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Schüler schreiben zu Brigitte Reimann - des Friedrich-Bödecker ...

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Kindsein in Sachsen-Anhalt 2012<br />

Roland-Gymnasium, Burg<br />

<strong>Schüler</strong> <strong>schreiben</strong> <strong>zu</strong> <strong>Brigitte</strong> <strong>Reimann</strong><br />

angeregt durch ihr Leben, Werk und Wirken<br />

1


<strong>Brigitte</strong> <strong>Reimann</strong><br />

aus „Franziska Linkerhand“<br />

1.<br />

Ach Ben, Ben, wo bist du vor einem Jahr gewesen, wo vor drei<br />

Jahren? Welche Straße bist du gegangen, in welchen Flüssen hast<br />

du gebadet, mit welchen Frauen geschlafen? Wiederholst du nur<br />

eine geübte Geste, wenn du mein Ohr küsst oder die Armbeuge?<br />

Ich bin verrückt vor Eifersucht … Die Gegenwart macht mir nicht<br />

angst … aber deine Erinnerungen, gegen die ich mich nicht wehren<br />

kann, die Bilder in deinem Kopf, die ich nicht sehen kann,<br />

ein Schmerz, den ich nicht geteilt habe ... Ich möchte mein Leben<br />

verdreifachen, um nach<strong>zu</strong>holen, die lange lange Zeit, als es dich<br />

nicht gab.<br />

Mein Schreck, als du sagtest, du hast vor zwölf Jahren einmal in<br />

unserer Stadt, im Wartesaal gesessen… und ich hundert Meter<br />

davon, in der Schule – und hätte ich nicht auf dem Bahnsteig<br />

stehen, hätte ich dir nicht damals schon, kostbare zwölf Jahre<br />

früher, begegnen können? Ach, du hättest mich übersehen, ich<br />

war in der neunten Klasse und wahnsinnig hässlich, nur Haare<br />

und Knochen, ich war unschuldig und <strong>zu</strong>m ersten Mal verliebt …<br />

nicht in dich. Und sieben oder acht Jahre später, wieder auf der<br />

Durchreise, bist du über den Altmarkt spaziert, mit deiner Frau –<br />

im Juli, nicht wahr, wir hatten Semesterferien –, und du warst nur<br />

eins von den bunten Figürchen, die ich unter dem Gerüst, fünf<br />

Stockwerke tiefer, herumwimmeln sah …<br />

Wo warst du, als ich <strong>zu</strong>m Examen gerufen wurde und vor Angst<br />

beinah starb? Warum hast du nicht meine Hand gehalten, damals<br />

im Korridor der Uni? Warum hast nicht du an meinem Bett gesessen,<br />

wenn ich krank war? Warum hast nicht du mit mir getanzt,<br />

abends in der Mensa – eine niedrige Baracke, heiß, verraucht,<br />

2


Rock ‚n‘ Roll vom Tonband und die Stimme von Elvis dem Hüftenschaukler<br />

– und aus einer Bierflasche mit mir getrunken? Irgendein<br />

anderer, ich weiß nicht mehr sein Gesicht… Es ist ungerecht,<br />

Ben, so lange ohne dich, ohne deinen Mund, und ohne<br />

deine kleine harte Hand, die du mir beim Gehen in den Nacken<br />

legst… Allein in den hundert Nächten, am Fenster <strong>zu</strong>m Park, der<br />

über einem Massengrab blühte, und die anderen in alle Winde<br />

verstreut: meine Eltern über die Grenze, die Große Alte Dame tot,<br />

Wilhelm in Dubna, irgendwo hinter Moskau, und dieser Mann<br />

in einer Kneipe, vielleicht bei einem Mädchen, was weiß ich…<br />

Und wo warst du, damals im Mai – Kirschbäume, die Landstraße<br />

unter der Sonne – am letzten Kriegstag, als die Russen kamen?…<br />

Gegen Morgen fielen Schüsse im Nachbargarten. Wilhelm fand<br />

die Toten, auf dem Rasen ausgelegt, zwei Kinder, die puppenhafte<br />

Frau und den Oberingenieur. Pettinger war ein netter, dicklicher<br />

junger Mann gewesen, der Uniformen verabscheute und wie eine<br />

Uniform seine Kickerbocker, blassgestreiftes Hemd und Schmetterlingskrawatte<br />

trug und jeden Morgen mit strammen Waden<br />

<strong>zu</strong>m Walzwerk radelte – es lag außerhalb der Stadt, unter Kiefern<br />

und Tarnnetzen, Tochterbetrieb eines rheinischen Stahlkonzerns<br />

–, und Wilhelm hätte geschworen, dass dieser angenehmen Nachbar,<br />

der zärtliche Vater seiner zwitschernden Vogelfamilie, nicht<br />

einmal wusste, wie man eine Pistole hält.<br />

Über die Stirn <strong>des</strong> kleinen Mädchens wimmelten schwarze Ameisen,<br />

die Kirschbäume blühten wie toll, und die Luft war von dem<br />

tiefen, aufgeregten Summen der Bienen erfüllt. (Letzte Woche<br />

hatte eine Luftmine den Bunker am Bahnhof <strong>zu</strong>sammengedrückt;<br />

sie arbeiteten in Gummihandschuhen und dumpf betrunken, und<br />

hinter dem ersten Durchbruch stürzte ihnen ein Katarakt von Leichen<br />

entgegen, und Wilhelm wurde übel, bloß vom Schnaps, sagte<br />

er.) Er drehte die Frau herum, die mit auseinandergeworfenen<br />

Armen über dem Säugling lag.<br />

3


Seine Schwester wand sich wie ein Iltis durch die Zaunlatten.<br />

„Hau ab!“ schrie Willem, er packte sie an Armen und Beinen<br />

und warf sie über den Gartenzaun, und sie vierfüßig durchs Gras<br />

und beschimpfte ihn, aus sicherer Entfernung, mit ihrer schrillen<br />

Kleinmädchenstimme.<br />

Mittags dröhnte wieder die Artillerie, und Frau Linkerhand,<br />

in einem nonnenhaften Kleid aus handgewebtem Leinen, den<br />

Haarknoten tief im Nacken, irrte durch das Haus und betete laut.<br />

Sie atmete ergeben den armen Leutegeruch in der Diele. Ein Kind<br />

wimmerte, hinter der offenen Küchentür stritten die Flüchtlingsfrauen<br />

um einen Kochtopf, und das Treppenhaus hallte wider von<br />

Gezänk und schlesischen Schimpfworten.<br />

Im Blauen Zimmer stand Wilhelm am Fenster, er blickte durch<br />

die Spalten der Jalousie, deren Lichtbänder sein Gesicht, den<br />

blauen Teppich, die honiggelben Möbel tigerten: Seine struppige<br />

braune Schwester knetete im Sandkasten ein wunderliches Märchenschloss<br />

mit Zinnen, Türmen und hochbogigen Fenstern, sie<br />

hockte auf den Fersen, manchmal heulte eine Granate über den<br />

Himmel, naher Sensenpfiff, ihr Oberkörper knickte nach vorn,<br />

und Willem lachte über das listige Tierchen, das sich tot stellte,<br />

bis der schmetternde Schlag, irgendwo in den Ruinen der Innenstadt,<br />

signalisierte, dass die Gefahr vorüber war. Das Spiel<br />

wiederholte sich, Verneigung unter dem jaulenden Bogen, Auftauchen,<br />

immer mit der Miene ernsten Eifers; Stehaufmännchen,<br />

dachte Wilhelm, die Kleine ist richtig; schließlich verdross ihn ihr<br />

unerschrockenes Gesicht: sie war unwissend wie ein Märzhase,<br />

der den rauschenden Schatten überm Feld nicht Bussard nennt.<br />

Er schrie hinter der Jalousie: „Du kommst sofort ins Haus!“<br />

Franziska pflanzte einen Wald aus Schachtelhalmen… die<br />

schönsten kleinen Fichtenbäume, Ben, aber das weißt du wohl<br />

nicht mehr, wahrscheinlich hast du nie in einem Garten gespielt,<br />

überhaupt, Berlin und Hinterhof – aber dafür weißt du natürlich<br />

4


alles über Schachtelhalms große Zeiten im Tertiär oder Jura und<br />

über die Umweltbedingungen für Saurier, und das ist sicher auch<br />

sehr nützlich… sie pflanzte einen Wald unter den Burgmauern<br />

und wedelte beschwichtigend mit den nassen schmutzigen Pfoten.<br />

Wilhelms brüderliche, auf schnelle Ohrfeigen gegründete<br />

Autorität wankte; seit er eines Nachts aus der Stadt <strong>zu</strong>rückgekommen<br />

war, mit versenktem Haar, wimpernlos, im zerfetzten<br />

braunen Hemd ohne Hakenkreuz, war er laut, lästig und zerstreut<br />

wie alle Erwachsenen, die Franziska bald wegschickten und für<br />

einen halben Tag vergaßen, bald unter Geschrei nach hier suchten,<br />

sie an sich rissen und abküssten.<br />

<strong>Reimann</strong> Spaziergang durch Burg<br />

5


Mirjam Mittendorf<br />

Ich bin auf der Suche – auf der Suche nach jemanden, der immer<br />

da ist, mich versteht und mich niemals loslässt.<br />

Wenn du da wärst, wenn ich am Verzweifeln bin und keinen Ausweg<br />

weiß, in dem harten und so beschwerlichem, niemals enden<br />

wollenden Alltag. In der Schule, ja wo bist du? Ich suche dich.<br />

Wartest du schon, um mich <strong>zu</strong> trösten und auf<strong>zu</strong>fangen, wenn mir<br />

der Boden unter der Last <strong>zu</strong>sammenbricht? Ganz gleich, ob ich<br />

mich über eine Zensur aufrege oder mit zittriger Stimme einen<br />

Vortrag halte. Ich hätte dich so gern bei mir, hoffe, dass du mich<br />

hältst, mir einen aufmunternden Blick <strong>zu</strong>wirfst. Ich sitze hier, suche<br />

deine Hand. Ich habe Angst ohne sie. Wirst du mich jemals<br />

finden – oder ich dich?<br />

Ich brauche dich, komm her! Zusammen sind wir stark, du gibst<br />

mir Selbstbewusstsein, ein Gefühl, das ich bis dahin nicht kannte.<br />

Unter den Blicken meiner Mitschüler fühle ich mich klein, hilflos.<br />

Sie sind anders als ich – auch als Du? Ich glaube es, denn du<br />

bist die starke Seite an mir – gleich und doch anders.<br />

Du kennst meine Gefühle, ohne dass ich sie <strong>zu</strong>gebe, weißt, wenn<br />

es mir so schlecht geht, dass ich keine Hoffnung mehr habe. Allein<br />

wenn du kommst, ist sie <strong>zu</strong>rück. Du bist ein Teil von mir, ich<br />

wünsche dich heraus.<br />

6


Anne Merten<br />

Ben<br />

Ich habe Ben schon gefunden. Letzten Sommer traf ich ihn in<br />

Hannover. Schon auf den ersten Blick verstanden wir uns. Aus einem<br />

kurzen Fünf-Minuten- Gespräch wurden dann fünfundzwanzig<br />

Minuten. Adressen wurden ausgetauscht. Briefe und Karten<br />

folgten. Doch jetzt?<br />

Er ist in seiner Heimat und ich muss hier mit dem Alltag kämpfen.<br />

Benjamin. Jeden Tag stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn er<br />

neben mir stehen würde. Alles miterleben könnte. Am meisten<br />

würde ich mich freuen, wenn er mich <strong>zu</strong>m Abschlussball begleiten<br />

könnte. Ob er wohl lächeln würde, wenn er mich sieht? Mich<br />

vielleicht auch in den Arm nehmen? Es würde ein schöner Abend<br />

werden. Wir würden uns <strong>zu</strong>sammensetzen über unsere Interessen<br />

diskutieren. Er würde von der Magie sprechen, die jeder hat. Ich<br />

würde <strong>zu</strong>stimmen, lächeln und dann fragen, was er an Magie besitzt.<br />

An diesem Abend würde ich über mich selbst hinauswachsen,<br />

doch da<strong>zu</strong> müsste Ben da sein. Er müsste die Entfernung<br />

überwinden und <strong>zu</strong> mir kommen, aber ich weiß, dass er das nicht<br />

kann. Die Strecke zwischen ihm und mir ist einfach <strong>zu</strong> groß. Deswegen<br />

wird mir nichts anderes übrig bleiben, als an ihn <strong>zu</strong> denken,<br />

dann ihm <strong>zu</strong> <strong>schreiben</strong>, wie es war, dass er gefehlt hat, um<br />

den Abend perfekt <strong>zu</strong> machen und ihm einige Fotos schicken.<br />

Dann, wenn wir uns wiedersehen, werden wir uns in die Arme<br />

fallen, über die Welt und uns erzählen und einfach glücklich sein.<br />

Wir werden am Strand der Nordsee entlangspazieren, Hand in<br />

Hand und uns den Sonnenuntergang ansehen. Das liegt noch in<br />

weiter Ferne und ich fürchte, dass die Zeit für mich <strong>zu</strong> langsam<br />

vergehen wird. Denn, wir werden uns wiedersehen, egal wann<br />

und wo, aber wir werden uns wiedersehen.<br />

7


Johanna Lehmann, 9/2<br />

Ach Ben...Ben, wo bist du?<br />

Sag es mir, sag mir wo du dich aufhältst. Gib mir einen Hinweis,<br />

einen kleinen Hinweis und ich werde dich, das kannst du mir<br />

glauben, finden. Wenn ich doch nur wüsste, wie du aussiehst...<br />

Groß und muskulös? Oder etwa klein und dicklich? Ach, es würde<br />

ja doch keine Rolle spielen. Könnte ich nur erraten, an welchen<br />

Orten du verweilst...Vielleicht im Stadtpark, wo wir, mang<br />

den blattreichen, schattenbietenden Bäumen, auf einer Decke liegen,<br />

und du, neben mir. Oder bist du doch am großen, ruhigen<br />

See unserer sonst so lauten Stadt? Am See. Nur wir beide. Stille.<br />

Liebe. Wie gut stelle ich es mir vor, wie wunderbar, wenn du in<br />

all den Situationen da wärst, in denen ich verzweifle und mir mit<br />

ruhiger, sanfter Stimme Mut <strong>zu</strong>reden könntest. Etwa, wenn ich<br />

nach einem Streit deine Schulter und deine Geduld brauche oder<br />

wenn mir gar so schlecht <strong>zu</strong>mute ist, dass ich vor lauter Selbstmitleid<br />

selbst nicht mehr weiß, wohin mit mir... Wie schön wäre<br />

es, mit dir <strong>zu</strong> reden, nur mit dir. Über dich. Über mich. Über uns.<br />

Eine ganze Welt möchte ich mit dir, und nur mit dir, teilen. Empfin<strong>des</strong>t<br />

du nicht auch diese schmerzende Sehnsucht, diese unbeschreibliche<br />

Liebe, die uns verbindet? Sag mir, wo du bist und<br />

ich werde kommen und dir diese Frage stellen. Meine Antwort<br />

kennst du ja...<br />

8


Gina Göring<br />

Oh Ben wo bist du nur?<br />

Es ist ein eigenartiges Gefühl, aber meine Gedanken kreisen ständig<br />

um dich. Sei es in der Schule oder <strong>zu</strong> Hause. Ich wünschte<br />

du wärst hier, könntest mir helfen und genauso handeln wie ich.<br />

Manchmal ist es schwer Entscheidungen <strong>zu</strong> treffen, alle erwarten<br />

etwas von dir und du darfst niemanden mit deinen Worten verletzen.<br />

Ich versuche immer den richtigen Weg <strong>zu</strong> finden, mich in die<br />

Lage <strong>des</strong> anderen hinein<strong>zu</strong>versetzen und nie etwas Falsches <strong>zu</strong><br />

sagen. Du wärest mir wirklich eine große Stütze, wenn du mir in<br />

solchen Momenten beistehen könntest.<br />

Natürlich habe ich gute Freunde und eine Familie, die mich immer<br />

unterstüzt, dennoch fühle ich mich manchmal ganz klein in<br />

der Welt. Kennst du das Gefühl? Manchmal bist du selbst der<br />

Pfosten, der dir den Weg versperrt. In einigen Situationen würde<br />

ich gerne wissen, wie du denkst und wie deine Sicht auf die<br />

Dinge ist. Das Leben kann toll und aufregend sein, aber auch gemein.<br />

Deshalb hoffe ich, dass du mich verstehst und mir auch in<br />

Zukunft weiterhelfen wirst.<br />

9


Claudia Zens<br />

Ich bin auf der Suche - auf der Suche nach dem einen. Dem, der<br />

mit mir lacht, mit mir weint, meine Macken versteht, mit mir<br />

fühlt.<br />

Doch dieses Suchen - ist dies nicht der eigentliche Sinn <strong>des</strong> Lebens?<br />

Der Weg ist das Ziel, so ein altes Sprichwort. Kann man<br />

jenes nicht auch auf diese Tatsachen beziehen? Die Suche ist das<br />

Ziel.<br />

Ich suche nach Verständnis. Nach dem Sinn <strong>des</strong> Lebens. Worin<br />

liegt er? Warum existieren wir? Ich denke, dass es in der Suche<br />

<strong>zu</strong> finden ist.<br />

Das ganze Leben besteht daraus. Ständig suche ich nach dem<br />

richtigen, auch wenn ich es manchmal vergesse, wenn ich durch<br />

andere Dinge abgelenkt bin. Doch ganz verliere ich den Faden<br />

nie.<br />

Schließlich kann ich den Sinn meiner Existenz nicht vergessen.<br />

Denn das wäre wahrlich schlecht.<br />

Erst, wenn ich mich direkt darauf konzentriere, fällt mir auf, dass<br />

ich darauf ausgerichtet bin, <strong>zu</strong> suchen.<br />

Doch alles suchen ist hoffnungslos, wenn ich nichts finde. Denn<br />

darin liegt die eigentliche Schwierigkeit.<br />

Denn wenn ich gefunden habe, dann ist diese Suche vorerst beendet.<br />

Erst, wenn ich genug habe, wenn ich der Dinge müde<br />

geworden bin, such ich nach einem neuen Ziel.<br />

Und beginne erneut <strong>zu</strong> suchen.<br />

10


Estelle Dominé<br />

Manchmal wünsche ich mir jemanden, jemanden der mich unterstützt<br />

und ehrlich seine Meinung sagt. Wenn ich vor einer schweren<br />

Entscheidung stehe, gibt er mir einen Rat. Oft tröstet er mich<br />

und hört mir <strong>zu</strong>. Nie ist er überheblich, egoistisch oder gekünstelt.<br />

Oft bringt er mich <strong>zu</strong>m Lachen, aber auch <strong>zu</strong>m Nachdenken.<br />

Trotz allem streiten wir uns hin und wieder, denn nicht immer bin<br />

ich ehrlich <strong>zu</strong> mir selbst – er schon. Doch beleidigt ist er niemals,<br />

er ist jederzeit offen für meine Sichtweise. Er kennt mich genau,<br />

alle meine Ecken und Kanten. Egal was passiert, er ist immer da.<br />

11


<strong>Brigitte</strong> <strong>Reimann</strong><br />

Aus „Geschwister“<br />

1.<br />

Als ich <strong>zu</strong>r Tür ging, drehte sich alles in mir.<br />

Er sagte: „Das vergesse ich dir nicht.“ Es stand gerade und ohne<br />

Bewegung mitten im Zimmer, er sagte mit einer kalten, trockenen<br />

Stimme: „Das werde ich dir nicht verzeihen.“<br />

Ich fand die Klinke, und draußen im Korridor hielt ich mich eine<br />

Weile an der Klinke fest, während ich auf seine Stimme wartete,<br />

auf einen Fluch oder darauf, dass er seinen Schuh gegen die Türe<br />

warf.<br />

Früher hatte er mit den Schuhen nach mir geworfen, wenn wir<br />

uns zankten, oder sogar mit einer Vase, und einmal, als ich ihn auf<br />

dem Balkon aussperrte, schlug er mit der Faust in die Glasscheibe.<br />

Damals, weit <strong>zu</strong>rück, war er sehr jähzornig, und manchmal<br />

fürchtete ich mich vor ihm; jetzt wäre mir sein Jähzorn aber lieber<br />

gewesen als diese kalte, trocken Ruhe.<br />

Ein paar Minuten lang blieb ich im Korridor stehen. Durch das<br />

offene Fenster sah ich die feuchten Äste <strong>des</strong> Nussbaums vom<br />

Haus und die krausen Blattspitzen. Im Sommer wölben sich die<br />

Zweige dunkelgrün und schwer über die Treppe, und die Blätter<br />

ticken ans Fenster, wenn der Wind geht. Heute ist der Dienstag<br />

nach Ostern; die Forsythien sind schon verblüht. Morgen wäre<br />

Ulli abgereist.<br />

Es blieb still im Zimmer, und schließlich ging ich auf Zehenspitzen<br />

<strong>zu</strong>r Küche, auf dem roten Kokosläufer – solange ich <strong>zu</strong>rückdenken<br />

kann, liegt ein roter Kokosläufer im Korridor, alle vier<br />

oder fünf Jahre ein neuer, nur in den Jahren nach dem Krieg war<br />

er schäbig und grau und abgetreten. An den Wänden hängen auch<br />

immer noch dieselben Drucke, Liebermann und Leibl; die Landschaften<br />

van Goghs, die ich meinen Eltern geschenkt habe, liegen<br />

14


in einer Schreibtischschublade unter den alten Schulzeugnissen<br />

und den säuberlich abgeheftet Briefen und Postkarten, die wir<br />

während unserer Studienzeit schrieben.<br />

In der Küche setzte ich mich auf das Schuhschränken, und als<br />

sich eine Zigarette anzündete, sah ich, wie meine Hände zitterten.<br />

Ich glaube, ich hatte nicht erwartet, dass Ulli so reagieren<br />

würde, und ich fragte mich, ob ich überhaupt etwas erwartet oder<br />

vorausberechnet hatte, als ich heute morgen <strong>zu</strong> Joachim hinüberlief,<br />

nur über die Straße, über den gepflasterten Hof und die enge,<br />

düstere, mit Messingleisten beschlagene Treppe hinauf. Er wohnt<br />

schräg gegenüber, in einem hässlichen Mietshaus, das ein kleiner<br />

Geschäftsmann hier am Stadtrand gebaut hat.<br />

Ich fragte mich nun sogar, warum ich <strong>zu</strong> Joachim hinübergelaufen<br />

war, und während ich auf dem niedrigen Schuhschrank saß<br />

und rauchte und misstrauisch meine Hände beobachtete, versuchte<br />

ich mir darüber klar<strong>zu</strong>werden, was ich für Ulli empfand, jetzt,<br />

ein Viertel nach acht Uhr, in der Küche voll Morgensonne...<br />

Die ganze Zeit sah ich sein Gesicht mit dem kräftigen Kinn und<br />

mit dicken, schwarzen, flachen Brauenbögen und den hellbraunen<br />

Augen, die mit dunkleren Pünktchen wie Rostflecke gesprenkelt<br />

sind. Ich bin vierundzwanzig, ein Jahr jünger als er, und durch all<br />

die Jahre war mir sein Gesicht nah und vertraut – nur im letzten<br />

Jahr, seit den Sommerferien, wenn ich mich recht erinnere, fand<br />

ich <strong>zu</strong>weilen einen Ausdruck von Härte, der mir fremd und quälend<br />

unverständlich blieb.<br />

Wenn ich meinen Freundinnen von ihm erzählte – ach, und sie<br />

belächelten meinen zärtlichen Überschwang, ich weiß –, dann<br />

sagte ich: Er ist schön, der schönste Junge, den ich kenne. Er ist<br />

klug, viel klüger als ich. Er hat sein Abitur mit Auszeichnung<br />

gemacht. Er ist der Beste in seiner Seminargruppe. Die Mädchen<br />

laufen ihm nach. Er ist stark, ein gewandter Sportler. Er liest viel.<br />

Er geht oft ins Konzert. Wir lieben uns. Sie lachten: Zeig uns mal<br />

15


dein Wunder von einem Bruder.<br />

Ulli studierte <strong>zu</strong> der Zeit in Rostock, an der Ostseeküste, und ich<br />

besuchte die Kunsthochschule in Dresden, und dazwischen lagen<br />

500 km Eisenbahnstrecke. Im letzten Jahr prahlte ich nicht mehr<br />

so laut mit ihm, ich sagte aber immer noch: Wir lieben uns.<br />

Ich drückte die Zigarette aus. Auf einmal dachte ich, vielleicht<br />

liebe ich in Ulli nur etwas Vergangenes, halb Vergessenes, Kindheit,<br />

die mir die Erinnerung als ein Idyll vorgaukelt, und obgleich<br />

ich das Gaukelspiel durchschaue, blicke ich mit einer Art sentimentalen<br />

Vergnügens auf den <strong>zu</strong>ckenden Filmstreifen der Änderungen,<br />

auf diese Folge kolorierter Genrebildchen:<br />

Blühende Kirschbäume im Garten, der Sandkasten, die roten und<br />

gelben blechernen Förmchen; eine mit Efeu bewachsene Mauer,<br />

an ihrem Fuß zwischen breitblättrigen, violett blühenden Klettenpflanzen<br />

sammeln wir Schneckenhäuser im feuchten schwarzen<br />

Mulm; die Laube im Garten eines Spielkameraden, <strong>des</strong>sen<br />

Namen ich vergessen habe, wir hocken im Heu, spröder Duft,<br />

wir rauchen getrocknetes Weinlaub in kurzen indianischen Tonpfeifen;<br />

der Balkon, Julihitze, ein blau-weiß gestreifter Sonnenschirm,<br />

die grünen Blumenkästen überwuchert von Petunien, es<br />

ist Mittag, wir warten auf unseren Vater, der mit dem Fahrrad aus<br />

seinem Verlag herüberkommt, wir kennen sein Klingelzeichen,<br />

wir winken und schreien; eine Zimmerstrecke in der Nachbarschaft,<br />

wo <strong>zu</strong>sammen geschlagene Loren auf Schienen um den<br />

Holzplatz fahren, und es duftet nach frischem Holz, wir spielen<br />

Trapper und Indianer und werfen mit Tomahawks; ein Winterabend,<br />

meine Mutter, rundlich und schwarzhaarige, sitzt im<br />

Korbsessel vor ihrem Nähtischchen und liest Andersens Märchen<br />

vor, hinter dem Fenster fällt die Dämmerung es schneit...<br />

Und immer war Ulli dabei. Später konnten wir Andersens Märchen<br />

selbst lesen, gemeinsam, auf einer Fußbank dicht aneinanderge-<br />

16


ückt, und wir sahen die kleine Seejungfrau mit ihrem im Wasser<br />

treibenden langen Haar und rosigen Muscheln um den Hals und<br />

die chinesische Nachtigall und den Kaiser mit unendlich langen<br />

Fingernägeln und einem dünnen gelben Schnurrbart, der ihm bis<br />

auf die Brust hängt. Und noch viel später lasen wir Jimmei Higgins<br />

und weinten, und wir lasen Gladkows Zement und das Siebte<br />

Kreuz und die Räuber und Stendhals Rot und Schwarz - immer<br />

gemeinsam, immer von den gleichen Gedanken, den gleichen<br />

Gefühlen bewegt. Und ganz <strong>zu</strong>letzt, es war im Jahr 1956, stritten<br />

wir erbittert über die Sonnenfinsternis von Koestler, und danach<br />

schien es mir <strong>zu</strong>weilen, als sei Ulli nicht wieder aus dem Schatten<br />

der Sonnenfinsternis herausgetreten, während ich längst <strong>zu</strong> Gleb<br />

Tschumalow <strong>zu</strong>rückgekehrt war <strong>zu</strong> Dascha und Tschibis.<br />

Vom Krieg weiß ich nichts mehr außer dem dumpfen Brummen<br />

der Bomberpulks und weißen Scheinwerferbahnen vor dem<br />

Nachthimmel. Wir schliefen oft im Keller, Ulli und ich auf einer<br />

Pritsche, und morgens sammelten wir die Silberpapierstreifen,<br />

die von den Amerikanern abgeworfen wurden. Manchmal war<br />

der Himmel rot. Zu den Kindergeburtstagen gab es nicht mehr<br />

Erdbeeren und Schlagsahne und nicht einmal die ulkigen schokoladebraunen<br />

Puddingfische.<br />

Der Kunstverlag, in dem mein Vater arbeitete, wurde als kriegsunwichtiger<br />

Betrieb geschlossen. Irgendwann brachten wir Vater<br />

<strong>zu</strong>m Bahnhof, meine Mutter weinte. Einmal kam eine Jüdin <strong>zu</strong><br />

uns, um sich <strong>zu</strong> verabschieden. Sie trug einen gelben Stern auf<br />

dem Mantel und hatte krauses Haar, ganz grau, obgleich sie so<br />

jung war wie unsere Mutter. Sie sagte, sie sollte nun auch verschickt<br />

werden, und sie stand unten an der Treppe und weinte.<br />

Meine Mutter ist die Tochter eines Schuhfabrikanten, sie verkehrte<br />

in den Häusern der reichen jüdischen Familien in unserer Stadt,<br />

auch während der Nazizeit auch als die Fabriken dieser Familien<br />

arisiert wurden und als es eine Schande war, in die Wohnung ei-<br />

17


nes Juden <strong>zu</strong> gehen. Meine Mutter war ganz unpolitisch. Auch<br />

mein Vater war unpolitisch, er ging aber nicht mehr <strong>zu</strong> den jüdischen<br />

Bekannten; er verachtete die Nazis und nannte Hitler einen<br />

Emporkömmling, jedoch war er ein vorsichtiger Mann und hatte<br />

Familie… Das alles habe ich erst lange nach dem Krieg erfahren<br />

oder aus Bruchstücken von Gesprächen <strong>zu</strong>sammengesetzt. Wir<br />

waren ja noch klein; nur der älteste, Konrad, trug mittwochs und<br />

sonnabends das braune Hemd der Hitlerjugend; er ging dann <strong>zu</strong>m<br />

Dienst.<br />

Am 12. Dezember besucht uns Ulrich <strong>Reimann</strong> im Gymnasium. Wir freuen<br />

uns darauf, das nehme ich jedenfalls an.<br />

Um etwas mehr über <strong>Brigitte</strong> <strong>Reimann</strong>, ihre Familie und ihre Kindheit <strong>zu</strong><br />

wissen, vielleicht auch nur <strong>zu</strong> ahnen, habe ich den Anfang ihres Romans<br />

„Geschwister“ ausgewählt. Es wäre schön, ihr lest die paar Seiten. Dann<br />

finden sich Fragen besser. Denn nur der kann fragen, der auch etwas weiß.<br />

Eben nicht alles, <strong>zu</strong>m Glück. Ich bin neugierig auf den Nachmittag und<br />

auch ein wenig aufgeregt, Herrn <strong>Reimann</strong> und seiner Frau <strong>zu</strong> begegnen.<br />

Ich glaube, sie halten viel von neugierigen jungen Leuten. Vielleicht auch<br />

von alten Leuten, das werden wir sehen.<br />

Macht euch ein paar Stichpunkte, damit ihr nicht vergesst, was besprochen<br />

wurde. Roland Stauf, der die Fotos dieser Seiten gemacht hat, wird mit seiner<br />

Kamera dabei sein. Einige Mitglieder der Burger Autorenrunde werden<br />

auch kommen. Wie sich schon beim Spaziergang zeigte, sind sie ebenso<br />

gespannt wie wir alle.<br />

Wem jetzt schon Fragen einfallen, der kann sie mir gern schicken. Beim<br />

Nachdenken, entwickeln sich bestimmt noch neue Aspekte.<br />

Ihr seid klug, das haben wir gemerkt. Auch Texte nehme ich gern an.<br />

18


Ullrich <strong>Reimann</strong> im Burger Roland-Gymnasium am 12.12.12<br />

Ullrich <strong>Reimann</strong>, der Bruder der in Burg geborenen<br />

Schriftstellerin <strong>Brigitte</strong> <strong>Reimann</strong>, besuchte <strong>Schüler</strong> <strong>des</strong><br />

Burger Roland-Gymnasiums.<br />

Es gab viele Neuigkeiten bei einem spannenden Nachmittag.<br />

Von Roland Stauf<br />

Am Burger Roland-Gymnasium läuft derzeit ein Projekt <strong>des</strong><br />

<strong>Friedrich</strong>-<strong>Bödecker</strong> Kreises Sachsen-Anhalt. Gegenstand ist das<br />

Leben und Werk der 1933 in Burg geborenen Schriftstellerin<br />

<strong>Brigitte</strong> <strong>Reimann</strong>. Es knüpft an den Schreibaufruf <strong>des</strong> <strong>Bödecker</strong>-<br />

20


Kreises <strong>zu</strong>m <strong>Brigitte</strong>-<strong>Reimann</strong>-Jahr 2013. Die Schriftstellerin<br />

Dorothea Iser, Vorsitzende der Vereinigung, die das Lesen von<br />

Kindern und Jugendlichen fördert und in Sachsen-Anhalt auch<br />

für die Förderung von kreativ <strong>schreiben</strong>den Jugendlichen <strong>zu</strong>ständig<br />

ist, begleitet die am Projekt teilnehmenden <strong>Schüler</strong>n,<br />

unterstützt deren Arbeiten <strong>zu</strong>sammen mit anderen Mitgliedern<br />

<strong>des</strong> Burger Autorenkreises. Dabei geht es nicht um die Verklärung<br />

der 1973 verstorbenen, engagierten Frau, die an das Neue<br />

glaubte, sondern um die Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit ihrer Art <strong>zu</strong><br />

denken und <strong>zu</strong> leben. Was gilt in <strong>Brigitte</strong> <strong>Reimann</strong>s Werk noch<br />

nach dem Ende der DDR, was wird weiter Bestand haben?<br />

Fragen, deren Antworten erarbeitet werden wollen. Ein Stück<br />

<strong>des</strong> Weges konnten die <strong>Schüler</strong>innen am Mittwoch <strong>zu</strong>rücklegen,<br />

denn ihnen war es gelungen, den jüngeren Bruder der Schriftstellerin,<br />

Ullrich <strong>Reimann</strong>, <strong>zu</strong> einer Gesprächsrunde in die Bibliothek<br />

<strong>des</strong> Gymnasiums ein<strong>zu</strong>laden. Und wie sich herausstellte,<br />

waren beide Brüder erst kürzlich eine Woche in ihrer alten Heimat<br />

Burg, um die Schauplätze ihrer Jugend <strong>zu</strong> besuchen. Aber<br />

Ullrich <strong>Reimann</strong> war selbst <strong>Schüler</strong> <strong>des</strong> heutigen Gymnasiums.<br />

Und so nahm er kein Blatt vor den Mund, als er sein Unverständnis<br />

dafür äußerte, dass der Bildungseinrichtung der Name<br />

„Geschwister Scholl“ genommen wurde. Unverständnis auch,<br />

wie am Gymnasium - schließlich war sie dort <strong>Schüler</strong>in – in<br />

der Vergangenheit mit dem literarischen Erbe seiner Schwester<br />

umgegangen wurde und wie die Schule der <strong>Brigitte</strong>-<strong>Reimann</strong>-<br />

Gesellschaft begegnete, die vor ein paar Jahren die <strong>Reimann</strong>-<br />

Orte in Burg besuchte und im Gymnasium abgewiesen worden<br />

war. Inzwischen habe er wieder Hoffnung, da sich offenbar<br />

doch Interesse am Werk seiner Schwester definieren lässt. Tatsächlich<br />

waren neben den <strong>Schüler</strong>innen auch zahlreiche Burger<br />

erschienen, die <strong>zu</strong>m Teil Zeitgenosssen der <strong>Reimann</strong> sind und<br />

vom Stattfinden der Gesprächsrunde aus der Zeitung erfahren<br />

21


hatten. So wurde es ein interessanter Nachmittag. Ullrich <strong>Reimann</strong><br />

plauderte über das Verhältnis <strong>zu</strong> seiner Schwester, über<br />

das Zusammenleben der Familie <strong>Reimann</strong> in ihrem Haus in der<br />

Neuendorfer Straße, er erzählte vom Kampf seiner Schwester<br />

gegen den Krebs und um ihr Ringen um gute Texte. Sie hat an<br />

die eigene Arbeit hohe Anforderungen gestellt. Auf die Frage,<br />

ob seine Schwester Vorbilder gehabt habe, erfuhren die Anwesenden<br />

von der Leidenschaft <strong>zu</strong> lesen. Ganz besonders habe sie<br />

Ernest Hemingway verehrt und seine Art <strong>zu</strong> <strong>schreiben</strong>. Und die<br />

Russen wie Dostojewski…<br />

Wohl auch angeregt von ihrem Vater, der redaktionell für den<br />

später von den Nazis enteigneten Hopfer-Verlag in Burg tätig<br />

war, begann sie schon in Kinderjahren ein Märchen und kleine<br />

Stücke <strong>zu</strong> <strong>schreiben</strong>, die dann an der Schule auch aufgeführt<br />

wurden. <strong>Brigitte</strong> <strong>Reimann</strong> muss erlebt haben, dass in Burg<br />

regelmäßig Theateraufführungen stattfanden. Auch so etwas<br />

könnte sie inspiriert haben, dass sie Weihnachten 1947, also als<br />

14-Jährige, beschloss: Ich werde Schriftstellerin. Otte Bernhard<br />

Wendler, Schriftsteller, von den Nazis verboten, führte sie in<br />

die Gruppe der Jungen Autoren ein. Er gilt als ihr Förderer und<br />

väterlicher Freund. Dorothea Iser erinnerte daran, dass diese<br />

Kultur der gemeinsamen kritischen Texterarbeitung von den<br />

russischen Schriftstellern übernommen worden ist. Die <strong>Reimann</strong><br />

habe das in Hoyerswerda weitergeführt sie habe weitergegeben,<br />

was sie in Burg bekommen habe, als sie dort <strong>schreiben</strong>de Arbeiter<br />

begleitete. „Und wir sehen uns mit unseren Schreibrunden<br />

und mit unserem Autorenkreis in dieser Traditionslinie“, sagte<br />

sie.<br />

Aus dem Burger Publikum gab es heftige Kritik. Nach Bürgermeistern,<br />

die kein Mensch kenne, würden hier Plätze benannt,<br />

aber am Geburtshaus der <strong>Reimann</strong> könne nicht einmal eine Erinnerungstafel<br />

angebracht werden, denn es sei in einem erbärm-<br />

22


lichen Zustand. So etwas sei eine Schande für die Stadt Burg.<br />

Das gab Dorothea Iser Gelegenheit, über die Vorbereitungen<br />

<strong>zu</strong>m bevorstehenden <strong>Brigitte</strong>-<strong>Reimann</strong>-Jahr <strong>zu</strong> sprechen. Sie<br />

erklärte, dass das<br />

<strong>Brigitte</strong>-<strong>Reimann</strong>-Jahr eine Initiative <strong>des</strong> Burger Kulturstammtisches<br />

ist - eine lose Vereinigung von Kulturschaffenden, Kulturträgern,<br />

Veranstaltern und anderen interessierten Bürgern, die<br />

<strong>zu</strong>m Ziel hat, die vorhandenen kulturellen Potentiale aufeinander<br />

ab<strong>zu</strong>stimmen und <strong>zu</strong> vereinigen und gegenüber der Verwaltung<br />

kulturelle Ansprüche <strong>zu</strong> formulieren und durchsetzen <strong>zu</strong><br />

helfen.<br />

Im Auftrage <strong>des</strong> Kulturstammtisches hat der <strong>Friedrich</strong>-<strong>Bödecker</strong>-Kreis<br />

die Trägerschaft <strong>des</strong> <strong>Brigitte</strong>-<strong>Reimann</strong>-Jahres<br />

übernommen. Er hat die nötigen Förderanträge gestellt, und<br />

sie, Dorothea Iser, sei sicher, dass die Förderung zwar wahrscheinlich<br />

nicht in der beantragten Höhe aber immerhin mit<br />

ziemlicher Gewissheit bestätigt werden. So wird es eine Reihe<br />

von Lesungen geben, Höhepunkt wird ein hochkarätiges wissenschaftliches<br />

Kolloquium sein, das im Burg-Theater stattfinden<br />

wird. Das Kabarett „Cat Stairs“ plant eine <strong>Reimann</strong>-Vorstellung,<br />

auch die große evangelische Kirchengemeinde wird sich mit<br />

der <strong>Reimann</strong> befassen. Es wird den Kunstpreis der Stadt Burg<br />

geben, der den Namen der <strong>Reimann</strong> tragen wird, eine <strong>Reimann</strong>-<br />

Promenade soll es geben, die <strong>Brigitte</strong>-<strong>Reimann</strong>-Filme werden<br />

gezeigt, der Schreibaufruf wird in eine öffentliche Lesung münden,<br />

die in einer Anthologie <strong>des</strong> <strong>Reimann</strong>-Jahres enden wird.<br />

Bei all dem sei der Kulturstammtisch nicht allen. Inzwischen<br />

gibt es eine recht enge Verbindung <strong>zu</strong>m Kunstverein in Hoyerswerda.<br />

Gemeinsame Vorhaben werden besprochen. Man wird<br />

sich gegenseitig besuchen, die Gedanken austauschen, einander<br />

anregen. Auch der Draht <strong>zu</strong>r <strong>Reimann</strong>-Gesellschaft nach Neubrandenburg<br />

ist gezogen. Und es wird weitere einzelne Aktivitä-<br />

23


ten geben. Gastronomen seien im Boot, der Bürgermeister auch<br />

Solch eine Breite habe man noch nie erreicht, freute sich die<br />

Iser. Und auch die anwesenden Burger zeigten sich angetan von<br />

den Vorhaben, die einen Meilenstein auf dem Weg <strong>zu</strong>r Lan<strong>des</strong>gartenschau<br />

2018 darstellen sollen.<br />

Am Ende hatten die <strong>Schüler</strong>innen rote Wangen. Und Dorothea<br />

Iser freute sich über die Resonanz, die die Veranstaltung in Burg<br />

hatte. Und es sei schön gewesen, „den kleinen Bruder <strong>zu</strong> erleben:<br />

unkompliziert und souverän“.<br />

Roland Stauf<br />

Freier Journalist<br />

Die Fotos von dieser Veranstaltung sind von Rolf Winkler<br />

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Liebe <strong>Reimann</strong>-Freunde,<br />

der Nachmittag mit unserem Gast Ullrich <strong>Reimann</strong> liegt nun<br />

schon wieder ein paar Tage <strong>zu</strong>rück. Inzwischen ist viel geschehen.<br />

Aber die Eindrücke vom 12.12. bleiben stark. Am Ende der<br />

Woche werde ich euch eine weitere Textstelle schicken. Vorher<br />

möchte ich von euch ein paar Notizen oder einen Text bekommen.<br />

Wie war der Nachmittag für euch? Ich finde, der Ullrich<br />

sieht seiner Schwester ähnlich. Wie sie, nimmt er kein Blatt vor<br />

den Mund. Wie ist das mit euch? Auch unangenehme Dinge<br />

müssen ausgesprochen werden. Welche Erfahrungen habt ihr<br />

damit?<br />

Ich freue mich auf eure Antworten und warte neugierig darauf.<br />

Dann lesen wir und besprechen (be<strong>schreiben</strong>) wie wir darüber<br />

denken. Vielleicht gibt es Tipps.<br />

In so einem kleinen Kreis kann man das gut machen. Was ihr<br />

schreibt, setze ich mit in diese Seiten.<br />

Also los! Das schaffen wir!<br />

Es grüßt herzlich<br />

Dorothea Iser<br />

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Claudia Zens, 13 Jahre<br />

Kind der Liebe<br />

Kalt, nass und blendend hell<br />

Gefallen über Nacht, ganz schnell<br />

Ungehört; geräuschlos leise<br />

Hat er ausgefüllt die Schneise<br />

Zwischen den Welten.<br />

Bizarr, grazil und wunderschön<br />

Oft gesehn und doch so fremd<br />

Der Wolken und <strong>des</strong> Winters Sohn<br />

Wie ein frisch gewasch’nes Hemd<br />

Das Kind der Liebe.<br />

Kalt, grotesk und grausam, schon<br />

In blendend’ Schönheit eingehüllt<br />

Getarnt als all der Mühen Lohn<br />

Ist doch der Kälte best’ Gestalt<br />

Der weiße Mantel.<br />

Schrecklich schön und fürchterlich<br />

Skrupellos in seinem Tun<br />

Für nichts und nichts im Angesicht<br />

Im Stillen warten, der tückisch’ Ruh’,<br />

liegt er auf der Lauer.<br />

Erst, wenn der weiße Schleier fällt,<br />

Wenn gezeigt, grausam der Welt,<br />

Wenn das Ende ist so nah<br />

So mancher der Stille Tücke sah<br />

Wo wartet, der Dunkle.<br />

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Winter: schwarz und Zauberland <strong>zu</strong>gleich<br />

Herberge <strong>des</strong> En<strong>des</strong> Herrn<br />

Niemand ihm <strong>zu</strong> entfliehen erreicht.<br />

Und dunkel wacht der helle Stern<br />

Und er lächelt traurig.<br />

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