April 2011 - Bund Freiheit der Wissenschaft eV
April 2011 - Bund Freiheit der Wissenschaft eV
April 2011 - Bund Freiheit der Wissenschaft eV
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Nr. 1, <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online<br />
Lieber Leser<br />
Aus <strong>der</strong> Arbeit des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
37. Bildungspolitisches Forum – Ein multimedialer Bericht<br />
Hochschule<br />
Die Kampagne gegen zu Guttenberg – Ethik in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Von Winfried Holzapfel<br />
fdw-Spezial<br />
Anmerkungen zur bildungspolitischen Lage<br />
Von Hermann Giesecke<br />
Aus den <strong>Bund</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />
Baden-Württemberg<br />
Grüne Stimmenflut - Was geschieht mit Baden-Württembergs Schulen?<br />
Bayern<br />
Bericht über ein Symposium zur Hochschulreform in München<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
Von <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> 'OS' (Orientierungsstufe) zur Einführung <strong>der</strong> 'OS'<br />
(Oberschule)<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
„Jedem Kind gerecht werden“<br />
Bücherrevue<br />
Bücherrevue<br />
„Bildungsgerechtigkeit“ von Peter J. Brenner; „Gerücht und Revolution – Von<br />
<strong>der</strong> Macht des Weitererzählens“ von Eric Selbin; „Stop à l’arnaque du bac!“ –<br />
Stopp dem Abi-Schwindel von Jean-Robert Pitte<br />
Herausgeber: <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> – Redaktion: Dr. Winfried Holzapfel<br />
Internetauftritt: www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de<br />
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Lieber Leser,<br />
auf vielen Politikfel<strong>der</strong>n ist Bewegung.<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Es bilden sich neue Koalitionen und neue Überzeugungen.<br />
Bedeutende Bereiche wie <strong>der</strong> <strong>der</strong> Energiepolitik und <strong>der</strong><br />
Außenpolitik sind von heftigen Debatten erfaßt worden.<br />
Die Politiker haben ein „Glaubwürdigkeitsproblem“, wenn<br />
sie Überzeugungen, die jahrzehntelang als unumstößlich<br />
galten, revidieren o<strong>der</strong> auch nur ein Überdenken<br />
ankündigen.<br />
Selbst wenn sie sich nur „Zeit nehmen“ (ein Moratorium),<br />
wird dies als bloße Taktik, die Wahlen geschuldet sei,<br />
abgestempelt.<br />
Ist dies aber nicht vielleicht nur eine mediale, unzulässige<br />
Vor-Verurteilung eines Handelns, zu dem es in jetziger Lage<br />
keine Alternative gibt ?<br />
Es ist richtig, daß man Politikern auf die Finger sieht und<br />
prüft, was sie sagen und tun, und kritisch beobachtet, in<br />
welchem Verhältnis Rede und Handeln stehen.<br />
Oberstudiendirektor Dr.<br />
Winfried Holzapfel ist einer<br />
<strong>der</strong> Vorsitzenden des <strong>Bund</strong>es<br />
<strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Es scheint aber manchmal in <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Medien zu kurz zu kommen, einmal das<br />
„Dafür“ darzustellen. Wir haben ein mediales Verdächtigungs- und Ablehnungsverhalten, das<br />
es schwer macht, komplexe Probleme sachlich zu erörtern. Keine Meldung, die nicht mit<br />
mindestens einer kritischen Stimme garniert wird, durch die ein Projekt in Mißkredit gezogen<br />
wird, bevor es noch überhaupt umfassend erklärt worden ist.<br />
So werden viele zu Stellungnahmen pro und contra genötigt, die noch gar nicht begriffen<br />
haben, worum es geht.<br />
Es gibt kaum Nachrichten, die keine emotionale Einfärbung haben.<br />
Emotionale Einfärbung verführt aber zur Parteinahme, noch bevor man seinen Standpunkt<br />
ausformuliert hat. So ergeben sich Streitorgien, die einer Streitkultur eindeutig abträglich<br />
sind.<br />
In „freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online“ äußern wir uns zu Themen <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>s- und<br />
Schulpolitik. Die Leitlinien und Grundsätze des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> sind die<br />
Richtschnur, gemäß <strong>der</strong> wir das, was geschieht, unter die Lupe nehmen.<br />
Wir nehmen Stellung zu Themen, die wir zuvor korrekt dargestellt haben o<strong>der</strong> bei denen wir<br />
vermuten dürfen, daß unsere Leser entsprechend informiert sind und sich gegenüber <strong>der</strong><br />
Meinung unserer Autoren souverän verhalten können.<br />
Als Internetzeitschrift wollen wir zusätzlich mehr und mehr die Möglichkeit nutzen, unseren<br />
Text mit den Nachrichtenquellen zu „verlinken“, so daß dadurch ein Informationsplus entsteht<br />
und unsere Stellungnahme von den interessierten Lesern besser eingeordnet werden kann.<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
2<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Manchmal kopieren wir auch Pressemitteilungen in unsere Zeitschrift hinein, damit die<br />
Meinung an<strong>der</strong>er Organisationen sozusagen im Original nachzulesen ist.<br />
Wir hoffen, daß wir Ihnen, lieber Leser, Dinge nahe bringen können, die Sie interessieren,<br />
und daß Sie Freude daran haben, unsere Meinung zu lesen und sich damit auseinan<strong>der</strong> zu<br />
setzen. Wenn Sie sie teilen, umso besser.<br />
Schreiben Sie uns, wenn wir Ihre Meinung vervielfältigen sollen. Wir nehmen sie mit<br />
Interesse zur Kenntnis.<br />
Aus <strong>der</strong> Arbeit des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Mit freundlichen Grüßen<br />
Ihr<br />
Winfried Holzapfel<br />
Am 21. Januar dieses Jahres fand in Berlin unter <strong>der</strong> Leitung des Vorsitzenden Dr. Hans<br />
Joachim Geisler die 20. ordentliche Mitglie<strong>der</strong>versammlung des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong> statt.<br />
Dr. Geisler verlas einen umfangreichen Rechenschaftsbericht, in dem nochmals die<br />
Turbulenzen zwischen <strong>der</strong> 19. und 20. Mitglie<strong>der</strong>versammlung beschrieben wurden, als es auf<br />
zwei außerordentlichen Mitglie<strong>der</strong>versammlungen um die Fortexistenz des BFW ging und<br />
schließlich weitere Aktivitäten beschlossen wurden.<br />
Mit großer Zufriedenheit konnte Hans Joachim Geisler feststellen, daß <strong>der</strong> <strong>Bund</strong> sich<br />
inzwischen wie<strong>der</strong> konsolidiert und durch einige Neuerungen gut Fuß gefaßt hat. Dazu<br />
gehören die verstärkte Internetpräsenz, die Erweiterung <strong>der</strong> Interessentendatei und zwei<br />
Aktionsbündnisse in Berlin und Nordrhein-Westfalen, die im Bereich „Schule“ agieren.<br />
Auch die Zahl <strong>der</strong>er, die den Bologna-Prozeß an den deutschen Hochschulen kritisch sehen,<br />
scheint gewachsen zu sein. Jedenfalls erhält <strong>der</strong> <strong>Bund</strong> in diesem Punkt prominenten Zuspruch<br />
und Bestätigung. So schreibt beispielsweise Norbert Bolz in <strong>der</strong> Januarausgabe von<br />
„Forschung & Lehre“ : „Wäre es nicht an <strong>der</strong> Zeit, den <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> zu<br />
rehabilitieren? Das Programm wäre einfach und klar: <strong>Freiheit</strong> von Forschung und<br />
Lehre....Es geht nicht um Ausbildung, son<strong>der</strong>n um lebendigen Geist – das ist die Aktualität<br />
Humboldts.“ (Heft 1/11, S.9).<br />
****<br />
Beson<strong>der</strong>s hob Hans-Joachim Geisler das Bildungspolitische Forum im November in St.<br />
Augustin hervor, das anläßlich des 40jährigen Bestehens unter dem „Thema „Erinnerung und<br />
Ausblick“ stand und mit Vorträgen zum Unterthema: „Die Zukunft unserer<br />
Bildungseinrichtungen?“ zahlreiche Besucher anzog. (Siehe untenstehenden Bericht!)<br />
****<br />
web<br />
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I/<strong>2011</strong>
3<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Im weiteren Verlauf <strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong>versammlung gab es Neuwahlen, die im Ergebnis den<br />
Vorschlägen des Vorstands entsprachen.<br />
Dr. Hans Joachim Geisler legte auf eigenen Wunsch aus Altersgründen sein Amt als<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>, stellte sich aber zur weiteren Mitarbeit für Aufgaben im erweiterten<br />
Vorstand zur Verfügung. Seine Überlegungen wurden von <strong>der</strong> Versammlung durch ein<br />
entsprechendes Wahlverhalten respektiert. (Die Wahlergebnisse sind weiter unten aufgelistet.)<br />
****<br />
Am Ende <strong>der</strong> Versammlung durfte ich im Namen des Vorstands, <strong>der</strong> Versammlung und aller<br />
Mitglie<strong>der</strong> Hans Joachim Geisler für seine unermüdliche Arbeit für den <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong> von <strong>der</strong> ersten Stunde an und in verschiedenen Funktionen danken.<br />
Hans Joachim Geisler hat umfassend die vielfältige Verwaltungsarbeit geleistet und dazu<br />
noch eine unaufgeregte und zielgerichtete Kommunikationsleistung in den ganzen <strong>Bund</strong><br />
hinein vollbracht. Mit den „Notizen zur Geschichte des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>“,<br />
<strong>der</strong>en zweiter Teil im vergangenen Herbst erschienen ist, hat er die Geschichte des <strong>Bund</strong>es<br />
<strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> in den Grundzügen bestens dokumentiert. Zusätzlich hat er weitere<br />
wichtige Aufgaben für den BFW erfüllt, die hier gar nicht alle aufgezählt werden können.<br />
Später im Jahr soll noch eine beson<strong>der</strong>e Ehrung erfolgen.<br />
****<br />
An dieser Stelle ist auch denjenigen zu danken, die nach vielen Jahren als Mitglie<strong>der</strong> aus dem<br />
Vorstand ausscheiden, Herrn Professor Dr. Wolfgang Dreybrodt/Bremen, Herrn Professor Dr.<br />
Rosenbaum/Greifswald und Herrn Professor Dr. Winfried Schlaffke/Köln. Sie haben die<br />
Arbeit <strong>der</strong> Vorsitzenden nach Kräften unterstützt.<br />
Erfreulicherweise stellen sich Wolfgang Dreybrodt und Hans-Dieter Rosenbaum weiterhin als<br />
Regionalbeauftragte zur Verfügung stellen (Siehe untenstehende Liste <strong>der</strong><br />
Regionalbeauftragten!)<br />
****<br />
Die Mitglie<strong>der</strong>versammlung war sich darin einig, daß auch etwas für die Mitglie<strong>der</strong>werbung<br />
getan werden müsse. So ergeht eine große Bitte an alle: Machen Sie in Ihrem Schüler- und<br />
Bekanntenkreis auf uns aufmerksam. Es ist immer nötig, für die <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> und<br />
ein leistungsorientiertes und humanes Bildungswesen zu kämpfen und Fehlentwicklungen zu<br />
verhin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong> zumindest anzuprangern. Dafür kann es nie genug Mitstreiter geben.<br />
Besuchen Sie unsere Website<br />
www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de<br />
Für Spenden auf unser Konto bei <strong>der</strong> Deutschen Bank sind wir dankbar:<br />
Deutsche Bank Ag, Bonn BLZ 38070024, Konto 0 233 858<br />
Winfried Holzapfel<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
4<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Personalien – Ergebnisse <strong>der</strong> Vorstandswahlen<br />
20. ordentliche Mitglie<strong>der</strong>versammlung am 21. Januar <strong>2011</strong> in Berlin<br />
20. ordentliche Mitglie<strong>der</strong>versammlung am 21. Januar in Berlin<br />
Ergebnisse <strong>der</strong> Vorstandswahlen (in alphabetischer Reihenfolge)<br />
Vorsitzende<br />
Oberstudiendirektor a.D. Dr. Winfried Holzapfel, Gel<strong>der</strong>n<br />
Professor Dr. Dr. Kurt J. Reinschke, Dresden<br />
Staatsrat a.D. Dr. Reiner Schmitz, Hamburg<br />
Schatzmeister<br />
Professor Dr. Günter Püttner<br />
Reiner Schmitz wurde zum Nachfolger<br />
von Hans Joachim Geisler als<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> gewählt.<br />
Erweiterter Vorstand<br />
Oberstudiendirektor Willi Eisele, Wolfratshausen<br />
Dr. Hans Joachim Geisler, Berlin<br />
Professor Dr. Dietmar Klenke, Pa<strong>der</strong>born<br />
Oberstudiendirektor Josef Kraus, Ergolding<br />
Dr. Brigitte Pötter, Mahlow<br />
Hans Joachim Geisler legte aus<br />
Altersgründen sein Amt als<br />
Vorsitzen<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>, bleibt aber<br />
als Vorstandsmitglied weiterhin<br />
für den <strong>Bund</strong> aktiv.<br />
Zur Person:<br />
Geb. 1947 in Holzbüttgen bei Neuss, verwitwet, vier<br />
erwachsene Kin<strong>der</strong>. 1972 Promotion zum Dr. phil.<br />
im Fach Philosophie in Freiburg. Nach dem<br />
Staatsexamen Unterricht in den Fächern<br />
Philosophie, Deutsch, Geschichte und Latein an<br />
Gymnasien in Hamburg. Schulleiter, danach<br />
Verwaltungsbeamter in Hamburg, dabei von 2002 bis<br />
2004 Leiter des Katholischen Schulamtes in<br />
Hamburg, anschließend bis Ende 2005 Staatsrat in<br />
<strong>der</strong> Behörde für Bildung und Sport <strong>der</strong> Hansestadt.<br />
Seit 2006 Regionalbeauftragter des BFW für<br />
Hamburg.<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
5<br />
Verstärkt nach seiner Wahl den Vorstand<br />
des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>:<br />
Dietmar Klenke.<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Zur Person:<br />
Geb. 1954 in Warburg/Westf., verheiratet, zwei<br />
Kin<strong>der</strong>. Studium <strong>der</strong> Geschichte, Soziologie,<br />
Volkswirtschaftslehre und Musikwissenschaft in<br />
Köln und Münster. Promotion 1982 an <strong>der</strong><br />
Universität Münster und Zweites Staatsexamen für<br />
das Lehramt am Gymnasium in Rheine. Habilitation<br />
1992 in Neuerer Geschichte an <strong>der</strong> Universität<br />
Bielefeld. Seit 1997 Lehrstuhl für Neueste<br />
Geschichte am Historischen Institut <strong>der</strong> Universität<br />
Pa<strong>der</strong>born. Seit 2009 Forschungsschwerpunkt:<br />
Universitätsgeschichte.<br />
Die Aufgaben als Regionalbeauftragte des BFW sollen nach Absprache mit den Vorsitzenden<br />
weiterhin folgende Mitglie<strong>der</strong> wahrnehmen:<br />
Baden-Württemberg: Professor Dr. Jürgen Kullmann, Mössingen<br />
Bayern: Oberstudiendirektor Willi Eisele, Wolfratshausen<br />
Berlin und Brandenburg: Oberschulrat a.D. Gerhard Schmid, Berlin<br />
Bremen: Professor Dr. Wolfgang Dreybrodt, Bremen<br />
Hamburg: Staatsrat a.D. Dr. Reiner Schmitz, Hamburg<br />
Hessen: Privatdozent Dr. habil, Siegfried Uhl, Frankfurt/M.<br />
Mecklenburg-Vorpommern: Professor Dr. Klaus-Dieter Rosenbaum, Loitz<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen: Oberstudiendirektor Bernd Ostermeyer. Wienhausen<br />
Nordrhein-Westfalen: Studiendirektor Norbert Schlö<strong>der</strong>, Willich<br />
Sachsen: Professor Dr. Sigismund Kobe, Dresden<br />
Thüringen: Professor Dr. Gerd Wechsung, Cospeda<br />
Aufruf<br />
Wir möchten Sie, liebe Leser und Freunde des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>, anregen, uns<br />
Adressen zu vermitteln, an die wir „freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online“ über Internet senden können.<br />
Wir belästigen damit niemanden; denn „freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online“ kann bei Nichtgefallen<br />
leicht abbestellt o<strong>der</strong> „weggedrückt“ werden.<br />
An<strong>der</strong>erseits hat sich unser Leserkreis durch den Weiterversand aufgrund <strong>der</strong> Eigeninitiative mancher<br />
Mitglie<strong>der</strong> schon vergrößert. Dies möchten wir weiterentwickeln.<br />
Vielen Dank für Ihre Unterstützung!<br />
Die Vorsitzenden ihrerseits sind schnell erreichbar über folgende E-Mail-Adressen:<br />
dr.winfried.holzapfel@t-online.de<br />
kurt.reinschke@t-online.de<br />
reinerschmitzhh@yahoo.de<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
6<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
40 Jahre <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> – Erinnerung und Ausblick<br />
37. Bildungspolitisches Forum mit dem Thema: „Die Zukunft unserer Bildungseinrichtungen“<br />
Über das 37. Bildungspolitische<br />
Forum des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong>, das anläßlich des<br />
40jährigen Bestehens des <strong>Bund</strong>es<br />
<strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> am 17.<br />
November 2010 in Sankt Augustin<br />
in Zusammenarbeit mit <strong>der</strong><br />
Konrad-Adenauer-Stiftung<br />
stattfand, haben wir schon auf<br />
unserer Website und im März-<br />
Rundbrief unsere Leser und<br />
interessierten Freunde unterrichtet.<br />
Einiges aus diesen Berichten finden<br />
Sie unten wie<strong>der</strong>.<br />
37. Bildungspolitisches Forum in Sankt Augustin<br />
Neu ist an dieser Stelle die Möglichkeit, in die Vorträge, die beim Forum gehalten wurden,<br />
hineinzuhören, sofern bei Ihnen die Technik dafür vorhanden ist.<br />
Sie finden die Angaben dazu unter dem Bildbericht.<br />
Forum in Sankt Augustin – Bildbericht<br />
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin for<strong>der</strong>te beim<br />
Forum:<br />
Verschulung des Studiums rückgängig<br />
machen!<br />
Universitäten dürfen nicht zu bloßen<br />
Lehranstalten verkommen.<br />
Mobilität für fortgeschrittene Studierende<br />
för<strong>der</strong>n! Eine Stiftungsuniversität etablieren!<br />
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin<br />
In seinem Vortrag „Perspektiven <strong>der</strong> Universität <strong>der</strong> Zukunft“ bedauerte Professor Dr. Nida-<br />
Rümelin die Entwicklung, die die deutsche Universität durch den Bologna-Prozeß<br />
genommen habe. Zwar sei dieser Prozeß als solcher wohl unumkehrbar, jedoch könne durch<br />
die Besinnung auf Humboldt die Idee <strong>der</strong> Universität in Zukunft wie<strong>der</strong> zur Geltung<br />
web<br />
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I/<strong>2011</strong>
7<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
kommen.<br />
Gegen Ende seines Vortrags sagte <strong>der</strong> Referent: „Wir können nicht hinter Bologna zurück.<br />
Aber wir müssen die Stärken <strong>der</strong> Universität bewahren. Es ist eine nachholende Debatte<br />
nötig. Die Einheit von Forschung und Lehre muß gewahrt bleiben. Die Verschulung muß<br />
beendet werden.“<br />
Die Verschulung sei auch für die Persönlichkeitsentwicklung <strong>der</strong> Studierenden gefährlich,<br />
die keine Zeit mehr hätten, Bücher zu lesen, son<strong>der</strong>n nur noch die für ihre Prüfungen nötigen<br />
Papiere läsen. „Sie verlieren ihre Eigenständigkeit“. Eigenständige Urteilskraft sei aber so<br />
„wichtig wie nie“.<br />
Seine dritte For<strong>der</strong>ung war: „Wir brauchen Konzentration von Forschungsschwerpunkten“.<br />
Dem könne die Errichtung einer Stiftungsuniversität dienen. Sie müsse, aus <strong>Bund</strong>esmitteln<br />
geför<strong>der</strong>t, so ausgestattet sein, daß <strong>der</strong> gesamte <strong>Wissenschaft</strong>sbetrieb davon profitiere. Dies<br />
könne durch ihre Vernetzung mit den <strong>Wissenschaft</strong>szentren in Deutschland insgesamt<br />
geschehen. Die <strong>Wissenschaft</strong> selbst, nicht die Politik solle dieser Universität ihr Gepräge<br />
geben.<br />
Die Idee <strong>der</strong> Vereinheitlichung des europäischen Hochschulraums solle weiter verfolgt<br />
werden, jedoch dürfe sie in <strong>der</strong> Praxis nicht zu einer „Bürokratenidee“ verkommen.<br />
Die Rede Nida-Rümelins wurde im gegenwartskritischen wie im appellativen Teil vom<br />
Auditorium sehr positiv aufgenommen und fand auch auf dem folgenden Podium viel<br />
Zustimmung.<br />
Forum in Sankt Augustin - Hauptvorträge<br />
Vortrag von Hans Maier<br />
Vortrag von Josef Kraus<br />
Vortrag von Julian Nida-Rümelin<br />
Forum in Sankt Augustin – Weitere Mitschnitte<br />
Statement von Professor Dr. Heiner Müller-Merbach<br />
zum „segensreichen“ Wirken des CHE und <strong>der</strong><br />
Bertelsmann-Stiftung<br />
Anhören (*.mp3)<br />
Anhören (*.mp3)<br />
Anhören (*.mp3)<br />
Anhören (*.mp3)<br />
Bei Interesse können Sie den Ton - Mitschnitt des Forums auf DVD beim <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong> bestellen. Zu diesem Zweck können Sie unsere E-Mailanschriften nutzen, aber<br />
auch Telefon o<strong>der</strong> Fax. Die DVD wird Ihnen kostenlos zugesandt.<br />
Der Ton-Mitschnitt enthält auch die Wortbeiträge von Jörg-Dieter Gauger, Hans Joachim<br />
Geisler und Svea Koischwitz sowie alle Podiumsdiskussionen. (Die Aufnahmequalität ist<br />
allerdings umständehalber nicht durchweg hochwertig.)<br />
Der BFW dankt Herrn Johannes Markner für liebenswürdige und umfassende Hilfe in allen<br />
organisatorischen und technischen Fragen.<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
8<br />
Hinweis<br />
Am 8. März dieses Jahres hat Josef<br />
Kraus für „BILD.de“ „20<br />
Wahrheiten über Schule in<br />
Deutschland“ nie<strong>der</strong>geschrieben.<br />
Sie entsprechen – selbstverständlich –<br />
dem, was er in seinem Vortrag beim<br />
Forum ausgeführt hat.<br />
Sie finden sie hier:<br />
http://www.lehrerverband.de/wahrheit<br />
en.htm<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Hans Maier: Böse Jahre, gute Jahre<br />
(seit 18. März im Buchhandel, 24,95 Euro)<br />
Neue Bücher <strong>der</strong> Referenten<br />
Oberstudiendirektor<br />
Josef Kraus,<br />
Präsident des Deutschen<br />
Lehrerverbandes und<br />
Vorstandsmitglied des<br />
BFW<br />
Julian Nida-Rümelin/Klaus Kufeld: Die<br />
Gegenwart <strong>der</strong> Utopie: Zeitkritik und<br />
Denkwende (ab 3. Mai im Buchhandel, 20<br />
Euro)<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
9<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Im Zusammenhang mit dem Thema <strong>der</strong> Tagung von St. Augustin könnte folgen<strong>der</strong><br />
Buchtitel das Interesse unserer Leser finden:<br />
Dietmar Klenke, Beethoven und die Bonner Universität. Die Bachelor-Mephisto-Ballade<br />
von 1820, hrsg. von <strong>der</strong> Rheinischen Friedrich – Wilhelms - Universität Bonn, (mit Partitur<br />
und Audio - CD), Bonn <strong>2011</strong> (15,00 Euro)<br />
Das im Februar <strong>2011</strong> erschienene Buch über<br />
Beethovens Solidarität mit <strong>der</strong> Bonner<br />
Universität im Metternich-Zeitalter, verfaßt<br />
von (unserem neuen Vorstandsmitglied)<br />
Dietmar Klenke, berichtet von <strong>der</strong><br />
sensationellen Entdeckung eines für<br />
verschollen gehaltenen Beethoven-Werkes im<br />
Bonner Universitätsarchiv. Es handelt sich<br />
dabei um ein dreisätziges Klavierwerk mit<br />
dem ‚anmutigen’ Titel „Bachelor-Mephisto-<br />
Ballade“.<br />
Für uns, denen in erster Linie das Schicksal<br />
<strong>der</strong> heutigen Universitäten am Herzen liegt,<br />
könnte von Interesse sein, was den Autor,<br />
Professor für Geschichte an <strong>der</strong> Universität<br />
Pa<strong>der</strong>born, bewogen hat, solch ein<br />
„politsatirologisches“ Buch zu verfassen und<br />
dabei gleich eine Komposition im Stile<br />
Beethovens mitzuliefern. Was war <strong>der</strong><br />
Hintergrund des Buches?<br />
Als die deutschen Universitäten im Herbst 2009 vom einem bundesweiten Studentenstreik<br />
gegen die Bologna-Reformen und die Bachelorisierung des Lehrbetriebs erschüttert wurden,<br />
wagte es die Universität Bonn als erste deutsche Hochschule, die Zusammenarbeit mit dem<br />
machtvoll auftretenden Hochschul-Ranking <strong>der</strong> Bertelsmann-Stiftung aufzukündigen. Unter<br />
dem Eindruck dieser Geschehnisse kam <strong>der</strong> Autor des Buches auf die Idee, seinem<br />
wachsenden Unbehagen über die Zustände an den Universitäten auf satirische Weise<br />
Ausdruck zu verleihen. Das Ergebnis war, daß er ausgerechnet in Beethovens Geburtsstadt<br />
Bonn im Universitätsarchiv durch glücklichen Zufall ein verschollenes Klavierwerk des<br />
großen Meisters wie<strong>der</strong>entdeckt haben wollte, und zwar die heroische „Bachelor-Mephisto-<br />
Ballade“, mit <strong>der</strong> Beethoven von Wien aus den bedrängten Bonner Professoren und Studenten<br />
in <strong>der</strong> repressiven Metternich-Ära ab 1819 beispringen wollte. Selbstverständlich wurde das<br />
bei Beethovens freimaurerischem Bonner Verlegerfreund Simrock gedruckte Klavierwerk<br />
umgehend von <strong>der</strong> Polizei beschlagnahmt und harrte in einem fast 200jährigen<br />
Dornröschenschlaf <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung. Das Zeitalter <strong>der</strong> Karlsba<strong>der</strong> Beschlüsse wird in<br />
diesem Buch unversehens zu einer verfremdenden historischen Kulisse für die aktuellen<br />
Streitfragen <strong>der</strong> Hochschulpolitik.<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
10<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Rektorat und Philosophische Fakultät <strong>der</strong> Bonner Universität waren gern bereit, Klenke<br />
einzuladen, seine sensationelle Entdeckung im Festsaal <strong>der</strong> Universität <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
vorzustellen. Unter dem Eindruck <strong>der</strong> „Welturaufführung“ am 1. Juli 2010 entschloß sich<br />
dann die Universitätsleitung, Klenkes Forschungsergebnisse als Buch zu veröffentlichen. Es<br />
enthält neben den scheinbar seriösen, durch zahlreiche Fußnoten untermauerten Darlegungen<br />
auch die Original-Partitur des Werkes und eine Audio - CD mit einer Einspielung <strong>der</strong><br />
Bachelor-Mephisto-Ballade. Das Original befindet sich wohlbehalten in <strong>der</strong> Obhut des<br />
Depositums Kujau des Bonner Universitätsarchivs.<br />
Im Buch tritt ein imaginärer Beethoven auf, <strong>der</strong> zwar eng an die historische Wirklichkeit<br />
angelehnt ist, aber als Maskerade für unsere heutigen Streitfragen in <strong>der</strong> Hochschulpolitik<br />
herhalten muß. Der blaue Buchdeckel spielt mit dem Design <strong>der</strong> Europafahne auf den<br />
„Bologna-Prozeß“ an. Genau darum geht es auch beim angeblich wahren Ursprung unserer<br />
Europahymne: Diese trat, wenn man Klenkes Befunden Glauben schenken darf, ursprünglich<br />
als Solidaritätslied Beethovens für die Professoren und Studenten <strong>der</strong> Universität Bologna ins<br />
Leben. Diese hatten sich nach 1815 <strong>der</strong> Priesterherrschaft im restaurierten Kirchenstaat fügen<br />
müssen. Als Textdichter dieses „Bologna-Cantus“ genannten Universitätsliedes konnte<br />
Klenke Johann Baptist Steingaß ausmachen, <strong>der</strong> 1819 in die freiheitliche Schweiz hatte<br />
fliehen müssen. Auch den Text und die Original-Partitur des Bologna-Cantus hält das Buch<br />
bereit.<br />
Bestellungen sind zu richten an: dietmar.klenke@uni-pa<strong>der</strong>born.de<br />
Bologna - Barometer<br />
Positive Bologna-Zwischenbilanz?<br />
Die Kultusministerkonferenz zieht eine positive Zwischenbilanz <strong>der</strong> Bologna-Reformen.<br />
Teilen Sie diese Ansicht?<br />
Ja 5,8%<br />
Nein 94,2%<br />
227 Stimmen, Idee und Quelle: Website Deutscher Hochschulverband<br />
(Stand <strong>der</strong> Umfrage: 4. <strong>April</strong> <strong>2011</strong>)<br />
http://www.hochschulverband.de/cms1/frage-des-monats+M54a708de802.html<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
11<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Die Kampagne gegen zu Guttenberg – Ethik in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Deutscher Hochschulverband (DHV) empört über Verharmlosung von Plagiaten<br />
Die Kampagne gegen zu Guttenberg – Ethik in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Auf dem Höhepunkt <strong>der</strong> zu - Guttenberg - Kampagne hat <strong>der</strong> Deutsche Hochschulverband<br />
folgende Presseerklärung herausgegeben:<br />
DHV empört über Verharmlosung von<br />
Plagiaten<br />
„Der Deutsche Hochschulverband nimmt mit<br />
Befremden, teils auch mit Erschrecken die<br />
Einschätzungen und Äußerungen aus Teilen <strong>der</strong><br />
Politik und <strong>der</strong> veröffentlichen Meinung in <strong>der</strong><br />
gegenwärtigen Diskussion über Plagiate zur<br />
Kenntnis“, erklärte <strong>der</strong> Präsident des Deutschen<br />
Hochschulverbandes (DHV), Professor Dr.<br />
Bernhard Kempen. „<strong>Wissenschaft</strong> ist die Suche<br />
nach Wahrheit. Sie lebt von Originalität und<br />
Eigenständigkeit. Der redliche Umgang mit Daten,<br />
Fakten und geistigem Eigentum macht die<br />
<strong>Wissenschaft</strong> erst zu <strong>Wissenschaft</strong>. Plagiate<br />
erschüttern daher die Glaubwürdigkeit von<br />
<strong>Wissenschaft</strong>.“<br />
Das Lachen vergangen?<br />
–<br />
Kommt Karl-Theodor zu Guttenberg<br />
nach einem Moratorium zurück in die<br />
Politik ?<br />
Foto: copy & paste<br />
Plagiieren sei kein Bagatelldelikt. „Die Marginalisierung schwersten wissenschaftlichen<br />
Fehlverhaltens durch höchste Repräsentanten unseres Staates ist empörend“, erklärte Kempen.<br />
„Es ist unerträglich, wie die Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> und ihrer ehernen Gesetze politisch<br />
kleingeredet wird. Die im DHV vereinten 26.000 <strong>Wissenschaft</strong>lerinnen und <strong>Wissenschaft</strong>ler<br />
protestieren nachdrücklich gegen diese Respektlosigkeit. <strong>Wissenschaft</strong> ist kein Sandkasten,<br />
son<strong>der</strong>n ein elementar wichtiger Teil unserer Gesellschaft.“<br />
In <strong>der</strong> gegenwärtigen Diskussion gelte es, Balance zu halten. „Auf <strong>der</strong> einen Seite dürfen wir<br />
<strong>Wissenschaft</strong> nicht automatisch unter den Generalverdacht <strong>der</strong> Fälschung stellen. Auf <strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>en Seite muß die <strong>Wissenschaft</strong> konsequent gegen Betrugsfälle vorgehen und immer<br />
wie<strong>der</strong> prüfen, ob sie alles tut, um Plagiatoren auf die Schliche zu kommen“, betonte<br />
Kempen.<br />
Im digitalen Zeitalter werde es immer leichter und verführerischer, fremdes Gedankengut per<br />
„Copy und Paste“-Befehl in eigene Arbeiten einzufügen und als eigene geistige Leistung<br />
auszugeben. „Ein hohes Entdeckungsrisiko und klar kommunizierte Sanktionsdrohungen sind<br />
<strong>der</strong> wirksamste Schutz vor wissenschaftlichem Fehlverhalten“, so <strong>der</strong> DHV-Präsident. Daher<br />
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12<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
sollten die Hochschulen in ihren Prüfungsordnungen festschreiben, daß Arbeiten auch in<br />
digitaler Form abzugeben seien, damit Texte besser und schneller mittels sogenannter<br />
„Plagiats-Software“ auf Übereinstimmungen mit fremden Texten abgeglichen werden<br />
können. Dies gelte auch für Promotionen. In den Prüfungsordnungen sollte zudem festgelegt<br />
werden, daß mit <strong>der</strong> Abgabe von Seminar- und Abschlußarbeiten eine eidesstattliche<br />
Erklärung abzugeben sei, nach <strong>der</strong> die vorgelegte Arbeit selbständig und ohne Hilfeleistung<br />
Dritter angefertigt worden sei.<br />
Kempen nahm aber auch die Hochschullehrer in die Pflicht. Es sei die Aufgabe jedes<br />
Hochschullehrers, verstärkt auf Plagiate von Kollegen, Mitarbeitern und Studierenden zu<br />
achten. „Wegsehen“ sei falsch verstandene Kollegialität und selbst ein wissenschaftliches<br />
Fehlverhalten. Zu den Kernaufgaben <strong>der</strong> Hochschullehrer gehöre, Studierende in die Kultur<br />
wissenschaftlichen Arbeitens einzuführen. „Die Erläuterung wissenschaftlicher Grundregeln<br />
muß zwingend Lehrstoff im ersten Semester werden“, hob Kempen hervor. Ein<br />
Verhaltenskodex mit Darstellung <strong>der</strong> Konsequenzen bei Verstoß sei Studierenden mit <strong>der</strong><br />
Immatrikulation zu überreichen.<br />
Bonn, 25. Februar <strong>2011</strong> - Internetadresse des DHV: http://www.hochschulverband.de<br />
Durch den Aufstand <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> wurde zu Guttenbergs Schicksal als Minister endgültig<br />
besiegelt.<br />
Der <strong>Wissenschaft</strong> obliegt es aber nun, den Selbstreinigungsprozeß voranzutreiben. Es gilt,<br />
dem hehren Ethos des Berufs, das <strong>der</strong> Präsident des Deutschen Hochschulverbandes<br />
beschwört, auch zu entsprechen.<br />
Beim 34. Bildungspolitischen Forum des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> ( „ <strong>Freiheit</strong> und<br />
Verantwortung in Forschung, Lehre und Studium – Die ethische Dimension <strong>der</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong>“) am 27. Februar 2004 in Berlin hielt <strong>der</strong> Trierer Philosoph Klaus Fischer einen<br />
Vortrag zum Thema „Spielräume wissenschaftlichen Handelns - Die Grauzone <strong>der</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong>spraxis?“ Im Zusammenhang mit <strong>der</strong> zu - Guttenberg - Debatte lohnt es sich<br />
beson<strong>der</strong>s, den Passus „f) Die Verletzung des Rechts an geistigem Eigentum“ nachzulesen.<br />
In seinem Vortrag sprach Klaus Fischer über sehr viele unterschiedliche Bereiche, in denen<br />
viele Arten <strong>der</strong> Täuschung in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> möglich sind und begangen wurden und<br />
werden. Da gibt es nicht nur (nach Babbage) die vier Formen des Schwindels: „Hoaxing“,<br />
„Forging“, „Trimming“ und „Cooking“. (Siehe den Vortrag von Klaus Fischer bei:<br />
www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de - unter „Originaltexte“)<br />
Wahrheit und Ehrlichkeit in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> – ein weites Feld, und manchmal schlüpfrig.<br />
Winfried Holzapfel<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Inzwischen erfahren wir aus einer Pressemitteilung des Deutschen Hochschulverbandes vom<br />
31 März <strong>2011</strong>, daß nach Auskunft <strong>der</strong> Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) die<br />
Selbstkontrolle in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> „gut funktioniert“.<br />
Bonn, 31. März <strong>2011</strong><br />
DFG: Selbstkontrolle in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> funktioniert gut<br />
“Das System <strong>der</strong> Selbstkontrolle <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> und in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> wird<br />
angenommen und gelebt. Es funktioniert gut.“ Dieses Fazit vor dem Hintergrund <strong>der</strong><br />
Plagiatsaffäre um Karl-Theodor zu Guttenberg zieht die Justitiarin <strong>der</strong> Deutschen<br />
Forschungsgemeinschaft (DFG), Kirsten Hüttemann, in einem Beitrag für die <strong>April</strong>-Ausgabe<br />
<strong>der</strong> Zeitschrift „Forschung & Lehre“. Die steigende Zahl von Verdachtsmomenten, die <strong>der</strong><br />
DFG jährlich angezeigt und bekannt würden, spiegeln laut Hüttemann den kritischen<br />
Umgang mit <strong>der</strong> „Währung <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>“, <strong>der</strong> Ehrlichkeit sich und an<strong>der</strong>en gegenüber,<br />
wi<strong>der</strong>. Ob das Fehlverhalten in <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> tatsächlich zugenommen habe o<strong>der</strong><br />
lediglich das zur Kenntnis bringen von Verdachtsmomenten, sei „offen und spekulativ“, so<br />
die DFG-Justitiarin. Ein wachsendes Bewußtsein für den Stellenwert ehrlicher <strong>Wissenschaft</strong><br />
lasse sich hingegen an den Zahlen ablesen.<br />
Die DFG hat Ende <strong>der</strong> 1990er Jahre „Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher<br />
Praxis“ erarbeitet und mit dem „Ombudsman für die <strong>Wissenschaft</strong>“ eine Instanz geschaffen,<br />
an die sich <strong>Wissenschaft</strong>ler zur Beratung und Unterstützung beim Umgang mit<br />
wissenschaftlichem Fehlverhalten vertrauensvoll wenden können. Hüttemann verteidigt das<br />
System <strong>der</strong> Selbstkontrolle: Letztlich seien allein <strong>Wissenschaft</strong>ler in <strong>der</strong> Lage, mögliche<br />
Verfehlungen bei komplexen Vorwürfen zu überprüfen. Eine Untersuchung innerhalb <strong>der</strong><br />
<strong>Wissenschaft</strong>, durch <strong>Wissenschaft</strong>ler selbst, erhöhe zugleich die Akzeptanz einer<br />
Entscheidung. Außerdem wisse je<strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>ler, <strong>der</strong> in eine Kommission berufen o<strong>der</strong><br />
als Ombudsman tätig werde, um die Sensibilität und die Konsequenz seiner Aufklärung. Eine<br />
nach Objektivität besetzte Kommission könne schließlich den Vorwurf <strong>der</strong> Befangenheit<br />
zurückweisen.<br />
Unterstützung<br />
Wer uns in unserer bildungs- und wissenschaftspolitischen Arbeit helfen will, den laden wir<br />
ein, Mitglied im <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> zu werden. Näheres dazu finden Sie auf<br />
unserer Website.<br />
Auch für Spenden auf unser Konto bei <strong>der</strong> Deutschen Bank sind wir dankbar:<br />
Deutsche Bank AG, Bonn BLZ 38070024, Konto 0 233 858<br />
web<br />
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Kurz berichtet – Ministerranking<br />
Mäßige Noten für Minister<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Birgitta Wolff ist „<strong>Wissenschaft</strong>sministerin des Jahres“<br />
Nur Mäßige Noten für Minister<br />
Birgitta Wolff (CDU), Kultusministerin in Sachsen-Anhalt, darf sich<br />
„<strong>Wissenschaft</strong>sministerin des Jahres“ nennen. Ihre hochschul- und wissenschaftspolitischen<br />
Leistungen wurden im diesjährigen Ministerranking des Deutschen Hochschulverbandes mit<br />
<strong>der</strong> Note „Befriedigend" am besten bewertet. Gewählt werden konnten nur Minister, die zu<br />
Beginn <strong>der</strong> Abstimmung mindestens 100 Tage im Amt waren. An<strong>der</strong>nfalls stand <strong>der</strong><br />
Amtsvorgänger zur Abstimmung. Wolff verwies zwei weitere Kolleginnen auf die Plätze<br />
zwei und drei. Johanna Wanka (CDU) aus Nie<strong>der</strong>sachsen und Sabine Freifrau von<br />
Schorlemmer (parteilos) aus Sachsen wurden für ihre Leistungen mit <strong>der</strong> Note „Noch<br />
Befriedigend“ bedacht.<br />
Zum zweiten Mal wurde <strong>der</strong>/die „<strong>Wissenschaft</strong>sminister/-in des Jahres“ in einer Online-<br />
Umfrage unter den 26.000 Mitglie<strong>der</strong>n des Verbandes ermittelt. Anhand eines<br />
Eigenschaftskatalogs konnten die DHV-Mitglie<strong>der</strong> die Kompetenzen und Fähigkeiten <strong>der</strong><br />
Landeswissenschaftsminister und <strong>der</strong> <strong>Bund</strong>esministerin für Bildung und Forschung<br />
umfassend beurteilen. An <strong>der</strong> Abstimmung vom 11. November bis 15. Dezember 2010<br />
nahmen 2.052 <strong>Wissenschaft</strong>ler teil. Sie zeigten sich nur mäßig zufrieden mit ihren<br />
<strong>Wissenschaft</strong>sministern. Gegenüber dem Vorjahr verschlechterte sich <strong>der</strong>en<br />
Durchschnittsnote weiter von 3,7 auf 3,9.<br />
Knapp oberhalb dieses Wertes rangieren die rheinland-pfälzische Ministerin Doris Ahnen<br />
(SPD) und ihr baden-württembergischer Kollege Peter Frankenberg (CDU). <strong>Bund</strong>esministerin<br />
Annette Schavan (CDU) landete mit <strong>der</strong> Note „Ausreichend Plus“ im Mittelfeld, knapp hinter<br />
Berlins Senator Jürgen Zöllner (SPD). In dem Notenspektrum zwischen Vier Plus und Vier<br />
Minus befinden sich Christoph Matschie (SPD) aus Thüringen, Wolfgang Heubisch (FDP)<br />
aus Bayern, Svenja Schulze (SPD) aus Nordrhein-Westfalen, Henry Tesch (CDU) aus<br />
Mecklenburg-Vorpommern, Eva Kühne-Hörmann (CDU) aus Hessen und Martina Münch<br />
(SPD) aus Brandenburg. Das Schlußduo bilden die Nordlän<strong>der</strong> Hamburg und Schleswig-<br />
Holstein. Die Leistungen von Ex-Senatorin Herlind Gundelach (CDU) und Minister Jost de<br />
Jager (CDU) wurden mit „Mangelhaft“ benotet.<br />
In die Bewertung kamen nur Minister, für die mindestens 50 Bewertungen abgegeben wurden.<br />
Das erfor<strong>der</strong>liche Quorum verfehlten die Bremer Ministerin Renate Jürgens-Pieper<br />
(SPD) und <strong>der</strong> saarländische Minister Christoph Hartmann (FDP) mit 39 bzw. 38 Stimmen.<br />
<strong>Wissenschaft</strong>lich begleitet wurde das Ranking vom Zentrum für Evaluation und Methoden <strong>der</strong><br />
Universität Bonn. Das detaillierte Ergebnis ist in <strong>der</strong> <strong>April</strong>-Ausgabe <strong>der</strong> Zeitschrift<br />
„Forschung & Lehre“ .<br />
Sie finden es hier:<br />
http://www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de/downloads/rankingdhv_<strong>2011</strong>.pdf<br />
web<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Anmerkungen zur bildungspolitischen Lage<br />
Von Hermann Giesecke<br />
„Der traditionelle, aus <strong>der</strong> Spannung<br />
zwischen Erhaltung und Verän<strong>der</strong>ung<br />
erwachsende politische Diskurs ist<br />
weitgehend von einer geschichtslosen<br />
Kampagnen-Kultur verdrängt worden“.<br />
„Ohne den Bezug auf berechtigte<br />
For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gesellschaft an jeden<br />
einzelnen Heranwachsenden verlieren<br />
alle an<strong>der</strong>en pädagogischen Ideen und<br />
Maßnahmen letztlich ihren Sinn“.<br />
Zur Person:<br />
www.hermann-giesecke.de/vita.htm<br />
Anmerkungen zur bildungspolitischen Lage<br />
Professor Dr. Hermann Giesecke<br />
Die pädagogische Praxis, also das, was in den pädagogischen Einrichtungen wirklich<br />
geschieht, ist inzwischen aus <strong>der</strong> bildungspolitischen Diskussion nahezu vollständig<br />
verschwunden. Das mag überraschen, weil doch die mo<strong>der</strong>ne empirische Bildungsforschung<br />
wie PISA die öffentliche Meinung zum Thema nachgerade beherrscht. Aber PISA ist<br />
unmittelbar gerade nicht an <strong>der</strong> Aufklärung <strong>der</strong> Schulwirklichkeit und auch nicht an einer<br />
Verbesserung des Unterrichts interessiert, son<strong>der</strong>n vor allem an <strong>der</strong> Anstachelung des<br />
Wettbewerbs im Rahmen internationaler Vergleiche. "Aus PISA läßt sich die Verbesserung<br />
nicht einer einzigen Unterrichtsstunde unmittelbar ableiten." 1<br />
1 Toni Hansel: PISA - und die Folgen? Die Wirkung von Leistungsvergleichsstudien in <strong>der</strong> Schule - eine Einführung.<br />
In: Toni Hansel (Hg.): PISA - und die Folgen? Die Wirkung von Leistungsvergleichsstudien in <strong>der</strong> Schule.<br />
Herbolzheim 2003, S. 18-29, hier S. 27<br />
web<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Was wissen wir über die realexistierenden Schulen?<br />
Als das Lehrerkollegium <strong>der</strong> Rütli-Schule in Berlin-Neukölln im März 2006 <strong>der</strong><br />
Senatsverwaltung die Auflösung <strong>der</strong> Schule vorschlug, weil vor allem wegen gewalttätiger<br />
Schüler Unterricht dort gar nicht mehr möglich sei, gaben sich die politisch Verantwortlichen<br />
und die öffentliche Meinung erstaunt, als hätten sie von <strong>der</strong>artigen Zuständen noch nie etwas<br />
gehört. Aber wir wissen immer noch nicht mit repräsentativer Zuverlässigkeit, wie groß <strong>der</strong><br />
Anteil solcher Schulen in welchen Regionen ist, ob die Lehrer Unterschiedliches meinen,<br />
wenn sie von "Unterricht" sprechen, wie viel Zeit in <strong>der</strong> Stunde mit Frontalunterricht bzw. mit<br />
an<strong>der</strong>en methodischen Varianten verbracht wird, in wie vielen Schulen (welcher Schularten)<br />
wie viel Zeit täglich den Disziplinschwierigkeiten statt dem Unterricht zugute kommt, wie<br />
viel Zeit mit Konferenzen gefüllt ist, aus denen hinterher nichts weiter folgt, weil schon<br />
wie<strong>der</strong> eine neue Reformmode auf den Schreibtischen liegt - um nur einige Anfragen an die<br />
Wirklichkeit zu formulieren. Vieles Wichtige könnte man mit relativ einfachen<br />
Erhebungsmethoden ermitteln, so wie jede Woche im Fernsehen die Beliebtheit von<br />
Politikern. Entsprechende Fakten zur Hand zu haben, wäre für die Qualität <strong>der</strong> pädagogischen<br />
Diskussion über die Schule gewiss nützlich, weil sich viele hochtrabende schulpädagogische<br />
Wunschvorstellungen als bloße Rhetorik erweisen könnten. Aber die Wahrheit über unsere<br />
realexistierenden Schulen - und damit ja auch über die realexistierenden Schüler - interessiert<br />
die Verantwortlichen offenbar wenig.<br />
Es geht in <strong>der</strong> Bildungspolitik auch nicht mehr um die inhaltliche Vernünftigkeit des<br />
Unterrichts, son<strong>der</strong>n nur noch um die damit verbundenen Leistungen bzw. Berechtigungen<br />
und darum, wie man diese zweifelsfrei und damit kritikresistent messen und rechtfertigen<br />
kann. Hier gibt es eine Interessenallianz zwischen mo<strong>der</strong>ner empirischer Bildungsforschung<br />
und Evaluation einerseits und administrativ-gouvernementalem Handeln an<strong>der</strong>erseits. Die<br />
mo<strong>der</strong>ne Bildungsforschung beschränkt ihren Interpretationshorizont auf das, was sie mit<br />
ihren quantifizierenden Methoden tatsächlich erfassen kann, die Administration leitet daraus<br />
eine weitgehend kritikresistente, weil ja doch wissenschaftlich scheinbar verbürgte<br />
Rechtfertigung ihrer Maßnahmen ab.<br />
Das läßt sich etwa an <strong>der</strong> Verwendung des Zielbegriffs <strong>der</strong> "Kompetenz" erkennen. Der ist<br />
eigentlich eher aus Verlegenheit von den PISA-Autoren in die bildungspolitische Debatte<br />
eingeführt worden, weil auf diese Weise ein Vergleichsmaßstab für den eigentlichen Zweck<br />
dieser Untersuchungen - nämlich das national-vergleichende Ranking - gefunden werden<br />
konnte. Altmodische Lehrplaninhalte und darauf bezogene Leistungen könnten nämlich gar<br />
nicht miteinan<strong>der</strong> verglichen werden, weil sie in den einzelnen Staaten viel zu unterschiedlich<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
formuliert werden. Vergleichsmaßstab sollen deshalb Anwendungen von Wissen und Können<br />
sein - natürlich nur in <strong>der</strong> Fassung, in <strong>der</strong> sie vorher definiert wurden und so, daß sie mit dem<br />
Raster <strong>der</strong> benutzten empirischen Verfahren auch erfaßt werden können. Welche<br />
Wirklichkeitsnähe - etwa im Hinblick auf beson<strong>der</strong>s favorisierte beruflich brauchbare<br />
Fähigkeiten ("employability") - damit tatsächlich erreicht wird, bedürfte einer genaueren<br />
Prüfung; die dafür verwendeten Testaufgaben erscheinen jedenfalls teilweise eher<br />
lebensfremd.<br />
Es gibt also inzwischen ein wechselseitiges Bedingungsgefüge von Inhalten des Lehrens und<br />
Lernens, institutionalisiertem Forschungsinteresse, gouvernementalem Verwalten und<br />
Reduktion von pädagogischer Wirklichkeit auf solche Daten, die empirisch erfaßt werden<br />
können. Die Folgen sind erheblich: Der aufklärerische Impetus <strong>der</strong> ersten PISA-Studie z.B.<br />
ist längst verflogen. Scheinbar unaufhaltsam führt die empirische Bildungs-Großforschung zu<br />
einem Diktat von Kennziffern und Statistiken, damit folgerichtig zur Enthistorisierung und<br />
Entpolitisierung/Entdemokratisierung des öffentlichen Bildungsdiskurses. Eine spezifische<br />
Art <strong>der</strong> Meßbarkeit beginnt die Wirklichkeit zu normieren und die öffentliche Meinung zu<br />
beherrschen. Dabei hat sich die mo<strong>der</strong>ne Erziehungswissenschaft in den letzten Jahrzehnten<br />
nicht nur in ihrer empirischen, son<strong>der</strong>n z.B. auch in ihrer historischen Abteilung erheblich<br />
profiliert. Das in <strong>der</strong> historischen Perspektive eigentlich zur Verfügung stehende kritische<br />
Potenzial (was hat sich warum wodurch und mit welchem Ergebnis verän<strong>der</strong>t und was soll<br />
jetzt warum und auf welche Weise verbessert werden?) wird im öffentlichen Diskurs nicht<br />
abgerufen und ist in <strong>der</strong> empirischen Argumentation gar nicht mehr vorgesehen, weil es damit<br />
nicht kompatibel ist. Der historische Horizont etwa bei PISA ist begrenzt auf die Sequenz <strong>der</strong><br />
periodischen Rankings. Diese Forschungs- und Interpretationsdominanz führt auch zu einer<br />
schleichenden demokratie-politischen Enteignung <strong>der</strong> Wähler, wie ein Vergleich mit den<br />
Anfang <strong>der</strong> 70er Jahre heftig umkämpften Hessischen Rahmenrichtlinien<br />
"Gesellschaftskunde" zeigt; diese waren inhaltlich ausgerichtet, nur deshalb konnten sie so<br />
intensiv diskutiert werden, und es war allen klar, an wen sich Zustimmung und Kritik zu<br />
richten hatten: an den zuständigen Kultusminister. Die "Autonomisierung" von Schulen (und<br />
Hochschulen), die Institutionalisierung <strong>der</strong> Evaluation und an<strong>der</strong>e Bürokratisierungen haben<br />
die politische Verantwortung seither jedoch weitgehend ausgehöhlt o<strong>der</strong> vernebelt.<br />
Demokratische Partizipation hängt jedoch daran, daß sie aus <strong>der</strong> Frage erwachsen kann, aus<br />
welchen historischen Gründen etwas so geworden ist, wie es ist, und was daran warum<br />
verbessert werden soll. Aber schon diese Fragestellung kommt im öffentlichen Diskurs aus<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
<strong>der</strong> Mode: An<strong>der</strong>s müsse man es machen, dann werde sich zeigen, ob es auch besser ist. 2 Der<br />
traditionelle, aus <strong>der</strong> Spannung zwischen Erhaltung und Verän<strong>der</strong>ung erwachsende politische<br />
Diskurs ist weitgehend von einer geschichtslosen Kampagnen-Kultur verdrängt worden.<br />
In <strong>der</strong> Hamburger schulpolitischen Auseinan<strong>der</strong>setzung um die 6-jährige Primarschule, die<br />
2010 durch einen Volksentscheid verhin<strong>der</strong>t wurde, spielte die inhaltliche Frage kaum noch<br />
eine Rolle: Was sollte eigentlich in den zwei Jahren zusätzlicher Grundschule - hier<br />
"Primarschule" genannt - Bedeutsames geschehen, was den Verzicht auf zwei Gymnasialjahre<br />
hätte rechtfertigen können? Inhaltliche Kritik hätte da ins Leere gegriffen, weil es keine<br />
beweisfähigen Lehrpläne mehr gibt, son<strong>der</strong>n nur noch vage "Standards" und "Kompetenzen".<br />
Die Wirkungsprüfung - Evaluation genannt - ist am Ergebnis interessiert, wie es zustande<br />
kommt, ist für die Administration weitgehend uninteressant geworden.<br />
Was sich da in den letzten Jahrzehnten verän<strong>der</strong>t hat, läßt sich in drei Tendenzen<br />
zusammenfassen:<br />
1. Der klassische bildende Unterricht wurde heftig attackiert, relativiert und wo es ging sogar<br />
beseitigt. Dieser Unterricht beruhte auf einem Kanon von Fächern und Stoffen, die Stoffe<br />
wurden in Form von Lehrplänen bzw. Richtlinien auf die Jahrgangsklassen verteilt,<br />
didaktisch in Lehrgängen präzisiert und in einem Schulbuch als Lehrbuch fixiert, aus dem<br />
<strong>der</strong> Schüler je<strong>der</strong>zeit erfahren konnte, was er bereits gelernt hatte und was ihm noch<br />
bevorstand. Statt dessen wurde eine offene schülerzentrierte Kommunikation propagiert mit<br />
möglichst "lebensnahen", neuerdings auch "arbeitsmarktnahen" Themen. Der Blick wandte<br />
sich von <strong>der</strong> Objektivität <strong>der</strong> Stoffe - und <strong>der</strong> durch sie repräsentierten Wirklichkeit - zur<br />
Subjektivität <strong>der</strong> Schülerwünsche bzw. des aktuellen "Schülerinteresses" - o<strong>der</strong> was man<br />
dafür hielt. 3<br />
2. Die erzieherische Aufmerksamkeit wandte sich von den zu for<strong>der</strong>nden Manieren und<br />
Verhaltensweisen ab und den inneren Zuständen und Motiven des einzelnen Kindes zu.<br />
3. Die Lehrberufe an Schulen wurden durch die erwähnte Relativierung des Unterrichts und<br />
durch die multifunktionale Erweiterung <strong>der</strong> Aufgaben zunehmend ent-professionalisiert. 4<br />
2<br />
Zu diesem über die Bildungspolitik hinausreichenden Trend vgl.: Konrad Paul Liessmann: Theorie <strong>der</strong><br />
Unbildung. Wien 2006<br />
3<br />
Ausführlicher zur Kritik <strong>der</strong> reformpädagogischen Umdeutung des Unterrichts: Michael Felten: Auf die Lehrer<br />
kommt es an! Für eine Rückkehr <strong>der</strong> Pädagogik in die Schule. Gütersloh 2010<br />
4<br />
Vgl. Hermann Giesecke: Was Lehrer leisten. Porträt eines schwierigen Berufes. Weinheim/München 2001;<br />
<strong>der</strong>s.: Wozu ist die Schule da? Stuttgart 1996 (als Volltext verfügbar unter: www.hermann-<br />
web<br />
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I/<strong>2011</strong>
19<br />
Reformpädagogik als Weltanschauung<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Diese bildungspolitischen Tendenzen werden auf <strong>der</strong> schulpraktischen Ebene von einer<br />
reformpädagogischen Bewegung 5 begleitet und unterstützt, die sich zumindest <strong>der</strong> Idee nach<br />
teilweise auch in konservativ regierten <strong>Bund</strong>eslän<strong>der</strong>n durchgesetzt hat. Sie ist jedoch primär<br />
eine allgemeine Weltanschauung 6 und erst daraus abgeleitet auch ein pädagogisches Konzept.<br />
Über dessen pädagogische Pragmatik kann man sich vor<strong>der</strong>gründig leicht verständigen. So<br />
gibt es kaum eine Unterrichtsmethode, die per se unsinnig wäre, und auch <strong>der</strong> propagierte<br />
pädagogische Umgang zwischen Lehrern und Schülern könnte weitgehend akzeptiert werden<br />
- wenn aus beidem nicht in dogmatischer Einseitigkeit selektiert würde. Entscheidend ist<br />
nämlich, in welchem pädagogisch-strategischen Zusammenhang die konkreten Vorschläge<br />
verstanden und verwendet werden. In dieser Betrachtung wird schnell die weltanschauliche<br />
Grundlage unübersehbar, nämlich bei dem Bestreben, politisch-gesellschaftliche Ziele als<br />
pädagogische auszugeben und als solche anzustreben bzw. von angeblichen gesellschaftlichen<br />
Notwendigkeiten her pädagogische Ziele zu begründen. Zwar finden sich unterschiedliche<br />
Akzentsetzungen bei den einzelnen Autoren und Verfechtern, aber die allen zugrunde<br />
liegenden Gemeinsamkeiten lassen sich in folgenden Punkten kennzeichnen: 7<br />
1. "Lehrer unterrichten Schüler, nicht Fächer!" Dieses verbreitete didaktische Bekenntnis mag<br />
eine gewisse Aufmerksamkeit hervorrufen, weil es aus <strong>der</strong> Alltagserfahrung leicht für<br />
selbstverständlich gehalten wird. Aber was sollen die Schüler auf diese Weise lernen? Jede<br />
dauerhafte Welterkenntnis, die mit bereits vorhandenen Kenntnissen systematisch verbunden<br />
werden soll, ist auf vorgängige Ordnungsmuster angewiesen, sonst ertrinkt sie im Meer <strong>der</strong><br />
Komplexität und kann mit an<strong>der</strong>en Menschen kaum noch ausgetauscht werden. 'Mathematik',<br />
'Geschichte', 'Biologie' usw. erlauben uns eine erste Einordnung von Fragen, Kenntnissen und<br />
Urteilen und vor allem auch die Kommunikation darüber.<br />
5 Zur Geschichte <strong>der</strong> Reformpädagogik vgl. Jürgen Oelkers: Reformpädagogik. 5. Aufl. Weinheim 2005<br />
6 Vgl. Hermann Giesecke: Was ist eine mo<strong>der</strong>ne Schule? In: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 21 (2010), Heft 1, S. 31 -<br />
33. Dieser Band enthält weitere 31 teilweise sehr kontroverse Beiträge zur gegenwärtigen Diskussion<br />
reformpädagogischer Ziele und Implikationen.<br />
7 www.blickueberdenzaun.de führt zur Homepage einer reformpädagogischen Initiative, die maßgeblich von <strong>der</strong><br />
Odenwaldschule ausging und <strong>der</strong> sich angeblich bereits über 100 Schulen angeschlossen haben.<br />
web<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
2. Angeblich gibt es keine überzeugende Grundlage mehr für einen Kanon von Fächern und<br />
Stoffen. Die hat es aber in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nie einfach so gegeben. Sie war immer Resultat<br />
politischer Entscheidungen, wobei das Bildungsbürgertum als soziale Gruppe lange einen<br />
gewissen geistigen Führungsanspruch einnehmen konnte, <strong>der</strong> gegenwärtig in <strong>der</strong> Tat nicht<br />
mehr selbstverständlich anerkannt ist. Aber nach wie vor muß <strong>der</strong> staatliche Schulträger -<br />
durchaus mit einem gewissen <strong>Freiheit</strong>sspielraum - festlegen, was die Schüler in welchen<br />
Fächern lernen sollen, schon damit ein kommunizierbarer Grundbestand an gemeinsamen<br />
Kenntnissen und Vorstellungen in <strong>der</strong> Gesellschaft über die Generationen hinweg bestehen<br />
bleibt. Unter dem didaktischen Leitmotiv <strong>der</strong> "Kompetenz" jedoch werden die<br />
Unterrichtsstoffe instrumentalisiert und relativiert, als könne man die gewünschte Fähigkeit<br />
an unterschiedlichen Inhalten und Aufgaben lernen. In dieser Annahme, die in formaler<br />
Hinsicht - etwa beim Erlernen von Methoden des Erkennens - durchaus Sinn machen kann,<br />
gelten aber die Stoffe und deshalb auch die sie repräsentierenden Wirklichkeiten als<br />
austauschbar und somit als pädagogisch nicht substantiell - und werden auf diese Weise<br />
allgemeinen weltanschaulich fundierten Gesinnungs- o<strong>der</strong> Erziehungsintentionen<br />
unterworfen. Die gegenwärtige Reformpädagogik ist weniger ein Bildungs- als vielmehr ein<br />
Erziehungskonzept.<br />
3. Die erwachsenen Pädagogen - so die entscheidende erzieherische Prämisse - könnten<br />
gegenüber Kin<strong>der</strong>n keinen allgemeinen Führungsanspruch mehr geltend machen, weil<br />
niemand mehr voraussehen könne, wie die Welt aussehen wird, in <strong>der</strong> sich die Schüler in<br />
Zukunft bewähren müssen. In <strong>der</strong> Tat ist das ein Problem in einer sich stark verän<strong>der</strong>nden<br />
Gesellschaft: Was muß man in Kindheit und Jugend lernen, wenn man nicht wissen kann,<br />
was man 15 Jahre später wissen muß o<strong>der</strong> möchte? Die grundsätzlich unberechenbar<br />
gewordene Arbeitsmarktlage im globalisierten Kapitalismus hat dieses Problem gewiß noch<br />
verschärft, aber die klassische Antwort Humboldts - "Allgemeinbildung" statt zu früher<br />
beruflicher Spezialisierung - nicht außer Kraft gesetzt. Aus dieser Antwort kann auch eine<br />
gewisse Gelassenheit abgeleitet werden. Eltern wird ja inzwischen vielfach - nicht zuletzt mit<br />
Blick auf ihren Geldbeutel - nahegelegt, ihre Kin<strong>der</strong> schon vom Babyalter an -<br />
selbstverständlich mit garantierter kin<strong>der</strong>psychologischer Absicherung - auf bestimmte<br />
Leistungen hin zu trimmen, damit sie den später zu erwartenden radikalen personellen<br />
Wettbewerb bestehen können. Aber so weit und so genau ist <strong>der</strong> praktische Nutzen von<br />
Lernen und Bildung nicht im voraus zu planen, deshalb sind die damit verbundenen<br />
Erwartungen (und Befürchtungen) im Hinblick auf die Zukunft des Kindes schlechterdings<br />
unkalkulierbar und somit auch unrealistisch.<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Selbsttäuschungen 'linker' Bildungspolitik<br />
Die weitgehende Eroberung <strong>der</strong> öffentlichen Meinung durch reformpädagogische<br />
Vorannahmen verdankt sich auch ihrer Verbindung mit einflußreichen gesellschaftlichen<br />
Trägern, wozu insbeson<strong>der</strong>e 'linke' Parteien und Verbände und zumindest Teile <strong>der</strong> offiziellen<br />
GEW gehören. Das ist deshalb bemerkenswert, weil entgegen <strong>der</strong> ausdrücklichen<br />
bildungspolitischen Zielsetzung dieser Gruppen eine Bildungsemanzipation <strong>der</strong><br />
"bildungsfernen" sozialen Schichten auf diese Weise nicht zu erreichen - und also auch nicht<br />
zu befürchten - ist. Ideologiekritisch gesehen - wenn man Gedanken in Beziehung zu<br />
Interessen setzt - müßte <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> das bürgerliche Bildungsprivileg retten wollte - was ja<br />
Konservativen üblicherweise vorgeworfen wird - heute eigentlich 'links' wählen. Das<br />
wirkliche Leben <strong>der</strong> "bildungsfern" aufwachsenden Kin<strong>der</strong> und darauf bezogene<br />
realitätsgerechte pädagogisch-bildungspolitische Interventionen spielen in linken Kreisen<br />
außer als Legitimationsbeschaffung für die Durchsetzung und Aufrechterhaltung des eigenen<br />
bürgerlichen Bildungsprivilegs kaum eine Rolle. 8<br />
In diesen Interessenzusammenhang gehört auch die reformpädagogische Bewegung.<br />
Psychologisierung des pädagogischen Denkens<br />
Sie hätte allerdings ohne ihr Bündnis mit <strong>der</strong> allgemeinen gesellschaftlichen<br />
Psychologisierung kaum so erfolgreich werden können. Diese hat die fachlichen Grenzen <strong>der</strong><br />
Psychologie als <strong>Wissenschaft</strong> längst überschritten, alle Bereiche des gesellschaftlichen<br />
Lebens und hier insbeson<strong>der</strong>e auch die Pädagogik durchdrungen und sich dabei ebenfalls als<br />
allgemeine Weltanschauung manifestiert. Von ihr hat sich die Reformpädagogik eine<br />
scheinbar überparteiliche Legitimation beschafft, wobei sie von <strong>der</strong> Tatsache profitierte, daß<br />
die Pädagogik <strong>der</strong> psychologischen Forschung und ihrer therapeutischen Praxis viel zu<br />
verdanken hat: Das Verständnis für kindliche Verhaltens- und Ausdrucksweisen hat sich<br />
allgemein - nicht nur in Fachkreisen - enorm verbessert; die emotionalen Dimensionen <strong>der</strong><br />
privaten wie öffentlichen menschlichen Beziehungen sind klarer bewußt geworden. Auch <strong>der</strong><br />
therapeutische Nutzen psychologischer Verfahren für korrigierende pädagogische<br />
Maßnahmen ist nicht zu bestreiten.<br />
8 Diese Überlegungen werden weiter ausgeführt in: Hermann Giesecke: Pädagogik - quo vadis? Weinheim -<br />
München 2009, vor allem S. 69 ff.<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Wenn aber wie bei <strong>der</strong> psychologisierten Reformpädagogik psychologische Denkweisen auch<br />
die pädagogische Normalität begründen und gestalten sollen, rächt sich allerdings die<br />
pädagogische Realität dafür, daß dabei wichtige Dimensionen des pädagogischen Handelns<br />
wie etwa die folgenden therapeutisch mißverstanden werden. 9<br />
1. Weil sie nicht zum therapeutischen Berufsbild gehört, verschwindet die For<strong>der</strong>ung als<br />
zentrale pädagogische Handlungskategorie.<br />
Das therapeutische Denken hat im Unterschied zum pädagogischen dafür keine<br />
Begründungsmöglichkeit, was schon <strong>der</strong> Begriff "Klient" andeutet. Es muß vielmehr auf die<br />
Mobilisierung <strong>der</strong> individuellen Innerlichkeit und ihrer Motive und Einsichten setzen. Die<br />
pädagogische Praxis ist jedoch an<strong>der</strong>s begründet. Sie beruht bekanntlich auf <strong>der</strong> biologischen<br />
Tatsache, daß Kin<strong>der</strong> nach ihrer Geburt über Jahre hinweg ohne die Hilfe Erwachsener nicht<br />
lebensfähig bzw. noch nicht in <strong>der</strong> Lage sind, selbstständig am Leben <strong>der</strong> Erwachsenen, also<br />
am gesellschaftlichen Leben überhaupt, teilzunehmen. Weil diese biologisch fundierte<br />
"Entwicklungstatsache" (Bernfeld) jenseits aller historischen Variationen prinzipiell feststeht,<br />
gründet sich darauf alle Pädagogik. Was dagegen an Bildung und Erziehung kulturell bedingt<br />
ist, variiert erheblich, beruht auf Traditionen, Erfahrungen, Vorurteilen, Moden, auf<br />
wissenschaftlichen Erklärungsversuchen – jedenfalls nicht auf etwas, was zeitlos gewiß und<br />
gültig ist. Das schließt nicht aus, daß auch historisch entstandene Festlegungen im Zeitrahmen<br />
von mehreren Generationen als verbindlich erlebt und keineswegs als beliebig verstanden<br />
werden.<br />
Die biologische Ausgangslage zwang zu allen Zeiten die Menschen, ihr soziales und<br />
gesellschaftliches Leben im ganzen auf die Entwicklungstatsache hin zu organisieren.<br />
Erziehung gehört demnach zu den fundamentalen gesellschaftlichen Handlungsstrategien wie<br />
Wirtschaft, Politik, Rechtsprechung usw. Folgerichtig beruht <strong>der</strong> Kern des pädagogischen als<br />
eines gesellschaftlichen Handelns einerseits auf angemessener Schonung und<br />
Rücksichtnahme, an<strong>der</strong>erseits aber auch auf For<strong>der</strong>ungen an den Nachwuchs, denn die große<br />
Differenz zwischen dem neugeborenen und dem erwachsenen Menschen muß ja über Jahre<br />
hinweg überwunden werden. Dazu gehört auch heute etwa die unmißverständliche Erwartung,<br />
in <strong>der</strong> Schule - ohne Anspruch auf beson<strong>der</strong>e Motivationskunststückchen - Wissen und<br />
Manieren zu lernen, um später seinen Lebensunterhalt zu verdienen und nicht <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
als <strong>der</strong> Fürsorge bedürftig unnötig zur Last zu fallen.<br />
9 Die folgenden Überlegungen sind ausführlicher erörtert in: Hermann Giesecke 2009, vor allem S. 43 ff.<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Von For<strong>der</strong>ungen an die nachwachsende Generation und von daraus erwachsenden Pflichten<br />
ist jedoch in den aktuellen wissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskursen wie auch in<br />
den Einrichtungen <strong>der</strong> Öffentlichen Erziehung kaum noch die Rede. Das wie<strong>der</strong>um hat eine<br />
Desorientierung <strong>der</strong> Beteiligten zur Folge. Die Notwendigkeit von For<strong>der</strong>ungen verschwindet<br />
ja nicht, die werden z.B. psychologisiert und in personenorientierte Erwartungen verwandelt<br />
("Nun bin ich aber sehr betrübt darüber, daß unsere Absprache wie<strong>der</strong> nicht eingehalten<br />
wurde ..." - beschwert sich <strong>der</strong> wegen fehlen<strong>der</strong> Hausaufgaben beleidigte Lehrer). Somit<br />
werden Ansprüche dann - gleichsam meuchlings - doch irgendwie wie<strong>der</strong> geltend gemacht.<br />
Ein Klima <strong>der</strong> verdrucksten Vagheit macht sich dann in den pädagogischen Beziehungen<br />
breit.<br />
Ohne den Bezug auf berechtigte For<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gesellschaft an jeden einzelnen<br />
Heranwachsenden verlieren alle an<strong>der</strong>en pädagogischen Ideen und Maßnahmen letztlich ihren<br />
Sinn. Das gilt z.B. auch für die Aufgabe, Kin<strong>der</strong> in je<strong>der</strong> nur denkbaren Weise zu för<strong>der</strong>n.<br />
Nur im Hinblick auf eine Aufgabe, also auf eine For<strong>der</strong>ung, kann För<strong>der</strong>n überhaupt Sinn<br />
machen. Die bloße kindliche Innerlichkeit läßt sich nicht för<strong>der</strong>n.<br />
Die Tendenz zur überzogenen Psychologisierung führt also nicht zu einer Verbesserung -<br />
etwa im Sinne einer Humanisierung - traditioneller 'autoritärer' pädagogischer Strategien, wie<br />
immer wie<strong>der</strong> behauptet wird, vielmehr verschwindet pädagogisches Handeln als Typ<br />
gesellschaftlichen und somit am Gemeinwohl orientierten Handelns allmählich aus dem<br />
öffentlichen Leben und Bewusstsein.<br />
2. Charakteristisch für die psychologisierende pädagogische Denkweise ist folgerichtig die<br />
ihr innewohnende soziale Ignoranz.<br />
Von "sozialer Kompetenz" ist zwar unentwegt die Rede, aber gemeint ist damit lediglich eine<br />
psychologisch verstandene (etwa anti-aggressive) Beziehungskompetenz <strong>der</strong> Individuen in<br />
gegenseitigem Austausch. Das ist wichtig, aber eine soziale Dimension - etwa die Schulklasse<br />
als 'Bildungs- und Solidargemeinschaft' - wird damit noch nicht erreicht. Sobald das Soziale<br />
mitgedacht würde, müßte eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den davon ausgehenden Erwartungen<br />
und For<strong>der</strong>ungen stattfinden. Die relativ dauerhaften sozialen Gebilde - auch Familie, Schule,<br />
Kirche, Sportverein, - fungieren nämlich als Bewahrer wichtiger Alltagsnormen, auf die sich<br />
die Mitglie<strong>der</strong> stützen können. Darin ist mehr enthalten als die bloße Summe <strong>der</strong> hier jeweils<br />
stattfindenden menschlichen Beziehungen. Eine Familie z.B. hätte eine kurze Lebensdauer,<br />
wenn sie sich sozial lediglich aus dieser Unmittelbarkeit heraus verstehen würde. Erziehung<br />
beruht im Kern auf sozialer Repräsentanz, sie geschieht durch Erwachsene im Namen von<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Sozialitäten. Verblaßt die Repräsentation von Sozialem wie bei längerer Arbeitslosigkeit von<br />
Vätern, verschwindet allmählich oft auch <strong>der</strong>en erzieherische Autorität.<br />
Am Beispiel <strong>der</strong> Schulklasse zeigt sich, dass <strong>der</strong> aktuelle pädagogische Diskurs keine<br />
Sozialvorstellungen anzubieten hat, die <strong>der</strong> Komplexität einer pluralistischen Gesellschaft<br />
gerecht werden könnten. Insbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> reformpädagogische Sozialhorizont ist romantisch<br />
verfälscht, nämlich fixiert auf "Nähe" und "Ganzheitlichkeit". Deshalb werden soziale<br />
Differenzen leicht ignoriert. Die Pädagogik müsse sich auf den "ganzen" Menschen richten,<br />
nicht nur auf seinen Verstand und auf begrenzte kognitive Leistungen, son<strong>der</strong>n auch auf seine<br />
Gefühle. Das ist tatsächlich bis etwa zum Schuleintritt richtig, weil das Kind in den ersten<br />
Lebensjahren auf die umfassende Fürsorgetätigkeit <strong>der</strong> zuständigen Erwachsenen und damit<br />
im Wesentlichen auf die familiären Nahbeziehungen angewiesen ist. Aber schon in <strong>der</strong><br />
Grundschulzeit muß eine soziale Differenzierung beginnen. Die Lehrerin ist nicht Mutter o<strong>der</strong><br />
Tante, <strong>der</strong> Lehrer nicht Vater o<strong>der</strong> Onkel, die Mitschüler sind keine Geschwister, aber auch<br />
nicht von vornherein allesamt Freunde. Der gemeinsame Unterricht verlangt unabhängig<br />
davon, wie gut einem die an<strong>der</strong>en gefallen, eine sachbezogene Arbeitshaltung gegenüber<br />
allen. Solidarisch muß man darüber hinaus auch mit denen sein, die man eigentlich nicht<br />
ausstehen kann. Ein komplexes soziales Lernfeld tut sich da schon für Grundschüler auf, aber<br />
ein dafür angemessenes und hinreichend differenziertes pädagogisches Konzept ist gerade<br />
auch unter <strong>der</strong> Flagge des "sozialen Lernens" nicht in Sicht.<br />
Der Unterricht in <strong>der</strong> Schule for<strong>der</strong>t z.B. in erster Linie begrenzte unterrichtsrelevante<br />
Leistungen heraus. Wer schlecht in 'Mathe' ist, kann als Ersatz dafür nicht auf seine Künste<br />
beim privaten Klavierspielen o<strong>der</strong> im örtlichen Sportverein verweisen. Seine Ganzheit muß<br />
<strong>der</strong> junge Mensch in Form einer ihn selbst und an<strong>der</strong>e überzeugenden Konstruktion von<br />
Identität selbst entwickeln, indem er seine unterschiedlichen und nicht selten auch<br />
wi<strong>der</strong>sprüchlichen Erfahrungen dafür nutzt. Das kann ihm nur gelingen, wenn die<br />
professionell mit seiner Erziehung beauftragten Erwachsenen etwa in <strong>der</strong> Schule ein<br />
hinreichend differenziertes Verhalten auch von ihm erwarten.<br />
Die mo<strong>der</strong>nen politischen <strong>Freiheit</strong>en beruhen übrigens gerade nicht auf Ganzheiten, son<strong>der</strong>n<br />
auf Unterscheidungen - etwa zwischen Arbeit und Freizeit, Nähe und Distanz, Privat und<br />
Öffentlich, Professionalität und Laientum bis hin zur Trennung zwischen den staatlichen<br />
Gewalten. Umgekehrt heißt das aber auch, dass Versuche, diese Trennungen wie<strong>der</strong><br />
aufzuheben, demokratiepolitisch höchst problematisch sind. "Sozialkompetenz" ohne diesen<br />
Hintergrund beibringen zu wollen, führt zu falschen Sozialerwartungen.<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
3. Jede Sozialität braucht für wichtige Bereiche ihrer Existenz und ihres<br />
Handlungsspielraums eine Unterscheidung von Normalität und Abweichung, also eine<br />
Definition des Normalfalles.<br />
Beispiel: 'Es ist normal, daß in einer Schulklasse die Schüler die nötige Disziplin aufbringen,<br />
um dem Unterricht folgen zu können'. Wenn ein Schüler davon abweicht, kann er ermahnt<br />
o<strong>der</strong> aber auch einer beson<strong>der</strong>en Hilfe teilhaftig werden. Wenn jedoch die notwendige<br />
Differenz von Normalität und Abweichung verschwindet, <strong>der</strong> Normalfall also bei den<br />
Beteiligten unklar bleibt und jedes Verhalten als gleich richtig gilt, entsteht allgemeine<br />
Orientierungslosigkeit. Sie kann auf Dauer leicht zu Verwahrlosung, aber auch zu einer Art<br />
'struktureller Intoleranz' führen; wenn ein Vergleich zum Normalfall nicht möglich ist, wird<br />
<strong>der</strong> An<strong>der</strong>sdenkende leicht zum Feind.<br />
Der oft bedauerte "Streß" von Schülern hat vielleicht nicht nur mit den<br />
Leistungsanfor<strong>der</strong>ungen zu tun, son<strong>der</strong>n auch mit den sozialdarwinistischen Strukturen, die in<br />
ungeordneten sozialen Konstellationen und Normen in <strong>der</strong> Schule entstehen können. Täglich<br />
neu zu inszenierende Positionskämpfe beanspruchen dann erhebliche Energien von den<br />
Schülern, die <strong>der</strong> eigentlichen Aufgabe verloren gehen.<br />
Erziehung in <strong>der</strong> Schule ist also mehr als ein bloße Beziehung zwischen dem Lehrer und<br />
jedem einzelnen Schüler, sie bedarf auch einer kollektiv-verbindlichen Normativität, an die<br />
sich alle binden und auf die sich alle - Schüler wie Lehrer - beziehen können. Eine<br />
entsprechende 'öffentliche Meinung' in Schule und Klasse müssen die Lehrer möglicherweise<br />
erst herstellen - zur Not auch dadurch, daß sie zunächst einmal mit den gutwilligen Schülern<br />
gegen die nicht-gutwilligen paktieren und diese dann Zug um Zug 'ins Boot holen'. Kein<br />
Lehrer kann dauerhaft ohne o<strong>der</strong> gar gegen die öffentliche Meinung seiner Klasse<br />
erzieherisch erfolgreich wirken.<br />
4. Das reale Verhalten wird durch die Psychologisierung symptomisiert, zumal im<br />
Konfliktfall werden Lebensäußerungen leicht relativiert. Das Gesagte gilt dann nicht mehr<br />
als das Gemeinte, das Tun entspricht angeblich nicht <strong>der</strong> eigentlichen Absicht.<br />
Wenn Schüler etwa gewalttätig agieren, werden zunächst Vermutungen darüber angestellt,<br />
was dahinter stecken könnte, welche inneren, ihnen vielleicht gar nicht bewußten Gründe die<br />
Täter dafür haben könnten und welche positiven Wünsche sie damit eigentlich verfolgen<br />
wollen - Aggressivität zum Beispiel als fehlgeschlagener Kontaktwunsch. Abgesehen einmal<br />
von dem Arsenal an Ausreden, das sich damit auftut: Ein solcher Zugang mag in einer<br />
Therapie und bei einem Gerichtsverfahren angebracht sein. Aber im normalen öffentlichen<br />
Umgang müssen die Menschen sich auf das, was ihre Mitmenschen sagen und tun, verlassen<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
können, sonst liefern sie sich einem Chaos von Vermutungen und Interpretationen aus. Mit<br />
an<strong>der</strong>en Worten: Gewalttätiges Verhalten etwa in <strong>der</strong> Schule muß zunächst unterbunden<br />
werden - egal was alles 'dahinter stecken' könnte. Erst danach kann eine sensible<br />
psychologische Diagnose erfolgen.<br />
Nicht nur in <strong>der</strong> Schulklasse, son<strong>der</strong>n auch auf den öffentlichen Straßen und Plätzen ist <strong>der</strong><br />
friedliche und höfliche Umgang miteinan<strong>der</strong> ein demokratischer Selbstzweck. Darauf muß<br />
man sich ohne Rücksicht auf die jeweilige Motivation o<strong>der</strong> Gestimmtheit verlassen können,<br />
sonst kann die komplexe Massenöffentlichkeit nicht funktionieren. In <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />
schulden wir einan<strong>der</strong> keine bestimmten Gesinnungen, keine bestimmten Motive, son<strong>der</strong>n<br />
lediglich ein bestimmtes Verhalten. Wegen dieses relativ äußerlichen Anspruchs kann man<br />
ein solches Verhalten auch von je<strong>der</strong>mann erwarten - und wer sich daran nicht hält, muß zum<br />
Zwecke eines korrigierenden Trainings zwischenzeitlich im wörtlichen Sinne 'aus dem<br />
Verkehr gezogen' werden. Normen des öffentlichen Verhaltens nicht aus <strong>der</strong> je subjektiven<br />
Innerlichkeit, son<strong>der</strong>n aus sozial-kollektiven For<strong>der</strong>ungen und Pflichten zu begründen, ist<br />
allerdings kaum noch verständlich zu machen.<br />
Die psychologisierte Reformpädagogik brüstet sich mit ihrer Hochschätzung des Schülers als<br />
Individuum: Am liebsten soll es für jeden Schüler einen eigenen Lehrplan, ein eigenes<br />
Lerntempo, ein eigenes Notensystem geben. Das macht die Sache auch für Mittelschichteltern<br />
verführerisch: Abitur und Studium bleiben weiterhin ein selbstverständliches Privileg - nun<br />
aber mit dem Versprechen begrenzter For<strong>der</strong>ungen, psychologisch begründbarer Ausreden,<br />
zusätzlicher Unterstützung und erheblichen Verständnisses beim eventuellen Scheitern. Aber<br />
diese Hofierung <strong>der</strong> Individualität ist begrenzt auf die jeweils empirisch vorfindbare<br />
Subjektivität - darauf beruht jedoch auch die Konsumwerbung. Die Reformpädagogik "geht<br />
vom Kinde aus" - aber wo geht sie dann hin? Beim klassischen Bildungsbegriff dagegen galt<br />
Individualisierung als Resultat intensiver und kritischer geistiger Auseinan<strong>der</strong>setzungen. Sie<br />
kam in <strong>der</strong> Schule zustande durch im Unterricht arrangierte Konfrontation mit kulturellen<br />
Objektivationen (Literatur, Musik, Kunst, Technik, Politik). Dazu kam eine<br />
Entwicklungsperspektive: Der Bildungsprozeß galt als eine lebenslang mögliche biografische<br />
Weiterentwicklung. Die Reformpädagogik dagegen kommt aus <strong>der</strong> Gegenwärtigkeit <strong>der</strong><br />
kindlichen Befindlichkeit nicht recht heraus. Sie ist zumindest von <strong>der</strong> Wirkung her historisch<br />
und biographisch voraussetzungslos gedacht und damit idealiter sehr geeignet zur<br />
Rekrutierung und Reproduktion einer sozial bindungslosen und a-solidarischen<br />
'Reservearmee' im marktradikalen Zeitalter.<br />
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I/<strong>2011</strong>
27<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Allerdings muß - um auf den Anfang zurückzukommen - die Frage offen bleiben, was in<br />
welcher Form von den in diesem Beitrag skizzierten Theorien und Auseinan<strong>der</strong>setzungen<br />
wirklich in den Alltag <strong>der</strong> Schule eingedrungen ist und dort die Realität bestimmt. Solange<br />
wir das nicht wissen, kann es sich bei dieser Debatte auch weitgehend um überschwenglich-<br />
abgehobene Rhetorik handeln, die eine eher betrübliche Praxis idealisiert und die dafür<br />
Verantwortlichen in ein (zu) gutes Licht versetzt - was beides ja durchaus mo<strong>der</strong>nen<br />
Kommunikationsstrategien entspräche, die längst auch als Studiengänge wissenschaftlich<br />
geadelt sind.<br />
In 10. Auflage erschien jüngst:<br />
Hermann Giesecke: Pädagogik als Beruf<br />
Juventa Verlag Weinheim und München, 2010,<br />
ISBN 978-3-7799-0583-7, 12 Euro<br />
Ziel <strong>der</strong> Darstellung „ist nicht eine<br />
systematische Theorie des pädagogischen<br />
Handelns, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Versuch, es vom<br />
Standpunkt des Handelnden zu beschreiben, so<br />
daß dieser ein Instrument erhält, mit dem er sein<br />
Handeln in seiner Situation reflektieren kann“.<br />
(aus dem Klappentext )<br />
„Die psychologisierte Reformpädagogik brüstet sich mit ihrer Hochschätzung des Schülers<br />
als Individuum: Am liebsten soll es für jeden Schüler einen eigenen Lehrplan, ein eigenes<br />
Lerntempo, ein eigenes Notensystem geben. Das macht die Sache auch für<br />
Mittelschichteltern verführerisch: Abitur und Studium bleiben weiterhin ein<br />
selbstverständliches Privileg - nun aber mit dem Versprechen begrenzter For<strong>der</strong>ungen,<br />
psychologisch begründbarer Ausreden, zusätzlicher Unterstützung und erheblichen<br />
Verständnisses beim eventuellen Scheitern“.<br />
Hermann Giesecke, aus „Anmerkungen zur bildungspolitischen Lage“<br />
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28<br />
Baden-Württemberg<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Grüne Stimmenflut - Was geschieht mit Baden-Württembergs Schulen?<br />
Das Max-Planck-Institut sollte seine Erkenntnisse in die Öffentlichkeit tragen<br />
Wieweit sich die neue Regierung in den Fel<strong>der</strong>n, <strong>der</strong>entwegen sie eine – wenn auch knappe –Mehrheit<br />
bekam, im Sinne <strong>der</strong> Erwartungen ihrer Spontan-Wähler durchsetzen wird, wird die Zukunft zeigen.<br />
Es ist gut, wenn in den entsprechenden Politikfel<strong>der</strong>n harte und ernsthafte Debatten geführt werden. Es<br />
scheint so zu sein, daß die zukünftigen Koalitionspartner nicht in allen wesentlichen strittigen Punkten<br />
einig sind. Aber die Energiedebatte wird nicht nur in Baden-Württemberg und unter den<br />
Koalitionspartnern, son<strong>der</strong>n deutschlandweit geführt werden, und viele Argumente und Interessen<br />
werden zu bedenken sein.<br />
Schon mehren sich aber in öffentlichen Äußerungen die Anzeichen dafür, daß in „weicheren“<br />
Politikfel<strong>der</strong>n Verän<strong>der</strong>ungen vorgenommen werden sollen, die zu einer Umwandlung <strong>der</strong> intakten<br />
und effizienten Bildungslandschaft in Baden-Württemberg führen können. So steht zu vermuten, daß<br />
auch im „Musterländle“, das diesen Namen nicht von Ungefähr trägt, die Gemeinsamkeiten in <strong>der</strong><br />
Bildungspolitik den Kitt des Regierungshandelns bilden werden: d.h. man wird das Schulwesen in<br />
Richtung auf die Einheitsschule umkrempeln und „längeres gemeinsames Lernen“ propagieren. In<br />
Presseverlautbarungen wird <strong>der</strong> künftige Ministerpräsident schon einmal für bestimmte Positionen<br />
vereinnahmt. 1<br />
Eine sachliche Diskussion sollte jedoch nicht außer acht lassen, was die empirischen Befunde zur<br />
Gesamtschule erbracht haben, und man sollte sich darauf besinnen, daß gerade Baden-Württembergs<br />
Schülerinnen und Schüler bei den PISA-Tests immer sehr gut abgeschnitten haben, in Deutschland in<br />
<strong>der</strong> Spitzengruppe und auch in Europa immer vorne lagen.<br />
Die Verän<strong>der</strong>ungen vorhaben, sollten sich bewußt machen, was sie mit einem Umbau möglicherweise<br />
zerstören. Sie sollten den Hinweisen nachgehen, daß die Favorisierung des längeren gemeinsamen<br />
Lernens nur möglich ist, weil – folgt man den Erkenntnissen des Arbeitskreises Gesamtschule –<br />
Untersuchungen, die das Gegenteil aussagen, als „versteckte Botschaften“ in <strong>der</strong> Fachliteratur<br />
abgestellt und aus ideologischen o<strong>der</strong> aus Gründen politischen Wohlverhaltens nicht<br />
öffentlichkeitswirksam publiziert worden sind.<br />
Diese Erkenntnisse müssen öffentlich werden.<br />
Es ist bestürzend, daß – wie wir erfahren haben – das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung den<br />
Vorwürfen, die sich auch an seine Adresse richten, nicht einmal nachgeht und Anfragen<br />
unbeantwortet bleiben.<br />
In <strong>der</strong> Guttenberg-Affäre zeigte sich die <strong>Wissenschaft</strong> empört darüber, daß dieser sich des Plagiats<br />
schuldig gemacht hatte – zu Recht! Was soll man aber von <strong>Wissenschaft</strong>lern halten, die Befunde<br />
„verstecken“, die in einer wichtigen Sachfrage, dem Bildungswesen <strong>der</strong> gesamten Nation, einschlägige<br />
und tragfähige Entscheidungskriterien liefern könnten?<br />
Winfried Holzapfel<br />
Zu diesem Thema siehe: www.schulformdebatte.de<br />
Dort sind beson<strong>der</strong>s aufschlußreich unter „Zur aktuellen Diskussion“ folgende Artikel:<br />
„Der unkontrollierte Verfall des deutschen Schulwesens“, „Dokumente einer mißlungenen<br />
Schulpolitik“ sowie von Christian und Birgit Böhm <strong>der</strong> Aufsatz: „Das System Hellmut<br />
Becker“ – o<strong>der</strong> „Wie die Gesamtschule in die deutschen Län<strong>der</strong> kam“.<br />
web<br />
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I/<strong>2011</strong>
29<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
1 Der Kampf um die Schulstruktur hat schon begonnen.<br />
In einer Presseerklärung <strong>der</strong> Gewerkschaft Erziehung und <strong>Wissenschaft</strong> (GEW) vom 27. 3.<br />
<strong>2011</strong>, noch am Tag <strong>der</strong> Wahl, heißt es:<br />
PM 22/11: 27. März <strong>2011</strong><br />
Wahlgewinner ist die Bildung<br />
GEW gratuliert ihrem Mitglied Winfried Kretschmann<br />
Stuttgart – „Wahlgewinner <strong>der</strong> Landtagswahl sind unsere Kin<strong>der</strong> und<br />
Jugendlichen. Wenn die Wahlgewinner Grüne und SPD ihre Zusagen wahr machen,<br />
haben wir endlich die Chance für einen Neustart in unseren KiTas, Schulen<br />
und Hochschulen. Jetzt geht es darum, die frühkindliche Bildung zu stärken<br />
sowie die verkrustete Schulstruktur in Baden-Württemberg aufzubrechen und<br />
mit <strong>der</strong> Einführung des längeren gemeinsamen Lernens bis zur zehnten Klasse<br />
zu beginnen. Das Wählervotum zeigt auch, daß die Mehrheit bis 2016 keine<br />
Streichung von Lehrerstellen will. Rechnerisch freiwerdende Stellen müssen<br />
für eine bessere Unterrichtsversorgung und Reformen wie den Ausbau <strong>der</strong><br />
Ganztagsschulen eingesetzt werden. Ab heute stehen die Aussagen <strong>der</strong> Parteien<br />
auf dem Prüfstand. Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern erwarten,<br />
daß die Zusagen in den Wahlprogrammen eingelöst werden“, sagte am Sonntag<br />
(27.03.) im Stuttgarter Landtag Doro Moritz, Landesvorsitzende <strong>der</strong><br />
Gewerkschaft Erziehung und <strong>Wissenschaft</strong> (GEW) Baden-Württemberg. Die GEW ist<br />
mit 48.000 Mitglie<strong>der</strong>n die größte bildungspolitische Interessenvertretung im<br />
Südwesten.<br />
Die Bildungsgewerkschaft GEW gratuliert insbeson<strong>der</strong>e ihrem langjährigen<br />
Mitglied Winfried Kretschmann zum Wahlerfolg. Die GEW setzt auf die<br />
Annäherung von SPD und Grünen in <strong>der</strong> Bildungspolitik. „Die beiden<br />
Wahlgewinner haben in ihren Programmen und im Wahlkampf gezeigt, daß sie an<br />
einem Strang ziehen wollen. Das ist eine gute Voraussetzung für eine bessere<br />
Bildungspolitik in unserem Land. Damit haben sie aber auch eine große<br />
Verantwortung gegenüber den Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen, ihren Eltern sowie den<br />
Erzieherinnen und Lehrern“, sagte Moritz.<br />
Die GEW erwartet von den neuen Landtagsabgeordneten, daß die vielen<br />
Wahlkampfversprechen zur Verbesserung <strong>der</strong> Bildungseinrichtungen jetzt nicht in <strong>der</strong><br />
Schublade verschwinden, son<strong>der</strong>n konsequent umgesetzt werden. In den nächsten Jahren<br />
werden nach Ansicht <strong>der</strong> Bildungsgewerkschaft in Baden-Württemberg <strong>der</strong> Ausbau <strong>der</strong><br />
Kin<strong>der</strong>tageseinrichtungen und <strong>der</strong> Ganztagsschulen sowie die Sicherung des Lehrerinnen-<br />
und Lehrernachwuchses die zentralen Themen <strong>der</strong> Bildungspolitik sein.<br />
Gewerkschaft Erziehung und <strong>Wissenschaft</strong> (GEW) Baden-Württemberg<br />
Siehe unter: http://www.gew-bw.de/Startseite.html ( Bildung neu denken)<br />
web<br />
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I/<strong>2011</strong>
30<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Inzwischen hat sich auch <strong>der</strong> Philologenverband Baden-Württemberg mit einer<br />
Presseerklärung zu Wort gemeldet, in <strong>der</strong> man auch auf die Vergangenheit des designierten<br />
Ministerpräsidenten als „gelernten Gymnasiallehrers“ anspielt. Darin heißt es unter an<strong>der</strong>em:<br />
„Hamburg hat gezeigt, daß jede Politik zum Scheitern verurteilt ist, die versucht, das<br />
Gymnasium als das `Flaggschiff <strong>der</strong> deutschen Bildungslandschaft` beschneiden zu wollen.<br />
Alle vorliegenden Untersuchungen., zuletzt das letzte Woche publizierte Gutachen des<br />
Aktionsrates Bildung, zeigen eindeutig, daß „längeres gemeinsames Lernen“ we<strong>der</strong> den<br />
Lernerfolg <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> noch die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg<br />
verbessert. So erklärten die Bildungsforscher des Aktionsrats, daß alle bisherigen Versuche<br />
mit einer sechsjährigen Grundschule fruchtlos gewesen seien. Bemerkenswert ist übrigens,<br />
daß für die Verfechter einer solchen Schulpolitik `Bildungserfolg´ gleichbedeutend zu sein<br />
scheint mit Gymnasium und Abitur. Alle Mitbürger, die an<strong>der</strong>e Abschlüsse erworben haben,<br />
werden demnach offensichtlich als `Bildungsverlierer´ betrachtet. Dies entspricht nicht<br />
unserer Sicht <strong>der</strong> Dinge!“<br />
Am Schluß heißt es:<br />
„Die Weiterentwicklung <strong>der</strong> Qualität des Unterrichts und die Verbesserung <strong>der</strong><br />
angesprochenen Rahmenbedingungen sollten im Fokus <strong>der</strong> politischen Bemühungen <strong>der</strong><br />
kommenden Legislaturperiode stehen, nicht aufgewärmte Strukturdebatten des letzten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts“.<br />
Die vollständige Presseerklärung finden Sie hier:<br />
http://www.phv-bw.de/ unter dem Datum vom 31. 3.<strong>2011</strong>.<br />
Was war wichtig in Baden-Württemberg?<br />
web<br />
fdw<br />
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31<br />
Bayern<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Bericht über ein Symposium zur Hochschulreform in München<br />
Von Willi Eisele<br />
Bildung und Ausbildung an den Schulen und<br />
Hochschulen in Deutschland<br />
Talente entdecken, Talente för<strong>der</strong>n, Talente<br />
nutzen<br />
Anmerkungen zum VII. Symposium zur Hochschulreform,<br />
veranstaltet von <strong>der</strong> Hanns Martin<br />
Schleyer-Stiftung (Köln), <strong>der</strong> Heinz Nixdorf-<br />
Stiftung (Essen) und <strong>der</strong> Technischen<br />
Universität (München, TUM) am 31.03./<br />
01.04.<strong>2011</strong> unter <strong>der</strong> wissenschaftlichen Leitung<br />
von Präsident Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang<br />
Herrmann und Prof. Dr. Manfred Prenzel<br />
(Dekan, TUM School of Education, München)<br />
in <strong>der</strong> Katholischen Akademie Bayern<br />
(München).<br />
Willi Eisele, Vorstandsmitglied und<br />
Regionalsprecher des BFW für Bayern<br />
Der Einladung <strong>der</strong> Veranstalter folgten etwa 300 Persönlichkeiten aus dem deutschsprachigen<br />
Raum, darunter Hochschullehrer, Vertreter <strong>der</strong> Bildungsverwaltung, <strong>der</strong> Politik, <strong>der</strong> Presse,<br />
<strong>der</strong> Berufs- und Fachverbände und <strong>der</strong> Wirtschaft.<br />
Dr. Horst Nasko for<strong>der</strong>te einleitend Podiumsteilnehmer und Zuhörer auf, den Zuwachs an<br />
Autonomie und das Forum eines wissenschaftlichen Symposiums zum Dialog zu nutzen, um<br />
die 2001 aufgenommene Initiative als ständige Impulsgebung für eingeleitete Reformen zu<br />
verstehen, um hiermit die gesamtgesellschaftliche Verantwortung für Chancengerechtigkeit<br />
zu betonen. Nach den Stichworten „Spitzenuniversitäten“, „Hochschulfinanzierung“,<br />
„Spielräume im nationalen und internationalen Wettbewerb“ stehe diesmal die Ausbildung<br />
<strong>der</strong> „Lehrer von morgen“ im Mittelpunkt des Interesses.<br />
„Talentför<strong>der</strong>ung ist das zentrale kulturelle Mandat je<strong>der</strong> Gesellschaft“ – so Prof. Dr.<br />
Wolfgang Herrmann – „denn wir können es uns nicht leisten, unserem begabten Nachwuchs<br />
nicht die bestmögliche Bildung und Ausbildung angedeihen zu lassen“. Den beson<strong>der</strong>en,<br />
dienenden Auftrag <strong>der</strong> TUM zeigte <strong>der</strong>en Präsident in <strong>der</strong> Einrichtung von Schulnetzwerken<br />
zur frühzeitigen Motivation und Identifizierung junger Talente am Beispiel des Faches<br />
Mathematik auf (Ferienakademie mit einem Stipendium <strong>der</strong> TUM, Schüler-Studium für<br />
Gymnasiasten ab <strong>der</strong> Klasse 10, Anrechnung von Vorstudienleistungen auf ein Fachstudium)<br />
und wies auf die Schlüsselrolle <strong>der</strong> TUM School of Education für die Lehrerbildung und die<br />
empirische Unterrichtsforschung – nicht als „fünftes Rad am Wagen“, son<strong>der</strong>n als 13.<br />
Fakultät hin.<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
32<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Podium zu Schule und Unterricht<br />
Tanjev Schultz, Redakteur <strong>der</strong> Süddeutschen Zeitung mo<strong>der</strong>ierte die erste Podiumsrunde, die<br />
unter dem Begriffspaar „Schule und Unterricht“ die pädagogische Situation an den zum<br />
Hochschulstudium führenden Schulformen aufzeigte: Reformfähigkeit zeige sich in einer<br />
flexiblen Zeitvorgabe für die Dauer eines Bildungsganges, <strong>der</strong> Verflachung von<br />
Machtstrukturen durch eine neue Gesprächskultur (OStD Günther Offermann,<br />
Marbach/Neckar), <strong>der</strong> Nutzung von sog. MODUS-Maßnahmen (Antonia Delius,<br />
Schülersprecherin, München), „Zu-Mutung“ als Vertrauensvorschuß praktizieren (Prof. Dr.<br />
Dr. hc. mult. Fritz Oser, Fribourg, CH), Individualität <strong>der</strong> Schüler för<strong>der</strong>n und als<br />
Erfolgsrezept herausstellen (Prof. Dr. Tina Seidel, TUM), Basiskompetenzen<br />
bildungsökonomisch für eine Lebensperspektive aufbauen (Prof. Dr. Ludger Wößmann,<br />
LMU/ifo München).<br />
Podium zur universitären Lehrerbildung<br />
Was in <strong>der</strong> universitären Lehrerbildung seit 12 Jahren erreicht wurde, sollte die zweite Runde<br />
des Podiums, mo<strong>der</strong>iert von Dr. Heike Schmoll (Ressort Bildung, FAZ), vorstellen. Prof. Dr.<br />
Cornelia Gräsel (Bildungsforschung, Wuppertal) sieht die Stellung <strong>der</strong> Fachdidaktiken<br />
verbessert, erkennt bei den Erziehungswissenschaften eine optimierte Professionsorientierung<br />
auf den Lehrerberuf als Folge aus <strong>der</strong> Debatte um Bildungsstandards (Sek. I), for<strong>der</strong>t eine<br />
enge Verzahnung von Forschung und Lehre und bestätigt, welche „Kärrnerarbeit“ bei <strong>der</strong><br />
Modularisierung von Studienplänen für ganze Fachbereiche anfalle. Prof. Dr. Jan-Hendrik<br />
Olbertz (Kultusminister a.D., Präsident <strong>der</strong> Humboldt-Universität, Berlin) hinterfragte aus<br />
seiner doppelten Erfahrung mit Belegen aus <strong>der</strong> Berufspraxis, woher eine Lehrkraft die<br />
Motivation für einen zusätzlichen Erwerb von berufspraktischen Kompetenzen nehmen solle,<br />
wenn eine solche berufliche Selbstdisziplinierung nicht durch eine empirische Bildungs- und<br />
Unterrichtsforschung nahegelegt werde. Als Zukunftskonzept für eine „Humboldt<br />
Professional School of Education“ (HPSoE) sieht er lehramtsspezifische Studiengänge (auch<br />
im „Bologna-System“), in denen die Fachdidaktik gestärkt werden müsse, wobei eine<br />
„Vermittlungskultur“ nicht vom Fachwissen (Ausbildung für ein bzw. zwei Fächer) getrennt<br />
werden dürfe und eine Theoriebildung in den Erziehungswissenschaft aus <strong>der</strong> Bilanz <strong>der</strong><br />
Unterrichtsforschung, d.h. aus <strong>der</strong> Praxis abgeleitet werden müsse. Die Professionalität einer<br />
HPSoE werde sich auch darin zeigen, daß ihr das Promotionsrecht mit dieser Zielrichtung im<br />
Rahmen eines Kooperationsnetzwerkes zwischen FU, TU und UdK eingeräumt werde.<br />
Fachstudium und Ausbildung für ein Lehramt<br />
Prof. Dr. Erich Thies, StS a.D., Generalsekretär <strong>der</strong> Kultusministerkonferenz (Berlin), stellte<br />
für die Lehrerbildung an den Hochschulen 18 Thesen auf: Lehrerbildung sei eindeutig <strong>der</strong><br />
Dreh- und Angelpunkt für die Entwicklung guter Schulen und stelle an<strong>der</strong>erseits den<br />
„desolatesten Bereich universitärer Ausbildung“ dar, weil das universitäre Ansehen eines<br />
Fachstudiums höher rangiere als die zielgerichtete Ausbildung für ein Lehramt. Gut gemeinte<br />
„Zentren für Lehrerbildung“ an den Universitäten seien wenig geeignet, erkannte Defizite an<br />
Praxisbezug o<strong>der</strong> Reflexion eigener Zielvorstellung zu kompensieren. Gravierend sei auch das<br />
Fehlen <strong>der</strong> Evaluation von Studienseminaren (2. Phase). Daß Studienreferendaren noch<br />
immer erklärt werde, sie könnten „gewonnene Einsichten aus <strong>der</strong> 1. Phase erst einmal<br />
vergessen“, belege eine „doppelte Bankrotterklärung“ gegenwärtiger Lehrerbildung – hier<br />
versage die akademische Autonomie bzw. sei hier „fehl am Platze“ (vgl. auch das Vertagen<br />
von „Akademien für Lehre“ (professional schools) durch die <strong>Wissenschaft</strong>sminister von <strong>Bund</strong><br />
web<br />
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I/<strong>2011</strong>
33<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
und Län<strong>der</strong>n, SZ vom 28.03.<strong>2011</strong>). Zu for<strong>der</strong>n sei, daß „Schools of Education“ maßgeblichen<br />
Einfluß auf das fachliche Angebot für die Lehrerbildung ausüben könnten –<br />
Prof. Dr. Thies sprach von „Einkaufen im Rahmen eines Wettbewerbs“ – und wie die TUM in<br />
dem begrenzten Spektrum <strong>der</strong> MINT-Fächer und <strong>der</strong> Berufsschullehrerausbildung diesen<br />
Reformschritt als Teil ihres „Exzellenzprofils“ herausstellten. Nicht nachahmenswert wird<br />
gesehen, daß an den Pädagogischen Hochschulen in Baden-Württemberg ein umfangreicher,<br />
betreuter Praxisteil nur für die künftigen Lehrer an Grund-, Haupt-, Real- und För<strong>der</strong>schulen<br />
gelte.<br />
Lehrerbildung für Universitäten eine Last<br />
Prof. Dr. Manfred Prenzel (vormals IPN Kiel, z.Zt. TUM School of Education, München)<br />
hob in seinem Beitrag hervor, daß das Podium „sehr konsensual zusammengesetzt“ sei und<br />
damit kontroverse Debatten nicht erwartet werden. Gleichwohl kritisierte er, daß die<br />
Lehrerbildung für Unis eher eine Last sei, weil man damit nicht glänzen könne – eben eine<br />
Dienstleistung, die wegen <strong>der</strong> vielen Fächerkombinationen nur Unzufriedenheit und Ärger<br />
produziere. Eine Perspektive sieht <strong>der</strong> Dekan <strong>der</strong> Fakultät 13 <strong>der</strong> TUM in einer breit<br />
gefächerten „forschungsbasierten Lehrerbildung“ als Steuerungsmodell, um zum Ausdruck zu<br />
bringen, daß genau hier die Verantwortung für die Professionalität neuer Lehrergenerationen<br />
liegt.<br />
Wie komplex die Problematik tatsächlich ist, leitet Dr. Heike Schmoll in ihrer Abmo<strong>der</strong>ation<br />
davon ab, daß die Kultusministerkonferenz 40 Jahre über die Lehrerbildung diskutiert habe,<br />
ohne jemals einen Beschluß mit Perspektive zu fassen.<br />
Den Höhepunkt des VII. Symposiums stellte schließlich <strong>der</strong> Vortrag von Prof. Dr. Annette<br />
Schavan, <strong>der</strong> <strong>Bund</strong>esministerin für Bildung und Forschung zum Thema „Bildung und<br />
Innovation“ dar und die dritte Podiumsrunde, mo<strong>der</strong>iert von Thomas Kerstan<br />
(Redaktionsleiter bei <strong>der</strong> ZEIT). Unter Bezug auf das Matthäus-Evangelium (NT, Mt 25, 14-<br />
30) führte <strong>der</strong> TUM-Präsident auf Person und Referatsinhalt hin und bezog das biblische<br />
Gleichnis auf die aktuelle Hochschulfinanzierung, wobei beide vermieden, auf das Schicksal<br />
des „unnützen Knechts“ einzugehen, dem in <strong>der</strong> Finsternis „Heulen und Zähneknirschen“<br />
drohte.<br />
Schavan: „Neues Gymnasium“ und „neue Universität“ durch G8 und Bologna<br />
An das Menschenbild von Meister Eckhart anknüpfend, bezog die <strong>Bund</strong>esministerin den<br />
Bildungsauftrag auf das Koordinatensystem <strong>der</strong> Universität, wo zunächst die theologische<br />
Disziplin das Leitbild für Allgemeinbildung prägte – Bild vom Menschen, von <strong>der</strong> Natur, von<br />
des Menschen Beziehung zu Staat und Gesellschaft und wies auf Wilhelm von Humboldt hin,<br />
nach dessen Erkenntnis „Frieden ohne Bildung“ nicht möglich sei. Im anthropologischen<br />
Bezug sei auch ein „Mehrwert für das menschliche Leben“ zu sehen, eine Grundbedingung<br />
für eine „Grammatik des Dialogs“ zwischen den Fachdisziplinen und Kulturen. Kernpunkte<br />
ihrer Thesen waren: Talentför<strong>der</strong>ung durch stringente Frühför<strong>der</strong>ung, eine Entwicklung einer<br />
Lernkultur und <strong>der</strong> Abbau einer allseits praktizierten Belehrungskultur (Bsp. Mathematik als<br />
kreatives Fach), Betonung <strong>der</strong> Erkenntnis, daß sich auch unsere wirtschaftliche Stärke aus<br />
dem Vorsprung an Innovationen ableite, Abschied von <strong>der</strong> Mär, daß Talentför<strong>der</strong>ung „elitär“<br />
sei, Neufestsetzung von Prioritäten in akademischer Lehre und gymnasialem Unterricht,<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
34<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Bekenntnis zum „Fakt“, daß „G8 und Bologna-Prozeß“ nicht nur ein „Etikettenaustausch“<br />
seien, son<strong>der</strong>n ein neues Gymnasium und eine neue Universität zum Ziel haben. Für die<br />
Hochschule bedeute dies auch, daß es künftig keine Technische Universität ohne<br />
Geisteswissenschaften geben könne. Zu den Ausführungen von Prof. Dr. Schavan nahmen auf<br />
dem Podium Stellung: Prof. Dr. Jürgen Kluge (vormals McKinsey Deutschland, z. Zt.<br />
Vorstandsvorsitzen<strong>der</strong> Haniel &Cie GmbH, Duisburg), Prof. Dr. Margret Wintermantel,<br />
Präsidentin <strong>der</strong> HRK (Bonn) und Prof. Dr. Wolfgang Herrmann (TUM).<br />
„knowledge triangle“<br />
Für Prof. Dr. Margret Wintermantel sind Studiengänge heute auf einen neuen beruflichen und<br />
gesellschaftlichen Kontext in einer „knowledge triangle“ (Bildung, Forschung, Innovation)<br />
auszurichten, mobile (Fach-) Arbeiter seien genauso wichtig wie mobile Unternehmer, die<br />
Arbeitswirklichkeit sei zunehmend geprägt von Teams mit größtmöglicher Autonomie. Prof.<br />
Dr. Jürgen Kluge ergänzt die Ausführungen seiner Vorrednerinnen: „Wissen ist <strong>der</strong> einzige<br />
Rohstoff, <strong>der</strong> sich vermehrt, wenn man ihn (auf-) teilt“, deshalb sei eine frühe Talent- und<br />
Nachwuchsför<strong>der</strong>ung überlebenswichtig, um Forschungskreativität in den MINT-Fächern und<br />
einen Grün<strong>der</strong>geist zu wecken. Der Wettbewerb um die besten Köpfe sei global. Deutschland<br />
sei nicht nur Exportweltmeister an Gütern, son<strong>der</strong>n auch in bezug auf junge <strong>Wissenschaft</strong>ler.<br />
Nachdem Not Wendigkeit schaffe, for<strong>der</strong>e er an Schulen und Hochschulen „Projektmanager<br />
für Talentför<strong>der</strong>ung“. Prof. Dr. Herrmann sieht den Hauptgrund für die Meisterschaft im<br />
Export im hochqualifizierten deutschen Bildungswesen, das er national und international mit<br />
keinen an<strong>der</strong>en System eintauschen wolle. Nachdem dieses Bildungswesen – so<br />
<strong>Bund</strong>esministerin Schavan – sich aber in 96 Schultypen verzettele, würde sie hier gerne<br />
Kompetenzen und Zuständigkeiten durch Vereinheitlichung gegen Detailverliebtheit und<br />
politische Eitelkeiten in Curricula/Bildungsplänen, Arbeits- und Schulbüchern in 16<br />
<strong>Bund</strong>eslän<strong>der</strong>n durchsetzen.<br />
Mangelsituation in den MINT - Fächern<br />
Die abschließende Podiumsrunde bezog sich auf die Mangelsituation in den MINT-Fächern<br />
und <strong>der</strong>en Ausgleich, v.a. an den Gymnasien und Fach- und Berufsoberschulen. Im Kontext<br />
mit dem Thema „Atomkraft in Deutschland“ wurde konstatiert, daß die Kernenergie durch<br />
die jüngsten Ereignisse in Japan (Bild <strong>der</strong> „Schwarzen Schwäne“) und die politischen und<br />
medialen Reaktionen in Deutschland „politisch gescheitert“ sei. Gewarnt wurde vor einem<br />
„bashing <strong>der</strong> Geistes- und Sozialwissenschaften“, die sich bemühten, auf komplexe Fragen<br />
keine einfachen Antworten zu geben. An die <strong>Bund</strong>esministerin ging die Frage, was passiere,<br />
wenn die För<strong>der</strong>ung von Exzellenzinitiativen auslaufe. Hier müßten – so Prof. Dr. Schavan –<br />
die Verantwortlichkeiten auf vielen Ebenen neu ausdifferenziert werden. Eine gezielte<br />
För<strong>der</strong>ung von Individuen sei zudem effektiver als eine Kollektivlösung, denn jede<br />
Gesellschaft brauche ihre (Leistungs-) Eliten (W.I. Lenin), d.h. 3-5% ziehen 80% <strong>der</strong><br />
Bevölkerung durch, die den Rest finanzieren müssen.<br />
Prof. Dr. Manfred Prenzel (TUM) resümierte Ergebnisse aus den drei Podiumsdiskussionen.<br />
Das Symposium habe von dem „Hochhaus Bildung“ (Prof. Dr. Fthenakis) einzelne<br />
Stockwerke unter dem Blickwinkel <strong>der</strong> Talentför<strong>der</strong>ung näher betrachtet. Podium 1 habe<br />
versucht, die Verzahnung von Gymnasien und Beruflichen Oberschulen unter dem Aspekt<br />
fachlicher Verantwortung <strong>der</strong> handelnden Personen in den Blick zu nehmen, Podium 2 habe<br />
die Vorzüge einer School of Education an Beispielen aus Wuppertal und <strong>der</strong> TUM<br />
herausgearbeitet und den künftigen Lehrern den Auftrag zugeschrieben, „als Profis Talente zu<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
35<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
entwickeln“. Podium 3 habe die Effizienz von Innovationen an <strong>der</strong> Diskursfähigkeit aller<br />
Beteiligten gemessen, um junge Menschen heute nicht einfach in das enge Korsett eines<br />
Faches zu zwängen – die Interdisziplinarität modulierter Studiengänge werde als wichtiger<br />
Ansatz in die universitären Gremien hineingetragen und die Diskussion über Bildungspläne<br />
und Bildungsstandards auch unter transparenten Qualitätskriterien geführt, im output<br />
beobachtet von Abnehmern und einer kritischen Öffentlichkeit.<br />
Ein Programm<br />
Willi Eisele, OStD<br />
Vorstandsmitglied und Regionalsprecher des BFW für Bayern<br />
enthält Grundsätze und Leitgedanken einer Vereinigung.<br />
Der <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> bereitet eine Neufassung seines im Jahre 2005 letztmalig<br />
durchgesehenen und aktualisierten Programms vor.<br />
Wir laden unsere Mitglie<strong>der</strong> und Freunde ein, daran mitzuwirken. Stellungnahmen und<br />
Formulierungsvorschläge sind uns sehr willkommen.<br />
Bitte, richten Sie Ihre Anregungen an einen <strong>der</strong> drei Vorsitzenden o<strong>der</strong> an die Postanschrift:<br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> e.V.<br />
Postfach 080 517<br />
10005 Berlin<br />
Herzliche Einladung - Gemeinsame Fachtagung<br />
Deutscher Lehrerverband und Konrad-Adenauer-Stiftung laden ein zu einer Fachtagung mit dem<br />
Thema:<br />
Wozu Bildungsökonomie ?<br />
Als Vortragende wirken mit:<br />
Prof. Dr. Manfred Becker, Dipl.-Hdl, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg,<br />
Wirtschaftswissenschaften<br />
Prof. Dr. Volker Bank, Dipl.-Hdl, TU Chemnitz, Abtl. Berufs- u. Wirtschaftspädagogik<br />
Prof. Dr. Silja Graupe, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Alfter/Bonn<br />
Prof. Dr. Jochen Krautz, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft Alfter/Bonn<br />
Prof. Dr. Rainer Dollase, Universität Bielefeld, Abtl. Psychologie<br />
Prof. Dr. Andrea Liesner, Universität Hamburg, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie<br />
und Bewegungswissenschaft<br />
Donnerstag, 19. Mai <strong>2011</strong>, 10.00 bis 16.00 Uhr<br />
Veranstaltungsort: Konrad-Adenauer-Stiftung, Tiergartenstr. 35, 10785 Berlin<br />
Ausführliches Programm und Anmeldemöglichkeiten demnächst auf unserer Website.<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
36<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Von <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> 'OS' (Orientierungsstufe) zur Einführung <strong>der</strong> 'OS' (Oberschule)<br />
Hat die CDU aus dem Wahldebakel in Hamburg nichts gelernt?<br />
Am 16.03.<strong>2011</strong> wurde "Das Gesetz zur Neuordnung <strong>der</strong> Schulstruktur in Nie<strong>der</strong>sachsen"<br />
veröffentlicht. Kernstück ist darin die Än<strong>der</strong>ung des nie<strong>der</strong>sächsischen Schulgesetzes.<br />
Neu geschaffen wird die 'Oberschule' in zweierlei 'Gestalt':<br />
a) Die Oberschule ohne gymnasiales Angebot (mindestens zweizügig, 48 Kin<strong>der</strong><br />
pro Jahrgang) wird als kombinierte Haupt- und Realschule geführt.<br />
b) Die 'Oberschule mit gymnasialem Angebot' muß mindestens dreizügig geführt<br />
werden. Zu <strong>der</strong> Mindestzahl von 48 pro Jahrgang müssen 27 Schülerinnen<br />
und Schüler für eine gymnasiale Klasse hinzukommen.<br />
Im Gesetzgebungsverfahren haben Kommunale Spitzenverbände bezüglich <strong>der</strong> Mindestzahlen<br />
Einwirkungsversuche unternommen mit dem Ziel, die Mindestzahlen abzusenken; einige<br />
Kommunale Träger for<strong>der</strong>n aus ihrem Blickwinkel <strong>der</strong> Standortsicherung noch kleinere<br />
Systeme als 2 x 22 Schülerinnen und Schüler.<br />
Für die weiterhin mögliche Einrichtung Integrierter Gesamtschulen (IGS) in Nie<strong>der</strong>sachsen ist<br />
nach wie vor eine Fünfzügigkeit (jetzt nur noch 120 statt 130 Kin<strong>der</strong> pro Jahrgang)<br />
vorgeschrieben. Die in Nie<strong>der</strong>sachsen bestehenden Kooperativen Gesamtschulen (KGS)<br />
erhalten Bestandsschutz – Neugründungen dieser Schulform sind allerdings nicht mehr<br />
möglich. KGSen können sich aber in eine Oberschule umwandeln.<br />
Landkreise und kreisfreie Städte müssen <strong>der</strong> Errichtung von Oberschulen zustimmen – sofern<br />
sie als Schulträger reguläre Gymnasien halten. Keinem Kind darf <strong>der</strong> Besuch eines<br />
grundständigen Gymnasiums verwehrt sein.<br />
Nach dem Willen des Gesetzgebers (§ 10a) soll die neu eingerichtete Oberschule jeweils<br />
selbst entscheiden, "in welchen Schuljahrgängen und Fächern <strong>der</strong> Unterricht jahrgangsbezogen<br />
o<strong>der</strong> schulzweigspezifisch erteilt wird. In <strong>der</strong> Oberschule soll ab dem 9. Schuljahrgang<br />
<strong>der</strong> schulzweigspezifische Unterricht überwiegen". Wenn die Oberschule um ein gymnasiales<br />
Angebot erweitert wird, gilt: "Für die Schülerinnen und Schüler des gymnasialen Angebots<br />
soll ab dem 7. Schuljahrgang und muß ab dem 9. Schuljahrgang <strong>der</strong> Unterricht überwiegend<br />
in schulzweigspezifischen Klassenverbänden erteilt werden. Der 10. Schuljahrgang des<br />
Gymnasialen Schulzweigs ist zugleich die Einführungsphase <strong>der</strong> Gymnasialen Oberstufe".<br />
Diese Ordnungsmerkmale verdeutlichen, daß die neu geschaffene Nie<strong>der</strong>sächsische<br />
Oberschule als Gesamtschule organisiert werden kann – mit liberalisierenden Vorgaben.<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
37<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Die ursprünglich an <strong>der</strong> 'Oberschule' geplante Gymnasiale Oberstufe (Sek II) ist jetzt nur<br />
möglich, wenn eine bestehende Gesamtschule (IGS/KGS) mit Gymnasialer Oberstufe in eine<br />
'Oberschule' umgewandelt wird.<br />
Untersuchungsergebnisse und sachdienliche Beiträge werden ignoriert<br />
Obgleich <strong>der</strong> Kultusminister behauptet: "Die Oberschule ist die richtige Antwort zur richtigen<br />
Zeit" wird immer deutlicher, daß die CDU aus dem Wahldebakel in Hamburg nichts gelernt<br />
hat.<br />
Angesichts <strong>der</strong> im September <strong>2011</strong> anstehenden Kommunalwahlen in Nie<strong>der</strong>sachsen ist die<br />
Standortsicherung von Schulen wohl <strong>der</strong> entscheidende Wahlkampfbeitrag <strong>der</strong> CDU in<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen.<br />
Bis zum 31.05.<strong>2011</strong> müssen die Anträge zur Einrichtung von Oberschulen (zum 01.08. <strong>2011</strong>)<br />
vorliegen. Ca. 100 sollen es zurzeit sein. Aber in immer mehr Landkreisen des Flächenlandes<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen regt sich Wi<strong>der</strong>stand gegen die gymnasialen Zweige an Oberschulen. Von<br />
Schulpraktikern wird die Oberschule mit gymnasialer Klasse als 'Mogelpackung' bezeichnet,<br />
weil Schüler z.B. bei <strong>der</strong> 2. Pflichtfremdsprache (ab Kl. 6) keine Wahl haben und eine<br />
gymnasial-spezifische Beschulung in <strong>der</strong> Unter- und Mittelstufe (Kl. 5 – 9) gar nicht<br />
zwingend vorgesehen ist. Die strukturbedingten Nachteile <strong>der</strong> Gesamtschule treffen dann<br />
eben auch die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Oberschule.<br />
Der <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> hat immer wie<strong>der</strong> darauf hingewiesen, daß es keine<br />
einzige wissenschaftliche Studie gibt, die <strong>der</strong> Gesamtschule deutscher Ausprägung einen<br />
Gleichstand mit Schulen des vielgliedrigen Schulwesens bescheinigt.<br />
Trotz dieser Untersuchungsergebnisse dominieren die Einheitsschul-Befürworter wie<strong>der</strong><br />
verstärkt die bildungspolitische Debatte, um ihre Ideologie des 'längeren gemeinsamen<br />
Lernens' zu verkünden. Die permanent wie<strong>der</strong>holte Behauptung, daß ein vielgliedriges<br />
Schulsystem ein sozial-selektives Schulwesen sei, wird durch Wie<strong>der</strong>holung nicht einleuchten<strong>der</strong>.<br />
Bei den innerdeutschen PISA-Vergleichen ist sogar nachweisbar, daß auch bei <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung<br />
lernschwacher Schüler und hinsichtlich <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von Migrantenkin<strong>der</strong>n die<br />
<strong>Bund</strong>eslän<strong>der</strong> mit vielgliedrigem Schulwesen wesentlich besser abschneiden.<br />
Die in Nie<strong>der</strong>sachsen vorgesehene Vervielfachung <strong>der</strong> Gesamtschulangebote (IGS, KGS und<br />
Oberschule) bestätigt den Verdacht, daß insbeson<strong>der</strong>e die CDU Norddeutschlands sich<br />
bildungs- und schulstrukturpolitisch nicht gut beraten läßt und selbst die Expertisen <strong>der</strong><br />
Konrad-Adenauer-Stiftung nicht o<strong>der</strong> nur unzureichend zur Kenntnis nimmt. Die auch dort<br />
erschienenen Beiträge des BFW-Vorstandsmitglieds Josef Kraus (Präsident des Deutschen<br />
Lehrerverbandes) werden ebenso ignoriert.<br />
Die Nie<strong>der</strong>sächsische Oberschule als Einheitsschule neuen Typs ist sicherlich nicht die<br />
richtige Antwort auf die Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> disparat verlaufenden demographischen<br />
Entwicklung (ab 2014 starker Schülerrückgang – im östlichen Nie<strong>der</strong>sachsen/Harz stärker als<br />
im katholischen Westen) und die damit verbundenen Fragen <strong>der</strong> Standortsicherung von Schulen<br />
in kleinen Städten und Amtsgemeinden.<br />
web<br />
fdw<br />
I/<strong>2011</strong>
38<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Vielzahl berufspolitischer Probleme<br />
Die Vielzahl berufspolitischer Probleme, die mit <strong>der</strong> Einrichtung dieser neuen Schulform in<br />
Nie<strong>der</strong>sachsen verbunden sein werden, sind schon jetzt für die Praktiker vor Ort eine<br />
Horrorvision, denn die Auflösung <strong>der</strong> Einheitsschule 'Orientierungsstufe' (das war eine Gesamtschule<br />
für alle Schülerinnen und Schüler <strong>der</strong> 5. und 6. Jahrgänge) hat zur Versetzung von<br />
mehr als 10.000 Lehrkräften geführt, <strong>der</strong>en Folgen bis heute nachwirken.<br />
Die richtigen Argumente <strong>der</strong> CDU-geführten Regierung bei <strong>der</strong> Abschaffung <strong>der</strong> Orientierungsstufen<br />
2004/2005 scheinen nach nur einem halben Jahrzehnt in Vergessenheit geraten<br />
zu sein.<br />
Der <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> wird die 'Neuordnung <strong>der</strong> Schulstruktur in Nie<strong>der</strong>sachsen'<br />
weiter kritisch begleiten.<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
„Jedem Kind gerecht werden“<br />
Die NRW-CDU nimmt sich viel vor, läßt aber auch viel geschehen<br />
Bernd Ostermeyer<br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> - Nie<strong>der</strong>sachsen<br />
Der Parteitagsbeschluß zur Schulentwicklung, den die NRW-CDU am 12. März in Siegen<br />
getroffen hat, ist das von einer großen Mehrheit getragene Ergebnis einer breit angelegten<br />
Diskussion, die im Vorfeld sowohl parteiintern als auch mit den bildungspolitischen<br />
Verbänden geführt wurde.<br />
Die NRW-CDU fühlt sich in ihrer Resolution <strong>der</strong> bildungspolitischen Geschichte des Landes<br />
verpflichtet. Sie will keine Revolution in <strong>der</strong> Schulpolitik. Bei klarer Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Schullandschaft nach Schulformen will sie zugleich mehr Varianten innerhalb dieser<br />
Grundstruktur. Ihre Vorschläge lassen Handlungsspielräume, die das „Leben selbst“ erfor<strong>der</strong>t.<br />
Vor Ort sollen Entscheidungen über die Gestaltung <strong>der</strong> Schullaufbahnen getroffen werden,<br />
falls Haupt- o<strong>der</strong> Realschulen allein nicht bestehen können. Die Zusammenlegung solcher<br />
Schulen soll zu Verbundschulen führen, über <strong>der</strong>en innere Struktur an <strong>der</strong> Basis entschieden<br />
werden soll. Gymnasiale Bildungsgänge bleiben den Gymnasien vorbehalten.<br />
„Gemeinschaftsschulen“, in die ab Klasse 5 alle Schüler zusammengefaßt und nach<br />
gymnasialen Standards unterrichtet werden sollen, wie sie als „Versuchsschulen“ von <strong>der</strong> rotgrünen<br />
Landesregierung mit Beginn des kommenden Schuljahr genehmigt worden sind und<br />
als Regelschulen propagiert werden, lehnt die CDU ab.<br />
Das Thema „Inklusion“ wird zielstrebig, aber nicht überstürzt stürmisch angegangen.<br />
Im übrigen möchte die CDU einen lang andauernden Schulfrieden im Land, weswegen sie<br />
den regierenden Parteien ein Angebot macht, in diesem Zusammenhang zu Absprachen zu<br />
kommen. Ihrer Ansicht nach tritt sie mit ihrem Beschluß dazu in Vorleistung<br />
Dieser Wunsch <strong>der</strong> CDU ist wohl <strong>der</strong> entscheidende Grund, weswegen sie es unterläßt,<br />
energisch gegen die Einpflanzung <strong>der</strong> so genannten „Gemeinschaftsschule“ ins nordrheinwestfälische<br />
Schulwesen vorzugehen, die verfassungsrechtlich – gelinde gesagt – äußerst<br />
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39<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
umstritten ist. Sie läuft auch allen pädagogischen Erkenntnissen zuwi<strong>der</strong>, wird aber aus<br />
ideologischen Gründen von <strong>der</strong> grünen Schulministerin vorangetrieben, auch wenn die zuvor<br />
festgelegten Bedingungen gar nicht ordentlich erfüllt sind, wie man an einigen Orten<br />
erkennen kann.<br />
Die CDU läßt es also ohne Einspruch geschehen, daß die grüne Schulministerin<br />
„Gemeinschaftsschulen“ implantiert.<br />
Die CDU geht nicht <strong>der</strong> verfassungsrechtlichen Frage nach, ob dieser Begriff überhaupt<br />
verwandt werden darf. Sie legt nicht mehr den Finger in die Wunde <strong>der</strong> pädagogischen<br />
Fragwürdigkeit eines längeren gemeinsamen Lernens, das, wie alle Gutachten zeigen, zu<br />
Nachteilen für die besseren und die schwächeren Schüler führt. Sie macht nicht lautstark auf<br />
die Absurdität aufmerksam, daß in <strong>der</strong> „Gemeinschaftsschule“, die in <strong>der</strong> Regel aus einer<br />
Zusammenführung von Haupt- und Realschülern entsteht, von Anfang an nach „gymnasialen<br />
Standards“ unterrichtet werden soll – nein: Die CDU streckt generös die Hand zum<br />
Schulfrieden aus.<br />
So läßt die CDU die Regierung machen, findet lobende Worte für die Gesamtschulen, die seit<br />
langem im Lande existieren, und stellt innerparteilich einen Beschlußlage her, die vielleicht<br />
einer Regierung gut zu Gesicht stände. Die CDU ist aber nicht Regierungspartei. Es wäre<br />
also nötig, daß sie als Oppositionspartei operiert. Das heißt: Es wäre ihre Aufgabe, <strong>der</strong><br />
Regierung Fehler und verfassungswidrige Aktivitäten vorzuwerfen. Daß sie das – mit Erfolg –<br />
in <strong>der</strong> Finanzpolitik tut, die Regierung aber in <strong>der</strong> Bildungspolitik gewähren läßt, ist für viele<br />
enttäuschend. Außerdem gibt sie <strong>der</strong> Regierung die Chance, in „Bildungskonferenzen“ mit<br />
ihrer Umarmungsstrategie zu punkten.<br />
Trotz des (guten) Parteitagsbeschlusses und seiner (beeindruckenden) basisorientierten<br />
Entstehung scheint die Bildungspolitik in <strong>der</strong> Prioritätenliste <strong>der</strong> CDU nicht so weit oben zu<br />
stehen, wie es erste Verlautbarungen und die Einberufung des Parteitages eigens zur<br />
Schulpolitik vermuten ließen.<br />
Winfried Holzapfel<br />
Den Parteitagsbeschluß <strong>der</strong> NRW-CDU mit <strong>der</strong> Überschrift „Jedem Kind gerecht werden“<br />
finden Sie hier:<br />
http://www.cdu-nrw.de/images/stories/docs/lpt/A1_Jedem_Kind_gerecht_werden_-<br />
_Schulpolitische_Leitlinien_<strong>der</strong>_CDU_NRW.pdf<br />
Zu seiner Entstehung siehe auf <strong>der</strong> Website des BFW unter den Daten: 9. 1., 25.1., 5. 2.<br />
<strong>2011</strong>.<br />
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Bücherrevue<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Peter J. Brenner: Bildungsgerechtigkeit<br />
Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-021096-7, 14,80 Euro<br />
Peter Brenners Bücher sind Zeugnisse seiner Kenntnis von <strong>der</strong> Realität an Deutschlands<br />
Schulen, was sich zum Beispiel in dem Buchtitel „Wie Schule funktioniert“ (2009 bei<br />
Kohlhammer) ausdrückte. Umso überraschen<strong>der</strong> ist auf den ersten Blick, daß er sich hier auf<br />
über 100 Seiten eines Begriffs annimmt und sich damit auf eine Metaebene begibt, auf <strong>der</strong> in<br />
erster Linie abstrakte Überlegungen zu erwarten sind. Erfreulicherweise bleibt aber bei <strong>der</strong><br />
Erörterung die Schulwirklichkeit nicht ausgeblendet. Sie meldet sich jedoch nicht als Bericht<br />
aus dem Klassenzimmer, son<strong>der</strong>n als ständige Begleitdimension einer dadurch nur scheinbar<br />
theoretischen Erörterung.<br />
Wenn Peter Brenner am Ende festhält: „Es gibt kein Wahres im Falschen“, und die<br />
Umformung dieses Adorno-Zitats in: „Es gibt kein Gerechtes im Ungerechten“ nahe legt,<br />
dann klingt das wie Resignation. Es sollte aber als ein Zeichen <strong>der</strong> Hoffnung genommen<br />
werden, daß man getrost das Unvollkommene als Realität akzeptieren kann, weil ein<br />
Vollkommenes anscheinend nicht hergestellt werden kann. Das entbindet keineswegs von <strong>der</strong><br />
Pflicht, Verbesserungen des Unvollkommenen anzustreben. Dennoch: Gerechtigkeit ist eine<br />
Aufgabe, nicht die Realität. Der Satz heißt deshalb auch, dem Bestehenden Gerechtigkeit<br />
wi<strong>der</strong>fahren zu lassen und es sozusagen auf seinen Gerechtigkeitsgehalt zu überprüfen.<br />
Vor allem möchte Peter Brenner wohl darauf hinaus, daß man in den bildungspolitischen<br />
Diskussionen akzeptieren möge, daß die Gesellschaft die Schule prägt und nicht etwa die<br />
Schule gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen erzeugt. Die Ermöglichung von<br />
Bildungsgerechtigkeit setzt eine Verwirklichung von Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Gesellschaft voraus.<br />
Sie ist nicht <strong>der</strong>en Bedingung.<br />
Komplexes Thema<br />
Nicht nur in diesem Zusammenhang zeigt Peter Brenner, wie komplex das Thema<br />
„Bildungsgerechtigkeit“ ist und auf welch unterschiedlichen Wegen es angegangen werden<br />
kann.<br />
Die ersten Abschnitte seines Buches verwendet er auf die Untersuchung des Begriffs (S. 36-<br />
56). Schon hier zeigt sich, daß unterschiedliche philosophische Ansätze zu unterschiedlichen<br />
Auffassungen von Gerechtigkeit führen. Während dies systematische Fragen sind, hat<br />
Bildungsgerechtigkeit auch eine Geschichte, die inzwischen über 200 Jahre verläuft und<br />
unterschiedliche Ausprägungen hatte, insofern sie als eine Form <strong>der</strong> Gerechtigkeit auch<br />
zusätzlich noch den unterschiedlichen Auffassungen von Bildung und Erziehung zufolge<br />
verschiedene Gestalten angenommen hat ( S. 57-79).<br />
Dem Kundigen und dem weniger Kundigen werden in bei<strong>der</strong>lei Hinsicht (<strong>der</strong> systematischen<br />
wie <strong>der</strong> historischen) viele Hinweise gereicht, die ihm die wechselvolle Geschichte des<br />
Begriffs und seiner Realisierung (o<strong>der</strong> besser Realisierungsversuche) nahe bringen und<br />
manche historische Weichenstellung im Schulwesen beson<strong>der</strong>s konturieren und in <strong>der</strong><br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Entwicklung von Bildung und Erziehung in Deutschland verorten. Diese Darstellung hält<br />
übrigens für den am Aktionismus von Bildungspolitikern und selbsternannten pädagogischen<br />
Vordenkern Verzweifelnden den Trost parat, daß die Geschichte <strong>der</strong> Pädagogik schon immer<br />
Tendenzschwankungen nicht unerheblicher Stärke hatte und auch die<br />
Schulstrukturproblematik immer wie<strong>der</strong> aufgegriffen wurde und politisch bewältigt werden<br />
mußte.<br />
Das Buch ist auf je<strong>der</strong> Seite anregend. Es enthält vieles, dem man auch einmal geson<strong>der</strong>t<br />
nachgehen möchte.<br />
Von den Einzelthemen seien zwei herausgegriffen, die sicherlich einer Vertiefung bedürfen,<br />
obwohl <strong>der</strong> Verfasser selber schon sehr deutlich wird. Zum einen befaßt <strong>der</strong> Autor sich mit<br />
dem Thema „Inklusion“ in sehr grundsätzlicher Form (S. 80-99), zum an<strong>der</strong>en weist er auf<br />
einen bedeutungsvollen und nicht zu unterschätzenden Paradigmenwandel in <strong>der</strong><br />
bildungspolitischen Zielsetzung staatlichen Handelns hin (S. 100 ff.).<br />
Inklusion - Schonraumpädagogik/ Entlastungsstrategie und neue Ethik<br />
Die Diskussion des Themas „Inklusion“ hat sicherlich durch internationale Erklärungen und<br />
Konventionen einen beson<strong>der</strong>en Anstoß in Deutschland bekommen. Son<strong>der</strong>pädagogische<br />
För<strong>der</strong>ung ist auch ein Thema in den periodisch erscheinenden Bildungsberichten <strong>der</strong><br />
Kultusministerkonferenz.<br />
Auch bei diesem Thema gilt es, sich das vor Augen zu halten, was in dieser Hinsicht in<br />
Deutschland existiert und getan wird. Eine solche ehrliche Bestandsaufnahme gehört zu einer<br />
umfassenden Analyse, die Peter Brenner in Grundzügen vornimmt und historisch einordnet.<br />
Diese Analyse zeigt allerdings, daß es für die Erziehung von Menschen mit Behin<strong>der</strong>ungen<br />
Son<strong>der</strong>wege <strong>der</strong> Erziehung gibt, <strong>der</strong>en Charakter man mindestens als „ambivalent“ ansehen<br />
kann, nämlich sinnvoll und problematisch zugleich. Das dokumentiert übrigens auch <strong>der</strong><br />
Bildungsbericht <strong>der</strong> KMK, wenn er die Arten <strong>der</strong> Behin<strong>der</strong>tenschulen aufzählt und zugleich<br />
den gemeinsamen Unterricht als ausbaufähig markiert.<br />
Das ist aber nicht genug. Denn nach Peter Brenner zeigt sich gerade in <strong>der</strong> Betonung <strong>der</strong><br />
Fürsorge, des caritas – Aspektes, das Dilemma <strong>der</strong> Erziehung Behin<strong>der</strong>ter in beson<strong>der</strong>en<br />
Einrichtungen. Hier ereigne sich so etwas wie „Schonraumpädagogik“. Auch sorge das<br />
Schulwesen selbst für son<strong>der</strong>pädagogischen För<strong>der</strong>bedarf, wenn es sich durch Zuweisung<br />
„schwieriger Fälle“ in beson<strong>der</strong>e Einrichtungen entlaste. Es müßte gelingen, Menschen mit<br />
Behin<strong>der</strong>ungen in den gleichen Einrichtungen wie die an<strong>der</strong>en und mit diesen zusammen zu<br />
unterrichten.<br />
Brenner formuliert dies aber nicht als schöne Vision einer erst dann heilen Welt, die etwa<br />
juristisch zu erkämpfen und durch Verän<strong>der</strong>ungen in <strong>der</strong> Finanzierungspraxis administrativ<br />
durchzusetzen wäre, son<strong>der</strong>n zeigt auf, worauf es dabei ankäme:<br />
Im tiefsten Grunde geht es ihm um die Frage einer neuen Ethik im Umgang mit Behin<strong>der</strong>ten.<br />
Diese Ethik setzt an <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> pädagogischen Grenzsituation an, die durch die<br />
Anwesenheit Behin<strong>der</strong>ter im Unterricht entsteht. Das Nicht-Normale muß respektiert und,<br />
darf man hinzufügen, ausgehalten werden. Die pädagogische Grenzsituation markiert die<br />
Begegnung mit dem Menschen als Menschen, sie ist mehr und wirkt an<strong>der</strong>s als <strong>der</strong><br />
pädagogische Umgang mit Kin<strong>der</strong>n nach vorgegebenen Kriterien einer gesellschaftlichen<br />
Normierung.<br />
Indem die reformorientierte Pädagogik „vom Kinde aus“ das „gesunde und kräftige Kind“ vor<br />
Augen habe, sei sie schon ein Irrweg, <strong>der</strong> böse Folgen erzeugt habe und noch heute erzeuge -<br />
bis zu medizinischer Nachhilfe in zahllosen Fällen. Eine neue Ethik müsse ihren Maßstab am<br />
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
An<strong>der</strong>en als An<strong>der</strong>en nehmen, sonst griffen alle Neuregelungen zu kurz. Brenner beruft sich<br />
auf die philosophische Position Emmanuel Levinas`. Mit Bezug auf Levinas` Ethik des<br />
„An<strong>der</strong>en“ schreibt er: „Erst wenn es gelingt, im deutschen Bildungsdenken diese doppelte<br />
Ethik zu verankern, die die Schüler an den Kategorien <strong>der</strong> Normalität ebenso messen kann<br />
wie am Ausnahmefall <strong>der</strong> Grenzsituation, wird die Basis geschaffen sein für eine Integration<br />
behin<strong>der</strong>ter Schüler in den Regelschulen“(S. 98).<br />
Betreuungstotalitarismus – Wie weit darf <strong>der</strong> Staat gehen?<br />
Nach Peter Brenner vollzieht sich ein Wandel in <strong>der</strong> Auffassung von Erziehung, <strong>der</strong> von <strong>der</strong><br />
Hilfe zur Entwicklung einer selbständigen Persönlichkeit zu einer überbordenden<br />
Betreuungspädagogik tendiert, die den heranwachsenden wie den ausgewachsenen Menschen<br />
in ständiger Abhängigkeit hält. „Von <strong>der</strong> Lerngesellschaft zur Erziehungsgesellschaft und von<br />
dort zur Erziehungsdiktatur ist es kein weiter Weg“ (S. 120).<br />
Fazit<br />
Das Buch ist ein Plädoyer für strukturelle Vielfalt im Bildungswesen, es konstruiert aus <strong>der</strong><br />
Vergeblichkeit einer allgemeinen Theorie <strong>der</strong> Bildungsgerechtigkeit den entscheidenden<br />
Auftrag für den Alltag, nämlich in diesem – wenn auch in notgedrungen unterschiedlicher<br />
Hinsicht – gerecht zu handeln, und es gibt einen ethischen Ansatz von Pädagogik zu<br />
bedenken, <strong>der</strong> sich weniger aus <strong>der</strong> „kalten Tugend <strong>der</strong> Gerechtigkeit“ speist als aus dem<br />
Respekt vor <strong>der</strong> Würde, die vom An<strong>der</strong>en ausgeht.<br />
Setzt man diese letzte For<strong>der</strong>ung in Zusammenhang mit <strong>der</strong> gleichzeitigen Warnung vor<br />
einem Betreuungstotalitarismus des Staates, <strong>der</strong> den Einzelnen entmündigt und in<br />
fortwähren<strong>der</strong> Abhängigkeit hält, dann erkennt man, welche großen Aufgaben in Theorie und<br />
Praxis zu bewältigen sind, und es fragt sich, ob diese Anfor<strong>der</strong>ungen alle zusammen, zumal<br />
sie wi<strong>der</strong>sprüchlich zu sein scheinen, überhaupt zu bewältigen sind. Dies ist vor allem aber<br />
eine Frage an die Gesellschaft, nicht an die Schule.<br />
Kein leichtes Buch, komprimierte Gedanken, bedenkenswerte Postulate. Viel Stoff zum<br />
Nachdenken!<br />
Winfried Holzapfel<br />
Eric Selbin,<br />
Gerücht und Revolution – Von <strong>der</strong> Macht des Weitererzählens,<br />
Darmstadt, Wiss. Buchgesellschaft, 2010, übersetzt von Leandra Viola Rhoese, geb.,<br />
288 S., Bibliogr., Register, 39,90 EURO, ISBN 978-3-534-23653-4<br />
Von Louis XVI. ist die Frage an seinen Berater anläßlich des Sturms auf die Bastille<br />
überliefert „C’est une révolte?“ – und die Antwort: „Non, Sire. C’est une révolution“. Für<br />
den texanischen Politologen Eric Selbin (Georgetown) ist dieser Kurzdialog <strong>der</strong> Einstieg in<br />
eine grundsätzliche Erörterung <strong>der</strong> Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Geschichte, <strong>der</strong><br />
Wertigkeit von Überlieferung, bei <strong>der</strong> ein Historiker vor dem Gegensatzpaar „rumors“ und<br />
„records“, Historie, Anekdoten und Geschichten steht.<br />
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„Narrativer Treibsatz“<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Erzählungen und Geschichte sind nicht identisch: <strong>der</strong> Sozialwissenschaftler Eric Selbin fragt<br />
nach dem „narrativen Treibsatz“, <strong>der</strong> Geschichten von Rebellion, Revolte und Revolution zu<br />
entscheidenden Faktoren <strong>der</strong> Umgestaltung an einem bestimmten Ort und zu einem<br />
bestimmten Termin werden läßt. Der Autor identifiziert vier Archteypen von Revolutionen<br />
und erläutert sie als die Geschichte von <strong>der</strong> zivilisierenden und demokratisierenden<br />
Revolution, von <strong>der</strong> Sozialrevolution, von <strong>der</strong> Geschichte von Unabhängigkeit und <strong>Freiheit</strong><br />
sowie von „verlorenen und vergessenen Revolutionsgeschichten“. Es gelte dabei, Mittel<br />
herauszufinden, die Vergangenem einen Sinn geben, die Gegenwart erklären helfen und<br />
„Zukunft denkbar und möglich machen“. Angetrieben von neuen Technologien erzählen<br />
Zeitzeugen die Geschichte neu und schaffen Querverbindungen, um die elementare Frage<br />
nach dem „aufwühlenden Why?“ zu beantworten. Aus <strong>der</strong> Literaturwissenschaft kennen wir<br />
die intermediale Erzählforschung, die didaktisch auch im Fach für die Deutung von<br />
Geschichte genutzt wird (oral history-Projekte), in dem <strong>der</strong> Schüler nicht aus dem Konstrukt ,<br />
son<strong>der</strong>n methodisch an ihm lernt, um Fiktion und Absicht <strong>der</strong> Überlieferung zu entschlüsseln.<br />
Gerüchte, Geschichten tragen den „Stachel <strong>der</strong> Nachhaltigkeit“ in sich, um soweit konkret als<br />
Erzählungen in didaktischer Absicht als „imaginierte Geschichte“ entworfen, vom Fachlehrer<br />
wie<strong>der</strong> „dekonstruiert“ zu werden: „Wir erschaffen, verstehen und regeln unsere Welt durch<br />
die Geschichte, die wir erzählen.“<br />
„Unfinished agenda“<br />
Eric Selbin sieht in <strong>der</strong> „Historie“ nicht nur den Wissensvorrat, ein Gemisch aus Fakten und<br />
Fiktion, <strong>der</strong> Historiker als „Handwerker“ ist nicht allein <strong>der</strong> Wahrheit aus Tradition<br />
verpflichtet. Der Autor beklagt mit E. Galeano (1985) die Verarmung von Geschichte, weil<br />
vermittelte Geschichten von oben herab konstruiert, von Siegern komponiert, von Mächtigen<br />
orchestriert und für die Bevölkerung gespielt und rezitiert werden. Er plädiert für eine an<strong>der</strong>e<br />
Geschichte, in <strong>der</strong> Wahrnehmung des Menschen wurzelnd, sich kontinuierlich entwickelnd<br />
und aus <strong>der</strong> Lebenswelt <strong>der</strong> Zeitgenossen erschließend: in Formen <strong>der</strong> refragatio, rebellio et<br />
revolutio – aus Wi<strong>der</strong>stand, Rebellion und Revolution(en), bei denen es um Leidenschaft,<br />
große Opferbereitschaft und Durchsetzung von Prinzipien gehe. Er versteht seine Publikation<br />
als „Reiseführer“ durch Revolutionsgeschichten. Er sieht die Methode <strong>der</strong> narratio als<br />
separates Element und konstitutive Komponente <strong>der</strong> Geschichte und nutzt heuristisch Mythos,<br />
Erinnerung und Mimesis als Triebkräfte <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung: für den „Aufstand <strong>der</strong> Anekdoten“<br />
versucht er, universale Gesetzmäßigkeiten in einer Art Feldtheorie zu erfassen (Kap. 3), erfaßt<br />
in vier Schritten Revolutionstypen (Kap. 4 mit 7), erörtert die fragile, wenn auch hartnäckig<br />
verlorene und vergessene Revolutionsgeschichte (Kap. 8), um abschließend Revolutionen als<br />
die „Grundform soziopolitischen Kampfes“ und Werkzeug für die Gestaltung von Zukunft,<br />
als Katalysator für die Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Welt mit einer „unfinished agenda“ zu behandeln<br />
(Kap. 9). Zeitlich erfaßt <strong>der</strong> Autor Entwicklungen im alten Europa von <strong>der</strong> frühen Neuzeit bis<br />
ins 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, er lenkt zudem den Blick auf Mittel- und Südamerika: das Titelbild zeigt<br />
protestierende Studenten in Teheran (1999) – Erkenntnisse aus dem Band sind angesichts<br />
brisanter Ereignisse zwischen Algerien, Ägypten und dem Jemen höchst aktuell.<br />
Willi Eisele<br />
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44<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
„Stop à l’arnaque du bac!“ – Stopp dem Abi-Schwindel (2007)<br />
Jean-Robert Pitte (*12.08.1949, Präsident <strong>der</strong> Sorbonne, Paris)<br />
Akademische Qualität aus Tradition: Jean-Robert Pitte, Historiker und Geograph, Präsident<br />
<strong>der</strong> ältesten Universität Frankreichs (Sorbonne, Paris, gegr. 1253), kämpft seit 1997<br />
(Vizepräsident mit Reformauftrag) gegen die Massenuniversität (ca. 40 000 Studenten) im<br />
Zentrum <strong>der</strong> französischen Hauptstadt, <strong>der</strong>en Tradition auch zur Mythenbildung geführt hat:<br />
Wer das Abitur hat, darf ohne Aufnahmeprüfung studieren. Seine Hochschullehrer sehen den<br />
Reformbedarf nicht in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung durch Kommunikationstechnologie - „power<br />
point-Präsentationen sind verpönt“ (vgl. Jan Philipp Burgard, 2007) - , son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong><br />
Herstellung von Effektivität des Lehrbetriebs und in <strong>der</strong> Reduzierung <strong>der</strong> „natürlichen<br />
Selektionsrate“ im ersten Studienjahr, in dem 50% <strong>der</strong> Studenten wegen mangeln<strong>der</strong><br />
Voraussetzungen scheitern, im Fach Medizin sogar 90%.<br />
Jean-Robert Pittes Streitschrift mit Zielrichtung <strong>der</strong> Schul- und Hochschulpolitik trägt den<br />
Titel „Stopp dem Abi-Schwindel!“ (2007) – die künftigen Studenten versuchte er mit einem<br />
Appell wachzurütteln „Jeunes, on vous ment ! – Junge Leute, man betrügt Euch !“ (2006).<br />
Seine Position richtet sich im Kern gegen das immer mehr verwässerte Zentralabitur, das seit<br />
<strong>der</strong> Französischen Revolution den Anspruch des Staatszentralismus im Bildungsbereich<br />
verkörpert: Wer in Frankreich von <strong>der</strong> Normandie nach Marseilles versetzt wird, profitiert zu-<br />
nächst von zentralen Unterrichtsvorschriften, einem Schulbuchmanagement, das den Schüler<br />
punktgenau weiterlernen läßt, einem seit Jahren „demokratisierten Bildungsniveau“. Der<br />
Katzenjammer folgt dem Zentralabitur. Daher for<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Präsident <strong>der</strong> Renommé-<br />
Universität:<br />
„Wir dürfen keine Abi-Zeugnisse mehr akzeptieren, die gerade einmal für eine Ausbildung<br />
zum Tischler qualifizieren. Wenn die Erfolgsaussichten (in einem Studienfach) erkennbar<br />
gleich Null sind, dürfen wir in Zukunft nicht zögern, dies den Kandidaten unverblümt zu<br />
sagen.“<br />
Seine zentralen For<strong>der</strong>ungen lauten demnach: Jährliche fachbezogene Studiengebühren ab<br />
3500 Euro (vgl. Universität Chicago 65000 Euro), strenge Auswahlkriterien vor <strong>der</strong><br />
Aufnahme eines Studiums, denn „on ne peut pas continuer à laisser n’importe quel étudiant<br />
faire n’importe quelles études – c’est totalement absurde et démagogique“ und „on ne peut<br />
pas non plus abaisser le niveau simplement pour leur faire plaisir“ (Interview,<br />
« Linternaute », 27.02. <strong>2011</strong>). Unter dem Vorzeichen größerer ( !) Autonomie sollen die<br />
Universitäten dies auch umsetzen – im Schulterschluß mit den Schulen des Sekundarbereichs.<br />
Das Ziel <strong>der</strong> Schul- und Universitätsreformen sollten nicht private angloamerikanische<br />
Vorbil<strong>der</strong>, son<strong>der</strong>n asiatische Vorbil<strong>der</strong> wie Shanghai sein.<br />
Um den Auslandsstudenten <strong>der</strong> Sorbonne, Jan-Philipp Burgard, nochmals ins Spiel zu<br />
bringen: Er erwähnt in seinem Bericht einen handschriftlichen Aushang eines ehemaligen<br />
Studenten <strong>der</strong> Sorbonne: „Profitez-bien de vos études, après, c’est dur! Un ancien, qui<br />
regrette. – Nutzt Eure Zeit zum Lernen, danach wird es hart! – Ein Ehemaliger, <strong>der</strong> bereut.“<br />
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I/<strong>2011</strong>
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freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online – <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
<strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Auch hierzulande ist in diesem Politikfeld Realismus angesagt – zum Wohl unserer<br />
Abiturienten, bevor <strong>der</strong> Watschenbaum in Landtags- und <strong>Bund</strong>estagswahlen umfällt. Denn:<br />
Einsicht in die Not schafft endlich Wendigkeit.<br />
Willi Eisele<br />
Bücher auf einen Blick<br />
Hans Maier, Böse Jahre, gute Jahre (s. im Anschluß an Forumsbericht)<br />
Julian Nida-Rümelin/Klaus Kufeld, Die Gegenwart <strong>der</strong> Utopie: Zeitkritik und Denkwende<br />
(s. im Anschluß an Forumsbericht)<br />
Dietmar Klenke, Bachelor-Mephisto-Ballade(s. im Anschluß an Forumsbericht)<br />
Herrmann Giesecke, Pädagogik als Beruf (s. im Anschluß an seinen Artikel)<br />
Peter J. Brenner: Bildungsgerechtigkeit (s. Bücherrevue)<br />
Eric Selbin, Gerücht und Revolution (s. Bücherrevue)<br />
Jean-Robert Pitte, Stop a`larnac du bac! (s. Bücherrevue)<br />
Bildung, Bolognaprozeß und Integration in <strong>der</strong> Diskussion (Hg. Hamid Reza Yousefi),<br />
Nordhausen <strong>2011</strong>. Darin: Marius Reiser: Standardisierung und Kultur im ´Bologna`-<br />
Zeitalter.<br />
Impressum<br />
freiheit <strong>der</strong> wissenschaft online (web-fdw) Nr. 1, <strong>April</strong> <strong>2011</strong><br />
Zeitschrift des <strong>Bund</strong>es <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Für unaufgefor<strong>der</strong>t eingesandte Beiträge (Manuskripte, Zeichnungen, Fotos etc.) übernimmt<br />
<strong>der</strong> Empfänger keine Haftung.<br />
Abdruck ist mit Quellenangabe gestattet.<br />
*<br />
Die mit Namen gekennzeichneten Beiträge stellen die persönlich Meinung des Verfassers dar.<br />
Sie müssen nicht unbedingt mit <strong>der</strong> Ansicht von Herausgeber und Redaktion übereinstimmen.<br />
Zuschriften und Stellungnahmen zu Themen und Artikeln dieser Zeitschrift sind willkommen.<br />
Wie<strong>der</strong>gabe und redaktionelle Kürzungen bleiben <strong>der</strong> Redaktion vorbehalten.<br />
Herausgeber: <strong>Bund</strong> <strong>Freiheit</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />
Redaktion: Dr. Winfried Holzapfel<br />
Kontakt: website/webmaster<br />
Internetauftritt: http://www.bund-freiheit-<strong>der</strong>-wissenschaft.de<br />
Bankverbindung: Deutsche Bank AG, Bonn (BLZ 38070024), Kto. 0233858<br />
Spenden willkommen<br />
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I/<strong>2011</strong>