fast 200jährigen<br />

Dornröschenschlaf <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung. Das Zeitalter <strong>der</strong> Karlsba<strong>der</strong> Beschlüsse wird in<br />

diesem Buch unversehens zu einer verfremdenden historischen Kulisse für die aktuellen<br />

Streitfragen <strong>der</strong> Hochschulpolitik.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


10<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Rektorat und Philosophische Fakultät <strong>der</strong> Bonner Universität waren gern bereit, Klenke<br />

einzuladen, seine sensationelle Entdeckung im Festsaal <strong>der</strong> Universität <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

vorzustellen. Unter dem Eindruck <strong>der</strong> „Welturaufführung“ am 1. Juli 2010 entschloß sich<br />

dann die Universitätsleitung, Klenkes Forschungsergebnisse als Buch zu veröffentlichen. Es<br />

enthält neben den scheinbar seriösen, durch zahlreiche Fußnoten untermauerten Darlegungen<br />

auch die Original-Partitur des Werkes und eine Audio - CD mit einer Einspielung <strong>der</strong><br />

Bachelor-Mephisto-Ballade. Das Original befindet sich wohlbehalten in <strong>der</strong> Obhut des<br />

Depositums Kujau des Bonner Universitätsarchivs.<br />

Im Buch tritt ein imaginärer Beethoven auf, <strong>der</strong> zwar eng an die historische Wirklichkeit<br />

angelehnt ist, aber als Maskerade für unsere heutigen Streitfragen in <strong>der</strong> Hochschulpolitik<br />

herhalten muß. Der blaue Buchdeckel spielt mit dem Design <strong>der</strong> Europafahne auf den<br />

„Bologna-Prozeß“ an. Genau darum geht es auch beim angeblich wahren Ursprung unserer<br />

Europahymne: Diese trat, wenn man Klenkes Befunden Glauben schenken darf, ursprünglich<br />

als Solidaritätslied Beethovens für die Professoren und Studenten <strong>der</strong> Universität Bologna ins<br />

Leben. Diese hatten sich nach 1815 <strong>der</strong> Priesterherrschaft im restaurierten Kirchenstaat fügen<br />

müssen. Als Textdichter dieses „Bologna-Cantus“ genannten Universitätsliedes konnte<br />

Klenke Johann Baptist Steingaß ausmachen, <strong>der</strong> 1819 in die freiheitliche Schweiz hatte<br />

fliehen müssen. Auch den Text und die Original-Partitur des Bologna-Cantus hält das Buch<br />

bereit.<br />

Bestellungen sind zu richten an: dietmar.klenke@uni-pa<strong>der</strong>born.de<br />

Bologna - Barometer<br />

Positive Bologna-Zwischenbilanz?<br />

Die Kultusministerkonferenz zieht eine positive Zwischenbilanz <strong>der</strong> Bologna-Reformen.<br />

Teilen Sie diese Ansicht?<br />

Ja 5,8%<br />

Nein 94,2%<br />

227 Stimmen, Idee und Quelle: Website Deutscher Hochschulverband<br />

(Stand <strong>der</strong> Umfrage: 4. <strong>April</strong> <strong>2011</strong>)<br />

http://www.hochschulverband.de/cms1/frage-des-monats+M54a708de802.html<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


11<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Die Kampagne gegen zu Guttenberg – Ethik in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Deutscher Hochschulverband (DHV) empört über Verharmlosung von Plagiaten<br />

Die Kampagne gegen zu Guttenberg – Ethik in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Auf dem Höhepunkt <strong>der</strong> zu - Guttenberg - Kampagne hat <strong>der</strong> Deutsche Hochschulverband<br />

folgende Presseerklärung herausgegeben:<br />

DHV empört über Verharmlosung von<br />

Plagiaten<br />

„Der Deutsche Hochschulverband nimmt mit<br />

Befremden, teils auch mit Erschrecken die<br />

Einschätzungen und Äußerungen aus Teilen <strong>der</strong><br />

Politik und <strong>der</strong> veröffentlichen Meinung in <strong>der</strong><br />

gegenwärtigen Diskussion über Plagiate zur<br />

Kenntnis“, erklärte <strong>der</strong> Präsident des Deutschen<br />

Hochschulverbandes (DHV), Professor Dr.<br />

Bernhard Kempen. „<strong>Wissenschaft</strong> ist die Suche<br />

nach Wahrheit. Sie lebt von Originalität und<br />

Eigenständigkeit. Der redliche Umgang mit Daten,<br />

Fakten und geistigem Eigentum macht die<br />

<strong>Wissenschaft</strong> erst zu <strong>Wissenschaft</strong>. Plagiate<br />

erschüttern daher die Glaubwürdigkeit von<br />

<strong>Wissenschaft</strong>.“<br />

Das Lachen vergangen?<br />

–<br />

Kommt Karl-Theodor zu Guttenberg<br />

nach einem Moratorium zurück in die<br />

Politik ?<br />

Foto: copy & paste<br />

Plagiieren sei kein Bagatelldelikt. „Die Marginalisierung schwersten wissenschaftlichen<br />

Fehlverhaltens durch höchste Repräsentanten unseres Staates ist empörend“, erklärte Kempen.<br />

„Es ist unerträglich, wie die Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> und ihrer ehernen Gesetze politisch<br />

kleingeredet wird. Die im DHV vereinten 26.000 <strong>Wissenschaft</strong>lerinnen und <strong>Wissenschaft</strong>ler<br />

protestieren nachdrücklich gegen diese Respektlosigkeit. <strong>Wissenschaft</strong> ist kein Sandkasten,<br />

son<strong>der</strong>n ein elementar wichtiger Teil unserer Gesellschaft.“<br />

In <strong>der</strong> gegenwärtigen Diskussion gelte es, Balance zu halten. „Auf <strong>der</strong> einen Seite dürfen wir<br />

<strong>Wissenschaft</strong> nicht automatisch unter den Generalverdacht <strong>der</strong> Fälschung stellen. Auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite muß die <strong>Wissenschaft</strong> konsequent gegen Betrugsfälle vorgehen und immer<br />

wie<strong>der</strong> prüfen, ob sie alles tut, um Plagiatoren auf die Schliche zu kommen“, betonte<br />

Kempen.<br />

Im digitalen Zeitalter werde es immer leichter und verführerischer, fremdes Gedankengut per<br />

„Copy und Paste“-Befehl in eigene Arbeiten einzufügen und als eigene geistige Leistung<br />

auszugeben. „Ein hohes Entdeckungsrisiko und klar kommunizierte Sanktionsdrohungen sind<br />

<strong>der</strong> wirksamste Schutz vor wissenschaftlichem Fehlverhalten“, so <strong>der</strong> DHV-Präsident. Daher<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


12<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

sollten die Hochschulen in ihren Prüfungsordnungen festschreiben, daß Arbeiten auch in<br />

digitaler Form abzugeben seien, damit Texte besser und schneller mittels sogenannter<br />

„Plagiats-Software“ auf Übereinstimmungen mit fremden Texten abgeglichen werden<br />

können. Dies gelte auch für Promotionen. In den Prüfungsordnungen sollte zudem festgelegt<br />

werden, daß mit <strong>der</strong> Abgabe von Seminar- und Abschlußarbeiten eine eidesstattliche<br />

Erklärung abzugeben sei, nach <strong>der</strong> die vorgelegte Arbeit selbständig und ohne Hilfeleistung<br />

Dritter angefertigt worden sei.<br />

Kempen nahm aber auch die Hochschullehrer in die Pflicht. Es sei die Aufgabe jedes<br />

Hochschullehrers, verstärkt auf Plagiate von Kollegen, Mitarbeitern und Studierenden zu<br />

achten. „Wegsehen“ sei falsch verstandene Kollegialität und selbst ein wissenschaftliches<br />

Fehlverhalten. Zu den Kernaufgaben <strong>der</strong> Hochschullehrer gehöre, Studierende in die Kultur<br />

wissenschaftlichen Arbeitens einzuführen. „Die Erläuterung wissenschaftlicher Grundregeln<br />

muß zwingend Lehrstoff im ersten Semester werden“, hob Kempen hervor. Ein<br />

Verhaltenskodex mit Darstellung <strong>der</strong> Konsequenzen bei Verstoß sei Studierenden mit <strong>der</strong><br />

Immatrikulation zu überreichen.<br />

Bonn, 25. Februar <strong>2011</strong> - Internetadresse des DHV: http://www.hochschulverband.de<br />

Durch den Aufstand <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> wurde zu Guttenbergs Schicksal als Minister endgültig<br />

besiegelt.<br />

Der <strong>Wissenschaft</strong> obliegt es aber nun, den Selbstreinigungsprozeß voranzutreiben. Es gilt,<br />

dem hehren Ethos des Berufs, das <strong>der</strong> Präsident des Deutschen Hochschulverbandes<br />

beschwört, auch zu entsprechen.<br />

Beim 34. Bildungspolitischen Forum des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> ( „ <strong>Freiheit</strong> und<br />

Verantwortung in Forschung, Lehre und Studium – Die ethische Dimension <strong>der</strong><br />

<strong>Wissenschaft</strong>“) am 27. Februar 2004 in Berlin hielt <strong>der</strong> Trierer Philosoph Klaus Fischer einen<br />

Vortrag zum Thema „Spielräume wissenschaftlichen Handelns - Die Grauzone <strong>der</strong><br />

<strong>Wissenschaft</strong>spraxis?“ Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> zu - Guttenberg - Debatte lohnt es sich<br />

beson<strong>der</strong>s, den Passus „f) Die Verletzung des Rechts an geistigem Eigentum“ nachzulesen.<br />

In seinem Vortrag sprach Klaus Fischer über sehr viele unterschiedliche Bereiche, in denen<br />

viele Arten <strong>der</strong> Täuschung in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> möglich sind und begangen wurden und<br />

werden. Da gibt es nicht nur (nach Babbage) die vier Formen des Schwindels: „Hoaxing“,<br />

„Forging“, „Trimming“ und „Cooking“. (Siehe den Vortrag von Klaus Fischer bei:<br />

www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de - unter „Originaltexte“)<br />

Wahrheit und Ehrlichkeit in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> – ein weites Feld, und manchmal schlüpfrig.<br />

Winfried Holzapfel<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


13<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Inzwischen erfahren wir aus einer Pressemitteilung des Deutschen Hochschulverbandes vom<br />

31 März <strong>2011</strong>, daß nach Auskunft <strong>der</strong> Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) die<br />

Selbstkontrolle in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> „gut funktioniert“.<br />

Bonn, 31. März <strong>2011</strong><br />

DFG: Selbstkontrolle in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> funktioniert gut<br />

“Das System <strong>der</strong> Selbstkontrolle <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> und in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> wird<br />

angenommen und gelebt. Es funktioniert gut.“ Dieses Fazit vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />

Plagiatsaffäre um Karl-Theodor zu Guttenberg zieht die Justitiarin <strong>der</strong> Deutschen<br />

Forschungsgemeinschaft (DFG), Kirsten Hüttemann, in einem Beitrag für die <strong>April</strong>-Ausgabe<br />

<strong>der</strong> Zeitschrift „Forschung & Lehre“. Die steigende Zahl von Verdachtsmomenten, die <strong>der</strong><br />

DFG jährlich angezeigt und bekannt würden, spiegeln laut Hüttemann den kritischen<br />

Umgang mit <strong>der</strong> „Währung <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>“, <strong>der</strong> Ehrlichkeit sich und an<strong>der</strong>en gegenüber,<br />

wi<strong>der</strong>. Ob das Fehlverhalten in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> tatsächlich zugenommen habe o<strong>der</strong><br />

lediglich das zur Kenntnis bringen von Verdachtsmomenten, sei „offen und spekulativ“, so<br />

die DFG-Justitiarin. Ein wachsendes Bewußtsein für den Stellenwert ehrlicher <strong>Wissenschaft</strong><br />

lasse sich hingegen an den Zahlen ablesen.<br />

Die DFG hat Ende <strong>der</strong> 1990er Jahre „Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher<br />

Praxis“ erarbeitet und mit dem „Ombudsman für die <strong>Wissenschaft</strong>“ eine Instanz geschaffen,<br />

an die sich <strong>Wissenschaft</strong>ler zur Beratung und Unterstützung beim Umgang mit<br />

wissenschaftlichem Fehlverhalten vertrauensvoll wenden können. Hüttemann verteidigt das<br />

System <strong>der</strong> Selbstkontrolle: Letztlich seien allein <strong>Wissenschaft</strong>ler in <strong>der</strong> Lage, mögliche<br />

Verfehlungen bei komplexen Vorwürfen zu überprüfen. Eine Untersuchung innerhalb <strong>der</strong><br />

<strong>Wissenschaft</strong>, durch <strong>Wissenschaft</strong>ler selbst, erhöhe zugleich die Akzeptanz einer<br />

Entscheidung. Außerdem wisse je<strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>ler, <strong>der</strong> in eine Kommission berufen o<strong>der</strong><br />

als Ombudsman tätig werde, um die Sensibilität und die Konsequenz seiner Aufklärung. Eine<br />

nach Objektivität besetzte Kommission könne schließlich den Vorwurf <strong>der</strong> Befangenheit<br />

zurückweisen.<br />

Unterstützung<br />

Wer uns in unserer bildungs- und wissenschaftspolitischen Arbeit helfen will, den laden wir<br />

ein, Mitglied im <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> zu werden. Näheres dazu finden Sie auf<br />

unserer Website.<br />

Auch für Spenden auf unser Konto bei <strong>der</strong> Deutschen Bank sind wir dankbar:<br />

Deutsche Bank AG, Bonn BLZ 38070024, Konto 0 233 858<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


14<br />

Kurz berichtet – Ministerranking<br />

Mäßige Noten für Minister<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Birgitta Wolff ist „<strong>Wissenschaft</strong>sministerin des Jahres“<br />

Nur Mäßige Noten für Minister<br />

Birgitta Wolff (CDU), Kultusministerin in Sachsen-Anhalt, darf sich<br />

„<strong>Wissenschaft</strong>sministerin des Jahres“ nennen. Ihre hochschul- und wissenschaftspolitischen<br />

Leistungen wurden im diesjährigen Ministerranking des Deutschen Hochschulverbandes mit<br />

<strong>der</strong> Note „Befriedigend" am besten bewertet. Gewählt werden konnten nur Minister, die zu<br />

Beginn <strong>der</strong> Abstimmung mindestens 100 Tage im Amt waren. An<strong>der</strong>nfalls stand <strong>der</strong><br />

Amtsvorgänger zur Abstimmung. Wolff verwies zwei weitere Kolleginnen auf die Plätze<br />

zwei und drei. Johanna Wanka (CDU) aus Nie<strong>der</strong>sachsen und Sabine Freifrau von<br />

Schorlemmer (parteilos) aus Sachsen wurden für ihre Leistungen mit <strong>der</strong> Note „Noch<br />

Befriedigend“ bedacht.<br />

Zum zweiten Mal wurde <strong>der</strong>/die „<strong>Wissenschaft</strong>sminister/-in des Jahres“ in einer Online-<br />

Umfrage unter den 26.000 Mitglie<strong>der</strong>n des Verbandes ermittelt. Anhand eines<br />

Eigenschaftskatalogs konnten die DHV-Mitglie<strong>der</strong> die Kompetenzen und Fähigkeiten <strong>der</strong><br />

Landeswissenschaftsminister und <strong>der</strong> <strong>Bund</strong>esministerin für Bildung und Forschung<br />

umfassend beurteilen. An <strong>der</strong> Abstimmung vom 11. November bis 15. Dezember 2010<br />

nahmen 2.052 <strong>Wissenschaft</strong>ler teil. Sie zeigten sich nur mäßig zufrieden mit ihren<br />

<strong>Wissenschaft</strong>sministern. Gegenüber dem Vorjahr verschlechterte sich <strong>der</strong>en<br />

Durchschnittsnote weiter von 3,7 auf 3,9.<br />

Knapp oberhalb dieses Wertes rangieren die rheinland-pfälzische Ministerin Doris Ahnen<br />

(SPD) und ihr baden-württembergischer Kollege Peter Frankenberg (CDU). <strong>Bund</strong>esministerin<br />

Annette Schavan (CDU) landete mit <strong>der</strong> Note „Ausreichend Plus“ im Mittelfeld, knapp hinter<br />

Berlins Senator Jürgen Zöllner (SPD). In dem Notenspektrum zwischen Vier Plus und Vier<br />

Minus befinden sich Christoph Matschie (SPD) aus Thüringen, Wolfgang Heubisch (FDP)<br />

aus Bayern, Svenja Schulze (SPD) aus Nordrhein-Westfalen, Henry Tesch (CDU) aus<br />

Mecklenburg-Vorpommern, Eva Kühne-Hörmann (CDU) aus Hessen und Martina Münch<br />

(SPD) aus Brandenburg. Das Schlußduo bilden die Nordlän<strong>der</strong> Hamburg und Schleswig-<br />

Holstein. Die Leistungen von Ex-Senatorin Herlind Gundelach (CDU) und Minister Jost de<br />

Jager (CDU) wurden mit „Mangelhaft“ benotet.<br />

In die Bewertung kamen nur Minister, für die mindestens 50 Bewertungen abgegeben wurden.<br />

Das erfor<strong>der</strong>liche Quorum verfehlten die Bremer Ministerin Renate Jürgens-Pieper<br />

(SPD) und <strong>der</strong> saarländische Minister Christoph Hartmann (FDP) mit 39 bzw. 38 Stimmen.<br />

<strong>Wissenschaft</strong>lich begleitet wurde das Ranking vom Zentrum für Evaluation und Methoden <strong>der</strong><br />

Universität Bonn. Das detaillierte Ergebnis ist in <strong>der</strong> <strong>April</strong>-Ausgabe <strong>der</strong> Zeitschrift<br />

„Forschung & Lehre“ .<br />

Sie finden es hier:<br />

http://www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de/downloads/rankingdhv_<strong>2011</strong>.pdf<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


15<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Anmerkungen zur bildungspolitischen Lage<br />

Von Hermann Giesecke<br />

„Der traditionelle, aus <strong>der</strong> Spannung<br />

zwischen Erhaltung und Verän<strong>der</strong>ung<br />

erwachsende politische Diskurs ist<br />

weitgehend von einer geschichtslosen<br />

Kampagnen-Kultur verdrängt worden“.<br />

„Ohne den Bezug auf berechtigte<br />

For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gesellschaft an jeden<br />

einzelnen Heranwachsenden verlieren<br />

alle an<strong>der</strong>en pädagogischen Ideen und<br />

Maßnahmen letztlich ihren Sinn“.<br />

Zur Person:<br />

www.hermann-giesecke.de/vita.htm<br />

Anmerkungen zur bildungspolitischen Lage<br />

Professor Dr. Hermann Giesecke<br />

Die pädagogische Praxis, also das, was in den pädagogischen Einrichtungen wirklich<br />

geschieht, ist inzwischen aus <strong>der</strong> bildungspolitischen Diskussion nahezu vollständig<br />

verschwunden. Das mag überraschen, weil doch die mo<strong>der</strong>ne empirische Bildungsforschung<br />

wie PISA die öffentliche Meinung zum Thema nachgerade beherrscht. Aber PISA ist<br />

unmittelbar gerade nicht an <strong>der</strong> Aufklärung <strong>der</strong> Schulwirklichkeit und auch nicht an einer<br />

Verbesserung des Unterrichts interessiert, son<strong>der</strong>n vor allem an <strong>der</strong> Anstachelung des<br />

Wettbewerbs im Rahmen internationaler Vergleiche. "Aus PISA läßt sich die Verbesserung<br />

nicht einer einzigen Unterrichtsstunde unmittelbar ableiten." 1<br />

1 Toni Hansel: PISA - und die Folgen? Die Wirkung von Leistungsvergleichsstudien in <strong>der</strong> Schule - eine Einführung.<br />

In: Toni Hansel (Hg.): PISA - und die Folgen? Die Wirkung von Leistungsvergleichsstudien in <strong>der</strong> Schule.<br />

Herbolzheim 2003, S. 18-29, hier S. 27<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


16<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Was wissen wir über die realexistierenden Schulen?<br />

Als das Lehrerkollegium <strong>der</strong> Rütli-Schule in Berlin-Neukölln im März 2006 <strong>der</strong><br />

Senatsverwaltung die Auflösung <strong>der</strong> Schule vorschlug, weil vor allem wegen gewalttätiger<br />

Schüler Unterricht dort gar nicht mehr möglich sei, gaben sich die politisch Verantwortlichen<br />

und die öffentliche Meinung erstaunt, als hätten sie von <strong>der</strong>artigen Zuständen noch nie etwas<br />

gehört. Aber wir wissen immer noch nicht mit repräsentativer Zuverlässigkeit, wie groß <strong>der</strong><br />

Anteil solcher Schulen in welchen Regionen ist, ob die Lehrer Unterschiedliches meinen,<br />

wenn sie von "Unterricht" sprechen, wie viel Zeit in <strong>der</strong> Stunde mit Frontalunterricht bzw. mit<br />

an<strong>der</strong>en methodischen Varianten verbracht wird, in wie vielen Schulen (welcher Schularten)<br />

wie viel Zeit täglich den Disziplinschwierigkeiten statt dem Unterricht zugute kommt, wie<br />

viel Zeit mit Konferenzen gefüllt ist, aus denen hinterher nichts weiter folgt, weil schon<br />

wie<strong>der</strong> eine neue Reformmode auf den Schreibtischen liegt - um nur einige Anfragen an die<br />

Wirklichkeit zu formulieren. Vieles Wichtige könnte man mit relativ einfachen<br />

Erhebungsmethoden ermitteln, so wie jede Woche im Fernsehen die Beliebtheit von<br />

Politikern. Entsprechende Fakten zur Hand zu haben, wäre für die Qualität <strong>der</strong> pädagogischen<br />

Diskussion über die Schule gewiss nützlich, weil sich viele hochtrabende schulpädagogische<br />

Wunschvorstellungen als bloße Rhetorik erweisen könnten. Aber die Wahrheit über unsere<br />

realexistierenden Schulen - und damit ja auch über die realexistierenden Schüler - interessiert<br />

die Verantwortlichen offenbar wenig.<br />

Es geht in <strong>der</strong> Bildungspolitik auch nicht mehr um die inhaltliche Vernünftigkeit des<br />

Unterrichts, son<strong>der</strong>n nur noch um die damit verbundenen Leistungen bzw. Berechtigungen<br />

und darum, wie man diese zweifelsfrei und damit kritikresistent messen und rechtfertigen<br />

kann. Hier gibt es eine Interessenallianz zwischen mo<strong>der</strong>ner empirischer Bildungsforschung<br />

und Evaluation einerseits und administrativ-gouvernementalem Handeln an<strong>der</strong>erseits. Die<br />

mo<strong>der</strong>ne Bildungsforschung beschränkt ihren Interpretationshorizont auf das, was sie mit<br />

ihren quantifizierenden Methoden tatsächlich erfassen kann, die Administration leitet daraus<br />

eine weitgehend kritikresistente, weil ja doch wissenschaftlich scheinbar verbürgte<br />

Rechtfertigung ihrer Maßnahmen ab.<br />

Das läßt sich etwa an <strong>der</strong> Verwendung des Zielbegriffs <strong>der</strong> "Kompetenz" erkennen. Der ist<br />

eigentlich eher aus Verlegenheit von den PISA-Autoren in die bildungspolitische Debatte<br />

eingeführt worden, weil auf diese Weise ein Vergleichsmaßstab für den eigentlichen Zweck<br />

dieser Untersuchungen - nämlich das national-vergleichende Ranking - gefunden werden<br />

konnte. Altmodische Lehrplaninhalte und darauf bezogene Leistungen könnten nämlich gar<br />

nicht miteinan<strong>der</strong> verglichen werden, weil sie in den einzelnen Staaten viel zu unterschiedlich<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


17<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

formuliert werden. Vergleichsmaßstab sollen deshalb Anwendungen von Wissen und Können<br />

sein - natürlich nur in <strong>der</strong> Fassung, in <strong>der</strong> sie vorher definiert wurden und so, daß sie mit dem<br />

Raster <strong>der</strong> benutzten empirischen Verfahren auch erfaßt werden können. Welche<br />

Wirklichkeitsnähe - etwa im Hinblick auf beson<strong>der</strong>s favorisierte beruflich brauchbare<br />

Fähigkeiten ("employability") - damit tatsächlich erreicht wird, bedürfte einer genaueren<br />

Prüfung; die dafür verwendeten Testaufgaben erscheinen jedenfalls teilweise eher<br />

lebensfremd.<br />

Es gibt also inzwischen ein wechselseitiges Bedingungsgefüge von Inhalten des Lehrens und<br />

Lernens, institutionalisiertem Forschungsinteresse, gouvernementalem Verwalten und<br />

Reduktion von pädagogischer Wirklichkeit auf solche Daten, die empirisch erfaßt werden<br />

können. Die Folgen sind erheblich: Der aufklärerische Impetus <strong>der</strong> ersten PISA-Studie z.B.<br />

ist längst verflogen. Scheinbar unaufhaltsam führt die empirische Bildungs-Großforschung zu<br />

einem Diktat von Kennziffern und Statistiken, damit folgerichtig zur Enthistorisierung und<br />

Entpolitisierung/Entdemokratisierung des öffentlichen Bildungsdiskurses. Eine spezifische<br />

Art <strong>der</strong> Meßbarkeit beginnt die Wirklichkeit zu normieren und die öffentliche Meinung zu<br />

beherrschen. Dabei hat sich die mo<strong>der</strong>ne Erziehungswissenschaft in den letzten Jahrzehnten<br />

nicht nur in ihrer empirischen, son<strong>der</strong>n z.B. auch in ihrer historischen Abteilung erheblich<br />

profiliert. Das in <strong>der</strong> historischen Perspektive eigentlich zur Verfügung stehende kritische<br />

Potenzial (was hat sich warum wodurch und mit welchem Ergebnis verän<strong>der</strong>t und was soll<br />

jetzt warum und auf welche Weise verbessert werden?) wird im öffentlichen Diskurs nicht<br />

abgerufen und ist in <strong>der</strong> empirischen Argumentation gar nicht mehr vorgesehen, weil es damit<br />

nicht kompatibel ist. Der historische Horizont etwa bei PISA ist begrenzt auf die Sequenz <strong>der</strong><br />

periodischen Rankings. Diese Forschungs- und Interpretationsdominanz führt auch zu einer<br />

schleichenden demokratie-politischen Enteignung <strong>der</strong> Wähler, wie ein Vergleich mit den<br />

Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre heftig umkämpften Hessischen Rahmenrichtlinien<br />

"Gesellschaftskunde" zeigt; diese waren inhaltlich ausgerichtet, nur deshalb konnten sie so<br />

intensiv diskutiert werden, und es war allen klar, an wen sich Zustimmung und Kritik zu<br />

richten hatten: an den zuständigen Kultusminister. Die "Autonomisierung" von Schulen (und<br />

Hochschulen), die Institutionalisierung <strong>der</strong> Evaluation und an<strong>der</strong>e Bürokratisierungen haben<br />

die politische Verantwortung seither jedoch weitgehend ausgehöhlt o<strong>der</strong> vernebelt.<br />

Demokratische Partizipation hängt jedoch daran, daß sie aus <strong>der</strong> Frage erwachsen kann, aus<br />

welchen historischen Gründen etwas so geworden ist, wie es ist, und was daran warum<br />

verbessert werden soll. Aber schon diese Fragestellung kommt im öffentlichen Diskurs aus<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


18<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

<strong>der</strong> Mode: An<strong>der</strong>s müsse man es machen, dann werde sich zeigen, ob es auch besser ist. 2 Der<br />

traditionelle, aus <strong>der</strong> Spannung zwischen Erhaltung und Verän<strong>der</strong>ung erwachsende politische<br />

Diskurs ist weitgehend von einer geschichtslosen Kampagnen-Kultur verdrängt worden.<br />

In <strong>der</strong> Hamburger schulpolitischen Auseinan<strong>der</strong>setzung um die 6-jährige Primarschule, die<br />

2010 durch einen Volksentscheid verhin<strong>der</strong>t wurde, spielte die inhaltliche Frage kaum noch<br />

eine Rolle: Was sollte eigentlich in den zwei Jahren zusätzlicher Grundschule - hier<br />

"Primarschule" genannt - Bedeutsames geschehen, was den Verzicht auf zwei Gymnasialjahre<br />

hätte rechtfertigen können? Inhaltliche Kritik hätte da ins Leere gegriffen, weil es keine<br />

beweisfähigen Lehrpläne mehr gibt, son<strong>der</strong>n nur noch vage "Standards" und "Kompetenzen".<br />

Die Wirkungsprüfung - Evaluation genannt - ist am Ergebnis interessiert, wie es zustande<br />

kommt, ist für die Administration weitgehend uninteressant geworden.<br />

Was sich da in den letzten Jahrzehnten verän<strong>der</strong>t hat, läßt sich in drei Tendenzen<br />

zusammenfassen:<br />

1. Der klassische bildende Unterricht wurde heftig attackiert, relativiert und wo es ging sogar<br />

beseitigt. Dieser Unterricht beruhte auf einem Kanon von Fächern und Stoffen, die Stoffe<br />

wurden in Form von Lehrplänen bzw. Richtlinien auf die Jahrgangsklassen verteilt,<br />

didaktisch in Lehrgängen präzisiert und in einem Schulbuch als Lehrbuch fixiert, aus dem<br />

<strong>der</strong> Schüler je<strong>der</strong>zeit erfahren konnte, was er bereits gelernt hatte und was ihm noch<br />

bevorstand. Statt dessen wurde eine offene schülerzentrierte Kommunikation propagiert mit<br />

möglichst "lebensnahen", neuerdings auch "arbeitsmarktnahen" Themen. Der Blick wandte<br />

sich von <strong>der</strong> Objektivität <strong>der</strong> Stoffe - und <strong>der</strong> durch sie repräsentierten Wirklichkeit - zur<br />

Subjektivität <strong>der</strong> Schülerwünsche bzw. des aktuellen "Schülerinteresses" - o<strong>der</strong> was man<br />

dafür hielt. 3<br />

2. Die erzieherische Aufmerksamkeit wandte sich von den zu for<strong>der</strong>nden Manieren und<br />

Verhaltensweisen ab und den inneren Zuständen und Motiven des einzelnen Kindes zu.<br />

3. Die Lehrberufe an Schulen wurden durch die erwähnte Relativierung des Unterrichts und<br />

durch die multifunktionale Erweiterung <strong>der</strong> Aufgaben zunehmend ent-professionalisiert. 4<br />

2<br />

Zu diesem über die Bildungspolitik hinausreichenden Trend vgl.: Konrad Paul Liessmann: Theorie <strong>der</strong><br />

Unbildung. Wien 2006<br />

3<br />

Ausführlicher zur Kritik <strong>der</strong> reformpädagogischen Umdeutung des Unterrichts: Michael Felten: Auf die Lehrer<br />

kommt es an! Für eine Rückkehr <strong>der</strong> Pädagogik in die Schule. Gütersloh 2010<br />

4<br />

Vgl. Hermann Giesecke: Was Lehrer leisten. Porträt eines schwierigen Berufes. Weinheim/München 2001;<br />

<strong>der</strong>s.: Wozu ist die Schule da? Stuttgart 1996 (als Volltext verfügbar unter: www.hermann-<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


19<br />

Reformpädagogik als Weltanschauung<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Diese bildungspolitischen Tendenzen werden auf <strong>der</strong> schulpraktischen Ebene von einer<br />

reformpädagogischen Bewegung 5 begleitet und unterstützt, die sich zumindest <strong>der</strong> Idee nach<br />

teilweise auch in konservativ regierten <strong>Bund</strong>eslän<strong>der</strong>n durchgesetzt hat. Sie ist jedoch primär<br />

eine allgemeine Weltanschauung 6 und erst daraus abgeleitet auch ein pädagogisches Konzept.<br />

Über dessen pädagogische Pragmatik kann man sich vor<strong>der</strong>gründig leicht verständigen. So<br />

gibt es kaum eine Unterrichtsmethode, die per se unsinnig wäre, und auch <strong>der</strong> propagierte<br />

pädagogische Umgang zwischen Lehrern und Schülern könnte weitgehend akzeptiert werden<br />

- wenn aus beidem nicht in dogmatischer Einseitigkeit selektiert würde. Entscheidend ist<br />

nämlich, in welchem pädagogisch-strategischen Zusammenhang die konkreten Vorschläge<br />

verstanden und verwendet werden. In dieser Betrachtung wird schnell die weltanschauliche<br />

Grundlage unübersehbar, nämlich bei dem Bestreben, politisch-gesellschaftliche Ziele als<br />

pädagogische auszugeben und als solche anzustreben bzw. von angeblichen gesellschaftlichen<br />

Notwendigkeiten her pädagogische Ziele zu begründen. Zwar finden sich unterschiedliche<br />

Akzentsetzungen bei den einzelnen Autoren und Verfechtern, aber die allen zugrunde<br />

liegenden Gemeinsamkeiten lassen sich in folgenden Punkten kennzeichnen: 7<br />

1. "Lehrer unterrichten Schüler, nicht Fächer!" Dieses verbreitete didaktische Bekenntnis mag<br />

eine gewisse Aufmerksamkeit hervorrufen, weil es aus <strong>der</strong> Alltagserfahrung leicht für<br />

selbstverständlich gehalten wird. Aber was sollen die Schüler auf diese Weise lernen? Jede<br />

dauerhafte Welterkenntnis, die mit bereits vorhandenen Kenntnissen systematisch verbunden<br />

werden soll, ist auf vorgängige Ordnungsmuster angewiesen, sonst ertrinkt sie im Meer <strong>der</strong><br />

Komplexität und kann mit an<strong>der</strong>en Menschen kaum noch ausgetauscht werden. 'Mathematik',<br />

'Geschichte', 'Biologie' usw. erlauben uns eine erste Einordnung von Fragen, Kenntnissen und<br />

Urteilen und vor allem auch die Kommunikation darüber.<br />

5 Zur Geschichte <strong>der</strong> Reformpädagogik vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. 5. Aufl. Weinheim 2005<br />

6 Vgl. Hermann Giesecke: Was ist eine mo<strong>der</strong>ne Schule? In: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 21 (2010), Heft 1, S. 31 -<br />

33. Dieser Band enthält weitere 31 teilweise sehr kontroverse Beiträge zur gegenwärtigen Diskussion<br />

reformpädagogischer Ziele und Implikationen.<br />

7 www.blickueberdenzaun.de führt zur Homepage einer reformpädagogischen Initiative, die maßgeblich von <strong>der</strong><br />

Odenwaldschule ausging und <strong>der</strong> sich angeblich bereits über 100 Schulen angeschlossen haben.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


20<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

2. Angeblich gibt es keine überzeugende Grundlage mehr für einen Kanon von Fächern und<br />

Stoffen. Die hat es aber in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nie einfach so gegeben. Sie war immer Resultat<br />

politischer Entscheidungen, wobei das Bildungsbürgertum als soziale Gruppe lange einen<br />

gewissen geistigen Führungsanspruch einnehmen konnte, <strong>der</strong> gegenwärtig in <strong>der</strong> Tat nicht<br />

mehr selbstverständlich anerkannt ist. Aber nach wie vor muß <strong>der</strong> staatliche Schulträger -<br />

durchaus mit einem gewissen <strong>Freiheit</strong>sspielraum - festlegen, was die Schüler in welchen<br />

Fächern lernen sollen, schon damit ein kommunizierbarer Grundbestand an gemeinsamen<br />

Kenntnissen und Vorstellungen in <strong>der</strong> Gesellschaft über die Generationen hinweg bestehen<br />

bleibt. Unter dem didaktischen Leitmotiv <strong>der</strong> "Kompetenz" jedoch werden die<br />

Unterrichtsstoffe instrumentalisiert und relativiert, als könne man die gewünschte Fähigkeit<br />

an unterschiedlichen Inhalten und Aufgaben lernen. In dieser Annahme, die in formaler<br />

Hinsicht - etwa beim Erlernen von Methoden des Erkennens - durchaus Sinn machen kann,<br />

gelten aber die Stoffe und deshalb auch die sie repräsentierenden Wirklichkeiten als<br />

austauschbar und somit als pädagogisch nicht substantiell - und werden auf diese Weise<br />

allgemeinen weltanschaulich fundierten Gesinnungs- o<strong>der</strong> Erziehungsintentionen<br />

unterworfen. Die gegenwärtige Reformpädagogik ist weniger ein Bildungs- als vielmehr ein<br />

Erziehungskonzept.<br />

3. Die erwachsenen Pädagogen - so die entscheidende erzieherische Prämisse - könnten<br />

gegenüber Kin<strong>der</strong>n keinen allgemeinen Führungsanspruch mehr geltend machen, weil<br />

niemand mehr voraussehen könne, wie die Welt aussehen wird, in <strong>der</strong> sich die Schüler in<br />

Zukunft bewähren müssen. In <strong>der</strong> Tat ist das ein Problem in einer sich stark verän<strong>der</strong>nden<br />

Gesellschaft: Was muß man in Kindheit und Jugend lernen, wenn man nicht wissen kann,<br />

was man 15 Jahre später wissen muß o<strong>der</strong> möchte? Die grundsätzlich unberechenbar<br />

gewordene Arbeitsmarktlage im globalisierten Kapitalismus hat dieses Problem gewiß noch<br />

verschärft, aber die klassische Antwort Humboldts - "Allgemeinbildung" statt zu früher<br />

beruflicher Spezialisierung - nicht außer Kraft gesetzt. Aus dieser Antwort kann auch eine<br />

gewisse Gelassenheit abgeleitet werden. Eltern wird ja inzwischen vielfach - nicht zuletzt mit<br />

Blick auf ihren Geldbeutel - nahegelegt, ihre Kin<strong>der</strong> schon vom Babyalter an -<br />

selbstverständlich mit garantierter kin<strong>der</strong>psychologischer Absicherung - auf bestimmte<br />

Leistungen hin zu trimmen, damit sie den später zu erwartenden radikalen personellen<br />

Wettbewerb bestehen können. Aber so weit und so genau ist <strong>der</strong> praktische Nutzen von<br />

Lernen und Bildung nicht im voraus zu planen, deshalb sind die damit verbundenen<br />

Erwartungen (und Befürchtungen) im Hinblick auf die Zukunft des Kindes schlechterdings<br />

unkalkulierbar und somit auch unrealistisch.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


21<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Selbsttäuschungen 'linker' Bildungspolitik<br />

Die weitgehende Eroberung <strong>der</strong> öffentlichen Meinung durch reformpädagogische<br />

Vorannahmen verdankt sich auch ihrer Verbindung mit einflußreichen gesellschaftlichen<br />

Trägern, wozu insbeson<strong>der</strong>e 'linke' Parteien und Verbände und zumindest Teile <strong>der</strong> offiziellen<br />

GEW gehören. Das ist deshalb bemerkenswert, weil entgegen <strong>der</strong> ausdrücklichen<br />

bildungspolitischen Zielsetzung dieser Gruppen eine Bildungsemanzipation <strong>der</strong><br />

"bildungsfernen" sozialen Schichten auf diese Weise nicht zu erreichen - und also auch nicht<br />

zu befürchten - ist. Ideologiekritisch gesehen - wenn man Gedanken in Beziehung zu<br />

Interessen setzt - müßte <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> das bürgerliche Bildungsprivileg retten wollte - was ja<br />

Konservativen üblicherweise vorgeworfen wird - heute eigentlich 'links' wählen. Das<br />

wirkliche Leben <strong>der</strong> "bildungsfern" aufwachsenden Kin<strong>der</strong> und darauf bezogene<br />

realitätsgerechte pädagogisch-bildungspolitische Interventionen spielen in linken Kreisen<br />

außer als Legitimationsbeschaffung für die Durchsetzung und Aufrechterhaltung des eigenen<br />

bürgerlichen Bildungsprivilegs kaum eine Rolle. 8<br />

In diesen Interessenzusammenhang gehört auch die reformpädagogische Bewegung.<br />

Psychologisierung des pädagogischen Denkens<br />

Sie hätte allerdings ohne ihr Bündnis mit <strong>der</strong> allgemeinen gesellschaftlichen<br />

Psychologisierung kaum so erfolgreich werden können. Diese hat die fachlichen Grenzen <strong>der</strong><br />

Psychologie als <strong>Wissenschaft</strong> längst überschritten, alle Bereiche des gesellschaftlichen<br />

Lebens und hier insbeson<strong>der</strong>e auch die Pädagogik durchdrungen und sich dabei ebenfalls als<br />

allgemeine Weltanschauung manifestiert. Von ihr hat sich die Reformpädagogik eine<br />

scheinbar überparteiliche Legitimation beschafft, wobei sie von <strong>der</strong> Tatsache profitierte, daß<br />

die Pädagogik <strong>der</strong> psychologischen Forschung und ihrer therapeutischen Praxis viel zu<br />

verdanken hat: Das Verständnis für kindliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen hat sich<br />

allgemein - nicht nur in Fachkreisen - enorm verbessert; die emotionalen Dimensionen <strong>der</strong><br />

privaten wie öffentlichen menschlichen Beziehungen sind klarer bewußt geworden. Auch <strong>der</strong><br />

therapeutische Nutzen psychologischer Verfahren für korrigierende pädagogische<br />

Maßnahmen ist nicht zu bestreiten.<br />

8 Diese Überlegungen werden weiter ausgeführt in: Hermann Giesecke: Pädagogik - quo vadis? Weinheim -<br />

München 2009, vor allem S. 69 ff.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


22<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Wenn aber wie bei <strong>der</strong> psychologisierten Reformpädagogik psychologische Denkweisen auch<br />

die pädagogische Normalität begründen und gestalten sollen, rächt sich allerdings die<br />

pädagogische Realität dafür, daß dabei wichtige Dimensionen des pädagogischen Handelns<br />

wie etwa die folgenden therapeutisch mißverstanden werden. 9<br />

1. Weil sie nicht zum therapeutischen Berufsbild gehört, verschwindet die For<strong>der</strong>ung als<br />

zentrale pädagogische Handlungskategorie.<br />

Das therapeutische Denken hat im Unterschied zum pädagogischen dafür keine<br />

Begründungsmöglichkeit, was schon <strong>der</strong> Begriff "Klient" andeutet. Es muß vielmehr auf die<br />

Mobilisierung <strong>der</strong> individuellen Innerlichkeit und ihrer Motive und Einsichten setzen. Die<br />

pädagogische Praxis ist jedoch an<strong>der</strong>s begründet. Sie beruht bekanntlich auf <strong>der</strong> biologischen<br />

Tatsache, daß Kin<strong>der</strong> nach ihrer Geburt über Jahre hinweg ohne die Hilfe Erwachsener nicht<br />

lebensfähig bzw. noch nicht in <strong>der</strong> Lage sind, selbstständig am Leben <strong>der</strong> Erwachsenen, also<br />

am gesellschaftlichen Leben überhaupt, teilzunehmen. Weil diese biologisch fundierte<br />

"Entwicklungstatsache" (Bernfeld) jenseits aller historischen Variationen prinzipiell feststeht,<br />

gründet sich darauf alle Pädagogik. Was dagegen an Bildung und Erziehung kulturell bedingt<br />

ist, variiert erheblich, beruht auf Traditionen, Erfahrungen, Vorurteilen, Moden, auf<br />

wissenschaftlichen Erklärungsversuchen – jedenfalls nicht auf etwas, was zeitlos gewiß und<br />

gültig ist. Das schließt nicht aus, daß auch historisch entstandene Festlegungen im Zeitrahmen<br />

von mehreren Generationen als verbindlich erlebt und keineswegs als beliebig verstanden<br />

werden.<br />

Die biologische Ausgangslage zwang zu allen Zeiten die Menschen, ihr soziales und<br />

gesellschaftliches Leben im ganzen auf die Entwicklungstatsache hin zu organisieren.<br />

Erziehung gehört demnach zu den fundamentalen gesellschaftlichen Handlungsstrategien wie<br />

Wirtschaft, Politik, Rechtsprechung usw. Folgerichtig beruht <strong>der</strong> Kern des pädagogischen als<br />

eines gesellschaftlichen Handelns einerseits auf angemessener Schonung und<br />

Rücksichtnahme, an<strong>der</strong>erseits aber auch auf For<strong>der</strong>ungen an den Nachwuchs, denn die große<br />

Differenz zwischen dem neugeborenen und dem erwachsenen Menschen muß ja über Jahre<br />

hinweg überwunden werden. Dazu gehört auch heute etwa die unmißverständliche Erwartung,<br />

in <strong>der</strong> Schule - ohne Anspruch auf beson<strong>der</strong>e Motivationskunststückchen - Wissen und<br />

Manieren zu lernen, um später seinen Lebensunterhalt zu verdienen und nicht <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

als <strong>der</strong> Fürsorge bedürftig unnötig zur Last zu fallen.<br />

9 Die folgenden Überlegungen sind ausführlicher erörtert in: Hermann Giesecke 2009, vor allem S. 43 ff.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


23<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Von For<strong>der</strong>ungen an die nachwachsende Generation und von daraus erwachsenden Pflichten<br />

ist jedoch in den aktuellen wissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskursen wie auch in<br />

den Einrichtungen <strong>der</strong> Öffentlichen Erziehung kaum noch die Rede. Das wie<strong>der</strong>um hat eine<br />

Desorientierung <strong>der</strong> Beteiligten zur Folge. Die Notwendigkeit von For<strong>der</strong>ungen verschwindet<br />

ja nicht, die werden z.B. psychologisiert und in personenorientierte Erwartungen verwandelt<br />

("Nun bin ich aber sehr betrübt darüber, daß unsere Absprache wie<strong>der</strong> nicht eingehalten<br />

wurde ..." - beschwert sich <strong>der</strong> wegen fehlen<strong>der</strong> Hausaufgaben beleidigte Lehrer). Somit<br />

werden Ansprüche dann - gleichsam meuchlings - doch irgendwie wie<strong>der</strong> geltend gemacht.<br />

Ein Klima <strong>der</strong> verdrucksten Vagheit macht sich dann in den pädagogischen Beziehungen<br />

breit.<br />

Ohne den Bezug auf berechtigte For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gesellschaft an jeden einzelnen<br />

Heranwachsenden verlieren alle an<strong>der</strong>en pädagogischen Ideen und Maßnahmen letztlich ihren<br />

Sinn. Das gilt z.B. auch für die Aufgabe, Kin<strong>der</strong> in je<strong>der</strong> nur denkbaren Weise zu för<strong>der</strong>n.<br />

Nur im Hinblick auf eine Aufgabe, also auf eine For<strong>der</strong>ung, kann För<strong>der</strong>n überhaupt Sinn<br />

machen. Die bloße kindliche Innerlichkeit läßt sich nicht för<strong>der</strong>n.<br />

Die Tendenz zur überzogenen Psychologisierung führt also nicht zu einer Verbesserung -<br />

etwa im Sinne einer Humanisierung - traditioneller 'autoritärer' pädagogischer Strategien, wie<br />

immer wie<strong>der</strong> behauptet wird, vielmehr verschwindet pädagogisches Handeln als Typ<br />

gesellschaftlichen und somit am Gemeinwohl orientierten Handelns allmählich aus dem<br />

öffentlichen Leben und Bewusstsein.<br />

2. Charakteristisch für die psychologisierende pädagogische Denkweise ist folgerichtig die<br />

ihr innewohnende soziale Ignoranz.<br />

Von "sozialer Kompetenz" ist zwar unentwegt die Rede, aber gemeint ist damit lediglich eine<br />

psychologisch verstandene (etwa anti-aggressive) Beziehungskompetenz <strong>der</strong> Individuen in<br />

gegenseitigem Austausch. Das ist wichtig, aber eine soziale Dimension - etwa die Schulklasse<br />

als 'Bildungs- und Solidargemeinschaft' - wird damit noch nicht erreicht. Sobald das Soziale<br />

mitgedacht würde, müßte eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den davon ausgehenden Erwartungen<br />

und For<strong>der</strong>ungen stattfinden. Die relativ dauerhaften sozialen Gebilde - auch Familie, Schule,<br />

Kirche, Sportverein, - fungieren nämlich als Bewahrer wichtiger Alltagsnormen, auf die sich<br />

die Mitglie<strong>der</strong> stützen können. Darin ist mehr enthalten als die bloße Summe <strong>der</strong> hier jeweils<br />

stattfindenden menschlichen Beziehungen. Eine Familie z.B. hätte eine kurze Lebensdauer,<br />

wenn sie sich sozial lediglich aus dieser Unmittelbarkeit heraus verstehen würde. Erziehung<br />

beruht im Kern auf sozialer Repräsentanz, sie geschieht durch Erwachsene im Namen von<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


24<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Sozialitäten. Verblaßt die Repräsentation von Sozialem wie bei längerer Arbeitslosigkeit von<br />

Vätern, verschwindet allmählich oft auch <strong>der</strong>en erzieherische Autorität.<br />

Am Beispiel <strong>der</strong> Schulklasse zeigt sich, dass <strong>der</strong> aktuelle pädagogische Diskurs keine<br />

Sozialvorstellungen anzubieten hat, die <strong>der</strong> Komplexität einer pluralistischen Gesellschaft<br />

gerecht werden könnten. Insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> reformpädagogische Sozialhorizont ist romantisch<br />

verfälscht, nämlich fixiert auf "Nähe" und "Ganzheitlichkeit". Deshalb werden soziale<br />

Differenzen leicht ignoriert. Die Pädagogik müsse sich auf den "ganzen" Menschen richten,<br />

nicht nur auf seinen Verstand und auf begrenzte kognitive Leistungen, son<strong>der</strong>n auch auf seine<br />

Gefühle. Das ist tatsächlich bis etwa zum Schuleintritt richtig, weil das Kind in den ersten<br />

Lebensjahren auf die umfassende Fürsorgetätigkeit <strong>der</strong> zuständigen Erwachsenen und damit<br />

im Wesentlichen auf die familiären Nahbeziehungen angewiesen ist. Aber schon in <strong>der</strong><br />

Grundschulzeit muß eine soziale Differenzierung beginnen. Die Lehrerin ist nicht Mutter o<strong>der</strong><br />

Tante, <strong>der</strong> Lehrer nicht Vater o<strong>der</strong> Onkel, die Mitschüler sind keine Geschwister, aber auch<br />

nicht von vornherein allesamt Freunde. Der gemeinsame Unterricht verlangt unabhängig<br />

davon, wie gut einem die an<strong>der</strong>en gefallen, eine sachbezogene Arbeitshaltung gegenüber<br />

allen. Solidarisch muß man darüber hinaus auch mit denen sein, die man eigentlich nicht<br />

ausstehen kann. Ein komplexes soziales Lernfeld tut sich da schon für Grundschüler auf, aber<br />

ein dafür angemessenes und hinreichend differenziertes pädagogisches Konzept ist gerade<br />

auch unter <strong>der</strong> Flagge des "sozialen Lernens" nicht in Sicht.<br />

Der Unterricht in <strong>der</strong> Schule for<strong>der</strong>t z.B. in erster Linie begrenzte unterrichtsrelevante<br />

Leistungen heraus. Wer schlecht in 'Mathe' ist, kann als Ersatz dafür nicht auf seine Künste<br />

beim privaten Klavierspielen o<strong>der</strong> im örtlichen Sportverein verweisen. Seine Ganzheit muß<br />

<strong>der</strong> junge Mensch in Form einer ihn selbst und an<strong>der</strong>e überzeugenden Konstruktion von<br />

Identität selbst entwickeln, indem er seine unterschiedlichen und nicht selten auch<br />

wi<strong>der</strong>sprüchlichen Erfahrungen dafür nutzt. Das kann ihm nur gelingen, wenn die<br />

professionell mit seiner Erziehung beauftragten Erwachsenen etwa in <strong>der</strong> Schule ein<br />

hinreichend differenziertes Verhalten auch von ihm erwarten.<br />

Die mo<strong>der</strong>nen politischen <strong>Freiheit</strong>en beruhen übrigens gerade nicht auf Ganzheiten, son<strong>der</strong>n<br />

auf Unterscheidungen - etwa zwischen Arbeit und Freizeit, Nähe und Distanz, Privat und<br />

Öffentlich, Professionalität und Laientum bis hin zur Trennung zwischen den staatlichen<br />

Gewalten. Umgekehrt heißt das aber auch, dass Versuche, diese Trennungen wie<strong>der</strong><br />

aufzuheben, demokratiepolitisch höchst problematisch sind. "Sozialkompetenz" ohne diesen<br />

Hintergrund beibringen zu wollen, führt zu falschen Sozialerwartungen.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


25<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

3. Jede Sozialität braucht für wichtige Bereiche ihrer Existenz und ihres<br />

Handlungsspielraums eine Unterscheidung von Normalität und Abweichung, also eine<br />

Definition des Normalfalles.<br />

Beispiel: 'Es ist normal, daß in einer Schulklasse die Schüler die nötige Disziplin aufbringen,<br />

um dem Unterricht folgen zu können'. Wenn ein Schüler davon abweicht, kann er ermahnt<br />

o<strong>der</strong> aber auch einer beson<strong>der</strong>en Hilfe teilhaftig werden. Wenn jedoch die notwendige<br />

Differenz von Normalität und Abweichung verschwindet, <strong>der</strong> Normalfall also bei den<br />

Beteiligten unklar bleibt und jedes Verhalten als gleich richtig gilt, entsteht allgemeine<br />

Orientierungslosigkeit. Sie kann auf Dauer leicht zu Verwahrlosung, aber auch zu einer Art<br />

'struktureller Intoleranz' führen; wenn ein Vergleich zum Normalfall nicht möglich ist, wird<br />

<strong>der</strong> An<strong>der</strong>sdenkende leicht zum Feind.<br />

Der oft bedauerte "Streß" von Schülern hat vielleicht nicht nur mit den<br />

Leistungsanfor<strong>der</strong>ungen zu tun, son<strong>der</strong>n auch mit den sozialdarwinistischen Strukturen, die in<br />

ungeordneten sozialen Konstellationen und Normen in <strong>der</strong> Schule entstehen können. Täglich<br />

neu zu inszenierende Positionskämpfe beanspruchen dann erhebliche Energien von den<br />

Schülern, die <strong>der</strong> eigentlichen Aufgabe verloren gehen.<br />

Erziehung in <strong>der</strong> Schule ist also mehr als ein bloße Beziehung zwischen dem Lehrer und<br />

jedem einzelnen Schüler, sie bedarf auch einer kollektiv-verbindlichen Normativität, an die<br />

sich alle binden und auf die sich alle - Schüler wie Lehrer - beziehen können. Eine<br />

entsprechende 'öffentliche Meinung' in Schule und Klasse müssen die Lehrer möglicherweise<br />

erst herstellen - zur Not auch dadurch, daß sie zunächst einmal mit den gutwilligen Schülern<br />

gegen die nicht-gutwilligen paktieren und diese dann Zug um Zug 'ins Boot holen'. Kein<br />

Lehrer kann dauerhaft ohne o<strong>der</strong> gar gegen die öffentliche Meinung seiner Klasse<br />

erzieherisch erfolgreich wirken.<br />

4. Das reale Verhalten wird durch die Psychologisierung symptomisiert, zumal im<br />

Konfliktfall werden Lebensäußerungen leicht relativiert. Das Gesagte gilt dann nicht mehr<br />

als das Gemeinte, das Tun entspricht angeblich nicht <strong>der</strong> eigentlichen Absicht.<br />

Wenn Schüler etwa gewalttätig agieren, werden zunächst Vermutungen darüber angestellt,<br />

was dahinter stecken könnte, welche inneren, ihnen vielleicht gar nicht bewußten Gründe die<br />

Täter dafür haben könnten und welche positiven Wünsche sie damit eigentlich verfolgen<br />

wollen - Aggressivität zum Beispiel als fehlgeschlagener Kontaktwunsch. Abgesehen einmal<br />

von dem Arsenal an Ausreden, das sich damit auftut: Ein solcher Zugang mag in einer<br />

Therapie und bei einem Gerichtsverfahren angebracht sein. Aber im normalen öffentlichen<br />

Umgang müssen die Menschen sich auf das, was ihre Mitmenschen sagen und tun, verlassen<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


26<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

können, sonst liefern sie sich einem Chaos von Vermutungen und Interpretationen aus. Mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten: Gewalttätiges Verhalten etwa in <strong>der</strong> Schule muß zunächst unterbunden<br />

werden - egal was alles 'dahinter stecken' könnte. Erst danach kann eine sensible<br />

psychologische Diagnose erfolgen.<br />

Nicht nur in <strong>der</strong> Schulklasse, son<strong>der</strong>n auch auf den öffentlichen Straßen und Plätzen ist <strong>der</strong><br />

friedliche und höfliche Umgang miteinan<strong>der</strong> ein demokratischer Selbstzweck. Darauf muß<br />

man sich ohne Rücksicht auf die jeweilige Motivation o<strong>der</strong> Gestimmtheit verlassen können,<br />

sonst kann die komplexe Massenöffentlichkeit nicht funktionieren. In <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

schulden wir einan<strong>der</strong> keine bestimmten Gesinnungen, keine bestimmten Motive, son<strong>der</strong>n<br />

lediglich ein bestimmtes Verhalten. Wegen dieses relativ äußerlichen Anspruchs kann man<br />

ein solches Verhalten auch von je<strong>der</strong>mann erwarten - und wer sich daran nicht hält, muß zum<br />

Zwecke eines korrigierenden Trainings zwischenzeitlich im wörtlichen Sinne 'aus dem<br />

Verkehr gezogen' werden. Normen des öffentlichen Verhaltens nicht aus <strong>der</strong> je subjektiven<br />

Innerlichkeit, son<strong>der</strong>n aus sozial-kollektiven For<strong>der</strong>ungen und Pflichten zu begründen, ist<br />

allerdings kaum noch verständlich zu machen.<br />

Die psychologisierte Reformpädagogik brüstet sich mit ihrer Hochschätzung des Schülers als<br />

Individuum: Am liebsten soll es für jeden Schüler einen eigenen Lehrplan, ein eigenes<br />

Lerntempo, ein eigenes Notensystem geben. Das macht die Sache auch für Mittelschichteltern<br />

verführerisch: Abitur und Studium bleiben weiterhin ein selbstverständliches Privileg - nun<br />

aber mit dem Versprechen begrenzter For<strong>der</strong>ungen, psychologisch begründbarer Ausreden,<br />

zusätzlicher Unterstützung und erheblichen Verständnisses beim eventuellen Scheitern. Aber<br />

diese Hofierung <strong>der</strong> Individualität ist begrenzt auf die jeweils empirisch vorfindbare<br />

Subjektivität - darauf beruht jedoch auch die Konsumwerbung. Die Reformpädagogik "geht<br />

vom Kinde aus" - aber wo geht sie dann hin? Beim klassischen Bildungsbegriff dagegen galt<br />

Individualisierung als Resultat intensiver und kritischer geistiger Auseinan<strong>der</strong>setzungen. Sie<br />

kam in <strong>der</strong> Schule zustande durch im Unterricht arrangierte Konfrontation mit kulturellen<br />

Objektivationen (Literatur, Musik, Kunst, Technik, Politik). Dazu kam eine<br />

Entwicklungsperspektive: Der Bildungsprozeß galt als eine lebenslang mögliche biografische<br />

Weiterentwicklung. Die Reformpädagogik dagegen kommt aus <strong>der</strong> Gegenwärtigkeit <strong>der</strong><br />

kindlichen Befindlichkeit nicht recht heraus. Sie ist zumindest von <strong>der</strong> Wirkung her historisch<br />

und biographisch voraussetzungslos gedacht und damit idealiter sehr geeignet zur<br />

Rekrutierung und Reproduktion einer sozial bindungslosen und a-solidarischen<br />

'Reservearmee' im marktradikalen Zeitalter.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


27<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Allerdings muß - um auf den Anfang zurückzukommen - die Frage offen bleiben, was in<br />

welcher Form von den in diesem Beitrag skizzierten Theorien und Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />

wirklich in den Alltag <strong>der</strong> Schule eingedrungen ist und dort die Realität bestimmt. Solange<br />

wir das nicht wissen, kann es sich bei dieser Debatte auch weitgehend um überschwenglich-<br />

abgehobene Rhetorik handeln, die eine eher betrübliche Praxis idealisiert und die dafür<br />

Verantwortlichen in ein (zu) gutes Licht versetzt - was beides ja durchaus mo<strong>der</strong>nen<br />

Kommunikationsstrategien entspräche, die längst auch als Studiengänge wissenschaftlich<br />

geadelt sind.<br />

In 10. Auflage erschien jüngst:<br />

Hermann Giesecke: Pädagogik als Beruf<br />

Juventa Verlag Weinheim und München, 2010,<br />

ISBN 978-3-7799-0583-7, 12 Euro<br />

Ziel <strong>der</strong> Darstellung „ist nicht eine<br />

systematische Theorie des pädagogischen<br />

Handelns, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Versuch, es vom<br />

Standpunkt des Handelnden zu beschreiben, so<br />

daß dieser ein Instrument erhält, mit dem er sein<br />

Handeln in seiner Situation reflektieren kann“.<br />

(aus dem Klappentext )<br />

„Die psychologisierte Reformpädagogik brüstet sich mit ihrer Hochschätzung des Schülers<br />

als Individuum: Am liebsten soll es für jeden Schüler einen eigenen Lehrplan, ein eigenes<br />

Lerntempo, ein eigenes Notensystem geben. Das macht die Sache auch für<br />

Mittelschichteltern verführerisch: Abitur und Studium bleiben weiterhin ein<br />

selbstverständliches Privileg - nun aber mit dem Versprechen begrenzter For<strong>der</strong>ungen,<br />

psychologisch begründbarer Ausreden, zusätzlicher Unterstützung und erheblichen<br />

Verständnisses beim eventuellen Scheitern“.<br />

Hermann Giesecke, aus „Anmerkungen zur bildungspolitischen Lage“<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


28<br />

Baden-Württemberg<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Grüne Stimmenflut - Was geschieht mit Baden-Württembergs Schulen?<br />

Das Max-Planck-Institut sollte seine Erkenntnisse in die Öffentlichkeit tragen<br />

Wieweit sich die neue Regierung in den Fel<strong>der</strong>n, <strong>der</strong>entwegen sie eine – wenn auch knappe –Mehrheit<br />

bekam, im Sinne <strong>der</strong> Erwartungen ihrer Spontan-Wähler durchsetzen wird, wird die Zukunft zeigen.<br />

Es ist gut, wenn in den entsprechenden Politikfel<strong>der</strong>n harte und ernsthafte Debatten geführt werden. Es<br />

scheint so zu sein, daß die zukünftigen Koalitionspartner nicht in allen wesentlichen strittigen Punkten<br />

einig sind. Aber die Energiedebatte wird nicht nur in Baden-Württemberg und unter den<br />

Koalitionspartnern, son<strong>der</strong>n deutschlandweit geführt werden, und viele Argumente und Interessen<br />

werden zu bedenken sein.<br />

Schon mehren sich aber in öffentlichen Äußerungen die Anzeichen dafür, daß in „weicheren“<br />

Politikfel<strong>der</strong>n Verän<strong>der</strong>ungen vorgenommen werden sollen, die zu einer Umwandlung <strong>der</strong> intakten<br />

und effizienten Bildungslandschaft in Baden-Württemberg führen können. So steht zu vermuten, daß<br />

auch im „Musterländle“, das diesen Namen nicht von Ungefähr trägt, die Gemeinsamkeiten in <strong>der</strong><br />

Bildungspolitik den Kitt des Regierungshandelns bilden werden: d.h. man wird das Schulwesen in<br />

Richtung auf die Einheitsschule umkrempeln und „längeres gemeinsames Lernen“ propagieren. In<br />

Presseverlautbarungen wird <strong>der</strong> künftige Ministerpräsident schon einmal für bestimmte Positionen<br />

vereinnahmt. 1<br />

Eine sachliche Diskussion sollte jedoch nicht außer acht lassen, was die empirischen Befunde zur<br />

Gesamtschule erbracht haben, und man sollte sich darauf besinnen, daß gerade Baden-Württembergs<br />

Schülerinnen und Schüler bei den PISA-Tests immer sehr gut abgeschnitten haben, in Deutschland in<br />

<strong>der</strong> Spitzengruppe und auch in Europa immer vorne lagen.<br />

Die Verän<strong>der</strong>ungen vorhaben, sollten sich bewußt machen, was sie mit einem Umbau möglicherweise<br />

zerstören. Sie sollten den Hinweisen nachgehen, daß die Favorisierung des längeren gemeinsamen<br />

Lernens nur möglich ist, weil – folgt man den Erkenntnissen des Arbeitskreises Gesamtschule –<br />

Untersuchungen, die das Gegenteil aussagen, als „versteckte Botschaften“ in <strong>der</strong> Fachliteratur<br />

abgestellt und aus ideologischen o<strong>der</strong> aus Gründen politischen Wohlverhaltens nicht<br />

öffentlichkeitswirksam publiziert worden sind.<br />

Diese Erkenntnisse müssen öffentlich werden.<br />

Es ist bestürzend, daß – wie wir erfahren haben – das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung den<br />

Vorwürfen, die sich auch an seine Adresse richten, nicht einmal nachgeht und Anfragen<br />

unbeantwortet bleiben.<br />

In <strong>der</strong> Guttenberg-Affäre zeigte sich die <strong>Wissenschaft</strong> empört darüber, daß dieser sich des Plagiats<br />

schuldig gemacht hatte – zu Recht! Was soll man aber von <strong>Wissenschaft</strong>lern halten, die Befunde<br />

„verstecken“, die in einer wichtigen Sachfrage, dem Bildungswesen <strong>der</strong> gesamten Nation, einschlägige<br />

und tragfähige Entscheidungskriterien liefern könnten?<br />

Winfried Holzapfel<br />

Zu diesem Thema siehe: www.schulformdebatte.de<br />

Dort sind beson<strong>der</strong>s aufschlußreich unter „Zur aktuellen Diskussion“ folgende Artikel:<br />

„Der unkontrollierte Verfall des deutschen Schulwesens“, „Dokumente einer mißlungenen<br />

Schulpolitik“ sowie von Christian und Birgit Böhm <strong>der</strong> Aufsatz: „Das System Hellmut<br />

Becker“ – o<strong>der</strong> „Wie die Gesamtschule in die deutschen Län<strong>der</strong> kam“.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


29<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

1 Der Kampf um die Schulstruktur hat schon begonnen.<br />

In einer Presseerklärung <strong>der</strong> Gewerkschaft Erziehung und <strong>Wissenschaft</strong> (GEW) vom 27. 3.<br />

<strong>2011</strong>, noch am Tag <strong>der</strong> Wahl, heißt es:<br />

PM 22/11: 27. März <strong>2011</strong><br />

Wahlgewinner ist die Bildung<br />

GEW gratuliert ihrem Mitglied Winfried Kretschmann<br />

Stuttgart – „Wahlgewinner <strong>der</strong> Landtagswahl sind unsere Kin<strong>der</strong> und<br />

Jugendlichen. Wenn die Wahlgewinner Grüne und SPD ihre Zusagen wahr machen,<br />

haben wir endlich die Chance für einen Neustart in unseren KiTas, Schulen<br />

und Hochschulen. Jetzt geht es darum, die frühkindliche Bildung zu stärken<br />

sowie die verkrustete Schulstruktur in Baden-Württemberg aufzubrechen und<br />

mit <strong>der</strong> Einführung des längeren gemeinsamen Lernens bis zur zehnten Klasse<br />

zu beginnen. Das Wählervotum zeigt auch, daß die Mehrheit bis 2016 keine<br />

Streichung von Lehrerstellen will. Rechnerisch freiwerdende Stellen müssen<br />

für eine bessere Unterrichtsversorgung und Reformen wie den Ausbau <strong>der</strong><br />

Ganztagsschulen eingesetzt werden. Ab heute stehen die Aussagen <strong>der</strong> Parteien<br />

auf dem Prüfstand. Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern erwarten,<br />

daß die Zusagen in den Wahlprogrammen eingelöst werden“, sagte am Sonntag<br />

(27.03.) im Stuttgarter Landtag Doro Moritz, Landesvorsitzende <strong>der</strong><br />

Gewerkschaft Erziehung und <strong>Wissenschaft</strong> (GEW) Baden-Württemberg. Die GEW ist<br />

mit 48.000 Mitglie<strong>der</strong>n die größte bildungspolitische Interessenvertretung im<br />

Südwesten.<br />

Die Bildungsgewerkschaft GEW gratuliert insbeson<strong>der</strong>e ihrem langjährigen<br />

Mitglied Winfried Kretschmann zum Wahlerfolg. Die GEW setzt auf die<br />

Annäherung von SPD und Grünen in <strong>der</strong> Bildungspolitik. „Die beiden<br />

Wahlgewinner haben in ihren Programmen und im Wahlkampf gezeigt, daß sie an<br />

einem Strang ziehen wollen. Das ist eine gute Voraussetzung für eine bessere<br />

Bildungspolitik in unserem Land. Damit haben sie aber auch eine große<br />

Verantwortung gegenüber den Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen, ihren Eltern sowie den<br />

Erzieherinnen und Lehrern“, sagte Moritz.<br />

Die GEW erwartet von den neuen Landtagsabgeordneten, daß die vielen<br />

Wahlkampfversprechen zur Verbesserung <strong>der</strong> Bildungseinrichtungen jetzt nicht in <strong>der</strong><br />

Schublade verschwinden, son<strong>der</strong>n konsequent umgesetzt werden. In den nächsten Jahren<br />

werden nach Ansicht <strong>der</strong> Bildungsgewerkschaft in Baden-Württemberg <strong>der</strong> Ausbau <strong>der</strong><br />

Kin<strong>der</strong>tageseinrichtungen und <strong>der</strong> Ganztagsschulen sowie die Sicherung des Lehrerinnen-<br />

und Lehrernachwuchses die zentralen Themen <strong>der</strong> Bildungspolitik sein.<br />

Gewerkschaft Erziehung und <strong>Wissenschaft</strong> (GEW) Baden-Württemberg<br />

Siehe unter: http://www.gew-bw.de/Startseite.html ( Bildung neu denken)<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


30<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Inzwischen hat sich auch <strong>der</strong> Philologenverband Baden-Württemberg mit einer<br />

Presseerklärung zu Wort gemeldet, in <strong>der</strong> man auch auf die Vergangenheit des designierten<br />

Ministerpräsidenten als „gelernten Gymnasiallehrers“ anspielt. Darin heißt es unter an<strong>der</strong>em:<br />

„Hamburg hat gezeigt, daß jede Politik zum Scheitern verurteilt ist, die versucht, das<br />

Gymnasium als das `Flaggschiff <strong>der</strong> deutschen Bildungslandschaft` beschneiden zu wollen.<br />

Alle vorliegenden Untersuchungen., zuletzt das letzte Woche publizierte Gutachen des<br />

Aktionsrates Bildung, zeigen eindeutig, daß „längeres gemeinsames Lernen“ we<strong>der</strong> den<br />

Lernerfolg <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> noch die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg<br />

verbessert. So erklärten die Bildungsforscher des Aktionsrats, daß alle bisherigen Versuche<br />

mit einer sechsjährigen Grundschule fruchtlos gewesen seien. Bemerkenswert ist übrigens,<br />

daß für die Verfechter einer solchen Schulpolitik `Bildungserfolg´ gleichbedeutend zu sein<br />

scheint mit Gymnasium und Abitur. Alle Mitbürger, die an<strong>der</strong>e Abschlüsse erworben haben,<br />

werden demnach offensichtlich als `Bildungsverlierer´ betrachtet. Dies entspricht nicht<br />

unserer Sicht <strong>der</strong> Dinge!“<br />

Am Schluß heißt es:<br />

„Die Weiterentwicklung <strong>der</strong> Qualität des Unterrichts und die Verbesserung <strong>der</strong><br />

angesprochenen Rahmenbedingungen sollten im Fokus <strong>der</strong> politischen Bemühungen <strong>der</strong><br />

kommenden Legislaturperiode stehen, nicht aufgewärmte Strukturdebatten des letzten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts“.<br />

Die vollständige Presseerklärung finden Sie hier:<br />

http://www.phv-bw.de/ unter dem Datum vom 31. 3.<strong>2011</strong>.<br />

Was war wichtig in Baden-Württemberg?<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


31<br />

Bayern<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Bericht über ein Symposium zur Hochschulreform in München<br />

Von Willi Eisele<br />

Bildung und Ausbildung an den Schulen und<br />

Hochschulen in Deutschland<br />

Talente entdecken, Talente för<strong>der</strong>n, Talente<br />

nutzen<br />

Anmerkungen zum VII. Symposium zur Hochschulreform,<br />

veranstaltet von <strong>der</strong> Hanns Martin<br />

Schleyer-Stiftung (Köln), <strong>der</strong> Heinz Nixdorf-<br />

Stiftung (Essen) und <strong>der</strong> Technischen<br />

Universität (München, TUM) am 31.03./<br />

01.04.<strong>2011</strong> unter <strong>der</strong> wissenschaftlichen Leitung<br />

von Präsident Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang<br />

Herrmann und Prof. Dr. Manfred Prenzel<br />

(Dekan, TUM School of Education, München)<br />

in <strong>der</strong> Katholischen Akademie Bayern<br />

(München).<br />

Willi Eisele, Vorstandsmitglied und<br />

Regionalsprecher des BFW für Bayern<br />

Der Einladung <strong>der</strong> Veranstalter folgten etwa 300 Persönlichkeiten aus dem deutschsprachigen<br />

Raum, darunter Hochschullehrer, Vertreter <strong>der</strong> Bildungsverwaltung, <strong>der</strong> Politik, <strong>der</strong> Presse,<br />

<strong>der</strong> Berufs- und Fachverbände und <strong>der</strong> Wirtschaft.<br />

Dr. Horst Nasko for<strong>der</strong>te einleitend Podiumsteilnehmer und Zuhörer auf, den Zuwachs an<br />

Autonomie und das Forum eines wissenschaftlichen Symposiums zum Dialog zu nutzen, um<br />

die 2001 aufgenommene Initiative als ständige Impulsgebung für eingeleitete Reformen zu<br />

verstehen, um hiermit die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Chancengerechtigkeit<br />

zu betonen. Nach den Stichworten „Spitzenuniversitäten“, „Hochschulfinanzierung“,<br />

„Spielräume im nationalen und internationalen Wettbewerb“ stehe diesmal die Ausbildung<br />

<strong>der</strong> „Lehrer von morgen“ im Mittelpunkt des Interesses.<br />

„Talentför<strong>der</strong>ung ist das zentrale kulturelle Mandat je<strong>der</strong> Gesellschaft“ – so Prof. Dr.<br />

Wolfgang Herrmann – „denn wir können es uns nicht leisten, unserem begabten Nachwuchs<br />

nicht die bestmögliche Bildung und Ausbildung angedeihen zu lassen“. Den beson<strong>der</strong>en,<br />

dienenden Auftrag <strong>der</strong> TUM zeigte <strong>der</strong>en Präsident in <strong>der</strong> Einrichtung von Schulnetzwerken<br />

zur frühzeitigen Motivation und Identifizierung junger Talente am Beispiel des Faches<br />

Mathematik auf (Ferienakademie mit einem Stipendium <strong>der</strong> TUM, Schüler-Studium für<br />

Gymnasiasten ab <strong>der</strong> Klasse 10, Anrechnung von Vorstudienleistungen auf ein Fachstudium)<br />

und wies auf die Schlüsselrolle <strong>der</strong> TUM School of Education für die Lehrerbildung und die<br />

empirische Unterrichtsforschung – nicht als „fünftes Rad am Wagen“, son<strong>der</strong>n als 13.<br />

Fakultät hin.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


32<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Podium zu Schule und Unterricht<br />

Tanjev Schultz, Redakteur <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung mo<strong>der</strong>ierte die erste Podiumsrunde, die<br />

unter dem Begriffspaar „Schule und Unterricht“ die pädagogische Situation an den zum<br />

Hochschulstudium führenden Schulformen aufzeigte: Reformfähigkeit zeige sich in einer<br />

flexiblen Zeitvorgabe für die Dauer eines Bildungsganges, <strong>der</strong> Verflachung von<br />

Machtstrukturen durch eine neue Gesprächskultur (OStD Günther Offermann,<br />

Marbach/Neckar), <strong>der</strong> Nutzung von sog. MODUS-Maßnahmen (Antonia Delius,<br />

Schülersprecherin, München), „Zu-Mutung“ als Vertrauensvorschuß praktizieren (Prof. Dr.<br />

Dr. hc. mult. Fritz Oser, Fribourg, CH), Individualität <strong>der</strong> Schüler för<strong>der</strong>n und als<br />

Erfolgsrezept herausstellen (Prof. Dr. Tina Seidel, TUM), Basiskompetenzen<br />

bildungsökonomisch für eine Lebensperspektive aufbauen (Prof. Dr. Ludger Wößmann,<br />

LMU/ifo München).<br />

Podium zur universitären Lehrerbildung<br />

Was in <strong>der</strong> universitären Lehrerbildung seit 12 Jahren erreicht wurde, sollte die zweite Runde<br />

des Podiums, mo<strong>der</strong>iert von Dr. Heike Schmoll (Ressort Bildung, FAZ), vorstellen. Prof. Dr.<br />

Cornelia Gräsel (Bildungsforschung, Wuppertal) sieht die Stellung <strong>der</strong> Fachdidaktiken<br />

verbessert, erkennt bei den Erziehungswissenschaften eine optimierte Professionsorientierung<br />

auf den Lehrerberuf als Folge aus <strong>der</strong> Debatte um Bildungsstandards (Sek. I), for<strong>der</strong>t eine<br />

enge Verzahnung von Forschung und Lehre und bestätigt, welche „Kärrnerarbeit“ bei <strong>der</strong><br />

Modularisierung von Studienplänen für ganze Fachbereiche anfalle. Prof. Dr. Jan-Hendrik<br />

Olbertz (Kultusminister a.D., Präsident <strong>der</strong> Humboldt-Universität, Berlin) hinterfragte aus<br />

seiner doppelten Erfahrung mit Belegen aus <strong>der</strong> Berufspraxis, woher eine Lehrkraft die<br />

Motivation für einen zusätzlichen Erwerb von berufspraktischen Kompetenzen nehmen solle,<br />

wenn eine solche berufliche Selbstdisziplinierung nicht durch eine empirische Bildungs- und<br />

Unterrichtsforschung nahegelegt werde. Als Zukunftskonzept für eine „Humboldt<br />

Professional School of Education“ (HPSoE) sieht er lehramtsspezifische Studiengänge (auch<br />

im „Bologna-System“), in denen die Fachdidaktik gestärkt werden müsse, wobei eine<br />

„Vermittlungskultur“ nicht vom Fachwissen (Ausbildung für ein bzw. zwei Fächer) getrennt<br />

werden dürfe und eine Theoriebildung in den Erziehungswissenschaft aus <strong>der</strong> Bilanz <strong>der</strong><br />

Unterrichtsforschung, d.h. aus <strong>der</strong> Praxis abgeleitet werden müsse. Die Professionalität einer<br />

HPSoE werde sich auch darin zeigen, daß ihr das Promotionsrecht mit dieser Zielrichtung im<br />

Rahmen eines Kooperationsnetzwerkes zwischen FU, TU und UdK eingeräumt werde.<br />

Fachstudium und Ausbildung für ein Lehramt<br />

Prof. Dr. Erich Thies, StS a.D., Generalsekretär <strong>der</strong> Kultusministerkonferenz (Berlin), stellte<br />

für die Lehrerbildung an den Hochschulen 18 Thesen auf: Lehrerbildung sei eindeutig <strong>der</strong><br />

Dreh- und Angelpunkt für die Entwicklung guter Schulen und stelle an<strong>der</strong>erseits den<br />

„desolatesten Bereich universitärer Ausbildung“ dar, weil das universitäre Ansehen eines<br />

Fachstudiums höher rangiere als die zielgerichtete Ausbildung für ein Lehramt. Gut gemeinte<br />

„Zentren für Lehrerbildung“ an den Universitäten seien wenig geeignet, erkannte Defizite an<br />

Praxisbezug o<strong>der</strong> Reflexion eigener Zielvorstellung zu kompensieren. Gravierend sei auch das<br />

Fehlen <strong>der</strong> Evaluation von Studienseminaren (2. Phase). Daß Studienreferendaren noch<br />

immer erklärt werde, sie könnten „gewonnene Einsichten aus <strong>der</strong> 1. Phase erst einmal<br />

vergessen“, belege eine „doppelte Bankrotterklärung“ gegenwärtiger Lehrerbildung – hier<br />

versage die akademische Autonomie bzw. sei hier „fehl am Platze“ (vgl. auch das Vertagen<br />

von „Akademien für Lehre“ (professional schools) durch die <strong>Wissenschaft</strong>sminister von <strong>Bund</strong><br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


33<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

und Län<strong>der</strong>n, SZ vom 28.03.<strong>2011</strong>). Zu for<strong>der</strong>n sei, daß „Schools of Education“ maßgeblichen<br />

Einfluß auf das fachliche Angebot für die Lehrerbildung ausüben könnten –<br />

Prof. Dr. Thies sprach von „Einkaufen im Rahmen eines Wettbewerbs“ – und wie die TUM in<br />

dem begrenzten Spektrum <strong>der</strong> MINT-Fächer und <strong>der</strong> Berufsschullehrerausbildung diesen<br />

Reformschritt als Teil ihres „Exzellenzprofils“ herausstellten. Nicht nachahmenswert wird<br />

gesehen, daß an den Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg ein umfangreicher,<br />

betreuter Praxisteil nur für die künftigen Lehrer an Grund-, Haupt-, Real- und För<strong>der</strong>schulen<br />

gelte.<br />

Lehrerbildung für Universitäten eine Last<br />

Prof. Dr. Manfred Prenzel (vormals IPN Kiel, z.Zt. TUM School of Education, München)<br />

hob in seinem Beitrag hervor, daß das Podium „sehr konsensual zusammengesetzt“ sei und<br />

damit kontroverse Debatten nicht erwartet werden. Gleichwohl kritisierte er, daß die<br />

Lehrerbildung für Unis eher eine Last sei, weil man damit nicht glänzen könne – eben eine<br />

Dienstleistung, die wegen <strong>der</strong> vielen Fächerkombinationen nur Unzufriedenheit und Ärger<br />

produziere. Eine Perspektive sieht <strong>der</strong> Dekan <strong>der</strong> Fakultät 13 <strong>der</strong> TUM in einer breit<br />

gefächerten „forschungsbasierten Lehrerbildung“ als Steuerungsmodell, um zum Ausdruck zu<br />

bringen, daß genau hier die Verantwortung für die Professionalität neuer Lehrergenerationen<br />

liegt.<br />

Wie komplex die Problematik tatsächlich ist, leitet Dr. Heike Schmoll in ihrer Abmo<strong>der</strong>ation<br />

davon ab, daß die Kultusministerkonferenz 40 Jahre über die Lehrerbildung diskutiert habe,<br />

ohne jemals einen Beschluß mit Perspektive zu fassen.<br />

Den Höhepunkt des VII. Symposiums stellte schließlich <strong>der</strong> Vortrag von Prof. Dr. Annette<br />

Schavan, <strong>der</strong> <strong>Bund</strong>esministerin für Bildung und Forschung zum Thema „Bildung und<br />

Innovation“ dar und die dritte Podiumsrunde, mo<strong>der</strong>iert von Thomas Kerstan<br />

(Redaktionsleiter bei <strong>der</strong> ZEIT). Unter Bezug auf das Matthäus-Evangelium (NT, Mt 25, 14-<br />

30) führte <strong>der</strong> TUM-Präsident auf Person und Referatsinhalt hin und bezog das biblische<br />

Gleichnis auf die aktuelle Hochschulfinanzierung, wobei beide vermieden, auf das Schicksal<br />

des „unnützen Knechts“ einzugehen, dem in <strong>der</strong> Finsternis „Heulen und Zähneknirschen“<br />

drohte.<br />

Schavan: „Neues Gymnasium“ und „neue Universität“ durch G8 und Bologna<br />

An das Menschenbild von Meister Eckhart anknüpfend, bezog die <strong>Bund</strong>esministerin den<br />

Bildungsauftrag auf das Koordinatensystem <strong>der</strong> Universität, wo zunächst die theologische<br />

Disziplin das Leitbild für Allgemeinbildung prägte – Bild vom Menschen, von <strong>der</strong> Natur, von<br />

des Menschen Beziehung zu Staat und Gesellschaft und wies auf Wilhelm von Humboldt hin,<br />

nach dessen Erkenntnis „Frieden ohne Bildung“ nicht möglich sei. Im anthropologischen<br />

Bezug sei auch ein „Mehrwert für das menschliche Leben“ zu sehen, eine Grundbedingung<br />

für eine „Grammatik des Dialogs“ zwischen den Fachdisziplinen und Kulturen. Kernpunkte<br />

ihrer Thesen waren: Talentför<strong>der</strong>ung durch stringente Frühför<strong>der</strong>ung, eine Entwicklung einer<br />

Lernkultur und <strong>der</strong> Abbau einer allseits praktizierten Belehrungskultur (Bsp. Mathematik als<br />

kreatives Fach), Betonung <strong>der</strong> Erkenntnis, daß sich auch unsere wirtschaftliche Stärke aus<br />

dem Vorsprung an Innovationen ableite, Abschied von <strong>der</strong> Mär, daß Talentför<strong>der</strong>ung „elitär“<br />

sei, Neufestsetzung von Prioritäten in akademischer Lehre und gymnasialem Unterricht,<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


34<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Bekenntnis zum „Fakt“, daß „G8 und Bologna-Prozeß“ nicht nur ein „Etikettenaustausch“<br />

seien, son<strong>der</strong>n ein neues Gymnasium und eine neue Universität zum Ziel haben. Für die<br />

Hochschule bedeute dies auch, daß es künftig keine Technische Universität ohne<br />

Geisteswissenschaften geben könne. Zu den Ausführungen von Prof. Dr. Schavan nahmen auf<br />

dem Podium Stellung: Prof. Dr. Jürgen Kluge (vormals McKinsey Deutschland, z. Zt.<br />

Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong> Haniel &Cie GmbH, Duisburg), Prof. Dr. Margret Wintermantel,<br />

Präsidentin <strong>der</strong> HRK (Bonn) und Prof. Dr. Wolfgang Herrmann (TUM).<br />

„knowledge triangle“<br />

Für Prof. Dr. Margret Wintermantel sind Studiengänge heute auf einen neuen beruflichen und<br />

gesellschaftlichen Kontext in einer „knowledge triangle“ (Bildung, Forschung, Innovation)<br />

auszurichten, mobile (Fach-) Arbeiter seien genauso wichtig wie mobile Unternehmer, die<br />

Arbeitswirklichkeit sei zunehmend geprägt von Teams mit größtmöglicher Autonomie. Prof.<br />

Dr. Jürgen Kluge ergänzt die Ausführungen seiner Vorrednerinnen: „Wissen ist <strong>der</strong> einzige<br />

Rohstoff, <strong>der</strong> sich vermehrt, wenn man ihn (auf-) teilt“, deshalb sei eine frühe Talent- und<br />

Nachwuchsför<strong>der</strong>ung überlebenswichtig, um Forschungskreativität in den MINT-Fächern und<br />

einen Grün<strong>der</strong>geist zu wecken. Der Wettbewerb um die besten Köpfe sei global. Deutschland<br />

sei nicht nur Exportweltmeister an Gütern, son<strong>der</strong>n auch in bezug auf junge <strong>Wissenschaft</strong>ler.<br />

Nachdem Not Wendigkeit schaffe, for<strong>der</strong>e er an Schulen und Hochschulen „Projektmanager<br />

für Talentför<strong>der</strong>ung“. Prof. Dr. Herrmann sieht den Hauptgrund für die Meisterschaft im<br />

Export im hochqualifizierten deutschen Bildungswesen, das er national und international mit<br />

keinen an<strong>der</strong>en System eintauschen wolle. Nachdem dieses Bildungswesen – so<br />

<strong>Bund</strong>esministerin Schavan – sich aber in 96 Schultypen verzettele, würde sie hier gerne<br />

Kompetenzen und Zuständigkeiten durch Vereinheitlichung gegen Detailverliebtheit und<br />

politische Eitelkeiten in Curricula/Bildungsplänen, Arbeits- und Schulbüchern in 16<br />

<strong>Bund</strong>eslän<strong>der</strong>n durchsetzen.<br />

Mangelsituation in den MINT - Fächern<br />

Die abschließende Podiumsrunde bezog sich auf die Mangelsituation in den MINT-Fächern<br />

und <strong>der</strong>en Ausgleich, v.a. an den Gymnasien und Fach- und Berufsoberschulen. Im Kontext<br />

mit dem Thema „Atomkraft in Deutschland“ wurde konstatiert, daß die Kernenergie durch<br />

die jüngsten Ereignisse in Japan (Bild <strong>der</strong> „Schwarzen Schwäne“) und die politischen und<br />

medialen Reaktionen in Deutschland „politisch gescheitert“ sei. Gewarnt wurde vor einem<br />

„bashing <strong>der</strong> Geistes- und Sozialwissenschaften“, die sich bemühten, auf komplexe Fragen<br />

keine einfachen Antworten zu geben. An die <strong>Bund</strong>esministerin ging die Frage, was passiere,<br />

wenn die För<strong>der</strong>ung von Exzellenzinitiativen auslaufe. Hier müßten – so Prof. Dr. Schavan –<br />

die Verantwortlichkeiten auf vielen Ebenen neu ausdifferenziert werden. Eine gezielte<br />

För<strong>der</strong>ung von Individuen sei zudem effektiver als eine Kollektivlösung, denn jede<br />

Gesellschaft brauche ihre (Leistungs-) Eliten (W.I. Lenin), d.h. 3-5% ziehen 80% <strong>der</strong><br />

Bevölkerung durch, die den Rest finanzieren müssen.<br />

Prof. Dr. Manfred Prenzel (TUM) resümierte Ergebnisse aus den drei Podiumsdiskussionen.<br />

Das Symposium habe von dem „Hochhaus Bildung“ (Prof. Dr. Fthenakis) einzelne<br />

Stockwerke unter dem Blickwinkel <strong>der</strong> Talentför<strong>der</strong>ung näher betrachtet. Podium 1 habe<br />

versucht, die Verzahnung von Gymnasien und Beruflichen Oberschulen unter dem Aspekt<br />

fachlicher Verantwortung <strong>der</strong> handelnden Personen in den Blick zu nehmen, Podium 2 habe<br />

die Vorzüge einer School of Education an Beispielen aus Wuppertal und <strong>der</strong> TUM<br />

herausgearbeitet und den künftigen Lehrern den Auftrag zugeschrieben, „als Profis Talente zu<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


35<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

entwickeln“. Podium 3 habe die Effizienz von Innovationen an <strong>der</strong> Diskursfähigkeit aller<br />

Beteiligten gemessen, um junge Menschen heute nicht einfach in das enge Korsett eines<br />

Faches zu zwängen – die Interdisziplinarität modulierter Studiengänge werde als wichtiger<br />

Ansatz in die universitären Gremien hineingetragen und die Diskussion über Bildungspläne<br />

und Bildungsstandards auch unter transparenten Qualitätskriterien geführt, im output<br />

beobachtet von Abnehmern und einer kritischen Öffentlichkeit.<br />

Ein Programm<br />

Willi Eisele, OStD<br />

Vorstandsmitglied und Regionalsprecher des BFW für Bayern<br />

enthält Grundsätze und Leitgedanken einer Vereinigung.<br />

Der <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> bereitet eine Neufassung seines im Jahre 2005 letztmalig<br />

durchgesehenen und aktualisierten Programms vor.<br />

Wir laden unsere Mitglie<strong>der</strong> und Freunde ein, daran mitzuwirken. Stellungnahmen und<br />

Formulierungsvorschläge sind uns sehr willkommen.<br />

Bitte, richten Sie Ihre Anregungen an einen <strong>der</strong> drei Vorsitzenden o<strong>der</strong> an die Postanschrift:<br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> e.V.<br />

Postfach 080 517<br />

10005 Berlin<br />

Herzliche Einladung - Gemeinsame Fachtagung<br />

Deutscher Lehrerverband und Konrad-Adenauer-Stiftung laden ein zu einer Fachtagung mit dem<br />

Thema:<br />

Wozu Bildungsökonomie ?<br />

Als Vortragende wirken mit:<br />

Prof. Dr. Manfred Becker, Dipl.-Hdl, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,<br />

Wirtschaftswissenschaften<br />

Prof. Dr. Volker Bank, Dipl.-Hdl, TU Chemnitz, Abtl. Berufs- u. Wirtschaftspädagogik<br />

Prof. Dr. Silja Graupe, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Alfter/Bonn<br />

Prof. Dr. Jochen Krautz, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Alfter/Bonn<br />

Prof. Dr. Rainer Dollase, Universität Bielefeld, Abtl. Psychologie<br />

Prof. Dr. Andrea Liesner, Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie<br />

und Bewegungswissenschaft<br />

Donnerstag, 19. Mai <strong>2011</strong>, 10.00 bis 16.00 Uhr<br />

Veranstaltungsort: Konrad-Adenauer-Stiftung, Tiergartenstr. 35, 10785 Berlin<br />

Ausführliches Programm und Anmeldemöglichkeiten demnächst auf unserer Website.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


36<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Von <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> 'OS' (Orientierungsstufe) zur Einführung <strong>der</strong> 'OS' (Oberschule)<br />

Hat die CDU aus dem Wahldebakel in Hamburg nichts gelernt?<br />

Am 16.03.<strong>2011</strong> wurde "Das Gesetz zur Neuordnung <strong>der</strong> Schulstruktur in Nie<strong>der</strong>sachsen"<br />

veröffentlicht. Kernstück ist darin die Än<strong>der</strong>ung des nie<strong>der</strong>sächsischen Schulgesetzes.<br />

Neu geschaffen wird die 'Oberschule' in zweierlei 'Gestalt':<br />

a) Die Oberschule ohne gymnasiales Angebot (mindestens zweizügig, 48 Kin<strong>der</strong><br />

pro Jahrgang) wird als kombinierte Haupt- und Realschule geführt.<br />

b) Die 'Oberschule mit gymnasialem Angebot' muß mindestens dreizügig geführt<br />

werden. Zu <strong>der</strong> Mindestzahl von 48 pro Jahrgang müssen 27 Schülerinnen<br />

und Schüler für eine gymnasiale Klasse hinzukommen.<br />

Im Gesetzgebungsverfahren haben Kommunale Spitzenverbände bezüglich <strong>der</strong> Mindestzahlen<br />

Einwirkungsversuche unternommen mit dem Ziel, die Mindestzahlen abzusenken; einige<br />

Kommunale Träger for<strong>der</strong>n aus ihrem Blickwinkel <strong>der</strong> Standortsicherung noch kleinere<br />

Systeme als 2 x 22 Schülerinnen und Schüler.<br />

Für die weiterhin mögliche Einrichtung Integrierter Gesamtschulen (IGS) in Nie<strong>der</strong>sachsen ist<br />

nach wie vor eine Fünfzügigkeit (jetzt nur noch 120 statt 130 Kin<strong>der</strong> pro Jahrgang)<br />

vorgeschrieben. Die in Nie<strong>der</strong>sachsen bestehenden Kooperativen Gesamtschulen (KGS)<br />

erhalten Bestandsschutz – Neugründungen dieser Schulform sind allerdings nicht mehr<br />

möglich. KGSen können sich aber in eine Oberschule umwandeln.<br />

Landkreise und kreisfreie Städte müssen <strong>der</strong> Errichtung von Oberschulen zustimmen – sofern<br />

sie als Schulträger reguläre Gymnasien halten. Keinem Kind darf <strong>der</strong> Besuch eines<br />

grundständigen Gymnasiums verwehrt sein.<br />

Nach dem Willen des Gesetzgebers (§ 10a) soll die neu eingerichtete Oberschule jeweils<br />

selbst entscheiden, "in welchen Schuljahrgängen und Fächern <strong>der</strong> Unterricht jahrgangsbezogen<br />

o<strong>der</strong> schulzweigspezifisch erteilt wird. In <strong>der</strong> Oberschule soll ab dem 9. Schuljahrgang<br />

<strong>der</strong> schulzweigspezifische Unterricht überwiegen". Wenn die Oberschule um ein gymnasiales<br />

Angebot erweitert wird, gilt: "Für die Schülerinnen und Schüler des gymnasialen Angebots<br />

soll ab dem 7. Schuljahrgang und muß ab dem 9. Schuljahrgang <strong>der</strong> Unterricht überwiegend<br />

in schulzweigspezifischen Klassenverbänden erteilt werden. Der 10. Schuljahrgang des<br />

Gymnasialen Schulzweigs ist zugleich die Einführungsphase <strong>der</strong> Gymnasialen Oberstufe".<br />

Diese Ordnungsmerkmale verdeutlichen, daß die neu geschaffene Nie<strong>der</strong>sächsische<br />

Oberschule als Gesamtschule organisiert werden kann – mit liberalisierenden Vorgaben.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


37<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Die ursprünglich an <strong>der</strong> 'Oberschule' geplante Gymnasiale Oberstufe (Sek II) ist jetzt nur<br />

möglich, wenn eine bestehende Gesamtschule (IGS/KGS) mit Gymnasialer Oberstufe in eine<br />

'Oberschule' umgewandelt wird.<br />

Untersuchungsergebnisse und sachdienliche Beiträge werden ignoriert<br />

Obgleich <strong>der</strong> Kultusminister behauptet: "Die Oberschule ist die richtige Antwort zur richtigen<br />

Zeit" wird immer deutlicher, daß die CDU aus dem Wahldebakel in Hamburg nichts gelernt<br />

hat.<br />

Angesichts <strong>der</strong> im September <strong>2011</strong> anstehenden Kommunalwahlen in Nie<strong>der</strong>sachsen ist die<br />

Standortsicherung von Schulen wohl <strong>der</strong> entscheidende Wahlkampfbeitrag <strong>der</strong> CDU in<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen.<br />

Bis zum 31.05.<strong>2011</strong> müssen die Anträge zur Einrichtung von Oberschulen (zum 01.08. <strong>2011</strong>)<br />

vorliegen. Ca. 100 sollen es zurzeit sein. Aber in immer mehr Landkreisen des Flächenlandes<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen regt sich Wi<strong>der</strong>stand gegen die gymnasialen Zweige an Oberschulen. Von<br />

Schulpraktikern wird die Oberschule mit gymnasialer Klasse als 'Mogelpackung' bezeichnet,<br />

weil Schüler z.B. bei <strong>der</strong> 2. Pflichtfremdsprache (ab Kl. 6) keine Wahl haben und eine<br />

gymnasial-spezifische Beschulung in <strong>der</strong> Unter- und Mittelstufe (Kl. 5 – 9) gar nicht<br />

zwingend vorgesehen ist. Die strukturbedingten Nachteile <strong>der</strong> Gesamtschule treffen dann<br />

eben auch die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Oberschule.<br />

Der <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> hat immer wie<strong>der</strong> darauf hingewiesen, daß es keine<br />

einzige wissenschaftliche Studie gibt, die <strong>der</strong> Gesamtschule deutscher Ausprägung einen<br />

Gleichstand mit Schulen des vielgliedrigen Schulwesens bescheinigt.<br />

Trotz dieser Untersuchungsergebnisse dominieren die Einheitsschul-Befürworter wie<strong>der</strong><br />

verstärkt die bildungspolitische Debatte, um ihre Ideologie des 'längeren gemeinsamen<br />

Lernens' zu verkünden. Die permanent wie<strong>der</strong>holte Behauptung, daß ein vielgliedriges<br />

Schulsystem ein sozial-selektives Schulwesen sei, wird durch Wie<strong>der</strong>holung nicht einleuchten<strong>der</strong>.<br />

Bei den innerdeutschen PISA-Vergleichen ist sogar nachweisbar, daß auch bei <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung<br />

lernschwacher Schüler und hinsichtlich <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von Migrantenkin<strong>der</strong>n die<br />

<strong>Bund</strong>eslän<strong>der</strong> mit vielgliedrigem Schulwesen wesentlich besser abschneiden.<br />

Die in Nie<strong>der</strong>sachsen vorgesehene Vervielfachung <strong>der</strong> Gesamtschulangebote (IGS, KGS und<br />

Oberschule) bestätigt den Verdacht, daß insbeson<strong>der</strong>e die CDU Norddeutschlands sich<br />

bildungs- und schulstrukturpolitisch nicht gut beraten läßt und selbst die Expertisen <strong>der</strong><br />

Konrad-Adenauer-Stiftung nicht o<strong>der</strong> nur unzureichend zur Kenntnis nimmt. Die auch dort<br />

erschienenen Beiträge des BFW-Vorstandsmitglieds Josef Kraus (Präsident des Deutschen<br />

Lehrerverbandes) werden ebenso ignoriert.<br />

Die Nie<strong>der</strong>sächsische Oberschule als Einheitsschule neuen Typs ist sicherlich nicht die<br />

richtige Antwort auf die Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> disparat verlaufenden demographischen<br />

Entwicklung (ab 2014 starker Schülerrückgang – im östlichen Nie<strong>der</strong>sachsen/Harz stärker als<br />

im katholischen Westen) und die damit verbundenen Fragen <strong>der</strong> Standortsicherung von Schulen<br />

in kleinen Städten und Amtsgemeinden.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


38<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Vielzahl berufspolitischer Probleme<br />

Die Vielzahl berufspolitischer Probleme, die mit <strong>der</strong> Einrichtung dieser neuen Schulform in<br />

Nie<strong>der</strong>sachsen verbunden sein werden, sind schon jetzt für die Praktiker vor Ort eine<br />

Horrorvision, denn die Auflösung <strong>der</strong> Einheitsschule 'Orientierungsstufe' (das war eine Gesamtschule<br />

für alle Schülerinnen und Schüler <strong>der</strong> 5. und 6. Jahrgänge) hat zur Versetzung von<br />

mehr als 10.000 Lehrkräften geführt, <strong>der</strong>en Folgen bis heute nachwirken.<br />

Die richtigen Argumente <strong>der</strong> CDU-geführten Regierung bei <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> Orientierungsstufen<br />

2004/2005 scheinen nach nur einem halben Jahrzehnt in Vergessenheit geraten<br />

zu sein.<br />

Der <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> wird die 'Neuordnung <strong>der</strong> Schulstruktur in Nie<strong>der</strong>sachsen'<br />

weiter kritisch begleiten.<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

„Jedem Kind gerecht werden“<br />

Die NRW-CDU nimmt sich viel vor, läßt aber auch viel geschehen<br />

Bernd Ostermeyer<br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> - Nie<strong>der</strong>sachsen<br />

Der Parteitagsbeschluß zur Schulentwicklung, den die NRW-CDU am 12. März in Siegen<br />

getroffen hat, ist das von einer großen Mehrheit getragene Ergebnis einer breit angelegten<br />

Diskussion, die im Vorfeld sowohl parteiintern als auch mit den bildungspolitischen<br />

Verbänden geführt wurde.<br />

Die NRW-CDU fühlt sich in ihrer Resolution <strong>der</strong> bildungspolitischen Geschichte des Landes<br />

verpflichtet. Sie will keine Revolution in <strong>der</strong> Schulpolitik. Bei klarer Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Schullandschaft nach Schulformen will sie zugleich mehr Varianten innerhalb dieser<br />

Grundstruktur. Ihre Vorschläge lassen Handlungsspielräume, die das „Leben selbst“ erfor<strong>der</strong>t.<br />

Vor Ort sollen Entscheidungen über die Gestaltung <strong>der</strong> Schullaufbahnen getroffen werden,<br />

falls Haupt- o<strong>der</strong> Realschulen allein nicht bestehen können. Die Zusammenlegung solcher<br />

Schulen soll zu Verbundschulen führen, über <strong>der</strong>en innere Struktur an <strong>der</strong> Basis entschieden<br />

werden soll. Gymnasiale Bildungsgänge bleiben den Gymnasien vorbehalten.<br />

„Gemeinschaftsschulen“, in die ab Klasse 5 alle Schüler zusammengefaßt und nach<br />

gymnasialen Standards unterrichtet werden sollen, wie sie als „Versuchsschulen“ von <strong>der</strong> rotgrünen<br />

Landesregierung mit Beginn des kommenden Schuljahr genehmigt worden sind und<br />

als Regelschulen propagiert werden, lehnt die CDU ab.<br />

Das Thema „Inklusion“ wird zielstrebig, aber nicht überstürzt stürmisch angegangen.<br />

Im übrigen möchte die CDU einen lang andauernden Schulfrieden im Land, weswegen sie<br />

den regierenden Parteien ein Angebot macht, in diesem Zusammenhang zu Absprachen zu<br />

kommen. Ihrer Ansicht nach tritt sie mit ihrem Beschluß dazu in Vorleistung<br />

Dieser Wunsch <strong>der</strong> CDU ist wohl <strong>der</strong> entscheidende Grund, weswegen sie es unterläßt,<br />

energisch gegen die Einpflanzung <strong>der</strong> so genannten „Gemeinschaftsschule“ ins nordrheinwestfälische<br />

Schulwesen vorzugehen, die verfassungsrechtlich – gelinde gesagt – äußerst<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


39<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

umstritten ist. Sie läuft auch allen pädagogischen Erkenntnissen zuwi<strong>der</strong>, wird aber aus<br />

ideologischen Gründen von <strong>der</strong> grünen Schulministerin vorangetrieben, auch wenn die zuvor<br />

festgelegten Bedingungen gar nicht ordentlich erfüllt sind, wie man an einigen Orten<br />

erkennen kann.<br />

Die CDU läßt es also ohne Einspruch geschehen, daß die grüne Schulministerin<br />

„Gemeinschaftsschulen“ implantiert.<br />

Die CDU geht nicht <strong>der</strong> verfassungsrechtlichen Frage nach, ob dieser Begriff überhaupt<br />

verwandt werden darf. Sie legt nicht mehr den Finger in die Wunde <strong>der</strong> pädagogischen<br />

Fragwürdigkeit eines längeren gemeinsamen Lernens, das, wie alle Gutachten zeigen, zu<br />

Nachteilen für die besseren und die schwächeren Schüler führt. Sie macht nicht lautstark auf<br />

die Absurdität aufmerksam, daß in <strong>der</strong> „Gemeinschaftsschule“, die in <strong>der</strong> Regel aus einer<br />

Zusammenführung von Haupt- und Realschülern entsteht, von Anfang an nach „gymnasialen<br />

Standards“ unterrichtet werden soll – nein: Die CDU streckt generös die Hand zum<br />

Schulfrieden aus.<br />

So läßt die CDU die Regierung machen, findet lobende Worte für die Gesamtschulen, die seit<br />

langem im Lande existieren, und stellt innerparteilich einen Beschlußlage her, die vielleicht<br />

einer Regierung gut zu Gesicht stände. Die CDU ist aber nicht Regierungspartei. Es wäre<br />

also nötig, daß sie als Oppositionspartei operiert. Das heißt: Es wäre ihre Aufgabe, <strong>der</strong><br />

Regierung Fehler und verfassungswidrige Aktivitäten vorzuwerfen. Daß sie das – mit Erfolg –<br />

in <strong>der</strong> Finanzpolitik tut, die Regierung aber in <strong>der</strong> Bildungspolitik gewähren läßt, ist für viele<br />

enttäuschend. Außerdem gibt sie <strong>der</strong> Regierung die Chance, in „Bildungskonferenzen“ mit<br />

ihrer Umarmungsstrategie zu punkten.<br />

Trotz des (guten) Parteitagsbeschlusses und seiner (beeindruckenden) basisorientierten<br />

Entstehung scheint die Bildungspolitik in <strong>der</strong> Prioritätenliste <strong>der</strong> CDU nicht so weit oben zu<br />

stehen, wie es erste Verlautbarungen und die Einberufung des Parteitages eigens zur<br />

Schulpolitik vermuten ließen.<br />

Winfried Holzapfel<br />

Den Parteitagsbeschluß <strong>der</strong> NRW-CDU mit <strong>der</strong> Überschrift „Jedem Kind gerecht werden“<br />

finden Sie hier:<br />

http://www.cdu-nrw.de/images/stories/docs/lpt/A1_Jedem_Kind_gerecht_werden_-<br />

_Schulpolitische_Leitlinien_<strong>der</strong>_CDU_NRW.pdf<br />

Zu seiner Entstehung siehe auf <strong>der</strong> Website des BFW unter den Daten: 9. 1., 25.1., 5. 2.<br />

<strong>2011</strong>.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


40<br />

Bücherrevue<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Peter J. Brenner: Bildungsgerechtigkeit<br />

Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-021096-7, 14,80 Euro<br />

Peter Brenners Bücher sind Zeugnisse seiner Kenntnis von <strong>der</strong> Realität an Deutschlands<br />

Schulen, was sich zum Beispiel in dem Buchtitel „Wie Schule funktioniert“ (2009 bei<br />

Kohlhammer) ausdrückte. Umso überraschen<strong>der</strong> ist auf den ersten Blick, daß er sich hier auf<br />

über 100 Seiten eines Begriffs annimmt und sich damit auf eine Metaebene begibt, auf <strong>der</strong> in<br />

erster Linie abstrakte Überlegungen zu erwarten sind. Erfreulicherweise bleibt aber bei <strong>der</strong><br />

Erörterung die Schulwirklichkeit nicht ausgeblendet. Sie meldet sich jedoch nicht als Bericht<br />

aus dem Klassenzimmer, son<strong>der</strong>n als ständige Begleitdimension einer dadurch nur scheinbar<br />

theoretischen Erörterung.<br />

Wenn Peter Brenner am Ende festhält: „Es gibt kein Wahres im Falschen“, und die<br />

Umformung dieses Adorno-Zitats in: „Es gibt kein Gerechtes im Ungerechten“ nahe legt,<br />

dann klingt das wie Resignation. Es sollte aber als ein Zeichen <strong>der</strong> Hoffnung genommen<br />

werden, daß man getrost das Unvollkommene als Realität akzeptieren kann, weil ein<br />

Vollkommenes anscheinend nicht hergestellt werden kann. Das entbindet keineswegs von <strong>der</strong><br />

Pflicht, Verbesserungen des Unvollkommenen anzustreben. Dennoch: Gerechtigkeit ist eine<br />

Aufgabe, nicht die Realität. Der Satz heißt deshalb auch, dem Bestehenden Gerechtigkeit<br />

wi<strong>der</strong>fahren zu lassen und es sozusagen auf seinen Gerechtigkeitsgehalt zu überprüfen.<br />

Vor allem möchte Peter Brenner wohl darauf hinaus, daß man in den bildungspolitischen<br />

Diskussionen akzeptieren möge, daß die Gesellschaft die Schule prägt und nicht etwa die<br />

Schule gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen erzeugt. Die Ermöglichung von<br />

Bildungsgerechtigkeit setzt eine Verwirklichung von Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Gesellschaft voraus.<br />

Sie ist nicht <strong>der</strong>en Bedingung.<br />

Komplexes Thema<br />

Nicht nur in diesem Zusammenhang zeigt Peter Brenner, wie komplex das Thema<br />

„Bildungsgerechtigkeit“ ist und auf welch unterschiedlichen Wegen es angegangen werden<br />

kann.<br />

Die ersten Abschnitte seines Buches verwendet er auf die Untersuchung des Begriffs (S. 36-<br />

56). Schon hier zeigt sich, daß unterschiedliche philosophische Ansätze zu unterschiedlichen<br />

Auffassungen von Gerechtigkeit führen. Während dies systematische Fragen sind, hat<br />

Bildungsgerechtigkeit auch eine Geschichte, die inzwischen über 200 Jahre verläuft und<br />

unterschiedliche Ausprägungen hatte, insofern sie als eine Form <strong>der</strong> Gerechtigkeit auch<br />

zusätzlich noch den unterschiedlichen Auffassungen von Bildung und Erziehung zufolge<br />

verschiedene Gestalten angenommen hat ( S. 57-79).<br />

Dem Kundigen und dem weniger Kundigen werden in bei<strong>der</strong>lei Hinsicht (<strong>der</strong> systematischen<br />

wie <strong>der</strong> historischen) viele Hinweise gereicht, die ihm die wechselvolle Geschichte des<br />

Begriffs und seiner Realisierung (o<strong>der</strong> besser Realisierungsversuche) nahe bringen und<br />

manche historische Weichenstellung im Schulwesen beson<strong>der</strong>s konturieren und in <strong>der</strong><br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


41<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Entwicklung von Bildung und Erziehung in Deutschland verorten. Diese Darstellung hält<br />

übrigens für den am Aktionismus von Bildungspolitikern und selbsternannten pädagogischen<br />

Vordenkern Verzweifelnden den Trost parat, daß die Geschichte <strong>der</strong> Pädagogik schon immer<br />

Tendenzschwankungen nicht unerheblicher Stärke hatte und auch die<br />

Schulstrukturproblematik immer wie<strong>der</strong> aufgegriffen wurde und politisch bewältigt werden<br />

mußte.<br />

Das Buch ist auf je<strong>der</strong> Seite anregend. Es enthält vieles, dem man auch einmal geson<strong>der</strong>t<br />

nachgehen möchte.<br />

Von den Einzelthemen seien zwei herausgegriffen, die sicherlich einer Vertiefung bedürfen,<br />

obwohl <strong>der</strong> Verfasser selber schon sehr deutlich wird. Zum einen befaßt <strong>der</strong> Autor sich mit<br />

dem Thema „Inklusion“ in sehr grundsätzlicher Form (S. 80-99), zum an<strong>der</strong>en weist er auf<br />

einen bedeutungsvollen und nicht zu unterschätzenden Paradigmenwandel in <strong>der</strong><br />

bildungspolitischen Zielsetzung staatlichen Handelns hin (S. 100 ff.).<br />

Inklusion - Schonraumpädagogik/ Entlastungsstrategie und neue Ethik<br />

Die Diskussion des Themas „Inklusion“ hat sicherlich durch internationale Erklärungen und<br />

Konventionen einen beson<strong>der</strong>en Anstoß in Deutschland bekommen. Son<strong>der</strong>pädagogische<br />

För<strong>der</strong>ung ist auch ein Thema in den periodisch erscheinenden Bildungsberichten <strong>der</strong><br />

Kultusministerkonferenz.<br />

Auch bei diesem Thema gilt es, sich das vor Augen zu halten, was in dieser Hinsicht in<br />

Deutschland existiert und getan wird. Eine solche ehrliche Bestandsaufnahme gehört zu einer<br />

umfassenden Analyse, die Peter Brenner in Grundzügen vornimmt und historisch einordnet.<br />

Diese Analyse zeigt allerdings, daß es für die Erziehung von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />

Son<strong>der</strong>wege <strong>der</strong> Erziehung gibt, <strong>der</strong>en Charakter man mindestens als „ambivalent“ ansehen<br />

kann, nämlich sinnvoll und problematisch zugleich. Das dokumentiert übrigens auch <strong>der</strong><br />

Bildungsbericht <strong>der</strong> KMK, wenn er die Arten <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenschulen aufzählt und zugleich<br />

den gemeinsamen Unterricht als ausbaufähig markiert.<br />

Das ist aber nicht genug. Denn nach Peter Brenner zeigt sich gerade in <strong>der</strong> Betonung <strong>der</strong><br />

Fürsorge, des caritas – Aspektes, das Dilemma <strong>der</strong> Erziehung Behin<strong>der</strong>ter in beson<strong>der</strong>en<br />

Einrichtungen. Hier ereigne sich so etwas wie „Schonraumpädagogik“. Auch sorge das<br />

Schulwesen selbst für son<strong>der</strong>pädagogischen För<strong>der</strong>bedarf, wenn es sich durch Zuweisung<br />

„schwieriger Fälle“ in beson<strong>der</strong>e Einrichtungen entlaste. Es müßte gelingen, Menschen mit<br />

Behin<strong>der</strong>ungen in den gleichen Einrichtungen wie die an<strong>der</strong>en und mit diesen zusammen zu<br />

unterrichten.<br />

Brenner formuliert dies aber nicht als schöne Vision einer erst dann heilen Welt, die etwa<br />

juristisch zu erkämpfen und durch Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Finanzierungspraxis administrativ<br />

durchzusetzen wäre, son<strong>der</strong>n zeigt auf, worauf es dabei ankäme:<br />

Im tiefsten Grunde geht es ihm um die Frage einer neuen Ethik im Umgang mit Behin<strong>der</strong>ten.<br />

Diese Ethik setzt an <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> pädagogischen Grenzsituation an, die durch die<br />

Anwesenheit Behin<strong>der</strong>ter im Unterricht entsteht. Das Nicht-Normale muß respektiert und,<br />

darf man hinzufügen, ausgehalten werden. Die pädagogische Grenzsituation markiert die<br />

Begegnung mit dem Menschen als Menschen, sie ist mehr und wirkt an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong><br />

pädagogische Umgang mit Kin<strong>der</strong>n nach vorgegebenen Kriterien einer gesellschaftlichen<br />

Normierung.<br />

Indem die reformorientierte Pädagogik „vom Kinde aus“ das „gesunde und kräftige Kind“ vor<br />

Augen habe, sei sie schon ein Irrweg, <strong>der</strong> böse Folgen erzeugt habe und noch heute erzeuge -<br />

bis zu medizinischer Nachhilfe in zahllosen Fällen. Eine neue Ethik müsse ihren Maßstab am<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


42<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

An<strong>der</strong>en als An<strong>der</strong>en nehmen, sonst griffen alle Neuregelungen zu kurz. Brenner beruft sich<br />

auf die philosophische Position Emmanuel Levinas`. Mit Bezug auf Levinas` Ethik des<br />

„An<strong>der</strong>en“ schreibt er: „Erst wenn es gelingt, im deutschen Bildungsdenken diese doppelte<br />

Ethik zu verankern, die die Schüler an den Kategorien <strong>der</strong> Normalität ebenso messen kann<br />

wie am Ausnahmefall <strong>der</strong> Grenzsituation, wird die Basis geschaffen sein für eine Integration<br />

behin<strong>der</strong>ter Schüler in den Regelschulen“(S. 98).<br />

Betreuungstotalitarismus – Wie weit darf <strong>der</strong> Staat gehen?<br />

Nach Peter Brenner vollzieht sich ein Wandel in <strong>der</strong> Auffassung von Erziehung, <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />

Hilfe zur Entwicklung einer selbständigen Persönlichkeit zu einer überbordenden<br />

Betreuungspädagogik tendiert, die den heranwachsenden wie den ausgewachsenen Menschen<br />

in ständiger Abhängigkeit hält. „Von <strong>der</strong> Lerngesellschaft zur Erziehungsgesellschaft und von<br />

dort zur Erziehungsdiktatur ist es kein weiter Weg“ (S. 120).<br />

Fazit<br />

Das Buch ist ein Plädoyer für strukturelle Vielfalt im Bildungswesen, es konstruiert aus <strong>der</strong><br />

Vergeblichkeit einer allgemeinen Theorie <strong>der</strong> Bildungsgerechtigkeit den entscheidenden<br />

Auftrag für den Alltag, nämlich in diesem – wenn auch in notgedrungen unterschiedlicher<br />

Hinsicht – gerecht zu handeln, und es gibt einen ethischen Ansatz von Pädagogik zu<br />

bedenken, <strong>der</strong> sich weniger aus <strong>der</strong> „kalten Tugend <strong>der</strong> Gerechtigkeit“ speist als aus dem<br />

Respekt vor <strong>der</strong> Würde, die vom An<strong>der</strong>en ausgeht.<br />

Setzt man diese letzte For<strong>der</strong>ung in Zusammenhang mit <strong>der</strong> gleichzeitigen Warnung vor<br />

einem Betreuungstotalitarismus des Staates, <strong>der</strong> den Einzelnen entmündigt und in<br />

fortwähren<strong>der</strong> Abhängigkeit hält, dann erkennt man, welche großen Aufgaben in Theorie und<br />

Praxis zu bewältigen sind, und es fragt sich, ob diese Anfor<strong>der</strong>ungen alle zusammen, zumal<br />

sie wi<strong>der</strong>sprüchlich zu sein scheinen, überhaupt zu bewältigen sind. Dies ist vor allem aber<br />

eine Frage an die Gesellschaft, nicht an die Schule.<br />

Kein leichtes Buch, komprimierte Gedanken, bedenkenswerte Postulate. Viel Stoff zum<br />

Nachdenken!<br />

Winfried Holzapfel<br />

Eric Selbin,<br />

Gerücht und Revolution – Von <strong>der</strong> Macht des Weitererzählens,<br />

Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 2010, übersetzt von Leandra Viola Rhoese, geb.,<br />

288 S., Bibliogr., Register, 39,90 EURO, ISBN 978-3-534-23653-4<br />

Von Louis XVI. ist die Frage an seinen Berater anläßlich des Sturms auf die Bastille<br />

überliefert „C’est une révolte?“ – und die Antwort: „Non, Sire. C’est une révolution“. Für<br />

den texanischen Politologen Eric Selbin (Georgetown) ist dieser Kurzdialog <strong>der</strong> Einstieg in<br />

eine grundsätzliche Erörterung <strong>der</strong> Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Geschichte, <strong>der</strong><br />

Wertigkeit von Überlieferung, bei <strong>der</strong> ein Historiker vor dem Gegensatzpaar „rumors“ und<br />

„records“, Historie, Anekdoten und Geschichten steht.<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


43<br />

„Narrativer Treibsatz“<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Erzählungen und Geschichte sind nicht identisch: <strong>der</strong> Sozialwissenschaftler Eric Selbin fragt<br />

nach dem „narrativen Treibsatz“, <strong>der</strong> Geschichten von Rebellion, Revolte und Revolution zu<br />

entscheidenden Faktoren <strong>der</strong> Umgestaltung an einem bestimmten Ort und zu einem<br />

bestimmten Termin werden läßt. Der Autor identifiziert vier Archteypen von Revolutionen<br />

und erläutert sie als die Geschichte von <strong>der</strong> zivilisierenden und demokratisierenden<br />

Revolution, von <strong>der</strong> Sozialrevolution, von <strong>der</strong> Geschichte von Unabhängigkeit und <strong>Freiheit</strong><br />

sowie von „verlorenen und vergessenen Revolutionsgeschichten“. Es gelte dabei, Mittel<br />

herauszufinden, die Vergangenem einen Sinn geben, die Gegenwart erklären helfen und<br />

„Zukunft denkbar und möglich machen“. Angetrieben von neuen Technologien erzählen<br />

Zeitzeugen die Geschichte neu und schaffen Querverbindungen, um die elementare Frage<br />

nach dem „aufwühlenden Why?“ zu beantworten. Aus <strong>der</strong> Literaturwissenschaft kennen wir<br />

die intermediale Erzählforschung, die didaktisch auch im Fach für die Deutung von<br />

Geschichte genutzt wird (oral history-Projekte), in dem <strong>der</strong> Schüler nicht aus dem Konstrukt ,<br />

son<strong>der</strong>n methodisch an ihm lernt, um Fiktion und Absicht <strong>der</strong> Überlieferung zu entschlüsseln.<br />

Gerüchte, Geschichten tragen den „Stachel <strong>der</strong> Nachhaltigkeit“ in sich, um soweit konkret als<br />

Erzählungen in didaktischer Absicht als „imaginierte Geschichte“ entworfen, vom Fachlehrer<br />

wie<strong>der</strong> „dekonstruiert“ zu werden: „Wir erschaffen, verstehen und regeln unsere Welt durch<br />

die Geschichte, die wir erzählen.“<br />

„Unfinished agenda“<br />

Eric Selbin sieht in <strong>der</strong> „Historie“ nicht nur den Wissensvorrat, ein Gemisch aus Fakten und<br />

Fiktion, <strong>der</strong> Historiker als „Handwerker“ ist nicht allein <strong>der</strong> Wahrheit aus Tradition<br />

verpflichtet. Der Autor beklagt mit E. Galeano (1985) die Verarmung von Geschichte, weil<br />

vermittelte Geschichten von oben herab konstruiert, von Siegern komponiert, von Mächtigen<br />

orchestriert und für die Bevölkerung gespielt und rezitiert werden. Er plädiert für eine an<strong>der</strong>e<br />

Geschichte, in <strong>der</strong> Wahrnehmung des Menschen wurzelnd, sich kontinuierlich entwickelnd<br />

und aus <strong>der</strong> Lebenswelt <strong>der</strong> Zeitgenossen erschließend: in Formen <strong>der</strong> refragatio, rebellio et<br />

revolutio – aus Wi<strong>der</strong>stand, Rebellion und Revolution(en), bei denen es um Leidenschaft,<br />

große Opferbereitschaft und Durchsetzung von Prinzipien gehe. Er versteht seine Publikation<br />

als „Reiseführer“ durch Revolutionsgeschichten. Er sieht die Methode <strong>der</strong> narratio als<br />

separates Element und konstitutive Komponente <strong>der</strong> Geschichte und nutzt heuristisch Mythos,<br />

Erinnerung und Mimesis als Triebkräfte <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung: für den „Aufstand <strong>der</strong> Anekdoten“<br />

versucht er, universale Gesetzmäßigkeiten in einer Art Feldtheorie zu erfassen (Kap. 3), erfaßt<br />

in vier Schritten Revolutionstypen (Kap. 4 mit 7), erörtert die fragile, wenn auch hartnäckig<br />

verlorene und vergessene Revolutionsgeschichte (Kap. 8), um abschließend Revolutionen als<br />

die „Grundform soziopolitischen Kampfes“ und Werkzeug für die Gestaltung von Zukunft,<br />

als Katalysator für die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Welt mit einer „unfinished agenda“ zu behandeln<br />

(Kap. 9). Zeitlich erfaßt <strong>der</strong> Autor Entwicklungen im alten Europa von <strong>der</strong> frühen Neuzeit bis<br />

ins 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, er lenkt zudem den Blick auf Mittel- und Südamerika: das Titelbild zeigt<br />

protestierende Studenten in Teheran (1999) – Erkenntnisse aus dem Band sind angesichts<br />

brisanter Ereignisse zwischen Algerien, Ägypten und dem Jemen höchst aktuell.<br />

Willi Eisele<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


44<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

„Stop à l’arnaque du bac!“ – Stopp dem Abi-Schwindel (2007)<br />

Jean-Robert Pitte (*12.08.1949, Präsident <strong>der</strong> Sorbonne, Paris)<br />

Akademische Qualität aus Tradition: Jean-Robert Pitte, Historiker und Geograph, Präsident<br />

<strong>der</strong> ältesten Universität Frankreichs (Sorbonne, Paris, gegr. 1253), kämpft seit 1997<br />

(Vizepräsident mit Reformauftrag) gegen die Massenuniversität (ca. 40 000 Studenten) im<br />

Zentrum <strong>der</strong> französischen Hauptstadt, <strong>der</strong>en Tradition auch zur Mythenbildung geführt hat:<br />

Wer das Abitur hat, darf ohne Aufnahmeprüfung studieren. Seine Hochschullehrer sehen den<br />

Reformbedarf nicht in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung durch Kommunikationstechnologie - „power<br />

point-Präsentationen sind verpönt“ (vgl. Jan Philipp Burgard, 2007) - , son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong><br />

Herstellung von Effektivität des Lehrbetriebs und in <strong>der</strong> Reduzierung <strong>der</strong> „natürlichen<br />

Selektionsrate“ im ersten Studienjahr, in dem 50% <strong>der</strong> Studenten wegen mangeln<strong>der</strong><br />

Voraussetzungen scheitern, im Fach Medizin sogar 90%.<br />

Jean-Robert Pittes Streitschrift mit Zielrichtung <strong>der</strong> Schul- und Hochschulpolitik trägt den<br />

Titel „Stopp dem Abi-Schwindel!“ (2007) – die künftigen Studenten versuchte er mit einem<br />

Appell wachzurütteln „Jeunes, on vous ment ! – Junge Leute, man betrügt Euch !“ (2006).<br />

Seine Position richtet sich im Kern gegen das immer mehr verwässerte Zentralabitur, das seit<br />

<strong>der</strong> Französischen Revolution den Anspruch des Staatszentralismus im Bildungsbereich<br />

verkörpert: Wer in Frankreich von <strong>der</strong> Normandie nach Marseilles versetzt wird, profitiert zu-<br />

nächst von zentralen Unterrichtsvorschriften, einem Schulbuchmanagement, das den Schüler<br />

punktgenau weiterlernen läßt, einem seit Jahren „demokratisierten Bildungsniveau“. Der<br />

Katzenjammer folgt dem Zentralabitur. Daher for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Präsident <strong>der</strong> Renommé-<br />

Universität:<br />

„Wir dürfen keine Abi-Zeugnisse mehr akzeptieren, die gerade einmal für eine Ausbildung<br />

zum Tischler qualifizieren. Wenn die Erfolgsaussichten (in einem Studienfach) erkennbar<br />

gleich Null sind, dürfen wir in Zukunft nicht zögern, dies den Kandidaten unverblümt zu<br />

sagen.“<br />

Seine zentralen For<strong>der</strong>ungen lauten demnach: Jährliche fachbezogene Studiengebühren ab<br />

3500 Euro (vgl. Universität Chicago 65000 Euro), strenge Auswahlkriterien vor <strong>der</strong><br />

Aufnahme eines Studiums, denn „on ne peut pas continuer à laisser n’importe quel étudiant<br />

faire n’importe quelles études – c’est totalement absurde et démagogique“ und „on ne peut<br />

pas non plus abaisser le niveau simplement pour leur faire plaisir“ (Interview,<br />

« Linternaute », 27.02. <strong>2011</strong>). Unter dem Vorzeichen größerer ( !) Autonomie sollen die<br />

Universitäten dies auch umsetzen – im Schulterschluß mit den Schulen des Sekundarbereichs.<br />

Das Ziel <strong>der</strong> Schul- und Universitätsreformen sollten nicht private angloamerikanische<br />

Vorbil<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n asiatische Vorbil<strong>der</strong> wie Shanghai sein.<br />

Um den Auslandsstudenten <strong>der</strong> Sorbonne, Jan-Philipp Burgard, nochmals ins Spiel zu<br />

bringen: Er erwähnt in seinem Bericht einen handschriftlichen Aushang eines ehemaligen<br />

Studenten <strong>der</strong> Sorbonne: „Profitez-bien de vos études, après, c’est dur! Un ancien, qui<br />

regrette. – Nutzt Eure Zeit zum Lernen, danach wird es hart! – Ein Ehemaliger, <strong>der</strong> bereut.“<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>


45<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Auch hierzulande ist in diesem Politikfeld Realismus angesagt – zum Wohl unserer<br />

Abiturienten, bevor <strong>der</strong> Watschenbaum in Landtags- und <strong>Bund</strong>estagswahlen umfällt. Denn:<br />

Einsicht in die Not schafft endlich Wendigkeit.<br />

Willi Eisele<br />

Bücher auf einen Blick<br />

Hans Maier, Böse Jahre, gute Jahre (s. im Anschluß an Forumsbericht)<br />

Julian Nida-Rümelin/Klaus Kufeld, Die Gegenwart <strong>der</strong> Utopie: Zeitkritik und Denkwende<br />

(s. im Anschluß an Forumsbericht)<br />

Dietmar Klenke, Bachelor-Mephisto-Ballade(s. im Anschluß an Forumsbericht)<br />

Herrmann Giesecke, Pädagogik als Beruf (s. im Anschluß an seinen Artikel)<br />

Peter J. Brenner: Bildungsgerechtigkeit (s. Bücherrevue)<br />

Eric Selbin, Gerücht und Revolution (s. Bücherrevue)<br />

Jean-Robert Pitte, Stop a`larnac du bac! (s. Bücherrevue)<br />

Bildung, Bolognaprozeß und Integration in <strong>der</strong> Diskussion (Hg. Hamid Reza Yousefi),<br />

Nordhausen <strong>2011</strong>. Darin: Marius Reiser: Standardisierung und Kultur im ´Bologna`-<br />

Zeitalter.<br />

Impressum<br />

freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online (web-fdw) Nr. 1, <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />

Zeitschrift des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Für unaufgefor<strong>der</strong>t eingesandte Beiträge (Manuskripte, Zeichnungen, Fotos etc.) übernimmt<br />

<strong>der</strong> Empfänger keine Haftung.<br />

Abdruck ist mit Quellenangabe gestattet.<br />

*<br />

Die mit Namen gekennzeichneten Beiträge stellen die persönlich Meinung des Verfassers dar.<br />

Sie müssen nicht unbedingt mit <strong>der</strong> Ansicht von Herausgeber und Redaktion übereinstimmen.<br />

Zuschriften und Stellungnahmen zu Themen und Artikeln dieser Zeitschrift sind willkommen.<br />

Wie<strong>der</strong>gabe und redaktionelle Kürzungen bleiben <strong>der</strong> Redaktion vorbehalten.<br />

Herausgeber: <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Redaktion: Dr. Winfried Holzapfel<br />

Kontakt: website/webmaster<br />

Internetauftritt: http://www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de<br />

Bankverbindung: Deutsche Bank AG, Bonn (BLZ 38070024), Kto. 0233858<br />

Spenden willkommen<br />

web<br />

fdw<br />

I/<strong>2011</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!