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Band I/ 2013 (6,7mb) - critica – zeitschrift für philosophie ...

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Tatsache, dass es zwei große Mordfälle innerhalb<br />

der europäischen Geistesgeschichte gab, die mithin<br />

auch unsere kulturell erhöhte Sensibilität <strong>für</strong><br />

mordende Gewalt, auf die Reemtsma hinweist, 21<br />

mit bedingt haben: Sokrates und Christi Hinrichtung,<br />

fällt der Unterschied zwischen blutigem und<br />

unblutigem Mord, profaner Justizvollstreckung<br />

und kultischem Opfer auf. Sokrates´ Tod war<br />

kein kultisches Opfer, sondern ein Justizirrtum<br />

basierend auf einer falschen Anklage; aber Christi<br />

Hinrichtung war ein Opfer. Als Sokrates den<br />

Giftbecher leerte, erzählt uns Plato, beschrieb er<br />

seinen Schülern gelassen die sedierende Wirkung<br />

des Schierlings, der als Nervengift allmählich seine<br />

Beine lähmte. 22 Christus Hinrichtung hingegen<br />

war in Blut getaucht, wie alle mit diesem Motiv<br />

befassten Künstler einräumen. Diese Erzähltatsache<br />

der blutigen Hinrichtung wirkt sich auf die<br />

christliche Ikonographie und deren Suggestivwirkung<br />

<strong>–</strong> bis heute <strong>–</strong> aus.<br />

Sterbende Natur <strong>–</strong> Körper als Projektionsfläche von Gewalt<br />

Die Suggestivwirkung von Blut in der Kunst<br />

hat psychologische Gründe, die bereits in frühen<br />

Studien zur Kulturgeschichte der Menschheit<br />

untersucht wurden. „Ob Blut oder Sperma,<br />

ein jedes Ausfließen der eigenen Substanz wirkt<br />

beunruhigend“, 23 schreibt Simone de Beauvoir,<br />

und sie weist so darauf hin, dass der Verlust von<br />

Körperflüssigkeiten als Verlust „der eigenen Substanz“<br />

eine Todesnähe evoziert (stärker als es jedes<br />

artifizielle Ersatzmedium wie Tinte tun könnte).<br />

Als „eigene Substanz“ werden vornehmlich Blut<br />

und Sperma verstanden, ihr Verlust evoziere Verletzlichkeit,<br />

sie selbst gälten als eine Art Stigma<br />

und Androhung des Todes. 24 Dass Augustinus, wie<br />

21 zur Sensibilität bezüglich der Mordgewalt in<br />

Europa vgl. Reemtsma, a.a.O. , S. 119: „Unsere Kultur<br />

hat gravierende Probleme, mit dem Phänomen der<br />

autotelischen Gewalt umzugehen.“ <strong>–</strong> „Autotelisch“<br />

bedeutet Mordgewalt (A.d.A.).<br />

22 Platon, Sämtliche Werke. <strong>Band</strong> 1, Berlin [1940], S. 37-<br />

55.<br />

23 S. de Beauvoir, Das andere Geschlecht, Paris 1945, S.<br />

217.<br />

24 Ausscheidungen von ableitenden<br />

Körperflüssigkeiten werden nicht unbedingt mit<br />

Machtverlust, sondern oft mit Machtgewinn<br />

I | 13 CRITICA<strong>–</strong>ZPK<br />

36<br />

de Beauvoir berichtet, voll Abscheu die relative<br />

Nähe von Ausscheidungs- und Sexualorganen beschreibt<br />

(„inter faeces et urinam nascimur“) und<br />

auch die ersten Kirchenväter wie Origines, Tertullian<br />

und Hieronymus ein Problem damit hatten, zu<br />

entscheiden, ob die heilige Jungfrau Jesus in Blut<br />

geboren hat wie jede Frau, 25 ein Paradox, das William<br />

Butler Yeats noch in seiner Spekulation über<br />

Gott beschäftigt: „God has placed his mansion in<br />

the house of excrement“, 26 zeigt die traditionsreiche<br />

Vergangenheit von Körperausscheidungen<br />

in ihrer Interpretation als Stigma des Menschlichen.<br />

Blut gilt nicht nur als unmittelbares Signifikat<br />

des Menschlichen und somit der menschlichen<br />

Geburt, sondern auch als Darstellungsmodus<br />

des principium individuationis, welches in der nietzscheanischen<br />

Kunsttheorie als Gegenspieler des<br />

Dionysischen auftritt. Wo Blut vergossen wird,<br />

wird der Einzelne als solcher geopfert. Christus´<br />

Hinrichtung am Kreuz ist ein blutiger Ritualmord,<br />

ein versöhnendes Opfer. Das Christentum ist folglich<br />

eine Religion, die in unbestreitbarer Weise in<br />

der Gewalt des Heiligen gründet. Was Nerval im<br />

Gedicht „Le christe aux oliviers“ andeutet, ist eine<br />

Krise des Todgeweihten, die der eigentlichen Opferung<br />

vorangeht, ein Wissen des Todgeweihten,<br />

der die autotelische Gewalt des Heiligen schon antizipiert<br />

und ihr nicht ausweichen kann, denn das<br />

Überleben wäre undenkbar. Agamben thematisiert<br />

das Überleben des Todgeweihten, das <strong>für</strong> jede<br />

archaische, rituelle Gemeinschaft ein komplexes<br />

Problem darstellte und ihre Stabilität bedrohte. 27<br />

Wenn der Todgeweihte, das Opfer, überlebte, war<br />

die ganze Gemeinschaft bedroht, in traditioneller<br />

Rhetorik durch den Zorn der Götter, systemisch<br />

durch die Bedrohung der Ordnung. Das Vergießen<br />

des Blutes Christi ist in der Logik des Opferkultes<br />

eine Unausweichlichkeit und zugleich eine<br />

assoziiert. Simone de Beauvoir erinnert mit<br />

Erwähnung der psychoanalytischen Arbeiten der<br />

frühen Psychoanalytikerin Karen Horney daran, dass<br />

Allmachtfantasien, vor allem sadistischer Art, gern<br />

mit dem Urinstrahl assoziiert werden (ebenda, S. 341).<br />

25 mit Bezug auf vorbenannte patristische Autoren<br />

wie Augustinus umfänglich bei S. de Beauvoir, a.a.O. ,<br />

S. 225.<br />

26 W. B. Yeats, Crazy Jane talking to the bishop (1933).<br />

27 G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das<br />

nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 107.

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