25.10.2012 Aufrufe

Otto Emersleben

Otto Emersleben

Otto Emersleben

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Otto</strong> <strong>Emersleben</strong><br />

Der Streit um den NORDPOL<br />

- Roman -<br />

Je näher man dem Pol kommt, um so geringer werden die<br />

Möglichkeiten, Zuflucht zum Wissen des Navigators zu nehmen; am Pol<br />

selbst versagt einiges davon gar völlig. Man könnte also diesen fatalen<br />

Punkt meiden: doch wäre man erst einmal dort angekommen, müßte man<br />

seinen Weg irgendwie auf gut Glück beginnen, bis man eine Entfernung<br />

davon gewonnen, die den Gebrauch navigatorischer Regeln erlaubt.<br />

Moreau de Maupertuis 1752<br />

Wir erfinden immer nur das Wahre. Honoré de Balzac


Vom Hafen Murmanks aus wird nach einer Woche Fahrt durch die<br />

Barentssee und das arktische Packeis bei 90° geographischer Breite<br />

der Nordpol erreicht. Die Passagiere versammeln sich auf der Brücke<br />

des Eisbrechers und feiern dieses Ereignis gebührend mit Champagner.<br />

Den ganz Furchtlosen kann ein Bad im etwa -1,5°C kalten<br />

Nordpolarmeer ein eiskaltes Vergnügen bereiten - danach können Sie<br />

sich bei einem Barbecue auf dem Eis stärken.<br />

Aus einem Reiseprospekt 2006<br />

Nur die Phantasielosn flüchtn in die Realität. Arno Schmidt<br />

Alle Rechte beim Verfasser ----<br />

<strong>Emersleben</strong><br />

All rights reserved ---<br />

Copyright <strong>Otto</strong>


Jede – auch auszugsweise – Wiedergabe über das Maß üblichen Zitierens<br />

hinaus bedarf der vorherigen schriftlichen Genehmigung durch den Autor.<br />

<strong>Otto</strong> <strong>Emersleben</strong> 12 Whittier Street Brunswick ME 04011<br />

USA<br />

www.bowdoin.edu/~oemersle/<br />

oemersle@bowdoin.edu<br />

FAX 001-207-725 3348<br />

Auf einen Blick – Das Schmelzen der Eiskappe bringt den Nordpol erneut<br />

in die Schlagzeilen. Vor hundert Jahren hatten zahlreiche Expeditionen die beiden<br />

Pole als letzte zu „entdeckende“ Punkte der Erdoberfläche zum Ziel. In Europa ist<br />

vor allem der Wettlauf von Scott und Amundsen zum Südpol bekannt; das<br />

Gerangel um den Sieg am Nordpol findet, obwohl es nicht weniger spannend ist<br />

und in Amerika bis heute andauert, kaum Beachtung. Der Arzt Frederick Cook<br />

will 1908, Navyoffizier Robert Peary 1909 den Nordpol erreicht haben. Eine<br />

sachliche Schilderung vermag das Absurde des Vorgangs nicht zu erfassen: ein<br />

driftender Punkt im Eis des Polarmeeres, den als erster erreicht zu haben beide<br />

Amerikaner behaupten, obwohl bei keinem die Beweise ausreichen. Hier ist<br />

Fiction, ja – Fantasy gefragt. Die Handlung von Der Streit um den Nordpol setzt<br />

dort ein, wo meine 2003 im Verlag Florstedt&Greis/Leipzig erschienene<br />

Reiseerzählung In den Schründen der Arktik endet: mit Karl May am Nordpol...<br />

Beide Romane sind im Detail genau recherchiert, gehen aber bei der<br />

Verknüpfung von Personen, Geschehnissen und Zeittendenzen mit diesen frei um.<br />

Für die hilfreiche Unterstützung meiner Recherchen zu<br />

diesem Buch bin ich folgenden Institutionen zu Dank<br />

verpflichtet:<br />

The Peary-MacMillan Arctic Museum, Bowdoin College Library (beide in<br />

Brunswick, Maine)<br />

Stadtarchiv Braunschweig und Staatsarchiv Hamburg<br />

O.E.


INHALT<br />

1. Zum Pol und zurück<br />

2. Das Land der Gegensonne<br />

3. Schamanin Kaschadu<br />

4. In der Geisterschmiede<br />

5. Miez und Mausel<br />

6. Vierspännig durch die Ruhmespforte<br />

7. Wolken überm Horizont<br />

8. Nachricht vom Lebensstern<br />

9. We, the People<br />

10. Passagier Rudolf Franke<br />

11. Finden Sie Doktor Cook<br />

12. Der König ist tot. Es lebe der König<br />

13. Ein Kaffeehaus in der Herrengasse<br />

14. Von der Bosna nach Knossos<br />

© <strong>Otto</strong> <strong>Emersleben</strong>


1. ZUM POL UND ZURÜCK<br />

Das Leben des einzelnen ist das Menschheitsleben im kleinen. So soll es<br />

niemanden wundern, daß mein Erdendasein für einige Jahre eng mit jenem<br />

merkwürdigen Taumel verbunden war, der die Welt zu Beginn des Jahrhunderts<br />

erfaßt hatte. Die Rede ist von dem Bestreben, ja, von der Besessenheit, die Pole<br />

der Erde in Nord wie in Süd zu erreichen - koste es, was es wolle. Wer mich kennt,<br />

weiß genau, daß für mich bei all meinem Tun und bei all meinen Unternehmungen<br />

die Lösung von Menschheitsfragen im Vordergrund steht. So auch in diesem<br />

speziellen Fall, da ich mich dem Voranbringen der Polarforschung verschrieben<br />

hatte.<br />

Wenn ich verschrieben sage, soll das nicht etwa heißen, ich hätte mich willenlos<br />

der seinerzeit herrschenden Tollheit überlassen. Richtig ist vielmehr, daß ich in<br />

aller Bescheidenheit meine Rolle spielte - meist als Mitwirkender, in einigen<br />

Fällen als Beobachter am Rande; und in wenigen, allerdings entscheidenden<br />

Augenblicken als Inspirator der Taten anderer. So konnte ich zielgerichtet an<br />

meiner großen selbstgestellten Aufgabe arbeiten, dem Edelmenschen einen immer<br />

breiteren Wirkungskreis und endlich gar eine Heimstatt zu schaffen. Der Leser<br />

dieser Seiten wird die wichtigsten Stationen an dem dabei von mir zurückgelegten<br />

Weg miterleben und erfährt, welche Mühe oft mit einem einzelnen meiner Schritte<br />

verbunden war.<br />

Einer Einladung des amerikanischen Polarforschers Robert Peary folgend, war ich<br />

von Neuyork aus an Bord seines Schiffes “Roosevelt” in die Arktik<br />

aufgebrochen. Noch heute, da ich diese Zeilen schreibe, höre ich Peary bei unserer<br />

ersten Begegnung mit sonorer Stimme fragen: "Wie kommt es eigentlich, lieber Karl<br />

May, daß ausgerechnet ein Mann wie Sie noch nicht bei den Inuit war und das<br />

Polargebiet nie bereist hat?" Und ich sehe ihn zufrieden mit seiner Linken den<br />

kräftigen Schnauzbart streichen, sobald ich die jener Frage folgende Einladung<br />

angenommen: ihn bei Beginn seines nächsten Polunternehmens bis zur<br />

Eskimosiedlung Etah zu begleiten. Ich hatte von den Polareskimos - sie selbst<br />

nennen sich Inughuit - und ihrer Niederlassung hoch oben im Norden Grönlands<br />

bereits gehört und brannte darauf, mir ein Bild von den Jagd- und<br />

Lebensgewohnheiten dieses Stammes zu machen.<br />

Meine Reise in die Arktik gehorchte bald eigenen Gesetzen. Das haben derlei<br />

Dinge nun einmal so an sich. Ich kehrte von Etah aus nicht, wie zunächst geplant,<br />

mit dem Hilfsschiff der Expedition nach Neuyork zurück. Das Heranreifen dieses<br />

Entschlusses ist eine Geschichte für sich; sie in Gänze wiederzugeben würde den<br />

Rahmen dieser Erzählung sprengen, einzelne Episoden finden später ohnehin<br />

Erwähnung. Jedenfalls brach ich, als Eskimo verkleidet, mit Peary und seiner<br />

Begleitung an Bord der “Roosevelt” zur Nordküste der als Ellesmereland<br />

bekannten arktischen Insel auf. Dort lag unser Überwinterungsplatz.<br />

Anfang März war das Tageslicht nach langer Polarnacht in einem solchen Maße<br />

zurückgekehrt, daß Peary den Aufbruch der Schlittenkarawane in Richtung


Nordpol befehlen konnte. Der Expeditionsleiter hatte mich, ohne noch immer um<br />

meine Verkleidung zu wissen, als Gespannführer seinem schwarzen Diener<br />

Matthew Henson zugeteilt. Ich war somit für das Wohlergehen von Hensons<br />

Schlittenhunden verantwortlich, und das hieß vor allem: für das Füttern der ewig<br />

hungrigen Bestien und dafür, sie beim Rasten in gehörigem Abstand voneinander<br />

anzupflocken, damit sie sich nicht gegenseitig zerfleischten. Der Glücksumstand,<br />

daß ich mit Henson reiste, vermehrte meine Chance auf das beträchtlichste, bis<br />

zum Schluß dabeisein zu können. Ohne Matt Henson würde Peary den letzten<br />

Vorstoß zum Pole nicht wagen. Er war auf Umsicht, Ausdauer und Geschick<br />

dieses Mannes angewiesen. Alle weißen Begleiter sandte er einen nach dem<br />

anderen zum Schiffsliegeplatz zurück, nachdem sie für ihn beim Wegbahnen sowie<br />

beim Transportieren von Nahrungsmitteln und Heizöl ihre Schuldigkeit getan.<br />

Peary wollte, aus dieser Absicht machte er gar kein Hehl, als einziger Weißer am<br />

Nordpol stehen und den Sieg als dessen Erstbezwinger mit niemandem teilen<br />

müssen; die Eskimos und Matt Henson zählte er nicht.<br />

Wir hatten uns genau einen Monat lang über das Packeis vorangekämpft, da erhielt<br />

Bob Bartlett, Kapitän der “Roosevelt”, als letzter den Befehl zur Umkehr. Damit<br />

schaltete Peary auf Gedeih und Verderb den einzigen noch übriggebliebenen<br />

Mitbewerber um polaren Entdeckerruhm aus. Ja, mehr noch: nun gab es - so<br />

jedenfalls glaubte Peary - niemanden außer ihm selbst, der unsere Position zu<br />

bestimmen vermocht hätte. Doch sollte er sich, um mich dieses Ausdruckes zu<br />

bedienen, gehörig geschnitten haben. Daß einer der vier in der Polgruppe<br />

verbliebenen Eskimos, nämlich ich, in unbeobachteten Augenblicken einen<br />

Sextanten aus dem Fellsacke nahm, das Instrument sorgfältig vom schützenden<br />

Ölpapier befreite und den Sonnenstand maß, ahnte er nicht.<br />

Mir kam es nicht überraschend, als Peary wenige Tage nach Kapitän Bartletts<br />

Umkehr Henson das Sternenbanner aus unserem Schlittengepäck heraussuchen<br />

ließ - die Fahne, die allein zum Zwecke des Aufpflanzens am Pole mitgeführt<br />

worden war. Er stellte Henson, mich und die drei Eskimos vor einen Eishügel, ließ<br />

uns unter Hurra-Rufen die Arme schwenken und machte photographische<br />

Aufnahmen dieser Szene, offenbar für die staunende Weltöffentlichkeit. Meinen<br />

Berechnungen nach mag dies durchaus, wie Peary später behauptet hat, am 6.<br />

April 1909 geschehen sein, doch kann ich mich bei der Festlegung dieses Datums<br />

möglicherweise um einige Tage irren; die lange Dunkelperiode während des<br />

arktischen Winters strapaziert das menschliche Vermögen, abgelaufene Zeit zu<br />

schätzen, über Gebühr.<br />

Den Sextanten hatte Peary seit Bartletts Weggang nur noch höchst selten in die<br />

Hand genommen. Ich hingegen war nicht müßig gewesen. Bei jeder sich bietenden<br />

Gelegenheit - sobald Henson schlief oder sobald er sich zur Seehundjagd an ein<br />

Atemloch im Eise schlich – hatte ich die Sonnenhöhe über dem Horizont bestimmt<br />

und aus dem Ergebnis meiner Messungen die jeweiligen Gratwerte der<br />

geographische Breite unseres Aufenthaltsortes errechnet. Ich wußte, daß uns von<br />

dem Punkte, an dem sich bei exakt 90 Grad alle Längenkreise schneiden, im


Augenblicke der Flaggenhissung noch rund hundert Meilen trennten.<br />

Nachdem er die Kamera abgebaut, hieß Peary uns lagern. Er instruierte Henson,<br />

nach der Rast für den Rückmarsch bereit zu sein. Der Pemmikan gehe zur Neige,<br />

sagte er. Dabei schaute er von seinem Tagebuch auf, in welchem er, mehrere leere<br />

Seiten überschlagend, unentschlossen hin und herblätterte. Wenn wir es zurück<br />

zum Schiff schaffen wollten, bliebe nur sofortige Umkehr. Erst als er das gesagt,<br />

schrieb er weiter. - Da die Eskimos kein Englisch verstanden, nahm er bei diesem<br />

bemerkenswerten Bekenntnis auf mich, der ganz in der Nähe stand, keine<br />

Rücksicht. In den Jahren meiner Reisen, Wanderungen und Jagdfahrten überall auf<br />

der Erde habe ich mich immer wieder in die Lage versetzt gesehen, durch<br />

Belauschen fremder, nicht für meine Ohren bestimmter Gespräche etwas über<br />

Absichten und Motivationen anderer zu erfahren. Oft war dazu mühsames<br />

Anschleichen nötig, manchmal gar unter Lebensgefahr. In diesem Falle hat mir<br />

meine Verkleidung geholfen, zu hören, was ich nicht hatte hören sollen, und ich<br />

kann nur sagen: es ist die auf jeden Fall leichtere Methode des Lauschens.<br />

Ich war nicht gewillt, mich mit dem zufriedenzugeben, was Peary offenbar als<br />

seinen Polsieg zu deklarieren beabsichtigte. Sobald alles schlief, war meine Stunde<br />

gekommen. Hundert Meilen Eiswüste sind nichts gegen den stählernen Willen<br />

eines Vielgereisten. Ich stieg aus dem Schlafsack. Schirrte, ohne auch nur den<br />

geringsten Lärm zu verursachen, meine Hunde an. Ließ die Peitsche leise über den<br />

Köpfen der Meute schwirren, und ab ging die Post.<br />

Mein Schlitten machte ausgezeichnete Fahrt. Mit Peary und Henson war ich in<br />

den letzten Tagen mehr und mehr lästigen Hindernissen begegnet, vor allem schwer<br />

zu überwindenden Preßgraten aus Scholleneis und frisch aufgebrochenen<br />

“Kanälen”, die uns das Vorankommen erschwerten. Wir hatten Wartezeiten in<br />

Kauf nehmen müssen, bis sich in den Aufbrüchen tragfähiges Frischeis gebildet,<br />

und zeitraubende Umwege gemacht, erwies sich eine der Schollenbarrieren<br />

schließlich in der Tat als unübersteigbar. Zum Schluß waren wir kaum noch direkt<br />

nach Norden gefahren. Nun aber lag die weiße Weite als glatte Schlittenbahn vor<br />

mir.<br />

Die treuen Tiere spielten mein Spiel mit - und mehr als ein Spiel war, was ich tat,<br />

schließlich nicht. Denn: würde die Menschheit der Lösung aller brennenden Fragen<br />

auch nur einen einzigen Schritt näher kommen, stünde ich und nicht Peary am<br />

vielzitierten Großen Nagel der Erde? Mitnichten! Schließlich wird der Triumph<br />

des ewig forschenden Menschheitsgeistes nicht in äußerlichen und schon gar nicht<br />

in rein sportlichen Erfolgen errungen, etwa beim Erreichen irgendwelcher<br />

Gradnetzmarken mitten im driftenden Eise des Arktischen Ozeans. Vielmehr wird<br />

er sich vor allem beim Sieg über die dunkelsten Seiten des Menschseins äußern: als<br />

Triumph des Edelmenschen über den Gewaltmenschen.<br />

Kurze Wegpausen gönnte ich mir lediglich für Sextantenmessungen. Dieselben<br />

ergeben immer nur einen scheinbaren Wert für die Höhe des unteren Sonnenrandes<br />

über dem Horizont, wird doch das Meßergebnis durch diverse Faktoren verfälscht,


deren wichtigster seine Ursache in der Brechung des Lichts beim Durchlaufen der<br />

Erdatmosphäre hat. Der Fachmann spricht dabei von Refraktion und bedient sich<br />

ausgeklügelter Tabellen, mit deren Hilfe er die Meßwerte korrigiert. Ich will meine<br />

Leser nicht mit Einzelheiten langweilen. Hier dazu nur soviel: wer wie ich<br />

bekanntlich zwölfhundert Sprachen und Dialekte versteht, dem fällt es nicht<br />

schwer, auch die erwähnten Tabellenwerke zur Korrektur von Refraktion,<br />

Parallaxe und all den anderen Fisimatenten im Kopfe zu haben, welche dem<br />

Reisenden - sei er nun in der Wüste, dem Felsengebirge, zur See oder eben auf<br />

arktischem Eis unterwegs - zur Bestimmung seines Standortes so nützlich sein<br />

können und ihm manchmal gar das Leben retten.<br />

Meine Berechnungen verlängerten die Rast jedesmal, und waren diese<br />

Verlängerungen im Grunde auch unerheblich, so wurde von den Hunden doch jede<br />

zusätzliche Ruheminute genutzt. Wohlig entspannt legten sie sich nieder, während<br />

ich die Zwischenergebnisse meiner Kalkulation mit der Hand in den Schnee<br />

schrieb. Zuallerletzt addierte ich jeweils sechzehn Bogenminuten für den halben<br />

Sonnendurchmesser, um statt der Höhe des unteren Sonnenrandes die Höhe des<br />

Sonnenmittelpunkts überm Horizont zu erhalten, und erhielt jeweils Werte knapp<br />

unter sieben Winkelgraden. Ja, die Sonne steht in jenen extremen Breiten um diese<br />

Jahreszeit nicht hoch, und ihre Höhe ändert sich beim täglichen Lauf um einen<br />

gegebenen Ort nur ganz unbeträchtlich. Da ich mich polwärts bewegte, nahm sie<br />

jetzt im April sogar noch ab - ein Umstand, der mich schließlich genau den Punkt<br />

finden ließ, an dem ich mit Gewißheit sagen konnte: Ich hatte als erster Mensch<br />

den Nordpol der Erde erreicht, ich und kein anderer!<br />

Ich kann nicht verhehlen, daß sich Erregung meiner bemächtigte. Doch - war ich<br />

beglückt? Das kann ich nicht behaupten. Ich sah mich um. Was schaute mein<br />

Auge? Eiswüste wie bisher. Kein Lebewesen außer mir und meinen Hunden. Kein<br />

Windhauch, der den Schnee vor sich hergetrieben hätte. Nichts. Im Augenblick des<br />

Triumphes nahm ich mir vor: nie sollte jemand von diesem meinem Polsieg<br />

erfahren. Ich war nämlich nicht gewillt, um mein Erreichen des Nordpols ein<br />

Aufhebens zu machen, das meinen Anschauungen vom Ethos des forschenden,<br />

vorwärtsstrebenden Menschen widersprach. Allein der Gedanke daran schien mir<br />

lächerlich, ist doch der Nordpol lediglich ein Punkt im driftenden Eis, einzig durch<br />

geometrische Umstände festgelegt und stabil lediglich dank der Konventionen,<br />

denen das Gradnetz der Erde gehorcht. In Bezug auf beschreibbare Punkte der<br />

Erdoberfläche ist seine Lage jedoch gänzlich unbestimmt: eine Eisscholle, welche<br />

man heute als den Nordpol bezeichnet, ist schon morgen vom Pol weit entfernt.<br />

Bei der Veredelung der Menschheit bringt der Umstand, daß eines ihrer Mitglieder<br />

am Nordpol gestanden, dieselbe allerdings - wie zu betonen ich nicht müde werde -<br />

keinen Schritt weiter.<br />

Nach der entscheidenden Messung verstaute ich meinen Sextanten, gab den<br />

Hunden reichlich zu fressen und nahm selbst ein wenig vom Pemmikan. Sodann<br />

machte ich mich auf den Rückweg zum Lagerplatz von Peary, Henson und meinen<br />

Mit-Inuit. Sie hatten geschlafen, als ich das Lager verließ; bei meiner Rückkehr


schliefen sie immer noch. Dieser Umstand überraschte mich nicht, bin ich doch seit<br />

langem gewohnt, dank meiner überragenden Körperkonstitution um so vieles<br />

ausdauernder als meine Weggefährften zu sein - Winnetou ausgenommen, aber<br />

Winnetou weilte schon seit einem ganzen Menschenalter nicht mehr unter den<br />

Lebenden.<br />

Ich schirrte die Hunde aus und begab mich an den Platz zurück, den ich in dieser<br />

Runde zuletzt innegehabt. In meinem Pelzschlafsack streckte ich mich wohlig aus,<br />

nun fühlte auch ich die Erschöpfung. Peary mußte irgendwann meine Abwesenheit<br />

bemerkt haben, denn sobald er seinen Kopf über den Rand des Schlafsackes hob,<br />

sah er zu mir herüber. Später, nachdem auch ich einige Stunden erfrischenden<br />

Schlafes hatte genießen können, stellte er mich zur Rede. “Wo du abgeblieben?”<br />

schrie er mich während der Aufbruchsvorbereitungen an, die alte Regel<br />

beherzigend, daß man - wie unsicher man auch selbst im Gebrauch einer fremden<br />

Sprache ist - sich in dieser am besten verständlich macht, indem man die Stimme<br />

hebt. “Wir uns noch sprechen --- ! Nur warten ab, Freundchen”, schloß er, mit<br />

dem Zeigefinger der Rechten vor seinem Gesicht fuchtelnd, ehe er die Hand in den<br />

Pelzfäustling steckte. Dann befahl er den Abmarsch nach Süden. Peary handhabte<br />

die Sprache der Inuit in der Tat höchst unbeholfen, während Henson - das will ich<br />

an dieser Stelle hervorheben - sie fast perfekt sprach. Doch war es auch Matt<br />

während der langen Wochen unseres engen arktischen Nebeneinander nie<br />

aufgefallen, daß ich kein Inuit war.<br />

Auf seine Drohung zurückzukommen hatte Peary später niemals Gelegenheit. Bei<br />

unserer Rückkehr zum Schiff überschlugen sich die Ereignisse. Pearys ganze<br />

Aufmerksamkeit wurde sogleich von weit schwerwiegenderen Dingen in Anspruch<br />

genommen als es die unerlaubte Entfernung eines seiner Eskimoshelfer von dem<br />

Lagerplatz war, den er als Camp am Pol auszugeben beabsichtigte. Kapitän<br />

Bartlett überrumpelte ihn mit der Nachricht, Inuitjäger, von Etah übers Eis zur<br />

“Roosevelt” gekommen, hätten Unglaubliches zu berichten gehabt. Unlängst sei<br />

Doktor Cook mit zwei Eskimogefährten in ihrer Siedlung aufgetaucht und habe<br />

erklärt, schon vor Jahresfrist am Nordpol gewesen zu sein. Jetzt sei er nach dem<br />

Süden Grönlands unterwegs - in der Hoffnung, auf einen europäischen Walfänger<br />

zu stoßen. In der Alten Welt wolle er seine Entdeckung bekanntgeben.<br />

Ich kannte Doktor Frederick Cook ebenso lange wie ich Peary kannte. Er war<br />

ursprünglich Arzt und lebte, war er nicht auf Reisen, in Brooklyn. Beide hatte ich<br />

beim Besuch eines Geographenkongresses kennengelernt. Solche gelehrten<br />

Massenversammlungen sind ja vor allem aus diesem einen Grund so beliebt: man<br />

lernt dort Fachkollegen und Menschen kennen; die gehaltenen Vorträge sind<br />

eigentlich relativ unwichtig, auch ein Unbeteiligter kann sie später in den<br />

gedruckten Tagungsberichten nachlesen. Mir hatte dieser Kongreß (es handelte<br />

sich um den 8. Internationalen Geographenkongress von 1904 in Neuyork,<br />

Washington und St. Louis) die bereits erwähnte Einladung von Peary eingebracht,<br />

ihn nach Grönland zu begleiten.<br />

Mit Doktor Cook kam ich in der Zeit unmittelbar nach jener Versammlung der


Erdkundler aus aller Welt in eine noch weit nähere Beziehung. Er rettete mir bei<br />

einem Eisenbahnunglück, von dem ein durch uns beide für die Rückfahrt von St.<br />

Louis nach Neuyork gemeinsam benutzter Zug betroffen wurde, das Leben. Wir<br />

waren seitdem in losem Kontakt geblieben. Von Cooks Plan, Peary am Pole<br />

zuvorzukommen, hatte ich Kenntnis, wenngleich diese Kenntnis auch durchaus<br />

keine Einzelheiten betraf. Nun hatte er also seine Absicht wahrgemacht!<br />

Peary gab, sobald er die Bedeutung der überraschenden Neuigkeit für sein weiteres<br />

Vorgehen in vollem Umfang begriff, Bartlett unwirsch zu verstehen, er werde - wie<br />

er sich ausdrückte - jedwede Anmaßung Cooks, die Eroberung des Nordpols<br />

betreffend, in aller Schärfe zurückweisen. Sei er erst wieder in der zivilisierten<br />

Welt, wolle er mit rücksichtslosem Nachdruck erklären, selbst als erster und<br />

einziger Weißer am Pole gestanden zu haben. Wer Peary kennt, konnte ahnen, was<br />

er meinte, wenn er von "rücksichtslosem Nachdruck" sprach. Der Mann ist ein<br />

wahrer Bullenbeißer unter den Entdeckungsreisenden. Während des<br />

Beisammenseins mit ihm unter den Bedingungen arktischen Lebens war mir<br />

Gelegenheit geworden, den sauberen Herrn Fregattenkapitän Peary genauestens<br />

kennenzulernen. Ich will hier nur soviel dazu sagen: ein feiner Mann war er nicht.<br />

Es ist so mancher äußerlich ein Ehrenmann, im Stillen aber voller Niedertracht. Mir<br />

graute vor dem, was er als Überraschung für die sogenannte zivilisierte Welt<br />

bereithielt.<br />

Schon die Absicht, einen Streit dieser Art vom Zaune zu brechen, schien mir eine<br />

Ungeheuerlichkeit. Der Nordpol, nichts als ein Punkt im dahintreibenden Eis,<br />

festgelegt lediglich durch mathematische Konventionen --- . Ich will mich hier nicht<br />

wiederholen und erinnere nur an jene Eisscholle: heute als Pol angesehen, morgen<br />

von diesem schon meilenweit entfernt. Seit ich selbst am Pole gestanden, spürte<br />

ich diesen Dingen gegenüber eine große Gelassenheit.<br />

Nach unserer Rückkehr zur “Roosevelt” zog ich mit den Eskimos in hastig<br />

errichtete Schneehäuser neben dem Schiff und hing meinen Gedanken nach. Daß<br />

weder Peary noch Cook um meinen einsamen Ausflug zum Pole wußte, machte<br />

meine Rolle im Hinblick auf den sich abzeichnenden Zweikampf der beiden<br />

besonders pikant. In dem Duell, sagte ich mir, konnte ich unmöglich abseits<br />

stehen. Einerseits war ich in der Lage, aufgrund eigener Sextantenmessungen zu<br />

bezeugen, daß Peary nicht bis zum Pole gekommen, sondern gut hundert Meilen<br />

davon entfernt umgekehrt war; andererseits brannte ich darauf, Näheres über den<br />

Verlauf von Cooks Expedition zu erfahren. Mein Vorsatz, den eigenen Polsieg für<br />

mich zu behalten und niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu sagen,<br />

blieb von dieser Neugierde unberührt.<br />

So schnell es ging mußte auch ich nach Europa. Wie die Dinge nun einmal lagen,<br />

gab es keinen anderen Weg dorthin als den von Doktor Cook beschrittenen. Auch<br />

ich mußte ein Walfangschiff finden, welches mich aufnahm.<br />

Durch die Eskimos mit dem Nötigsten an Ausrüstung, Vorräten und Ratschlägen<br />

versehen, brach ich allein auf, eisfreien Gewässern entgegen. Die Inuit überließen


mir das Schlittengespann, welches ich bisher geführt. Henson brauchte, nun er<br />

wieder am Schiff war, keine Hunde mehr.<br />

Angetrieben von der Hoffnung, irgendwo an der Küste schon bald auf ein Schiff zu<br />

stoßen, kam ich zunächst gut voran. Doch machte sich ein schlimmes Unwetter<br />

auf, als ich noch keine zwei sinnipah unterwegs war. (Der Eskimo benutzt dieses<br />

Zeitmaß, zu deutsch: Schlaf, für einen vollen Tag-und-Nacht-Ablauf von 24<br />

Stunden). Es schüttete aus dem wolkenverhangenen Himmel, als sei die weiße<br />

Hölle losgebrochen und die Welt sollte gänzlich in Schnee eingehüllt werden.<br />

Riesige Flockenfetzen tanzten mir vor den Augen. Sie schienen die Luft völlig<br />

verdrängen zu wollen, setzten sich auf Wimpern, Lippenbart und Augenbrauen, ja<br />

selbst in den Nasenlöchern fest. Ich nahm zunächst den Kompaß zu Hilfe, um<br />

mich zu orientieren, doch sind dessen Angaben in diesen hohen Breiten mit großen<br />

Unsicherheiten behaftet und ohnehin nur mit äußerster Vorsicht zu genießen. Bald<br />

schon half auch die unzuverlässige Kompaßablesung nichts mehr, denn ich konnte<br />

weder sehen noch atmen. Auch war, als der Sturm einmal minutenlang nachließ, im<br />

dichten Schneetreiben keine Richtung mehr auszumachen. Nun hatte ich keine<br />

andere Wahl mehr: es mußte eine Zwangspause eingelegt werden.<br />

Ich vertraute der Fähigkeit meiner Hunde, mit derlei Situationen auf ihre Art fertig<br />

zu werden und sah mich in meinen Erwartungen nicht getäuscht. Sie fielen, sobald<br />

es kein Vorwärtskommen mehr gab, übereinander her, jedoch nicht, um einer den<br />

anderen zu zerfleischen. Vielmehr schützten sie sich gegenseitig mit ihrer<br />

Körperwärme. Ich kauerte mich unter den aus pelzigen Leibern geschichteten<br />

Haufen und wir ließen uns einschneien.<br />

Es dauerte gar nicht lange, so war ich vom Heulen des Sturms, der unerbittlich über<br />

uns hinwegstrich, und dem leisen Schnarchen einzelner Hunde fest eingeschlafen.<br />

Wie lange ich schlief, weiß ich nicht mehr zu sagen. Jedenfalls erwachte ich von<br />

plötzlich herabgefallener Stille. Der Sturm hatte aufgehört, und die Hunde waren<br />

hellwach. Kaum regte ich mich, sprang die Leithündin auf, schüttelte sich<br />

umständlich den Schnee aus dem Pelz und nahm ihren Platz an der Spitze des<br />

Schlittengeschirrs ein; die anderen Tiere folgten. Bald stand die Meute, die<br />

Zugseile straff gespannt, in fächerförmiger Formation zum Abmarsch bereit.<br />

Inzwischen hatte auch ich mich erhoben, mich abgeklopft und wenigstens einen<br />

Teil des Schnees vom Schlitten entfernt. Ich nahm die Peitsche und gab das Signal<br />

zum Aufbruch.<br />

Noch einmal versuchte ich, während die Hunde anzogen, die seit Beginn des<br />

Schneesturms vergangene Zeit zu schätzen. Bezog ich mein Hungergefühl, welches<br />

ein beträchtliches war, vorsichtig in die Rechnung ein, so mochte es sich um<br />

vielleicht sechzehn oder sogar um vierundzwanzig Stunden gehandelt haben, die<br />

ich durch die Rast verlor. Das hieß, daß ich vom Schiffsliegeplatz vor nunmehr<br />

sechs sinnipah aufgebrochen war. Der frisch gefallene Schnee stob in Wolken um<br />

meinen Schlitten auf. Lautlos glitten die Kufen des plumpen Gefährts, von dem<br />

Dutzend meiner treuen Hunde gezogen, durch den Flockenteppich.<br />

Es ist von gewissenlosen Sprachforschern zuweilen behauptet worden, das Idiom


der Inuit habe mehr als vierzig, ja sogar bis zu hundert Bezeichnungen für die<br />

unterschiedlichsten Arten von Schnee. Um ein für allemal mit derlei Unsinn<br />

aufzuräumen, sei mir als Praktiker gleich zu Anfang des Berichtes über meine<br />

Reise durch das Land der Polareskimos die Feststellung erlaubt: Schnee heißt<br />

aput, wenn er fällt und quanik, wenn er liegt. Basta. Alles andere sind<br />

Konstruktionen von Stubengelehrten, und glücklicherweise schert sich eine lebende<br />

Sprache einen feuchten Kehricht um die Feinheiten neuester philologischer Trends<br />

und die damit verbundenen akademischen Flügelkämpfe.<br />

Ich war jedenfalls froh, den Schneesturm beendet zu wissen, durch den ich mir<br />

meinen Weg hatte bahnen müssen, bis er mich ganz aufhielt, und es nun wieder<br />

ausschließlich mit quanik zu tun zu haben und nicht mehr mit driftendem,<br />

wehendem, treibendem aput, der einem die Sicht raubt und schließlich jedes<br />

Fortkommen unmöglich macht. Auf der hinteren Randbohle stehend, zwischen den<br />

senkrecht ragenden Handgriffen mehr eingezwängt als balancierend, steuerte ich<br />

meinen Schlitten geradewegs in die weiße Weite hinein, welche vor mir immer neu<br />

auftauchte und hinter mir wieder verschwand. Nach dem Heulen des Sturms tat<br />

mir das Schweigen der Landschaft wohl. Ab und an schwang ich die Peitsche über<br />

der Meute, und das Knallen des Leders war dann in der Tat der einzige Ton, der<br />

die Stille zerschnitt.<br />

Seit meinem Aufbruch war ich keiner Menschenseele begegnet. Ist die Einöde<br />

schon dann erdrückend, wenn man Begleiter bei sich hat, so ist sie es noch weit<br />

mehr, wenn man sich allein befindet. Die Sonne zog ununterbrochen ihre<br />

Himmelsbahn, eine Nacht im üblichen Sinn gab es nicht. Ich fühlte keine<br />

Müdigkeit. Nicht eigene Erschöpfung, sondern höchstens ein erneutes<br />

Ruhebedürfnis meiner braven Zugtiere, das sich irgendwann bemerkbar machen<br />

würde, konnte unserem Vorwärtskommen Grenzen setzen.<br />

Gewöhnlich reise ich, um Land und Leute durch eigenen Augenschein<br />

kennenzulernen. Hatte ich in jungen Jahren als Old Shatterhand den Wilden<br />

Westen der Neuen Welt und unter dem Namen Kara Ben Nemsi die rätselvollen<br />

Weltgegenden des Orients durchstreift, so war ich diesmal in die nördlichsten Teile<br />

der Erde verschlagen worden, wo der Reisende naturgemäß mehr Land als Leute<br />

antrifft. Die Siedlung Etah, zu der ich unterwegs war, galt als letzte, das heißt:<br />

nördlichste feste Niederlassung der Eskimos zwichen Radebeul und dem Nordpol.<br />

Aber Etah lag drüben, in Grönland, und ich mußte zunächst nach einer Möglichkeit<br />

suchen, über noch fest zugefrorene Teile des Kanebeckens oder des Smithsundes<br />

dorthin zu gelangen, genauer gesagt: an die Küste von Inglefieldland. Das konnte<br />

sich jetzt - es war immerhin Mitte Mai - unter Umständen als durchaus schwierig<br />

erweisen. Mein Weg war lang, und sein Verlauf war ungewiß. Doch schreckte mich<br />

diese Aussicht nicht. Schnee lag in dem breiten Taleinschnitt, welchem ich folgte,<br />

überall mehr als genug. Nur hier und da hatte die Frühlingssonne schon Lücken<br />

gefressen, kleine Rinnsale wiesen den Weg zur Küste.<br />

Laut rufend spornte ich die Hunde an. Mir war gesagt worden, es solle hier, in den<br />

meeresnahen Gegenden von Ellesmereland, Moschusochsen geben. Das Terrain


schien für den Aufenthalt dieser merkwürdigen Tiere wie geschaffen. Beidseits der<br />

zur Küste führenden weitläufigen Schlucht, die ich nach Ende des Schneesturms<br />

erreicht hatte, ragten schroff ansteigende Felshänge empor, überzogen mit<br />

Schneewächten und Geröllbrocken, hinter denen sich diesen geschickt kletternden<br />

Paarhufern Zuflucht bot. Ich hatte Frischfleisch zum Auffüllen meiner Vorräte<br />

bitter nötig. Die Zeit des Südwärtsstreifens hatte diese auf einige Säcke Pemmikan<br />

zusammenschrumpfen lassen. War ich selbst auch genügsam in meinen<br />

Ansprüchen, so mußten doch die Hunde täglich gefüttert werden, wie lange die<br />

Suche nach einem Weg an die grönländische Küste auch dauern mochte. Und zwar<br />

mit Qualitätsnahrung, sonst liefen sie nicht. Insofern war die Hoffnung, die ich auf<br />

die Moschusochsen der Gegend setzte, keine geringe.<br />

Es dauerte auch nicht lange, so stieß ich auf erste Fährten dieser erstaunlich<br />

weiträumig umherschweifenden Tiere, die der Eskimo Omingmong nennt. Neben<br />

den Trittsiegeln hatte das lange, zottige Fell eine deutlich sichtbare Schleifspur<br />

hinterlassen. Offenbar handelte es sich um zwei junge Bullen, die ohne den Schutz,<br />

welchen allein das Leben in der Herde gewährt, unterwegs waren. Der Moschus-<br />

oder auch Bisamochse (Ovibos moschatus) erreicht höchstens anderthalb Meter<br />

Schulterhöhe. Er ist also an Statur und Kraft dem nordamerikanischen Büffel<br />

keineswegs vergleichbar, wenn auch beide eines gemeinsam haben: einmal gereizt,<br />

lassen sie nicht von ihrem Gegner ab. Das Tier ist zumeist in Streifrudeln<br />

unterwegs, die bis auf dreißig Köpfe anwachsen können. Fühlt eine solche Herde<br />

sich angegriffen, so formiert sich ein schützender Ring aus Leibern um Kälber und<br />

schwächere Tiere. Man wird bei dessen Anblick unwillkürlich an eine Wagenburg<br />

erinnert.<br />

Ich hatte nach erfolgreicher Jagd mit den Eskimos das Fleisch dieses Wildes schon<br />

mehrfach genossen und mich dabei an den kaum wahrnehmbaren Moschusgeruch<br />

gewöhnt. Daß ich lediglich zwei Exemplare vor mir hatte, war mir nur lieb. So blieb<br />

mir die Versuchung erspart, mein Jagdglück an zu vielen Tieren versuchen zu<br />

wollen. Ich verabscheue Massaker. Von Jagdlust befeuert schwang ich laut rufend<br />

die Peitsche über den Hunden. Ich fühlte mich ausgelassen und guter Dinge, mein<br />

Herz war mir unendlich leicht. Ich war unterwegs.<br />

Die Eskimos hatten sich beim Ausstaffieren für meine Reise höchst freigebig, ja ich<br />

möchte sagen: äußerst großzügig gezeigt. Pemmikan fürs erste, sowohl für die<br />

Hunde als auch für mich selbst, eine Reservegarnitur warmer Kleidung, einige<br />

Schneemesser zum Bau einer Unterkunft, ein zweiter Schlafsack - mehr hatte ich<br />

von meinen Weggefährten beim Abschied nicht erwarten können. Daß sie mir keins<br />

ihrer Gewehre abtreten konnten, sah ich unschwer ein. Zu sehr hing ihr eigenes<br />

Schicksal, ihr Überleben und das ihrer Familien, inzwischen von dem neuen,<br />

effektiveren Schießgerät ab. In mehr als zwei Jahrzehnten hatte Peary, der sich von<br />

den Inuit Nordgrönlands als selbstloser Kulturbringer feiern und gern<br />

Pearyoksoah, zu deutsch etwa: Großer Wohltäter Peary nennen ließ, die<br />

Polareskimos in erschreckende Abhängigkeit von den Zivilisationsgütern zu<br />

bringen vermocht, die er ihnen lieferte.


Andererseits war ich meinen Reisegefährten dankbar, daß sie mich nicht gänzlich<br />

unbewaffnet auf die Reise geschickt hatten. Vielmehr war ich von ihnen mit einem<br />

vollen Satz herkömmlicher Jagdmittel ausgestattet worden, nur hatte sich mir in<br />

Anbetracht des bisher herrschenden schlechten Wetters noch keine Gelegenheit<br />

geboten, damit zum Schuß zu kommen.<br />

Da sah ich plötzlich, deutlich als schwarze Punkte vom Weiß der Talsohle<br />

abgesetzt, die beiden Bullen vor mir. Sie mochten noch zwei- oder dreihundert<br />

Meter entfernt sein, doch war ich mit derlei Werten vorsichtig, seit ich mich<br />

mehrfach dabei ertappt hatte, in der blinkenden Weite Entfernungen grob<br />

unterschätzt zu haben. Es dauerte nicht lange, da hatten die Hunde Witterung<br />

aufgenommen und stürmten ungeduldig voran. Mit einer tastenden Handbewegung<br />

versicherte ich mich der auf dem Schlittengepäck bereitliegenden Lanze und nahm,<br />

kaum war dies geschehen, das Messer zur Hand. Mit raschen Griffen schnitt ich<br />

drei Hunde aus dem straff gespannten Zuggeschirr frei.<br />

Sie schnellten los, der Beute entgegen. Die am Schlitten verbliebenen Tiere zerrten<br />

laut kläffend das Gefährt hinterdrein. Erst jetzt merkte das Wild die Gefahr. Die<br />

Ochsen hatten scharrend nach Futter gesucht, nun hoben sie die Köpfe. Ich konnte<br />

vor ihren Nüstern Atemwölkchen ausmachen. Die Augen blieben unter dem<br />

fransigen Fell verborgen. Wie beinerne Tragjoche lasteten den kurzen, gedrungenen<br />

Körpern imposant geschwungene spitze Hörner auf, schreckliche Waffen, war der<br />

Jäger nicht auf der Hut.<br />

Noch ehe die Hunde die beiden Tiere erreichen konnten, verließen diese den Platz,<br />

an dem sie geäst. Sie flüchteten mit einer Behendigkeit, die ich ihnen nicht<br />

zugetraut, dem Abhang am Rande des Taleinschnitts zu. Kaum hatten sie, unter<br />

Keuchen voranhastend, diesen erreicht, wurden sie von den Hunden gestellt. Die<br />

drei bellten wütend und machten gemeinsam Front gegen die Bullen, anstatt sie<br />

einzukreisen. Das gab dem Wilde Gelegenheit, sich gehörig in Positur zu stellen.<br />

Kleine Haufen aus Felsgeröll im Rücken, senkten die beiden Ochsen die Köpfe und<br />

harrten des Angriffes durch die Hunde. Die Körperkonturen des Paares, ohnehin<br />

nur unscharf durch wehendes Langhaarfell markiert, verschwammen zum Umriß<br />

eines einzigen, massigen Tieres mit vier drohend lauernden Hörnern.<br />

Kein Wunder: die Hünde zögerten. Doch kaum war ich mit dem Schlitten heran<br />

und ließ die Peitsche über die Köpfe der Zugtiere hinweg hinter ihnen klatschen,<br />

gingen sie zur Attacke über. Sobald der erste der drei Angreifer, ein kräftiger<br />

schwarzweißer Rüde, mit gebleckten Zähnen vorgeprellt war, fuhr der Fellkoloß<br />

seine vier Hornspitzen aus, und der Hund retirierte winselnd. Erneuter Angriff,<br />

diesmal durch alle drei Hunde, erneuter Rückzug. Ich war inzwischen nicht untätig<br />

gewesen. Ich hatte den Schaft der Lanze ergriffen und diesen in die hölzerne<br />

Speerschleuder eingeführt, welche der Eskimo so geschickt handhabt. Die lederne<br />

Schlaufe der Schleudervorrichtung spürte ich fest um die Rechte, die auch im<br />

Pelzhandschuh meine Waffe sicher beherrschte. Gerade hob ich den Arm zum<br />

Wurf, da flog der schwarzweiße Rüde in hohem Bogen durch die Luft, direkt auf<br />

das Zuggespann zu. Blut troff dem tödlich getroffenen Tier von der Seite und


spritzte in scharfem Strahl stoßweise durch die Luft, bis der Hund unweit des<br />

Schlittens landete. Dort blieb er liegen und rührte sich nicht mehr. Der Schnee<br />

verwandelte sich in einen dunklen Brei. Die beiden anderen Angreifer zogen<br />

winselnd die Schwänze ein.<br />

Angesichts der plötzlichen Bedrohung duckten sich die angeschirrten Tiere, und<br />

dieses unerwartete Sichducken verursachte ein kurzes, jedoch höchst scharfes<br />

Seitwärtsrücken des Schlittens, das mich aus dem Gleichgewicht brachte. Zwar<br />

hatte ich noch Zeit, die schlanke Lanze zum geplanten Blattschuß abzuschleudern,<br />

doch muß ich mein Ziel um Zentimeter verfehlt haben. Ich stürzte, das Gesicht<br />

voran, in den Schnee, so kräftig war mir der Wurf gelungen. Als ich mich wieder<br />

aufgerichtet und jedenfalls Stirn und Augen kurz reingewischt hatte, sah ich den<br />

getroffenen Jungbullen auf mich zu hasten. Die blutunterlaufenen Augen waren<br />

jetzt deutlich zwischen den Fellsträhnen sichbar. Er hielt sie fest auf mich<br />

gerichtet. Aus seiner Seite, handbreit unter der Schulter, ragte der Lanzenschaft.<br />

Meine Reaktion ließ nicht auf sich warten. Wenn der Augenblick der Gefahr da ist,<br />

hat jede vorher etwa vorhandene Bangigkeit aufzuhören, sonst ist man verloren.<br />

Und mir war nicht einmal bange gewesen. Ich wußte sofort, was zu tun war. Ein<br />

langes Jägerleben hatte mich gelehrt: jedes Tier ist in seinen Kopföffnungen am<br />

sichersten verwundbar. Ich stürzte zum Schlitten und riß die durch eine<br />

Verschnürung mit Fellstreifen festgehaltene Robbenharpune hervor. Da war der<br />

Bulle auch schon direkt vor mir. Weit holte ich aus und stieß ihm, alle Kraft<br />

zusammennehmend, die Harpune ins linke Auge. Wie vom Schlag gerührt sank das<br />

Tier in die Vorderknie, fiel auf die Seite und war sofort tot. So wie jetzt habe ich<br />

stets Glück gehabt. Doch war es auch diesmal das Glück des Tüchtigen und<br />

Erfahrenen. War ich erst wieder daheim in Radebeul, mußte ich diesen Moment<br />

des Jagdglücks verewigen. Ich mußte dazu wieder diesen Photographen aus Linz<br />

kommen lassen, würde mich für ihn in meiner Fellkleidung in Positur stellen, mal<br />

mit der Harpune und mal mit geschwungener Lanze. Unter die Konterfeis würde<br />

ich handschriftlich meinen Namen setzen, den ich als Eskimo angenommen:<br />

Tulimak. Die Lichtbilder von mir als Kara Ben Nemsi und als Old Shatterhand,<br />

welche dieser Linzer Photograph seinerzeit in Umlauf gesetzt, waren ein<br />

durchschlagender Erfolg geworden.<br />

Der andere Ochse hatte offensichtlich das Weite gesucht. Ich blickte mich um und<br />

sah ihn halb oben am Hang in kräftigen Sätzen aufwärts streben, der Hochebene<br />

zu. Die Hunde, angelockt durch den Blutgeruch, der von dem totgespießten Rüden<br />

ausging, hatten beim wilden Vorwärtsdrängen in Richtung auf ihren zur Strecke<br />

gebrachten Gefährten den Schlitten umgestürzt. Sie legten sich mit letzter<br />

Anstrengung in die Geschirre, knurrend, kläffend und um sich beißend, die<br />

Zugseile hoffnungslos verdreht und ineinander verhaspelt. Das heulte und stürzte<br />

in unbeschreiblicher Wildheit übereinander her, daß es eine Pracht war. Jedes Tier<br />

war bereit, jedem anderen den nächsten Bissen streitig zu machen. Auch die beiden<br />

überlebenden Verfolger waren wieder zur Stelle. Ja, sie erwiesen sich dem Rest der<br />

Meute gegenüber sogar im Vorteil, bewegten sie sich doch frei und ungehindert.


Folglich waren sie als erste über dem toten Rüden. Das wiederum spornte die<br />

anderen an. Sie schleppten, der Leithündin nacheifernd, die ich für die<br />

Verfolgungsjagd natürlich nicht von der Leine gelassen hatte, in zögerlichen,<br />

ruckenden Bewegungen den umgeschlagenen Schlitten nach.<br />

Mit dem blanken Messer in der Linken trat ich auf meine Beute zu. Ein kräftiger<br />

Ruck meiner freien Rechten riß die Harpune aus dem blutigen Etwas, das noch<br />

eben ein bedrohlich dreinblickendes Ochsenauge gewesen war. Nun konnte ich<br />

daran gehen, das erlegte Tier aus der Reichweite der Meute zu zerren. Es kam mir<br />

dabei äußerst gelegen, daß die Hunde sich ihrem toten Genossen zuwandten. So<br />

konnte ich ungehindert mit dem Enthäuten und Zerlegen beginnen. Wer damit allzu<br />

lange wartet, wird erleben müssen, daß ihm das Fleisch unter den Händen gefriert<br />

und er trotz einer so reichen Beute, wie es ein Moschusochse ist, mit leeren<br />

Händen dasteht. Ich trennte zunächst mit entschlossenen Schnitten den Kopf vom<br />

Rumpf und warf, was manchem Jäger eine heißersehnte Trophäe gewesen wäre, in<br />

weitem Schwunge den Hunden zu. Ich mußte sie weiter bei Laune halten, es war<br />

sogar höchste Zeit, hatten sie doch ihren armen Gefährten mittlerweile längst in<br />

tausend Stücke zerrissen und diese restlos bis auf die Knochen benagt. Ja,<br />

Eskimohunde sind rauhe Gesellen. Der Lärm, mit dem sie sich auf den neuen Fraß<br />

stürzten, war nicht zu beschreiben. Mich aber störte er nicht, konnte ich mich<br />

doch, während sie sich um Fetzen von dem Bullenkopf balgten, in aller Seelenruhe<br />

dem Kappen der Hufe widmen und danach ungestört die nötigen Schnitte tun, um<br />

von den Läufen und endlich dem ganzen Tiere die Decke abzuziehen.<br />

Das Fleisch dampfte. In einer flachen Schneesenke hatte sich das Blut des Bullen<br />

gesammelt. Es gerann nicht sofort. Die rote Fläche lag da wie ein Spiegel, und als<br />

ich in diesen hineinsah, erschrak ich über den Anblick. Ein hageres, von<br />

aufgelöstem Langhaar umrahmtes Gesicht mit eingefallenen Wangen starrte mich<br />

aus dunklen, tief sitzenden Augenhöhlen an. Nein, das war nicht der Karl May,<br />

den die Welt genau kannte: Old Shatterhand mit dem offenem Blick und einem<br />

strahlenden Äußeren, dem sein Inneres an Glanz und Lauterkeit nicht nachstand.<br />

Zwar brauchte ich mich über den Zustand meines Innersten auch jetzt nicht zu<br />

beklagen, doch ließ meine äußere Erscheinung, so wie ich sie eben erblickt hatte,<br />

eine Menge zu wünschen übrig. Ich hatte offenbar nicht nur, um Peary über meine<br />

Identität zu täuschen, Eskimokleider angelegt; ich war wirklich und wahrhaftig,<br />

zumindest rein vom Erscheinungsbild her, ein Inuit geworden. Ich war der Eskimo<br />

Tulimak.<br />

Noch einmal sah ich zu dem schwarzroten Spiegel hin. Das Blut war<br />

offensichtlich schneller gefroren als es hatte gerinnen können. Wieder starrte mir<br />

von der glatten Fläche das düstere Bild entgegen, das ich der Welt gegenwärtig bot<br />

- wenn diese Welt auch unter dem Zwang der Umstände eben jetzt allein aus mir<br />

als einzigem Betrachter bestand.<br />

Doch was war das? Ganz plötzlich fühlte ich mich nicht mehr allein. Ich erkannte<br />

in dem Spiegelbild neben meinem Kopf deutlich einen hockenden Vogel, ein<br />

Exemplar jener kleinen schwarzweiß gezeichneten Lummen, einer Vogelgattung aus


der Familie der Alken, die später im Jahr hier oben im hohen Norden zu<br />

hunderttausenden brüten. Irritiert griff ich nach meiner rechten Schulter, aber dort<br />

gab es nichts zu fühlen. Das Bild in der Spiegelung jedoch wollte nicht weichen.<br />

Ich blickte mich um und sah weder direkt neben mir noch etwa hinter mir in der<br />

Luft etwas, das einer Lumme auch nur entfernt ähnlich gesehen hätte. Kein Vogel,<br />

kein nichts. Auch wäre es mir unerklärlich gewesen, ausgerechnet hier auf einen<br />

solchen Vertreter der weitverzweigten Verwandtschaft arktischer Schwimmvögel<br />

zu stoßen. Diese ernähren sich nämlich ausschließlich von Meerestieren,<br />

vorwiegend von Krebsen aller Größen und von Molusken. Sie sind jedenfalls im<br />

Wasser am behendesten, verhalten sich an Land ziemlich unbeholfen und erweisen<br />

sich in der Luft als nur mäßig ausdauernd, wenn sie auch nicht absolut flugunfähig<br />

sind wie ihre antarktischen Vettern, die Pinguine. All das sprach dafür, daß ich<br />

soeben einer einfache Sinnestäuschung erlegen war, vermutlich aufgrund meiner<br />

Übermüdung, obwohl ich eine solche nicht wahrhaben wollte. Oder war ich den<br />

Gestaden des Smithsundes etwa schon näher, als ich bisher hatte annehmen<br />

können?<br />

Ebenso plötzlich, wie es auf der gefrorenen Blutlache aufgetaucht, war das Bild<br />

des gefiederten Gastes wieder verschwunden. Was mir jetzt aus dem Spiegel<br />

entgegenstarrte, war allein jenes abgehärmte Gesicht, welches als mein eigenes<br />

anzuerkennen ich mich nach wie vor weigerte, obwohl es ganz offenbar das des<br />

Inuitjägers Tuilmak war.<br />

Ich nahm das erlegte Wild aus und zerteilte die Beute in handhabbare Portionen,<br />

gerade noch rechtzeitig vor dem Starrwerden im Griffe der Kälte. Ehe ich das<br />

Fleisch auf dem Schlitten verstauen konnte, hatte ich das umgestürzte Fahrzeug<br />

erst einmal wieder auf seine Kufen zu stellen. Diese Prozedur wäre schon durch<br />

den Umstand, daß ich sie allein auszuführen hatte, eine Strapaze gewesen; im<br />

ständigen Abwehrkampf gegen die immer noch hungrigen Hunde beanspruchte sie<br />

all meine Kraft und all meine Willensstärke. Doch bin ich nicht jemand, der für<br />

Dinge, die allein auszuführen er durchaus im Stande ist, sich nach der<br />

Unterstützung durch andere sehnt.<br />

Das Werk vollbracht, konnte ich endlich aufbrechen. Nach drei (oder waren es<br />

vier?) weiteren Fahrtstunden ließ ich die Hunde halten. Im arktischen Frühsommer<br />

verliert man angesichts der ständig am Himmel kreisenden Sonne allmählich<br />

jedwedes Zeitgefühl, reist andererseits aber auch nicht unter dem Druck, bis zu<br />

einer gewissen Stunde - nämlich vor Einbruch der Dunkelheit - einen geeigneten<br />

Lagerplatz für die Nacht erreichen zu müssen. Dieses Gefühl der Zeitlosigkeit ist<br />

ermüdend und beflügelnd zugleich. Es läßt einen bis zur Erschöpfung gegen die<br />

Unbill der dem Menschen feindlichen Natur kämpfen, ohne daß diese Erschöpfung<br />

notwendigerweise als eine solche erkannt wird. Andererseits gebiert es aber auch<br />

eine mit nichts zu vergleichende, rauschartige Euphorie, welche zu immer neuen<br />

Taten beflügelt und oft erst durch einen vollständigen körperlichen<br />

Zusammenbruch gebremst wird. Auf dem schmalen Grat zwischen der


Möglichkeit zum Ausschöpfen aller Kräfte und dem Versagen infolge von<br />

Überanstrengung zu operieren ist das Geheimnis arktischen Reisens, zumal dann,<br />

wenn man allein unterwegs ist und um die Gefahren des scheinbar ewig dauernden<br />

Tages weiß.<br />

Mit einem der Schneemesser schnitt ich mir Blöcke für eine schirmende Wand<br />

zurecht, denn es hatte sich ein leichter Wind aufgemacht, welcher das Nahen der<br />

Küste erahnen ließ. Die Hunde gefüttert, ein Ruheseil aufgespannt, an das ich sie<br />

für die Zeit unserer Rast einzeln in gehörigem Abstand voneinander festmachte,<br />

mir selbst auf einem Öllämpchen Teewasser bereitet - all das ging mir schnell von<br />

der Hand. Es war mir inzwischen zur Gewohnheit geworden wie einst das<br />

Versorgen der Pferde und all die anderen liebgewohnten Vorbereitungen auf eine<br />

Rast am Lagerfeuer in der Prärie oder im Felsengebirge. Als kleine Belohnung gab<br />

es heute für mich ein Stück Moschusochsenlende, das ich sorgfältig auftaute und<br />

anschließend langsam briet. Ich hätte es mit einem solchen Festmahle in einer<br />

Pariser Gaststätte oder Unter den Linden nicht köstlicher treffen können.<br />

Nach erquickendem Schlaf ging es weiter, und ich erreichte tatsächlich bereits auf<br />

meiner nächsten Marschetappe die Küste von Ellesmereland. Zu meiner Freude<br />

war das Eis noch fest, und ich konnte die Meute ohne viel Federlesen mit lautem<br />

Hallo! und Peitschengeknall auf die glatte Fläche hinausjagen. Allerdings währte<br />

diese Freude nicht lange. Sobald sich die langgestreckte Bucht, auf deren Eis ich<br />

zunächst gestoßen war, zum Sund hin weitete, wurde spürbar, wie weit hier<br />

draußen die Frühlingsschmelze inzwischen fortgeschritten war. Wassergräben,<br />

sogenannte “Kanäle”, wie sie mir an Hensons Seite auf dem Wege nach Norden<br />

selbst in Polnähe begegnet waren, wechselten mit Wänden aus verwegen<br />

übereinander geschobenen Schollen ab. Diese bildeten teilweise regelrechte Gebirge<br />

aus Eis, unübersteigbar, mit scharfen Graten und schwindelerregenden Schluchten.<br />

Beide Arten von Hindernissen galt es zu umfahren, zu überwinden waren sie<br />

keinesfalls. Sie erwiesen sich zum Teil als recht weiträumig, und so zog sich die<br />

Überquerung des Smithsundes über viermal Schlaf hin, obwohl bei besseren<br />

Eisverhältnissen dieselbe Entfernung in der Hälfte dieser Zeit zu schaffen sein<br />

müßte. Ich konnte am Ende noch froh sein, zu keinem größeren Umweg nach<br />

Norden gezwungen gewesen zu sein, in eine Gegend, wo das Eis noch nicht in<br />

Bewegung geraten war. Als endlich im fernen Dunst Grönlands Küste auftauchte,<br />

merkten die Hunde die Nähe der alten Heimat und trugen mit einer extra Portion<br />

Anstrengung dazu bei, daß wir ohne weitere Rast das Ufer erreichten.<br />

Seit langem hatte ich meinen guten alten Sextanten nicht mehr zu Rate gezogen. Ich<br />

sage "alt", obwohl ich das Präzisionsgerät erst speziell für diesen Ausflug in die<br />

Arktik beim Pariser Instrumentenbauer Sicard geordert hatte. "Alt" heißt hier<br />

soviel wie "gediegen", denn was von Sicard kam, darauf war Verlaß, darauf gab<br />

man etwas unter Entdeckern und Reisenden. Ich hatte meine Meßgeräte nie aus<br />

anderer Quelle bezogen und habe dies nie bereut. Ich nahm das Instrument aus der<br />

Verpackung von Ölpapier, in der es mich zum Nordpol begleitet hatte und maß<br />

den Sonnenstand. Ich befand mich, wie ich zu meiner Freude feststellte, auf fast


genau 78 Grad nördlicher Breite und somit nur gering südlich von Etah.<br />

Am Eisrand vor der felsigen Steilküste hatte ich ein schnelles Fortkommen. Dort<br />

war die weiße Pracht noch nicht aufgebrochen. Ehe ich mich's versah, begegnete ich<br />

dem ersten menschlichen Wesen seit meinem Aufbruch vom Inuitlager beim<br />

Expeditionsschiff vor zwölfmal Schlaf. Es war ein einsamer Jäger, und es war kein<br />

Eskimo. Der Mann, der da mit seiner Winchester allein durch die arktische<br />

Wildnis pirschte, war auf Schneehasenjagd. Seine ansehnliche Strecke hatte er auf<br />

einem kurzen Handschlitten verstaut, den er neben sich her zog.<br />

Der Jäger entpuppte sich im Näherkommen als Fahrtgenosse von der "Roosevelt";<br />

ich dachte sogar, mich seines Namens zu erinnern und sprach ihn, sobald wir<br />

einander auf Rufweite nahe gekommen waren, mit ebendiesem an: "Hallo, Mister<br />

Whitney!"<br />

Er blieb stehen, erkannte mich aber offenbar nicht. Da nahm ich Zuflucht zu der<br />

alten Begrüßungsformel zwischen Forschungsreisenden, wie sie mit Erfolg schon<br />

von Stanley im afrikanischen Urwald benutzt worden war, als er Livingstone fand:<br />

"Mister Harry Whitney, wie ich vermute?" Nun waren wir zwar weder im<br />

tropischen Urwald noch handelte es sich bei dem Angesprochenen um eine<br />

Berühmtheit wie Doktor Livingstone, doch stutzte er plötzlich. Lehnte die<br />

Winchesterbüchse an den Schlitten und kam mir bedächtigen Schrittes entgegen.<br />

Ich zügelte die Hunde, die am liebsten weitergestürmt wären, und brachte meinen<br />

Schlitten direkt neben Whitney zum Halten. Nun war jeder Irrtum ausgeschlossen.<br />

Ich hatte bei der Überfahrt von Neuyork zwar wenig Kontakt zu diesem Manne<br />

gehabt, doch er war es, ganz zweifelsfrei. Harry Whitney war einer von drei<br />

sogenannten "Sportsleuten" an Bord gewesen, wohlbetuchten Sonntagsjägern aus<br />

bessergestellten Kreisen der amerikanischen Gesellschaft, die sich für ein paar<br />

tausend Dollar arktischen Wind um die Nase wehen lassen wollten. Peary hatte<br />

nämlich nicht nur mich als seinen Ehrengast, sondern auch einige zahlende<br />

Passagiere mit in die Arktik genommen und sie, so jedenfalls hatte ich bisher<br />

geglaubt, sämtlich mit dem Hilfsschiff "Erik" wieder in die Staaten<br />

zurückgeschickt. Doch da ich selbst ihm dabei ein Schnippchen geschlagen, lag<br />

kein Grund vor, anzunehmen, ich sei die einzige Ausnahme von dieser Regel<br />

geblieben. Die Vorgänge, die schließlich zur Ausführung meines Entschlusses<br />

geführt hatten, in der Arktik zu bleiben, waren derart turbulent gewesen und<br />

hatten meine Aufmerksamkeit dermaßen stark beansprucht, daß es mir durchaus<br />

entgangen sein konnte, wären auch noch andere nicht mit der "Erik"<br />

zurückgedampft. Es hätte mich jedenfalls nicht sonderlich gewundert, so dies der<br />

Fall gewesen sein sollte.<br />

Whitney sah mich noch immer sprachlos an. Wie ich trug er der Jahreszeit<br />

angemessene Eskimokleidung, nämlich eine weite Hose aus Eisbärenfell, Pelzstiefel<br />

und einen Anorak mit Kapuze, diesen allerdings aus Rentierfell und nicht aus der<br />

Haut eines Seehundes wie in meinem Fall. Sein Gesicht war glatt und strahlte<br />

rundum Zufriedenheit aus. "Ich kann mich nicht erinnern, daß wir einander je<br />

vorgestellt worden sind, Sir”, sagte er schließlich. "Auch wage ich zu behaupten,


Ihnen noch nie begegnet zu sein.” Seine hilflose Unentschlossenheit, das weitere<br />

Verhalten mir gegenüber betreffend, war unübersehbar.<br />

"Und doch ist dies der Fall, Sir", versuchte ich helfend einzulenken. "Gestatten<br />

Sie, daß ich Ihrer Erinnerung nachhelfe. Mein Name ist May, Doktor Karl May.<br />

Aus Germany."<br />

Nun war bei ihm offenbar "der Groschen gefallen." Er tat erstaunt einen Schritt<br />

zurück. "Ich hatte Sie auf der 'Erik' vermutet und inzwischen längst wieder in New<br />

York."<br />

"Ich Sie auch. Wie kommt es, daß Sie stattdessen ---"<br />

"Ach, wissen Sie, ich bin nun einmal passionierter Jäger. Aber das da" - der Kopf<br />

wies nach seinem Schlitten mit dem Tagesaufkommen an Schneehasen - "dafür war<br />

ich eigentlich nicht hierher nach Grönland gekommen."<br />

"Kleinvieh ernährt auch seinen Mann."<br />

"Was mir vorgeschwebt hatte, waren stattliche Trophäen - etwas zum Vorzeigen.<br />

Eisbären, Moschusochsen, Sie wissen schon, was ich meine." Sobald ich genickt<br />

hatte, fuhr er unbeirrt fort: "Nur hatte ich, als ich wieder aufs Schiff sollte, noch<br />

nichts vor die Flinte bekommen als das, was Sie so treffend Kleinvieh nennen.<br />

Schneehühner, Hasen, ein paar Vögel. Nun ja, und ein Walroß. Aber das wars denn<br />

auch schon. Da bin ich zu Commander Peary gegangen und hab ihm gesagt: Sir, hab<br />

ich gesagt, nichts für ungut, Sie haben Ihren Teil des Vertrages zwischen uns<br />

erfüllt. Aber mir fehlt hier noch was. Ich bleibe in Grönland, um zu überwintern.<br />

Und anschließend werde ich mit den Eskimos jagen gehen. So hab ichs gemacht."<br />

"Peary hatte nichts dagegen?"<br />

"Warum sollte er? Er hat mir versprochen, mich bei der Rückfahrt vom Pol<br />

aufzugabeln und mit zurück in die Staaten zu nehmen. Aber woher kommen Sie<br />

auf einmal hier reingeschneit, Doktor?"<br />

Ich war indes vom Schlitten gestiegen und auf Whitney zu getreten. Hatte den<br />

rechten Pelzfäustling ausgezogen und hielt ihm meine Hand hin. "Es freut mich<br />

jedenfalls, Sie zu treffen", sagte ich, seiner Frage ausweichend. "Sind Sie<br />

wenigstens inzwischen erfolgreich gewesen?"<br />

"Oh ja. Ich habe mittlerweile zwei sehr schöne Eisbärenfelle erbeutet. Auch die<br />

Köpfe sind beide in bestem Zustand. Aus dem Pelz eines dritten Tieres haben die<br />

Eskimofrauen mir diese prächtigen Hosen geschneidert." Er schlug in meine Rechte<br />

ein und lachte strahlend über das ganze Gesicht. "Nur einen Moschusochsen habe<br />

ich noch nicht schießen können. Die gibts hier nur selten, sagen die Eskimos. Eher<br />

drüben, in Ellesmereland."<br />

Ich nickte bestätigend. "Stimmt. Dorther komme ich eben."<br />

"Von Ellesmereland? Und Sie haben Moschusochsen gesehen?"<br />

"Sogar geschossen! Jedenfalls einen."<br />

"Sie Glückspilz! Schon für den Kopf würd' ich ne Menge Dollars hinblättern. Am<br />

liebsten schösse ich aber natürlich selbst einen."<br />

"Natürlich. Ich könnte Ihnen meine Trophäe auch nicht anbieten, nicht<br />

einmal geschenkt - ich habe sie an die Hunde verfüttert."


"An die Hunde? Sie sind mir ja ein Spaßvogel!"<br />

"Das ist mein voller Ernst. Das Fell habe ich allerdings bei mir auf dem Schlitten."<br />

"Na gut, das sehen wir uns nachher mal an. Die Frauen werden Ihnen helfen, es<br />

richtig zu behandeln. Aber sagen Sie, Doktor - wie kamen Sie eigentlich nach<br />

Ellesmereland?"<br />

"Mit Peary. Jedenfalls anfänglich."<br />

"Was? So sind Sie von hier aus im vergangenen Sommer an Bord der 'Roosevelt' ---<br />

?"<br />

"Ja. Bis zum Liegeplatz."<br />

"Und von dort kommen Sie jetzt?"<br />

"Präzise. Ich muß nach Europa zurück."<br />

"Verstehe. Bin selbst gespannt, wie lange Peary mich hier noch schmoren läßt. Die<br />

Zeit wird einem allmählich lang. Wenn Sie wissen, was ich meine. Ist er denn am<br />

Pol gewesen?"<br />

"Das müssen Sie schon ihn selbst fragen."<br />

"Nun ja, ich kann mir die Antwort denken. Was wird ihm auch weiter übrigbleiben,<br />

als zu behaupten, daß er es geschafft hat. Genau wie Doktor Cook. Der ist vor<br />

einem Monat hier durchgekommen. Oder ist es inzwischen schon fünf Wochen<br />

her? "<br />

" Nach dem, was oben am Kap bei der 'Roosevelt' ein paar Eskimos erzählt haben,<br />

die von Etah gekommen waren, ist er vor sechs Wochen von hier aus nach Süden<br />

aufgebrochen."<br />

"Sechs Wochen - von mir aus! Dann wissen Sie ja Bescheid. Ich bin mit der Zeit<br />

inzwischen etwas durcheinander."<br />

"Sie haben selbst mit Herrn Doktor Cook gesprochen?"<br />

"Was heißt gesprochen?! Ich hab ihn erst einmal wieder aufgepäppelt, als er mit<br />

seinen zwei Eskimos hier ankam, völlig erschöpft und abgehärmt. Sie haben den<br />

ganzen Winter in einer Höhle zugebracht, drüben, irgendwo auf der Südseite von<br />

Ellesmereland. Genaueres weiß ich nicht, darf mir ja wohl auch egal sein. Durch die<br />

Eisdrift und schlechtes Wetter hatte sich ihr Rückmarsch um fast ein ganzes Jahr<br />

verzögert. Ihr Rückmarsch vom Pol - so sagt er jedenfalls."<br />

"Sie bezweifeln, daß Cook am Pole gewesen ist?"<br />

"Was heißt bezweifeln? Erzählen kann er doch alles. Und vielleicht glaubt er's<br />

sogar. Und Peary wirds von sich auch glauben. Wissen Sie, Doktor - ich habe als<br />

Junge all diese Bücher von Jules Verne verschlungen. Darunter gibt es eins mit der<br />

wunderschönen Story von Captain John Hatteras, einem Engländer. Der hat auch<br />

zum Nordpol gewollt, koste es, was es wolle. Schon vor fünfzig Jahren oder so.<br />

Und er hat es geschafft - jedenfalls fast. Nur ist er in der Geschichte darüber<br />

verrückt geworden. Was brauche ich da den Pol! Ich ziehe jedenfalls einen<br />

handfesten Jagdausflug vor."<br />

"Ja", versuchte ich unserer Unterhaltung eine Wendung ins Unverfängliche zu<br />

geben, "vielleicht ist Jules Vernes Kapitän Hatteras der wirkliche Entdecker des<br />

Nordpols. Und alle, die sich nach ihm daran versucht haben, sind einfach zu spät


gekommen."<br />

"Das mag alles schön und gut sein, Herr Doktor May. Aber wie gesagt: nichts für<br />

mich. Was ist der Pol gegen einen sauber ausgestopften Moschusochsen in meinem<br />

Jagdzimmer daheim in New Haven, Connecticut!"<br />

Ich lachte kurz auf und fragte dann: "Sagen Sie - haben wir nicht einen<br />

gemeinsamen Weg? Sitzen Sie auf, es gibt noch genug Platz auf meinem Schlitten.<br />

Ihren schleppen wir hinterher."<br />

Gesagt, getan. Bezeichnenderweise hat Harry Whitney in seinem höchst<br />

lesenswerten Buch über die Zeit, die er bei den Eskimos in und um Etah verbracht,<br />

unser Zusammentreffen mit keiner Silbe erwähnt, wohl aber - wenn auch nur kurz<br />

und als eine eher nichtssagende, die Bedeutung des Ereignisses herunterspielende<br />

Episode - seine Begegnung mit Doktor Cook. Offenbar hat er sich weder mit Peary<br />

selbst noch mit dessen einflußreichen Gönnern unter Washingtons Politikern und<br />

Neuyorks Geschäftsleuten anlegen wollen, und so verschweigt er sogar bei dieser<br />

Gelegenheit eines: daß nämlich Cook ihm, Harry Whitney, die Instrumente, die er<br />

beim Polvorstoß benutzt hatte, sowie alle Aufzeichnungen aus dieser Zeit<br />

anvertraute, ehe er von Etah aus nach Süden aufbrach. Da Whitney als<br />

unmittelbarer Zeuge von diesen Dingen nichts sagt, werde ich mir erlauben, einige<br />

aufschlußreiche Details zu berichten. Darüber jedenfalls später.


2. DAS LAND DER GEGENSONNE<br />

Es mag an dieser Stelle eingewendet werden, ich hätte Herrn Whitney bei unserer<br />

Begegnung an Grönlands Eisrand zum besten gehabt, ließ ich ihn doch über<br />

Nordpolbezwinger daherschwadronieren, ohne mich selbst als erfolgreich zu<br />

offenbaren. Ich brauche mir, denke ich, keine dahingehenden Vorwürfe zu<br />

machen, habe ich doch, wie bereits mehrfach betont, nichts vom Entdeckergehabe<br />

jener Leute an mir, von denen er sprach. Und was seine Fragen angeht, so habe<br />

ich diese samt und sonders wahrheitsgemäß beantwortet - nicht immer ganz<br />

vollständig zwar, das gebe ich gerne zu, aber doch auch nie bewußt irreführend.<br />

Was er nicht zu wissen brauchte in seiner Einfältigkeit, fiel offenbar genau mit<br />

den Dingen zusammen, nach denen er nicht gefragt hatte, weil sie ihn nicht<br />

interessierten.<br />

Dies jedenfalls war am Tage der Ankunft in Etah meine Deutung der Situation.<br />

Ich habe seither meine Meinung über Whitney erheblich revidiert - das betrifft<br />

nicht nur die Ansicht, er sei ein Einfaltspinsel. Harry Whitney war verständiger<br />

und einfühlsamer als so manch einer, der sich für den Kolumbus des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts hält, ich nenne hier keine Namen. Er liebte die Jagd, wie er sie<br />

verstand und hatte zu den Inuit, auf die er sein Leben gesetzt und denen er<br />

vertraute, ein bemerkenswert ungezwungenes Verhältnis von gleich zu gleich.<br />

Nichts, aber auch gar nichts haftete ihm von der Überheblichkeit an, die Peary<br />

gegenüber "seinen" Eskimos an den Tag legte. Und mir, dies sei hier<br />

vorausgeschickt, war er während der Tage in Etah zuvorkommender Gastgeber<br />

und interessanter Gesprächspartner. Doch erzähle ich am besten der Reihe nach.<br />

Winters lebt der Eskimo nicht, wie oft angenommen, in der bekannten<br />

Schneekugel; diese benutzt er ausschließlich auf seinen Jagd- und Streifzügen.<br />

Das seßhafte Leben der Inuit während der kältesten Jahreszeit hat vielmehr eine<br />

Hütte aus Steinen und Rasenziegeln zum Schauplatz, Iglu genannt, von deren mit<br />

Fellen verhängtem Eingang ein leicht ansteigender Stollen in den Wohnraum<br />

führt. Dadurch wird das Anwesen, zumal wenn Schnee die Formen rundet, einer<br />

Schildkröte nicht unähnlich. Der niedrige Tunnel ist bis zu drei Meter lang; durch<br />

das Vorhandensein dieses Puffers soll das Eindringen von Kaltluft, sooft der<br />

Fellvorhang geöffnet wird, vermieden werden.<br />

Das Anstauen eines schier höllischen Gestanks in dem Hauptraume, in welchem<br />

sich das gesamte Familienleben abspielt, ist allerdings die Kehrseite der Medaille.<br />

Ich hatte zwar nur wenige Male Schlaf in einer solchen Behausung zugebracht,<br />

ehe ich mit Peary nach Norden aufbrach, doch war das Geruchstrauma ein<br />

bleibendes. Auch jetzt, da ich mit Harry Whitney Einzug in Etah hielt, stellte sich<br />

das Zurückrufen jener Zeit als ausgesprochene Schnüffelerinnerung her, zumal<br />

eine leichte Brise die Ansiedlung umfächelte. Über den Odeur in arktischen<br />

Unterkünften mag die Nase rümpfen, wer will - die Härte des Lebens in hohen<br />

Breiten nimmt keine Rücksicht auf einen verwöhnten Witterungssinn.<br />

Man darf sich die Siedlung Etah nicht als geschlossene Ortschaft vorstellen. Es<br />

handelte sich vielmehr um eine Ansammlung von gedrängt am Ufer der<br />

hafenartigen Bucht ausgestreuten Häusern des beschriebenen Typs, die so<br />

angelegt waren, daß sie die Hanglage möglichst geschickt auszunutzten. Und


doch gab es trotz aller Unterschiede zu menschlichen Wohnplätzen in anderen<br />

Gegenden unserer Erde - ob in einer Siedlung am Rande des Buschs im Sudan, ob<br />

in Kurdistan oder sonstwo - eine Gemeinsamkeit. Die Kinder des Dorfes<br />

sprangen, sobald mein Schlitten die Gemarkung erreicht hatte, um das Gefährt<br />

herum und verfolgten es mit lautem Gejohle. Das wäre auch in meinem<br />

Heimatstädtchen Ernstthal im sächsischen Erzgebirge oder im Sudan nicht anders<br />

gewesen.<br />

In den höchsten Tonlagen verkündeten die kleinen Krakeeler: "Ein fremder<br />

Schlitten, ein fremder Schlitten mit zwei Kabluna!" (Das von ihnen benutzte<br />

Inuit-Wort für Weiße bedeutet eigentlich wörtlich: Leute aus dem Süden).<br />

Sichtlich erfreut verkündeten sie: “Hurra - wir haben Besuch!” und deuteten,<br />

sobald sie Whitney erkannten, dessen Rückkehr auf ihre Weise: "Onkel Harry ist<br />

von einem fremden Kabluna gefangen worden!" Einige versuchten doch<br />

tatsächlich, übermütig springend Whitneys Fellkleidung zu erhaschen und sich<br />

daran festzukrallen, vermutlich in der Absicht, ihn zu “befreien”. Laut lachend<br />

schüttelte der Yankee sie ab und rief ihnen, von ihrem Übermute angesteckt,<br />

etwas zu, von dem ich nur das Wort sagdloc - zu deutsch: unwahr - verstehen<br />

konnte; alles andere wehte an mir vorbei.<br />

Ich ließ die Hunde in ruhigen Trott fallen und schaute mich um. Am oberen<br />

Rande der Siedlung erkannte ich einige Häuser, von denen das Dach über der<br />

Wohnkammer und dem Einstiegsstollen entfernt worden war, eine hygienische<br />

Maßnahme zur Durchlüftung der Winterbehausungen. Der Umzug der Familien<br />

von Etah in die von ihnen während der Sommermonate benutzten tupik, Zelte aus<br />

mehreren Schichten von Häuten und Fellen, war in vollem Gange, obwohl nach<br />

meinem Empfinden die herrschenden Temperaturen noch zu wünschen übrig<br />

ließen. Ehe der nächste Winter sich einstellte, würden die Familien ihre<br />

ausgetrockneten Anwesen neu mit Steinen und Erde abdecken und sie wieder<br />

beziehen.<br />

"Wir fahren am besten erst einmal zu mir!", riß Whitneys Stimme mich aus<br />

meinen Gedanken. Er deutete mit dem Arm in eine Richtung jenseits der<br />

Erdhütten und Zelte, die ich per Peitschenschwung an die Hunde weitergab. Zu<br />

meiner größten Überraschung hieß er mich schließlich vor einer halb im Schnee<br />

vergrabenen Bretterbude amerikanischer Machart halten, die mir durchaus<br />

bekannt vorkam. Doch hätte ich in diesem Augenblick nicht sagen können, in<br />

welchem Zusammenhang ich das Gebäude schon einmal gesehen hatte. "So, da<br />

wären wir", sagte mein Fahrgast und sprang vom Schlitten.<br />

Die Hunde beruhigend, so gut mir dies möglich war, blickte ich mich um und<br />

bemerkte dabei den Felsvorsprung, der das Haus vor den schlimmsten<br />

Verwehungen schützen mochte. Diese Besonderheit war mir nicht im Gedächtnis<br />

geblieben, doch stellte sich unabhängig davon langsam meine Erinnerung an die<br />

Umstände ein, unter denen ich diese Hütte schon einmal gesehen hatte, wenn auch<br />

nicht an genau dieser Stelle. "Gestatten Sie eine Frage, Sir", sagte ich, mir den<br />

Schnee aus der Fellhose klopfend.<br />

"Ja, gern. Aber kommen Sie doch erst einmal herein."<br />

"Sogleich. Sagen Sie bitte - hat dieses Häuschen nicht, ehe Peary mit der<br />

'Roosevelt' den Anker zum Aufbruch nach Norden lichtete, an einer ganz anderen


Stelle gestanden?"<br />

"Das hat es allerdings. Doktor Cook hat es für die Pelze und Walroßzähne<br />

errichtet, die er hier unter Obhut eines seiner Mitarbeiter zurückließ."<br />

"Rudolf Franke. Ich weiß."<br />

"Sie kennen Franke?"<br />

"Oh ja, sehr gut sogar. Er ist ein Landsmann von mir."<br />

"Na, dann ist Ihnen ja auch die ganze leidige Geschichte bekannt, die sich um die<br />

Pelz- und Elfenbeinvorräte von Doktor Cook ergeben hat."<br />

"In der Tat ist sie das. Sie meinen die schnöde Aneignung dieser Vorräte durch<br />

Peary." Ich erinnerte mich des unliebsamen Auftrittes, bei dem Peary den schwer<br />

an Skorbut erkrankten Franke gezwungen hatte, ihm all diese Schätze freiwillig zu<br />

überschreiben. Whitney sah die Sache allerdings anders: "Sagen wir lieber: die<br />

smarte Habhaftwerdung. Peary hat Franke mit der 'Erik' nach New York<br />

zurückfahren lassen. Dafür mußte der ihm das herrenlos gewordene Pelzwerk<br />

übereignen. Punkt.”<br />

"Ich war zugegen, als er diese - diese Übereignung von Franke erzwang und<br />

kenne die näheren Umstände ziemlich genau. Nach allem Rechtsverständnis eines<br />

zivilisierten Menschen war das Erpressung, ja Raub."<br />

"Nun ja, so weit würde ich nicht gerade gehen. Hier oben im Norden ist doch ein<br />

rechtsfreier Raum, da herrscht das Gesetz des Stärkeren. Das nächste Courthouse<br />

ist tausende Meilen entfernt."<br />

"Das sehe ich nicht so. Es gibt allgemeinmenschliche Regeln des Anstandes und<br />

der Gerechtigkeit, die kein Gericht benötigen, um festgestellt zu werden. Was hat<br />

denn Doktor Cook zu der ganzen Angelegenheit gesagt, als er Ihnen vor sechs<br />

Wochen hier begegnet ist?"<br />

"Was hätte er sagen können? Er weiß doch von nichts."<br />

"Sie meinen - er hält die Felle und Walroßzähne noch für sein Eigentum?"<br />

"Allerdings. Ich habe ihm nichts gesagt. Habe ihm lediglich erklärt, warum ich<br />

die Hütte hierher umgesetzt habe: wegen des bessern Schutzes vor<br />

Winterstürmen. Aus Pearys Gerangel mit Doktor Cook halte ich mich raus."<br />

"Hat er nach Franke gefragt?"<br />

"Doktor Cook? Natürlich. Er wollte wissen, wie es ihm ergangen ist. Da hab ich<br />

von seinem Skorbut erzählt. Und daß er inzwischen längst in New York ist."<br />

"Hat er beanstandet, die Hütte von Franke verlassen zu sehen?"<br />

"Aber woher denn! Franke sagte mir, er sei von Doktor Cook zunächst in<br />

Richtung Pol mitgenommen, dann aber zurückgeschickt worden. Beim Abschied<br />

habe Cook ihm ausdrücklich freigestellt, sich selbst nach einer Möglichkeit zur<br />

Heimfahrt umzusehen, falls der Doktor nicht bis zum Sommer vergangenen<br />

Jahres zurückkehren sollte. Genau das hat er getan. Ihm ist nichts vorzuwerfen."<br />

Wir waren inzwischen ins warme Innere des Häuschens getreten. Ich sah mich<br />

plötzlich und unvermittelt von - fast hätte ich gesagt: gemütlicher - Häuslichkeit<br />

umgeben, wie ich sie hier nicht erwartet hatte. Eine bequeme Sitzecke, ausgelegt<br />

mit einem Eisbärenfell und mehreren Blaufuchspelzen, eine kleine Küche mit<br />

Regalen voller Konserven und Blechgeschirr, eine Tranlampe, deren Licht jetzt<br />

während des langen Polartages zwar nicht gebraucht wurde, die aber Wärme<br />

spendete - all das zog mich unwiderstehlich an, und so sagte ich, die bislang


angesprochenen Dinge hinter mir lassend: "Daß wir über Pearys Verhalten derart<br />

unterschiedlicher Ansicht sind, lieber Herr Whitney, braucht ja unserem guten<br />

Verhältnis und gegenseitiger Achtung nicht im Wege zu stehen." Es gehört seit<br />

jeher zu meinen innersten Grundsätzen, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind.<br />

Denn sobald man dies zu verstehen gibt, wird man nie bei ihnen anstoßen,<br />

sondern vielmehr ungeteilte Anerkennung finden. So auch hier. Whitney hielt<br />

mir, nachdrücklich nickend, die Rechte hin. Ich sah ihn an und schlug ein.<br />

"Sagen Sie, hatte Peary nicht den Bootsmann der 'Roosevelt' hier in Etah<br />

gelassen, um die Pelze zu bewachen?"<br />

"Ja, gesagt hat Peary das. Aber in Wirklichkeit hat der Bootsmann wohl hier<br />

bleiben sollen, um in Pearys Auftrag noch mehr Pelze anzuhäufen. Ich meine:<br />

Pelze, die Geld einbringen. Nicht wirkliche Jagdtrophäen."<br />

"So gehen Sie nicht mit ihm gemeinsam auf Jagd?"<br />

"Dazu, lieber May, sind unsere Ansichten von der Kunst des Weidmannes denn<br />

wohl doch zu unterschiedlich. Ich jage am liebsten mit den Eskimos. Von ihnen<br />

kann man die Hohe Schule des Anschleichens und der Geduld erlernen. Ganz<br />

allein, so wie ich Ihnen heute begegnet bin, bin ich nur ausnahmsweise<br />

unterwegs. Der Bootsmann hingegen - ach, lassen wir das. Ein lieber Kerl. Doch<br />

ist er, wenn ich das so sagen darf, eher ein Metzger, kein Sportsmann wie<br />

unsereins. Nur ist er natürlich stärker von Peary abhängig als ich es bin. Er hat<br />

mir so manches Mal ---", Whithney zögerte augenblickslang. " Naja, er ist ganz<br />

brauchbar, sobald er benötigt wird. Falls er gerade hier ist."<br />

"Verstehe." Daß ich überhaupt nichts verstanden hatte, sollte ich später merken.<br />

Er bot mir einen Sitzplatz an. Wer schon einmal, wie ich in jenem Augenblick,<br />

nach neunmonatiger Abwesenheit von jeder Art Segnung der Zivilisation in<br />

einem warmen Raum in einem weichen Fellpolster hat Platz nehmen und alles<br />

vergessen dürfen, was in den nächsten Minuten sein Leben bedrohen könnte, wird<br />

nachfühlen, wie mir zu Mute war. Doch nicht genug damit. Plötzlich stand eine<br />

dampfende Tasse mit heißem Wasser vor mir; darin schwamm ein Brühwürfel<br />

und ich hörte Whitney beschwörend sagen: "Mit dem Löffel rühren, Herr Doktor,<br />

bis alles restlos aufgelöst ist. Der Fleischextrakt hilft ausgezeichnet gegen<br />

Skorbut."<br />

Beim Genuß des wohlschmeckenden Gesundheitstrankes muß ich wohl<br />

eingenickt sein. Als ich aus dem Schlaf schreckte, kam mein Gastgeber gerade zur<br />

Tür herein und sagte: "Ich habe mich derweil um Ihre Hunde gekümmert, Herr<br />

Doktor. Seien Sie unbesorgt - die Tiere sind gefüttert, ausgeschirrt und in<br />

sicherem Abstand zueinander einzeln angeleint. Ich glaube, Sie alle haben nach<br />

Ihrem langen Marsch vor allem ein gehöriges Maß an Ruhe nötig. Legen Sie ab,<br />

machen Sie es sich bequem! Den Schlitten abladen können wir später noch." Ich<br />

ließ mich nicht zweimal bitten.<br />

Wenn mein Zusammentreffen mit Harry Whitney keine Fügung des Himmels<br />

war, dann gibt es überhaupt keine. Er ließ es mir während der fünf sinnipah, die<br />

ich sein Gast sein durfte, an nichts fehlen. Für den bevorstehenden Weitermarsch<br />

stattete er mich mit einem seiner beiden leichten Zehnschuß-Winchestergewehre<br />

“Automatic Nullzweiundzwanzig” aus, einer neuartigen Waffe mit gefälligem


Äußeren, die erst seit wenigen Jahren im Handel ist. Soviel vorab: meinem guten<br />

alten Henrystutzen kann die Winchester Automatic nicht das Wasser reichen; doch<br />

war ich froh, künftig nicht mehr auf Speer und Harpune allein angewiesen zu<br />

sein. Sollte mir allerdings in der weißen Wildnis nochmals ein Moschusochse<br />

begegnen, so hieße es einmal mehr den Eskimowaffen Vertrauen schenken:<br />

Entweder nichts gewagt, oder alles gewagt! Meine neue Gentlemanbüchse (sie<br />

war wohl vor allem für Sonntagsjäger gedacht) würde mir in solch einem Fall<br />

wenig nützen; ihr Kaliber von nicht einmal sechs Millimetern machte sie eher für<br />

die Jagd auf Schneehühner, Füchse und Hasen geeignet - eben doch: Kleinvieh.<br />

Herr Whitney besaß ausschließlich Jagdwaffen der Firma Winchester, hatte diese<br />

doch ihren Sitz in seinem geliebten New Haven, Connecticut. Sein Arsenal<br />

umfaßte außer der Automatic .22 zwei mir aus dem Wilden Westen bestens<br />

vertraute Modelle: die Rifle 1895 mit dem bekannten handgerechten Spanngriff,<br />

der zum Einlegen des nächsten Schusses unter dem Schaft in weitem Bogen<br />

durchgezogen wird, sowie ein Repetiergewehr älterer Bauart für die<br />

durchschlagstarke amerikanische Armeepatrone .30-40. Am langhebligen<br />

Winchestergriff hatte ich seine Rifle bei unserer Begegnung sogleich erkannt. Er<br />

war mit allen drei Waffen äußerst zufrieden, wie übrigens auch mit seinen<br />

Schrotgewehren, und freute sich, mir durch Überlassung der einen Büchse<br />

behilflich sein zu können. Ich bot ihm im Austausch mein Moschusochsenfell an.<br />

Whitney lehnte zunächst voller Stolz ab. Er hoffe, so sagte er, schon bald selbst<br />

hinüber nach Ellesmereland und dort auch zum Schuß auf eins der begehrten<br />

Tiere zu kommen. Als ich jedoch weiterhin hartnäckig auf meiner Gegengabe<br />

beharrte, mich gar entschlossen zeigte, ihm sonst das Gewehr zurückzugeben,<br />

willigte er in die Annahme des Felles. Allerdings bestand er darauf, ich müsse<br />

zugegen sein, wenn er den Eskimofrauen den Auftrag erteile, das unförmige,<br />

steifgefrorene Fellbündel in einen ansehnlichen und vor allem: haltbaren Pelz für<br />

sein Jagdzimmer daheim im schönen New Haven, Connecticut zu verwandeln.<br />

Wir traten nach draußen. Es hatte leicht zu scheien begonnen. Bei meiner Ankunft<br />

hatte ich an unserem Weg durch die Siedlung zwar jede Menge lärmender Kinder,<br />

aber durchaus keine Erwachsenen wahrgenommen. Die Männer befanden sich,<br />

soweit sie im letzten Sommer nicht auf Pearys "Roosevelt" nach Norden gezogen<br />

waren, wohl auf der Jagd. Die Jahreszeit vor dem allgemeinen Eisaufbruch bot die<br />

erste günstige Gelegenheit, auf Großgetier auszugehen wie zum Beispiel den<br />

Narwal (auch See-Einhorn genannt; Monodon monoceros) . Zwar ließen sich<br />

diese Tiere später im Sommer in noch größeren Stückzahlen erlegen, doch<br />

würden sich dann mit dem Schwinden des Eises die Transportmöglichkeiten<br />

entlang der Küste für die Jäger so sehr verschlechtert haben, daß der größere<br />

Jagdertrag ihnen nur wenig nutzte, mußte dann doch vieles davon schlicht und<br />

einfach liegenlassen werden, dem Verderb überantwortet. Mich beschäftigte bei<br />

dem Gedanken an die abwesenden Jäger vor allem eine Frage: Würde unser<br />

Besuch bei den Frauen der Siedlung nicht falsch aufgefaßt werden? Ich hatte,<br />

muß ich hier einräumen, vom Familienleben der Inuit bislang allerdings lediglich<br />

durch Hörensagen Kenntnis.<br />

Als sei er meiner Überlegung gefolgt, bekräftigte Whitney: "Es sind kaum<br />

Männer daheim. Ich brenne drauf, daß sie zurückkommen und mich nach


Ellesmereland mitnehmen."<br />

"Und - die Jäger haben nichts dagegen, wenn wir ohne ihre Anwesenheit bei den<br />

Frauen auftauchen?"<br />

"Wenn sie hier wären, würden sie uns unweigerlich die eigenen Ehehälften<br />

anbieten."<br />

"Das - stimmt also?" fragte ich, immer noch ungläubig.<br />

"Ja. Und es gehört zum guten Ton, ist sozusagen durchaus gentlemanlike, ein<br />

solches Angebot anzunehmen. Selbst in den erlauchtesten Entdeckerkreisen."<br />

"Wie meinen Sie das?"<br />

"So wie ich es sage. Aber kommen Sie schon!"<br />

Während wir das sperrige Ochsenfell auf einen Handschlitten packten, glaubte<br />

Whitney mir, ehe wir loszogen, noch eine Warnung zukommen lassen zu müssen:<br />

"Allerdings ist die Frau eines abwesenden Jägers tabu. Bedenken Sie das."<br />

"Sir, in meinem Alter! Ich bin immerhin bald siebzig!" In meiner Stimme ließ ich<br />

deutlich Abscheu über die Form und Entrüstung über den Inhalt seiner<br />

Bemerkung mitklingen. Was ich ihm nicht auseinanderzusetzen für notwendig<br />

hielt war, daß ich auf meinen Reisen beim Umgang mit dem schönen Geschlecht<br />

die sich unweigerlich immer wieder bietenden galanten Gelegenheiten nie<br />

ausgenutzt oder gar mißbraucht hatte. Auf keiner meiner Reisen. Auch in<br />

jüngeren Jahren nicht. Man kann dies in meinen Büchern nachlesen.<br />

"Well - wir Yankees sagen: 'There's no fool like an old fool', Doktor. Ich wollte<br />

nur, daß Sie Bescheid wissen. Gibt es bei Ihnen kein ähnliches Sprichwort?" Er<br />

lachte.<br />

"Das gibt es wohl. 'Alter schützt vor Torheit nicht.' Aber Sie selbst - wie steht es<br />

mit Ihnen, Whitney? Wie alt sind Sie eigentlich?"<br />

"Ich bin - interessiert Sie das wirklich?"<br />

"Ach, ich dachte nur. Sagen Sie ehrlich - sind Sie in der langen Zeit ihres<br />

Alleinseins nicht den Versuchungen erlegen, welche die Sitten der Inuit für den<br />

Fremdling bereithalten? Ich habe davon freilich nur andeutungsweise gehört, von<br />

meinem Landsmann Franke."<br />

"Na, Franke war auch kein Kostverächter. Man schwärmt hier noch heute von<br />

ihm. Allerdings hat ihm der Skorbut am Ende schlimm zugesetzt."<br />

"Warum weichen Sie meiner Frage aus, Whitney? Sind Sie nun erlegen oder sind<br />

Sie es nicht? Come on - wenigstens ab und an?"<br />

"Hier weicht niemand aus. Sie haben nach den Versuchungen während meines<br />

Alleinseins gefragt. Ich meine - ob ich ihnen erlegen bin. Die Antwort ist Nein.<br />

Ich mache mir nichts aus Frauen. Zum Glück ist ja wenigstens hin und wieder der<br />

Bootsmann da."<br />

Mich schauderte. Was führte Whitney im Schilde? Spielte sein ausgesprochen<br />

dummer Kalauer vom 'Je öller umso döller' auf diese Dinge an? Hatte ich mich<br />

ihm etwa schon allzu vertraut gezeigt? Von meinen Feinden ist die weitläufige<br />

und warmherzige Schilderung von Männerfreundschaften in meinen Büchern<br />

immer wieder als Hinweis auf - nun, sagen wir: homoerotische Neigungen bei mir<br />

selbst ausgelegt worden. Ich kann dazu nur in aller mir zu Gebote stehenden<br />

Ernsthaftigkeit sagen: Honny soit qui mal y pense - Schmach über den, der Arges<br />

dabei denkt. Sollte die herzliche Freundschaft zu meinem Blutsbruder Winnetou


etwas damit zu tun haben, daß ich in meinen beiden Ehen nie Kinder gezeugt?<br />

Allein ein solcher Gedanke ist lächerlich, und seine unbedarfte, ja dümmliche<br />

Einfältigkeit fällt auf diejenigen zurück, welche ihn herauszublöken nicht lassen<br />

können. Da mein Werk wie auch der darum in der Alten Welt noch immer<br />

tobende Streit aber Whitney offenbar völlig unbekannt waren, konnte seine<br />

Bemerkung keinen Bezug dazu und also keinen anderen Zweck haben als daß er<br />

mich prüfen wollte.<br />

"Aha", sagte ich so gelassen wie möglich. "Und die Eskimofrauen von Etah<br />

wissen das?"<br />

"Oh ja! Sie verwöhnen mich trotzdem nach Strich und Faden. Oder - gerade<br />

deswegen, was weiß ich. Offenbar haben sie die Hoffnung noch immer nicht<br />

aufgegeben, mich eines Tages herumzukriegen."<br />

Wir hielten vor einem der ersten Stolleneingänge am Rande der Siedlung. In dem<br />

Tunnel, welcher zum Wohnraum hin langsam anstieg, ging es nur gebückt voran.<br />

Eine Tranlampe am Ende des Ganges spendete spärliches Licht. Plötzlich reckte<br />

Whitney sich auf, so gut dies eben ging, und rief mit lauter Stimme: "Jemand<br />

kommt zu Besuch, eben jetzt, macht euch darauf gefaßt. Und jemand bringt einen<br />

anderen Jemand mit zu Besuch." Dies getan, nahm er einen flachen, breiten<br />

Knochen - vermutlich ein Schulterblatt vom Ren -, der halbhoch an der<br />

eisstarrenden Wand gehangen hatte, und begann damit zunächst meine und dann<br />

die eigene Fellkleidung höchst sorgfältig abzuklopfen. Die Luft war von<br />

tausenden Schneekristallen erfüllt, welche mit verhaltenem Glitzern<br />

umherflirrten. Ich muß wohl ziemlich entgeistert dreingeschaut haben ob der<br />

unerwarteten Bastonade, denn sobald er mit der Prozedur fertig war und das<br />

Gerät an seinen Platz zurückgehängt hatte, erläuterte der Amerikaner: "Wer das<br />

nicht gründlich genug macht, dem taut drinnen die ganze Herrlichkeit und die<br />

Kleider werden naß und schwer. Sobald man aber wieder draußen ist, gefriert man<br />

zu einem Eisklumpen."<br />

Der Gang endete vor einer fast meterhohen Stufe, über die wir uns in das Innere<br />

der Wohnhöhle wuchteten. Der Raum war weit größer als der, den ich im<br />

Frühherbst vor meiner Weiterfahrt mit der “Roosevelt” kurz bewohnt hatte. Er<br />

war fast kreisrund, etwa fünf Meter im Durchmesser. Ich hatte mich bald an das<br />

klamme Licht der Tranlampen gewöhnt und bemerkte an der hinteren Wand eine<br />

mit trockenem Gras und Fellen bedeckte Plattform aus Steinen; dort saßen in<br />

gelassener Ruhe Frauen und Kinder jeglichen Alters beieinander und schienen<br />

darauf zu warten, daß wir uns zu voller Höhe reckten und das Wort an sie<br />

richteten. Die meisten Frauen, bis zu unserer Ankunft offensichtlich mit<br />

Näharbeiten beschäftigt, hatten Felle im Schoß und so fiel es nicht sogleich auf,<br />

daß sie vollständig nackt waren. Im schmalen Raum vor dem Absatz zur Empore<br />

brannte das Küchenfeuer mit blakender Tranflamme. Davor stand, gebückt mit<br />

Schüsseln und einem Kessel hantierend, eine junge Frau. Auch sie war<br />

unbekleidet; an sie wandte Whitney sich jetzt.<br />

"Der Kablunajäger bringt hier einen anderen Kablunajäger in euer Iglu und wir<br />

grüßen dich und die deinen, Aleqasina."<br />

Im Hintergrund flog kreischendes Lachen auf. "Sieht aber eher aus wie ein Inuit,<br />

dein fremder Kabluna. Ja sogar wie einer von uns - ein Inughuit!" Und abermals,


mit laut anteilnehmender Begeisterung: "Hahaha ---"<br />

"Wir müssen Ihre Haare wieder auf Kablunalänge schneiden, damit Sie als<br />

Weißer glaubwürdig sind", raunte Whitney mir zu und sagte daran anschließend<br />

zu der jungen Frau: "Der fremde Jäger hat dem Kablunajäger das Fell eines<br />

Omingmong zum Geschenk gemacht. Wirst du es für mich haltbar machen? Ich<br />

möchte es mit mir ins Land der Kabluna nehmen." Die von Whitney als Aleqasina<br />

Angeredete wog den Kopf hin und her, ehe sie antwortete: "Sobald unsere Jäger<br />

zurückkommen, wird es viel Arbeit mit Fellen geben. Also werde ich deines am<br />

besten sofort schaben. Wo ist es?"<br />

"Vor eurem Iglu. Gefroren auf einem leichten Schlitten."<br />

"Laß es, wo es ist. Mit dem Schlitten. Sobald es zu schneien aufhört, hole ich es<br />

herein, um es aufzutauen. Und wenn ich es durchgekaut und aufgespannt haben<br />

werde, bringe ich es Dir."<br />

"Ich danke dir."<br />

"Oh - nichts zu danken, Kablunajäger."<br />

"Nichts zu danken, nichts zu danken, Kablunajäger", äffte im Hintergrund eine<br />

Stimme schrill Aleqasina nach. "Ich wüßte schon, wie ich mir von dir danken<br />

lassen würde, Kablunajäger. Aber kann man einem Walroß das Fliegen<br />

beibringen?" Die Frauen lachten ausgelassen zu der gutmütigen Neckerei. Ich sah,<br />

daß sie Whitney mochten. Aus ihrem Gelächter flog nun eine Frage auf, die<br />

offensichtlich direkt an mich gerichtet war. "Es muß doch unter den Kabluna<br />

außer Pearyoksoah noch andere geben, von denen sich eine Frau ---"<br />

"Hör auf damit!", unterbrach Aleqasina die Fragerin.<br />

"Laß mich ausreden! Was du von ihm hältst, wissen wir zur Genüge."<br />

"Ja, sie soll ausreden!" forderten nun auch die anderen Näherinnen.<br />

"Ich meine: außer Pearyoksoahs Rauhbeinen. Männer, denen es noch etwas<br />

bedeutet, die einsame Frau eines für viele Mal Schlaf abwesenden Jägers in den<br />

Armen zu halten und sie zu trösten, indem er sich selbst tröstet. Das wollte ich<br />

sagen.”<br />

Die Rednerin sah mich unverwandt an. Unter ihrem Blick, angespornt auch durch<br />

die im Raume herrschende Atmosphäre, regte sich mein Geschlecht, und wiewohl<br />

ich bislang annehmen zu dürfen geglaubt, in Hinsicht auf derlei Dinge<br />

altersbedingt längst über den Berg zu sein, empfand ich das drängende<br />

Sicherhebenwollen nicht als peinigend, sondern als angenehm. Erst jetzt merkte<br />

ich, daß die Hände im Schoße der Frau keine Nadel hielten wie die Hände der<br />

immer noch emsigen anderen; sie hatte nicht genäht, sondern ein Fell gekaut, um<br />

das letzte Fett daraus zu entfernen und die Haut so mit Hilfe im Speichel<br />

vorhandener Wirkstoffe vor Verderb zu schützen.<br />

"Die Frau eines abwesenden Jägers ist tabu", zitierte ich, meine Verlegenheit<br />

überspielend, schnell die Sentenz, die Whitney mir beigebracht hatte.<br />

"Hahaha! Tabu, tabu --- ! Das sagen euch unsere Männer, wenn sie zur Jagd<br />

fortziehen. Tabu ist Männersache. Und ihr seid so dumm es zu glauben, weil ihr<br />

auch Männer seid. Unsere Jäger wollen nur selbst bestimmen können, mit wem<br />

wir unser Vergnügen haben. Mehr steckt nicht hinter dem, was sie tabu nennen.<br />

Stimmt's, Aleqasina?"<br />

Die Angesprochene, wenn auch zögerlich, nickte bestätigend. Doch gab die


Fragerin darauf keineswegs Ruhe. Sie wandte sich jetzt direkt an mich: "Also -<br />

wie ist es?"<br />

“Ich habe auf meinen Jagdzügen noch nie --- . Auf keiner einzigen meiner weiten<br />

Reisen ---"<br />

"Hahahaha ---", schallte es nun wieder im Chor, und die Frau, welche eben die<br />

Rede an mich gerichtet hatte, setzte, sobald sie ausgelacht hatte, hinzu: "Jaja, und<br />

das sollen wir dir glauben? Bleib doch besser bei der Wahrheit, mit Flunkerern<br />

pflegen wir unsanft umzugehen! Heißt du erst einmal Lügner...”<br />

"Ich bin kein Lügner, obgleich ich in meiner Heimat für das, was ich von meinen<br />

Reisen erzähle, häufig der Lüge bezichtigt werde”, brach es aus mir heraus.<br />

“Sagdloc! Pilugsing nartunga, maungainarssuaq oqalutsiarnialermiunga,<br />

sagdlutsiarnialermiunga! Unwahr! Humbug, dummer Unsinn, nichts als<br />

Verleumdungen!" Es war mir klar, was auf dem Spiele stand. Hätte ich erst<br />

einmal einen schlechten Ruf, wäre ein Spitzname schnell bei der Hand, und den je<br />

wieder loszuwerden, würde schwerfallen. Die Inuit haben, wie man wissen muß,<br />

zu den Namen wie auch zu den Beinamen, die eine Person führt, ein besonders<br />

pointiertes Verhältnis; hierzu bringt die allerjüngste Fachliteratur drastische<br />

Besipiele. Es sei in dem Zusammenhange auf Fridtjof Nansens "Eskimoleben"<br />

verwiesen sowie auf den ausgezeichneten Bericht des Grönländers Knut<br />

Rasmussen, der mir in englischer Übersetzung vorliegt: "The People of the Polar<br />

North. A Record", erschienen in London 1908.<br />

"Gut. Wenn du uns das sagst!", beendete die Fragerin das allgemeine Schweigen,<br />

das meinem Ausbruch gefolgt war. “Du sagst es. Also ist es so.” Sie nahm<br />

geruhsam die Arbeit wieder auf, stopfte sich mit geschicktem Griff den Zipfel des<br />

Fuchsfelles in den Mund, an dem sie bei unserem Eintritt gearbeitet hatte und<br />

setzte die Kinnbacken mit Vehemenz in Bewegung. Ich atmete tief. Von dort<br />

drohte mir also keine Gefahr mehr.<br />

Die anderen Frauen fuhren zu nähen fort. Ich wandte mich, einigermaßen<br />

beruhigt, Whitney zu. Der hielt mit beiden Händen ein Schälchen, aus dem es<br />

verheißungsvoll dampfte. Er führte es langsam zum Mund und nahm laut<br />

schlürfend einen Schluck.<br />

"Oh, Robbentran - köstlich!", sagte er und grinste mich an. Sein Kopf deutete auf<br />

Aleqasina, die auch mir eine Schale hinhielt. Ich nahm sie ihr, mit einem<br />

Kopfnicken dankend, ab.<br />

Wie bereits erwähnt, war die Erinnerung an meine früheste Zeit als Eskimo<br />

Tulimak vor allem eine Geruchserinnerung, und zwar keine besonders<br />

angenehme. So will ich mich an dieser Stelle nicht über das Ergebnis der<br />

Bemühungen meiner Nase auslassen, als diese jetzt in der engen Wohnhöhle<br />

langsam Witterung aufnahm. Neben den - zugegeben: ungewohnten - vom<br />

Geschmacke des Robbentrans ausgehenden Signalen, die meinen Gaumen<br />

umspielten, wurde sie dabei auch zahlreicher alter Bekannter gewahr, die ich<br />

nicht einzeln benennen möchte.<br />

Nun die Lage entspannt war, hatte ich nicht nur Zeit, herumzuschnüffeln, ich<br />

konnte mich auch etwas umsehen. Die trangespeiste Flamme, welche Aleqasina<br />

zum Herdfeuer diente, kam aus einer kunstvoll geschnitzten Lampe aus Speck-<br />

oder Seifenstein, mit einem Dochte aus Moos. Steine dienten als Auflage für die


Herdlampe, und an der Art, wie die junge Frau deren Lage zueinander und zum<br />

Lampenkörper laufend veränderte, war unschwer abzulesen, daß Aleqasina den<br />

Erwärmungsprozeß in dem Topf auf dem kleinen Dreifuß aus kräftigem<br />

Eisendraht in keinem Augenblick dem Zufall überließ. In der Arktik will auch der<br />

kleinste Handgriff, soll er effektvoll sein, überlegt getan werden.<br />

Von der bemoosten Steinplattendecke des Raumes hingen allerlei Pfannen,<br />

Becher, Gabeln und andere Gerätschaften herab. Sie waren zum Teil noch<br />

traditionell gestaltet, wie sie seit jeher im Gebrauche der Inuit gewesen sein<br />

mochten - gefertigt unter Verwendung der dafür schon immer verwendeten<br />

Materialien wie Schwemmholz, Knochen, Speckstein undsoweiter -, zum Teil<br />

verrieten sie durchaus schon die Herkunft aus der sogenannten Zivilisation: ein<br />

Drahtsieb, ein Nudelholz, eine Schere (um hier nur diese drei Dinge beim Namen<br />

zu nennen, die mir allerdings eher zufällig in Erinnerung geblieben sind).<br />

Kein Zufall war die Komposition dieser baumelnden Menage aus alt und neu;<br />

daß Peary auch auf dem Gebiete der Küchengeräte nicht untätig war, um die Inuit<br />

in Abhängigkeit von Lieferungen zu bringen, die nur er ihnen vermitteln konnte,<br />

dieser Umstand war unübersehbar. Was den Eskimomännern seine Messer,<br />

Gewehre und Patronen, waren den Frauen Nähnadeln und Nudelholz.<br />

Meinen Trank beendet, setzte ich die Schale auf einem schmalen Steinbord ab<br />

und bedankte mich nochmals mit einem Nicken. Kinder hatten inzwischen von<br />

dem Küchenraume, in dem Whitney und ich noch immer standen, Besitz ergriffen<br />

und spielten laut lärmend um unsere Beine. Plötzlich stutzte ich. Das kann doch<br />

nicht wahr sein!, sagte deutlich etwas in mir. Und doch ---. Ich sah noch einmal<br />

genauer hin, sah die hart blickenden Augen des etwa dreijährigen Knaben, der<br />

dort mit seinen Gefährten tollte, sah seine mit nichts auf der Welt zu<br />

verwechselnde Nase, die fliehenden Schläfen, die hohe Stirn bis zum Ansatz der<br />

schwarzen Eskimohaarpracht. Der Junge trug unverkennbar Pearysche Züge.<br />

Ich merkte, daß Whitneys Augen meinem Blicke gefolgt waren und fragte, ohne<br />

ihn dabei anzuschauen: "Sehen Ihre Augen auch, was meine sehen?"<br />

"Oh ja - habe ich es Ihnen nicht angekündigt? Entsinnen Sie sich?", entgegnete er<br />

langsam, doch offenbar überhaupt nicht zögerlich, ja, eher genußvoll.<br />

"Das also ---". Ich nickte. "Hat der Große noch mehr Kinder hier oben?" Wir<br />

sprachen jetzt Englisch und ich vermied mit Absicht die Nennung von Pearys<br />

Namen.<br />

"Allerdings. Noch einen, schon etwas älteren Sohn. Der muß wohl mit den Jägern<br />

unterwegs sein, oder er ist zu Besuch in einem anderen Iglu. Ich frage nachher die<br />

Hausfrau."<br />

"Sie ist wohl die Mutter der beiden?"<br />

"Erraten!"<br />

Ich strich Pearys Sohn freundlich über den Scheitel und fragte ihn nach seinem<br />

Namen. Jetzt erkannte ich in seinem Gesicht und in seiner Haltung auch etwas<br />

von den ebenmäßigen, ja sehr schönen Zügen Aleqasinas. Der Junge verstand<br />

zunächst nicht, was ich mit meiner Frage meinte. Erst als ihm seine Mutter<br />

zunickte, antwortete er mir, der Eskimositte entsprechend von sich selbst in der<br />

dritten Person redend: "Man nennt diesen Knaben Kale. Er wird einst ein großer<br />

Jäger werden und auf seinen weitgreifenden Streifzügen das Land der Kabluna


esuchen."<br />

"Na, dann vergiß uns mal bloß nicht!", klang es da aus dem Kreis der Näherinnen,<br />

und ein allgemeines Lachen flog auf. Ich sah Whitney an, wir wandten uns zum<br />

Gehen. Vor seinem Haus begrüßten die Hunde uns mit freudigem Bellen.<br />

Whitney schob Dinge, die er für nowendig erachtete, offenbar nicht auf die lange<br />

Bank. Er machte sich sofort daran, meine Haare zu kürzen und mir den Bart zu<br />

stutzen. Dies getan, zeigte er auf eine Tür am hinteren Ende des Wohnraumes.<br />

"Dort geht es zu dem Verschlag mit den Fellen. Wenn Ihnen daran gelegen ist,<br />

Cooks oder vielmehr Pearys Reichtümer an Pelzen und Elfenbein zu bewundern."<br />

Ich nickte. Von mir aus hätte ich ihn nicht darum ersucht, mir die umstrittenen<br />

Schätze des hohen Nordens einmal selbst ansehen zu dürfen. Doch nun, da er es<br />

von sich aus anbot, verhehlte ich mein Interesse nicht.<br />

Was ich erblickte, verschlug mir die Sprache. Es handelte sich tatsächlich um<br />

einen arktischen Gral. Da gab es schier nicht endenwollende Reihen sorgfältig<br />

aufgeschichteter Stapel von Fuchs-, Hasen-, und Vogelbälgen, in Fässern staken<br />

gerollte Rentierdecken und Robbenfelle, und längs der Wände gewahrte ich auf<br />

hölzerne Rahmen gespannte flauschige Eisbärenpelze und Felle vom<br />

Moschusochsen, beides sowohl mit als auch ohne Schädeldekor. Zwischen den<br />

Stapeln und Spannrahmen und Fässern war kein Durchkommen möglich, dort<br />

lagerten Unmengen mattglänzender Walroßeckzähne und eindrucksvoll spiralig<br />

gefurchter Narwalhörner, manch eines davon gut seine zwei, drei Meter lang.<br />

Diese so genannten Hörner, sei mir hier einzuflechten gestattet, sind in Wahrheit<br />

dem Narwalmännchen eignende Stoßzähne, und zwar handelt es sich stets um den<br />

linken - auf der rechten Seite sind die Stoßzähne verkümmert, beim Weibchen<br />

sogar alle beide.<br />

"All das haben Doktor Cook und Franke --- ich meine: allein?"<br />

"Wo denken Sie hin! Nein nein, den größten Teil haben sie von den Eskimos<br />

eingetauscht. Sie sehen doch, was hier oben gespielt wird: Gibst du mir Pelze,<br />

bekommt du Patronen. Patronen und den anderen Plunder, ohne den die Eskimos<br />

all die Jahrhunderte vorher auch ausgekommen sind. Und wozu? Damit du mir<br />

noch mehr Pelze geben kannst, die ich dann in den Staaten verkaufe - und was ich<br />

dort an deinen Pelzen verdiene, weißt du ja nicht. Schlimmer als der Pelzhandel<br />

früher im alten Westen, glauben Sie mir! Nur hat sich noch niemand getraut,<br />

Feuerwasser als Zahlungsmittel zu benutzen. Dazu sind sind wir alle hier in der<br />

Kälte zu sehr auf die Eskimos angewiesen, und zwar auf nüchterne Eskimos. Aber<br />

das kommt auch noch, glauben Sie mir! Mir persönlich fehlt jederlei Verständnis<br />

einer derartigen Motivation für das Jagen hier oben im Eis."<br />

"Da nehmen sich Cook und Peary wohl nichts?" Ich konnte noch immer nicht<br />

glauben, was sich da meinen Augen bot. Die Erinnerung an die Habgier in Pearys<br />

Blick, als er mir einmal von den Möglichkeiten gesprochen hatte, die ihm der<br />

Handel mit den aus der Arktik stammenden Rauchwaren eröffnete, übermannte<br />

mich. Kurz gedachte ich auch jener unschönen Szene, in der er Franke dieses<br />

Schatzlager abgetrotzt hatte als Preis für die Passage des Skorbutkranken auf der<br />

“Erik” zurück nach Neuyork; eine solche Überfahrt war allenfalls ihre hundert<br />

Dollar wert.


"Kein Stück! Im Grunde gehören die Pelze keinem von beiden. Jedenfalls die<br />

nicht, die sie nicht selbst erjagt haben. Auch die Arbeit der Frauen bekommen sie<br />

umsonst. Sehen Sie doch nur einmal, welche Reichtümer durch deren fleißiges<br />

Kauen und Schaben und Trocknen geschaffen wurden!" Als hätte er meine<br />

weiterführenden Gedankengänge erraten, fragte Whitney mich plötzlich: "Na, auf<br />

wieviel schätzen Sie den Wert dieser Sammlung, Doktor?"<br />

Ich bin sonst kein ehrgeiziger Mensch, zumal in rein geschäftlichen Dingen. Doch<br />

hatte Whitney in allen dieser Fragestellung vorausgegangenen Bemerkungen kein<br />

Hehl aus seinem Desinteresse an dem Gelde gemacht, das diese Pelze<br />

repräsentierten, und er war offenbar reich genug, sich glaubhaft derart<br />

desinteressiert geben zu können. Seine plötzliche Neugier konnte also einzig und<br />

allein einer Art sportlichem Interesse entspringen. So nahm ich denn die eher<br />

harmlose Herausforderung an, die in seiner Frage verborgen war, sah mich noch<br />

einmal genauestens um, schätzte die einzelnen Posten ab, verglich mit<br />

Marktpreisen in Neuyork, am Leipziger Brühl und in Petersburg und sagte<br />

freiweg, ohne weiteres Zögern: "Sechsunddreißigtausend Dollar."<br />

"Da mögen Sie recht haben", sagte er mit leicht überlegendem Kopfnicken.<br />

"Vielleicht sollte ich Peary das ganze Zeugs abkaufen und Cook und Franke das<br />

Geld geben. Was meinen Sie?"<br />

Ich lächelte über die unverhoffte Wendung unseres Gespräches. Unter leichtem<br />

Kopfschütteln sagte ich dann: "Ein solches Vorgehen Ihrerseits, lieber Whitney,<br />

scheint mir eher unwahrscheinlich als wahrscheinlich zu sein."<br />

"Sie halten mich wohl für geizig?"<br />

"Ich Sie? Aber ich muß doch sehr bitten! Nachdem Sie mir hier sozusagen am<br />

Ende der Welt alle unter zivilisierten Menschen nur erdenkliche Gastfreundschaft<br />

haben angedeihen lassen? Mir eben sogar gratis und franco die Haare geschnitten<br />

und den Bart gestutz haben, ohne die Friseurhand auch nur andeutungsweise ---<br />

.” Ich mußte laut lachend losprusten, so abwegig schien auf einmal das soeben<br />

von mir benutzte Bild zu sein. Als ich, nach Luft schnappend, zum<br />

Weitersprechen ansetzte, unterbrach Whitney mich: "Was ist daran lächerlich?<br />

Ich meine die Frage ernst: Warum unwahrscheinlich!"<br />

"Lieber Whitney!" Ich hatte mich wieder in der Gewalt, und wenngleich der<br />

Hinweis auf die Ernsthaftigkeit seiner Frage sich mir immer noch nicht völlig<br />

erschlossen hatte, sagte ich: "Unwahrscheinlich scheint es mir allein deshalb, weil<br />

Sie in einem solchen Falle, so möchte ich annehmen, die schönsten Stücke am<br />

liebsten für sich behalten würden. Für Ihr vielgepriesenes Jagdzimmer daheim in<br />

New Haven."<br />

"Aber Herr Doktor May! Sie scheinen nichts, aber auch gar nichts von dem<br />

Jagdethos begriffen zu haben, das mich beseelt. Ich und meine<br />

Trophäensammlung mit fremden Federn schmücken! Das wäre ja noch schöner!<br />

Nichts liegt mir ferner als das."<br />

Ich sah ihn an, unterdrückte die Frage nach dem Fell meines Moschusochsens<br />

und sagte: "Nun gut - lassen wir die Wahrscheinlichkeitsfrage. Es gibt einen<br />

anderen - ich möchte sagen: einen moralischen Grund. Da Sie ethische Probleme<br />

schon einmal anschneiden."<br />

"Ich höre."


"Würden Sie, Harry Whitney, Peary die Felle abkaufen und Cook und Franke das<br />

Geld geben, machten Sie sich unweigerlich der Mithilfe bei einer Rechtsbeugung<br />

schuldig. Niemandem wäre damit auf Dauer geholfen. Weil ganz einfach ein<br />

Schurkenstreich nicht durch eine philanthropische Geste legitimiert werden darf,<br />

und käme sie - wie bei Ihnen - aus noch so reinem Herzen. In gar keinem Falle.<br />

Eine Gemeinheit bleibt immer eine Gemeinheit. Daß bei der erzwungenen<br />

Übereignung der Felle durch Franke an Peary eine Gemeinheit vorliegt - das<br />

festzustellen bedarf es eines ordentlichen Gerichtes, Whitney."<br />

"Ach, ihr langweiligen, prinzipienfesten Deutschen."<br />

"Ich weiß, ich weiß, das man uns dies nachsagt. Wie würden Sie denn als<br />

Amerikaner die Sache regeln? Ich meine - ohne sechsunddreißigtausend Dollar zu<br />

investieren?"<br />

"Von uns wird behauptet, wir seien Pragmatiker. Da ist sicher was dran. Ich<br />

würde jedenfalls erst einmal einen außergerichtlichen Vergleich anstreben."<br />

"Zwischen Peary und Doktor Cook?"<br />

"Die beiden sind die wirklichen Kontrahenten. Cook wird sich mit Franke schon<br />

irgendwie arrangieren."<br />

"Heilige Einfalt! Es geht doch nicht um die Felle und das Elfenbein in Ihrer" - ich<br />

zögerte - "hier in Ihrer Veranda! Und auch nicht um Franke, weiß Gott."<br />

"Worum geht es denn?"<br />

"Die beiden von Ihnen genannten Herren glauben jeweils an sich selbst als den<br />

Sieger am Nordpol! Dieser Trophäe kommt kein noch so gut, und sei's mit<br />

gefletschten Zähnen, präparierter Eisbärenschädel gleich. Hier geht's um<br />

Historisches, lieber Herr Whitney! Wenn ich das mal so ausdrücken darf."<br />

"Na und?"<br />

"Seit Menschheitsgedenken - ich meine seit der griechischen Antike hat der<br />

sprichwörtliche unbändige Forschergeist davon geträumt, dort zu stehen, wo es<br />

nicht weiter nach Norden geht. Ich sage nur: Pytheas, der Heilige Brendan, die<br />

Wikinger - ach, was soll das!"<br />

Sobald die eben gesprochenen Worte meinen Mund verlassen hatten, war mir<br />

klar, daß ich da Dinge aufblätterte, die nicht nur Whitney überhaupt nicht<br />

tangierten, sondern auch meinen eigenen innersten Überzeugungen diametral<br />

zuwiderliefen. Unbändiger Forschergeist! Welch ein Unsinn! Doch war die<br />

Versuchung süß, die großen Phrasen prüfend der Wirklichkeit ausgesetz zu sehen.<br />

"Ich verstehe Sie nicht, Doktor May! Hinter Ansprüchen steht jeweils ein<br />

Wertanspruch. Sage mir, was du behauptest, und ich sage dir, was du dafür<br />

bekommen kannst. Wenn der Aufwand nicht lohnt, widerrufe am besten deine<br />

Behauptung, ehe jemand dich wegen geschäftsschädigender Äußerungen<br />

verklagen kann."<br />

"Was meinen Sie damit?"<br />

"Was ich meine? Haben Sie jemals daran gedacht, was der Pol netto wert ist?"<br />

"Eben haben Sie mich noch um eine bescheidenere Schätzung gebeten: nach dem<br />

Wert all der Pelze und dieser Walroßzähne und Narwalhörner."<br />

"Nun - gesetzt mal den Fall, Sie würden behaupten, als erster Reisender -<br />

vielleicht sogar als Einziger - am Nordpol gestanden zu haben. Was würde das für<br />

Sie bedeuten, Doktor?"


"Ich? Das --- das ist doch eine völlig absurde Frage!"<br />

"Nur zu, Doktor May! Keine falsche Scham. Der berühmte amerikanische Traum<br />

eröffnet jedem alle Möglichkeiten. Als Erstentdecker des Nordpols könnten Sie<br />

der Welt alles anpreisen: Doktor Mays kräftigende Suppenwürfel zur Verhütung<br />

von Blässe und Vitaminmangel; Polarschnürsenkel, mit denen das Leben nie am<br />

seidenen Faden hängt; Hämorrhidencreme Marke Nordpol - hilfreich beim<br />

Aussitzen der langen arktischen Winternacht; dazu Lebensversicherungen,<br />

Modechic, Immobilien rauf bis zur Hudson Bay - ach, einfach alles! Sie könnten<br />

---"<br />

"Ich am Pole?” unterbrach ich seinen Gedankenflug. “Das wäre --- ." Noch immer<br />

war ich nicht bereit, ihm die Wahrheit zu sagen, selbst bei der immerhin<br />

möglichen Verschwiegenheit dieses weltentlegenen Winkels. "Das wäre ja<br />

einfach unglaublich - ich meine ---"<br />

"Ja? Wäre es das wirklich? Tun Sie sich keinen Zwang an."<br />

"Ich stelle mir vor, ich würde einfach sagen: Na und!?"<br />

"Mehr nicht?"<br />

"Nein."<br />

"Sie könnten Millionär werden. Nicht nur durch Werbung. Ein paar Worte mehr,<br />

ein paar wahrhaft historische Worte: bei Vorträgen, in Büchern ---"<br />

"Der letzte Schritt zum Pole ein kleiner Schritt für den, der ihn letzlich tut, jedoch<br />

ein gewaltiger Sprung vorwärts für die gesamte Menschheit. Etwas von dieser<br />

Art?" Seine übersprudelnde Phantasie hatte mich angesteckt.<br />

"Wenn Ihnen nichts besseres einfällt. Nur versilbern muß es sich lassen. Warum<br />

nicht: An dieser Stelle setzte ein Mensch erstmalig den Fuß auf den Nordpol der<br />

Erde. Er trug dabei die Fellstiefel von ---"<br />

"Nein. Er kam im Geiste des Friedens, einen uralten Traum der gesamten<br />

Menschheit erfüllend ---"<br />

"Geschenkt. Für Träume gibt niemand einen einzigen müden Cent aus."<br />

"Es ist nur - was heißt schon: an dieser Stelle! Diese Stelle ist morgen ganz<br />

woanders, nur nicht mehr am Nordpol!"<br />

"Was schert Sie, was danach kommt! Wir leben schließlich für heute."<br />

Es ist ja überhaupt keine Frage, daß originelle Charaktere wie Harry Whitney<br />

stets und überall einen tieferen Eindruck machen als gewöhnliche<br />

Dutzendmenschen. Meine Unterhaltung mit ihm währte noch lange, doch blieb<br />

während der ganzen Zeit eines gewiß: er war ein Yankee vom Scheitel bis zur<br />

Sohle und als solcher äußerst problembewußt, geschäftstüchtig und, ja,<br />

pragmatisch.<br />

Nach einem Mal Schlaf zeigte mir Whitney das Allerheiligste seines Anwesens,<br />

jene Region, der - ideell, nicht wertmäßig gesehen - selbst Pelze und<br />

Narwalhörner und Walroßzähne nicht den Rang ablaufen konnten. Er winkte<br />

mich in das Hinterste des Felldepots und zeigte mir dort die Kiste, in der Doktor<br />

Cooks Instrumente und all die Aufzeichnungen, die allein den Anspruch auf einen<br />

erfolgreichen Polvorstoß zu belegen imstande waren, aufbewahrt wurden. Es<br />

handelte sich um eine schreiend bunt mit Schiffen und Seeungeheuern bemalte<br />

amerikanische Seemannskiste. Whitney öffnete mit großem Pomp das


Vorhängeschloß und klappte den Deckel der Kiste auf. Ganz oben gewahrte ich,<br />

von unsicherer Hand ausgeführt, eine Kartenskizze mit zwei dicken Kreuzen:<br />

dort, wo der Nordpol sein sollte und dort, wo Cook mit seinen beiden Eskimos<br />

nach dem Polsturm das Winterlager bezogen haben will. Mit Genugtuung las ich<br />

die Randbemerkung des Kartenautors To be revised (etwa: Zu überarbeiten). Ich<br />

betrachtete die Karte gedankenvoll und dankte Whitney für das mir<br />

entgegengebrachte Vertrauen; sodann bat ich ihn, nunmehr die Instrumente in<br />

Augenschein nehmen zu dürfen. Stumm nickend stimmte er zu. Es handelte sich<br />

im einzelnen um einen Feldmesserkompaß mit Azimutadapter im<br />

Aluminiumgehäuse von der Firma Keufer&Essen, Neuyork; einen Sextanten, wie<br />

auch ich ihn benutzte und am Pole benutzt hatte: von Sicard in Paris; einen<br />

künstlichen Horizont aus Glas, samt dazugehörigem Metallrahmen mit<br />

Justierschrauben und Justierlibellen, einem Quecksilbervorrat zum Auffüllen und<br />

allem Drum und Dran; ein Dosenbarometer aus Aluminium von der Firma<br />

Hudchinson, Boston; einen Satz spiritusgefüllter Maximum- und<br />

Minimumthermometer sowie weitere Thermometer und einen<br />

Flüssigkeitskompaß.<br />

Mit dieser Ausrüstung konnte sich jeder Forschungsreisende sehen lassen, zumal<br />

auch sämtliche Papiere vorhanden waren, auf denen Doktor Cook alle<br />

Eichmessungen sowie seine Berechnungen zur Korrektur der Meßwertablesungen<br />

dokumentiert hatte. Daneben lag umfangreiches Tabellenmaterial vor, höchst<br />

übersichtlich angeordnet, das kurz durchzublättern ich Gelegenheit fand. Er listete<br />

darin die täglichen Standortbestimmungen auf, gab Auskunft über die Wetter- und<br />

Eisbeobachtungen sowie besondere Vorkommnisse: selbst das elende Verrecken<br />

der ersten Hunde am sogenannten Polwahnsinn Piblokto war dort ausführlich<br />

geschildert; am Ende hatte er alle Zugtiere töten müssen. Ja sogar über das Auf<br />

und Ab der Nahrungsvorräte hatte dieser ordentliche Mann Buch geführt.<br />

Beeindruckt legte ich die Hefte und Einzelblätter zurück. "Passen Sie gut auf<br />

diese Sachen auf. Sie sind für Cook viel wichtiger als die Pelze. Er wird sie eines<br />

Tages bitter nötig haben." Whitney nickte und verschloß die Kiste. Nachdenklich<br />

geworden, traten wir zurück in den warmen Aufenthaltsraum.<br />

Vor meinem Aufbruch gab es nicht viel zu regeln. Ich fühlte mich frisch und<br />

ausgeruht. Bei meinem Abschiednehmen von Etah schien der Winter<br />

zurückzukehren gewillt. Die Tauwasserbäche waren in der plötzlich<br />

hereingebrochenen Kälte zu einer perfekten Schlittenbahn erstarrt, und was sich<br />

an Pflänzchen oder gar deren Blütenständen schon hervorgewagt hatte, hing<br />

schlaff und kraftlos, hinweggerafft vom großen Lebensfeind Frost. Dies war ein<br />

Maientag - es ging gar schon auf das Ende des Wonnemonds zu -, doch freilich<br />

kein solcher, wie ihn der Dichter als der ganzen Welt beschieden<br />

heraufbeschwört. Der Winter dräute nicht nur noch immer mit trotzigen<br />

Gebärden: er hatte noch einmal voll zugeschlagen. Offenbar hatte Emanuel<br />

Geibel, mir sonst so seelenverwandt, beim Schreiben der Zeilen die Arktik nicht<br />

in sein Bild von der ganzen Welt einbezogen, die er darin beschwor. Doch ich war<br />

unverdrossen, und die Hoffnung, welche dem schönen Gedicht den Namen<br />

gegeben, teilte sich mir in meiner Aufbruchsstimmung mit. Sobald die Siedlung<br />

hinter mir lag, schrie ich sie mit voller Stimme und Inbrunst über die weit, weiß


und starr daliegende Landschaft hin: Nur unverzagt auf Gott vertraut! Es muß<br />

doch Frühling werden ---<br />

Von der Kälte bedingt, war am Himmel eine höchst seltene und überaus<br />

eindrucksvolle Naturerscheinung zu beobachten. Um die Sonne hatten sich,<br />

hervorgerufen wohl vor allem durch die Brechung des Lichtes an in der Höhe<br />

umherschwirrenden feinsten Eiskristallen, lichte Höfe und Strahlenkreise<br />

gebildet, die in ihren Schnittpunkten eine solche Helligkeit erzeugten, daß der<br />

Eindruck entstand, außer der Sonne selbst seien noch einige Nebensonnen am<br />

Firmament plaziert. Und dem Orte direkt gegenüber , an welchem das eigentliche<br />

Tagesgestirn seinen Platz einnahm, in gleicher Höhe über dem Horizont wie die<br />

Sonne selbst, strahlte im Himmelsblau deutlich ein hellweißer Fleck: eine<br />

Gegensonne.<br />

Ich ließ die Hunde halten und genoß das Naturschauspiel. Seit ich in der Arktik<br />

war, hatte ich zur Beobachtung eines Lichthofes um die Sonne, auch des<br />

Ansichtigwerdens von sehr schön ausgeprägten Nebensonnen, schon mehrfach<br />

Gelegenheit gehabt; allein eine Gegensonne sah ich zum ersten Male. Gab es etwa<br />

einen Zusammenhang zwischen meinem Gottvertrauen, das ich da eben in<br />

schlichtem Glauben laut aller Welt verkündet hatte, und jener so höchst<br />

bemerkenswerten Himmelserscheinung? Ich wagte nicht, den Gedanken zu Ende<br />

zu denken und ließ die Peitsche knallen. Bellend zogen die Hunde an.


3. SCHAMANIN KASCHADU<br />

Dem Eisrand an der Küste nach Süden folgend, spürte ich in mir schon bald das<br />

Erwachen der Jagdlust. Genauer gesagt: ich wollte mein neu erworbenes<br />

Zehnschuß-Winchester-Automatic-Gewehr ausprobieren. Die Gegend schien für<br />

ein solches Vorhaben günstig. Weiter draußen, wo sich Wasser und Eis an einer<br />

mehr oder weniger scharf ausgeprägten Kante begegneten, hatte ich Ringelrobben<br />

beobachtet. Sie kletterten auf das Eis, um kurz auszuruhen und schossen dann<br />

wieder ins Wasser hinab. Die Eislöcher, welche sie während der Wintermonate<br />

zum Atemschöpfen benutzten, lagen verlassen und waren inzwischen<br />

überfrorenen. Nur schmale Eiskränze erinnerten noch an den ursprünglichen<br />

Zweck dieser Örtlichkeiten.<br />

Neben solch einem zugefrorenen Atemloche machte ich Halt. Die Stelle schien<br />

mir vor allem deshalb für mein Vorhaben geeignet, weil in unmittelbarer Nähe<br />

derselben ein hoch aufgetürmter Schollenberg sie gegen Sicht vom offenen<br />

Wasser her schützte. Ich brauchte diese versteckte Lage, gedachte ich doch, die<br />

sich im nassen Elemente tummelnden Robben durch eine List zu täuschen, welche<br />

den Eskimos abgeschaut war. Immer und überall habe ich mich bemüht, aus der<br />

gesammelten Weisheit der Völker eine neue Weltweisheit herauszudestillieren.<br />

Mit ein paar schnellen, energisch geführten Handgriffen befreite ich, eher alter<br />

Gewohneit als verstandesmäßigem Handlungstrieb folgend, das einst von den<br />

Robben zum Auftauchen benutzte Loch von seiner Eisdecke. Ich konnte damals<br />

nicht ahnen, daß mir dies binnen Kürze das Leben retten sollte.<br />

In Anbetracht der geringen Zeitspanne, die ich für mein kleines Jagdabenteuer<br />

anzusetzen bereit war, schirrte ich die Hunde nicht erst ab, sondern verpflockte<br />

vielmehr ihre Zugleinen so, daß die quengelnden, jaulenden, ewig miteinder Streit<br />

suchenden Tiere sich während der Rast nicht gegenseitig ins Gehege kamen. Sie<br />

machten mit, sobald sie verstanden, daß es mir Ernst war, und kamen zur Ruhe.<br />

Der Schlittenladung entnahm ich frische Kleidung. Mein Seehundfellanorak und<br />

die Tracht aus Vogelfedern, die ich darunter am Leibe trug, die schwere Hose aus<br />

Eisbärenfell - all das war vom Marsch durchgeschwitzt, und ich durfte nicht<br />

riskieren, darin lange auf Anstand zu liegen, darauf wartend, daß Wild<br />

anschwamm; zu groß war die Gefahr, sich einen Schnupfen zu holen. Ich tauschte<br />

das Oberkleid gegen eine knöchellange Parka aus Rentierfell, die unten so fest<br />

zugezurrt werden konnte, daß sie nicht nur sehr warm hielt, sondern auch so gut<br />

wie wasserdicht schloß. Ich zog die Kapuze in die Stirn und stülpte dann ein<br />

eigens dafür präpariertes Robbenfell über, das mir als eine Tarnkappe dienen und<br />

die Robben anlocken sollte. Die Eskimos haben mit dieser Camouflage bei der<br />

Jagd immer wieder Erfolg. Ich hatte sie oft dabei beobachtet und war neugierig<br />

darauf, die kleine Scharade nun einmal selbst auszuprobieren. So dachte ich<br />

jedenfalls, doch ehe ich zum Schusse kam, war ich selbst der Gejagte. Und zwar<br />

kam das folgendermaßen.<br />

Ich schritt um die Eisbarriere herum und legte mich in Positur. So mochte ich<br />

eine, vielleicht auch schon anderthalbe Stunden gelegen haben, die Büchse im<br />

Anschlag und absolut regungslos; eine Robbe zeigte sich nicht. Ich hätte auch<br />

noch weiterhin so gelegen, womöglich weitere Stunden lang; nur sollte alles sehr


ald ganz anders kommen als vorgesehen.<br />

Es gehört schon eine gewisse Portion Können dazu, in einer solchen Situation<br />

nicht einfach aufzugeben oder aber einzuschlafen. Doch half mir, wie schon so<br />

oft, meine Erfahrung als Jäger und mein gutes Glück.<br />

Gleichzeitig mit der ersten Robbe, die den Kopf aus dem Wasser streckte, wurden<br />

seitlich des Preßgrates aus Scholleneis, welcher mir zur Rechten den<br />

Gesichtskreis begrenzte und hinter dem meine Hunde lagen, zwei Eskimos in<br />

ihren Kajaks sichtbar. Sie hatten es wohl auf genau dasselbe Tier abgesehen wie<br />

ich. Mir gänzlich unverständlich war allerdings das Jagdgebaren der beiden.<br />

Während ich mich wie gesagt völlig still verhielt, fuhren sie, während sie sich<br />

paddelnd der Robbe näherten, in einem angeregten Gespräch fort, welches<br />

offenbar schon länger gedauert hatte - und zwar so laut, daß ich, sobald ich ihrer<br />

ansichtig geworden war, bald jedes Wort verstand. Und da die von den beiden<br />

erörterten Dinge sofort mein Interesse erweckten, lauschte ich angestrengt.<br />

"Sage einem unerfahrenen Jäger nur dies, Etukishuk: Seid ihr bei dem Marsch zu<br />

diesem Ding, das die Kabluna den Großen Nagel nennen, jemals außerhalb der<br />

Sichtweite von Land gewesen?"<br />

"Nie", antwortete der als Etukishuk angeredete mit Bestimmtheit. "Sonst hätten<br />

doch Akwelah und ich diese Wanderung nicht fortgesetzt! Und ohne uns beide<br />

wäre auch der Kablunadoktor bald umgekehrt. Ich meine - was soll ein Kabluna<br />

in Eis und Schnee ohne Inuithilfe! Er ist unweigerlich verloren."<br />

"Haha - jetzt erzählt der Kablunadoktor allen, er sei mit euch dort gewesen,<br />

obwohl dieser Große Nagel doch viele Male Schlaf vom Lande entfernt liegt."<br />

"Versteh einer die Kabluna! Ihre Welt ist voller Risse und tückischer<br />

Gletscherspalten. Und was sie einander erzählen, dient meist eher der Täuschung<br />

des anderen als dem Willen, in hilfsbereiter Absicht einander etwas Nützliches<br />

mitzuteilen."<br />

Ich fiel aus allen Wolken. Nie außerhalb der Sichtweite von Land! Jeder Zweifel<br />

war ausgeschlossen - die beiden redeten von meinem alten Bekannten, Doktor<br />

Frederick Cook, dem Kablunadoktor, und seinem Polvorstoß. Jetzt erinnerte ich<br />

mich auch, die Namen Etukishuk und Akwelah als die der Begleiter von Cook<br />

gehört zu haben. Mit ihnen war er, sobald er Franke nach Etah zurückgeschickt, in<br />

Richtung Pol weitergezogen und mit ihnen hatte er seine letzte Überwinterung in<br />

der arktischen Wildnis durchlebt. Die wissenschaftliche Fachwelt würde seinen<br />

Zahlentabellen mit den sogenannten authentischen Beobachtungsergebnissen<br />

Glauben schenken - dabei war er nie so weit von der Küste entfernt gewesen, daß<br />

er und die Eskimos sich außerhalb der Sichtweite von Land befunden hätten! Und<br />

nicht nur Cook, sondern auch Peary würde man glauben, bei dem ich doch selbst,<br />

aus eigenem Erleben wußte, daß ihn bei seiner Umkehr noch viele Dutzende<br />

Meilen vom Pol getrennt hatten. Ja, die Welt der Kabluna, in die zurückzukehren<br />

ich mich eben anschickte, war schon eine verrückte!<br />

Doch blieb mir keine Zeit, meiner Entrüstung oder gar einem an der Welt, deren<br />

Teil auch ich war, verzweifelnden Zynismus Raum zur Entfaltung zu geben.<br />

Denn ehe ich mich's versah, war durch eine merkwürdige Wendung der Umstände<br />

mein Leben bedroht. Während ich eben die beiden Inuitjäger belauscht hatte, war<br />

die Ringelrobbe, die sowohl ich als auch sie schon als Beute gesehen hatten,


untergetaucht. Da mußten die beiden wohl plötzlich meiner ansichtig geworden<br />

sein und mich tatsächlich für eine Robbe gehalten haben, denn ohne daß ich etwas<br />

Arges von ihnen erwartet hätte, äußerte der als Etukishuk angesprochene Inuit<br />

unverhofft , offensichtlich als Antwort auf den Ruf seines Jagdfreundes, welcher<br />

das Abtauchen des an der Wasseroberfläche schwimmenden Tieres signalisierte:<br />

"Macht nichts! Dann nehmen wir eben die Robbe dort ---"<br />

"Welche?"<br />

"Die auf dem Eis! Mach schnell die Harpune fertig, das Tier liegt schon recht<br />

nahe dem Wasserrand." Dabei deutete Etukishuk unzweideutig auf mich.<br />

Gleichzeitig sah ich, wie er, sozusagen zu einem Reserveschuß, falls die Harpune<br />

seines Gefährten fehlen sollte, das Gewehr auf mich richtete.<br />

Der Entschluß zu meiner Rettung und seine Ausführung waren für mich eins. Mit<br />

resolutem Griff barg ich, ruckzuck, die Winchesterbüchse unter meiner Parka, zog<br />

noch einmal deren sämtliche Öffnungen dicht und stürzte mich, vom Schwung<br />

meiner Arme über das Eis und dessen Ende hinaus befördert, ins Wasser. In das<br />

laute Klatschen mischte sich das Zischen des heranschwirrenden Harpunenseils;<br />

den kurz darauf folgenden Schuß hörte ich nur abgeschwächt, denn da war ich<br />

schon unter dem Eis.<br />

Mit kräftigen Stößen schwamm ich um mein Leben. Ich streifte die Robbenhaut<br />

ab, ohne Zeit zu verlieren. Schon oft ist es mir gelungen, beim Beschleichen<br />

schwatzhafter Gegner höchst wertvolle Informationen zu erhalten, die sich für das<br />

Gelingen eines bevorstehenden Unternehmens dann manchmal als entscheidend<br />

erwiesen. Beim Anschleichen erfährt man allemal mehr von der Wahrheit als<br />

durch Befragen: wer arglos glaubt, mit Gleichgesinnten allein zu sein, verrät<br />

grundsätzlich mehr als jemand, der die an ihn gerichteten Fragen in Ruhe<br />

abwägen kann oder sie gar schlankweg zu durchschauen vermag, was nämlich<br />

meist dazu führt, daß der Befragte den Frager täuscht - mit welchem Erfolg auch<br />

immer. Aber Anschleichen und Belauschen haben so ihre Tücken; man kann<br />

dabei auch am Marterpfahl enden. Nun hatte ich ja schon, gerade vor wenigen<br />

Wochen, als Zeuge jenes Gesprächs zwischen Peary und Henson am Ort unserer<br />

Flaggenhissung am eigenen Leibe erfahren, daß man auch Lauscher sein kann,<br />

ohne sich anschleichen zu müssen. Was ich jedoch noch nie erlebt hatte, war mir<br />

soeben geschehen: ich hatte ganz unerwartet atemberaubende Dinge zu hören<br />

bekommen, ja - was sage ich da: schier Unglaubliches, wahrhaft Sensationelles,<br />

obwohl doch ich selbst der Beschlichene war und nicht der, der sich anschlich.<br />

Ich hatte ohne Arg, als Ringelrobbe, auf dem Eise der Arktik gelegen, und nun<br />

wußte ich es: Doktor Cook hatte sich nie so weit auf das Eis der Polarsee<br />

hinausbegeben, daß kein Land mehr zu sehen gewesen wäre---<br />

Meine Arme ruderten, was das Zeug hielt. Noch spürte ich die Eiseskälte des<br />

Wassers nicht, doch das würde sich ändern, und zwar bald. Ich blickte nach oben.<br />

Die mir zugewandte Unterseite des Eises glänzte bedrohlich dunkel, darüber war<br />

Tageshelle. In der Richtung, der ich zu folgen hatte, war unter Wasser kein<br />

Hindernis auszumachen. Ich mußte es schaffen! Die Kraft meiner Stöße nahm<br />

allmählich, doch spürbar ab; auch wurde der Atem knapp. Dieser Umstand ließ<br />

mich - wenn auch nur kurz - daran denken, daß mein Arzt vor der Abreise aus<br />

Europa mir ein nervöses Asthmaleiden bescheinigt hatte. Doch das schreckte


mich nicht: Ich mußte, ich würde es schaffen! Und da war auch schon das<br />

rettende Eisloch, gleich daneben der unförmige Schatten des Schlittens. Ein<br />

letzter, alles entscheidender Schwimmstoß, eine allerletzte Kraftanstrengung ,<br />

sobald ich den Rand des Eises zu fassen bekam. Schließlich saß ich, triefend und<br />

zu Tode erschöpft, auf dem Rande des alten Atemlochs neben meinem Schlitten.<br />

Jetzt war Eile geboten. Ich mußte sofort heraus aus den klitschnassen Sachen und<br />

mich trocknen und wärmen, sonst überlebte ich diese Schwimmeinlage nicht. Zu<br />

meinem Glücke hatte ich auf dem Schlitten alles stets griffbereit. Der<br />

Eisschollenberg, welcher mich vorhin beim Anlegen meines Robbenkostüms der<br />

Einsicht von Mit-Robben und anderen möglichen Beutetiere entzogen hatte,<br />

schützte auch vor den Blicken der beiden Inuit; sie dürften mit der Gewißheit, das<br />

auf dem Eis lagernde Tier bei dessen Sprung ins Wasser verfehlt zu haben,<br />

weitergepaddelt sein. Ich riß mir die bereits erstarrenden Sachen vom Leibe und<br />

fuhr in den mit Eiderdaunen gefüllten Reserveschlafsack. Aus einem goldgelb<br />

schimmernden Taschenflakon, das mir Whitney bei unserem Abschiede<br />

augenzwinkernd anvertraut hatte, nahm ich einen herzhaften, wenn auch nicht zu<br />

reichlich bemessenen Schluck Bourbon. Ich habe unzählige Male, und zwar nicht<br />

an mir selbst, sondern an anderen, erfahren, was für ein böser Dämon der<br />

Branntwein ist; es können Jahre vergehen, ehe ich mir die Lippen einmal mit<br />

einigen Tropfen Cognac oder Rum oder ähnlichem Zeuge netze und dies auch nur<br />

dann, wenn ich es aus Gesundheitsgründen als Arznei zu nehmen gezwungen bin.<br />

Ein solcher Fall lag hier unzweifelhaft vor.<br />

So genoß ich einige köstliche Augenblicke, die mich dem Leben zurückgaben -<br />

meine Winchesterbüchse, mit fix durchgepustetem Lauf von der übelsten<br />

Feuchtigkeit befreit, neben mir. Auch der Indianer gibt, wenn er sich nicht in<br />

seinem Wigwam befindet, die Waffe nie aus der Hand und hält sie sogar während<br />

des Schlafens im Arme. Dies war in langen Jahren, in denen ich allein oder mit<br />

Freund Winnetou den Westen des nordamerikanischen Kontinents durchstreift<br />

hatte, auch mir zur Gewohnheit geworden.<br />

Ich muß lange geschlafen haben, denn als ich erwachte, war die Position der<br />

Sonne grundlegend verändert. Ich ruhte jetzt im Schatten der Eisbarriere, welche<br />

die Sicht auf das offene Wasser des südlichen Smithsundes versperrte. Mir war<br />

wohlig warm. Ich entsann mich, meinen schlimmsten Gegner, den Journalisten<br />

Rudolf Lebius, geträumt zu haben, doch waren mir nur die letzten Szenen des<br />

Traumes erinnerlich. Lebius hatte mich in einem Artikel einen stinkenden<br />

Coyoten vom Stamme der Schweißfußindianer genannt und ich hatte ihn daraufhin<br />

vor Gericht gebracht. Der Richter, ein älterer, schon etwas vertrottelter Diener der<br />

Gerechtigkeit, hatte zunächst Schwierigkeiten gezeigt, den Sachverhalt zu<br />

klassifizieren; insbesondere war ihm nicht klar, warum die Benennung einer<br />

Stammeszugehörigkeit ehrenrührig sei und den Tatbestand einer Beleidigung<br />

erfülle. Doch sobald ich ihm ins Ohr geflüstert: ‘Herr Vorsitzender, wenn jemand<br />

Sie - mit Verlaub - Richter Schnelltod nennen würde, wäre das auch nicht einfach<br />

eine Berufsbezeichnung’, schrak er auf, rief entsetzt ‘Wo kämen wir denn da hin!<br />

Auch Rufmord ist Mord! Die Ehre des ganzen Richterstandes steht auf dem<br />

Spiel!’ und wollte Lebius sogleich zum Tode verurteilen. Auf meinen Einspruch


hin ließ er, wie er es ausdrückte, Gnade vor Recht ergehen und erkannte auf drei<br />

Tage Haft, abzustehen in einer Jauchegrube. Als Lebius abgeführt wurde,<br />

erwachte ich.<br />

Die Hunde hatten unseren Rastplatz erheblich verunreinigt. Sie wollten gefüttert<br />

werden und begannen zu murren. Da ich nach meiner mißglückten Robbenjagd<br />

auf die von Whitney erneuerten Pemmikanvorräte angewiesen sein würde, war<br />

dies kein aufregender Vorgang; ich konnte das schnell hinter mich bringen. Ich<br />

kroch aus dem Schlafsack und zog trockene Leibsachen sowie die vor Beginn des<br />

Jagdabenteuers abgelegte Fellkleidung an.<br />

Wer beschreibt mein Erstaunen, als plötzlich, buchstäblich aus heiterem Himmel,<br />

eine schwarzweiße Lumme heranstrich und, unter heftig flatterndem<br />

Flügelschlagen den kleinen Körper senkrecht stellend, auf meinem Schlitten<br />

landete.<br />

Sekundenlang mußte ich an die Erscheinung nach der Jagd auf Ellesmereland<br />

denken, als ich einen ebensolchen Vogel in der froststarren Lache aus<br />

Moschusochsenblut wahrzunehmen gemeint hatte. Der Gedanke verflog. Dies<br />

hier war anders, eine Sinnestäuschung ausgeschlossen. Deutlich sah ich die weiße<br />

Bauchseite, die schwarzweiße Brust, die schwarzglänzenden Federn am Hals, den<br />

kräftigen kegelförmigen Schnabel. Aus pfiffigen Augen sah mich das Tierchen an<br />

und sprang, so unerwartet wie es herbeigeschwirrt war, vom Schlitten zur Erde.<br />

Es schüttelte das Gefieder und warf energisch den Kopf hoch. Im nächsten<br />

Augenblick war ich allerdings doch an eine Täuschung meiner Sinne zu glauben<br />

bereit, denn ehe ich mich's versah, stand da kein Vogel mehr neben dem Schlitten,<br />

sondern ein Mensch. Ein Mensch mit langem Zottelhaar und einem stechenden<br />

Blick, weder alt noch jung, die Züge vom harten Leben im ewigen Eise geprägt.<br />

Bei näherem Hinblicken entdeckte ich eine kranzförmige Tätowierung am Kinn,<br />

ein unregelmäßiges Muster aus ineinander verflochtenen Kreisen und Strichen.<br />

Nun wußte ich: es war eine Frau. Diese Art Körperschmuck ist nämlich bei<br />

Inuitmännern nicht üblich.<br />

Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Augen. Delirierte ich? Hatte das<br />

unfreiwillige Bad doch ernste Folgen gehabt? War dies womöglich ein<br />

Fiebertraum?<br />

"Wer bist du?”, fragte ich, meine Verunsicherung nicht verbergend, “und wie hast<br />

du dich plötzlich aus einem Vogel in eine Frau verwandeln können - hier, vor<br />

meinen Augen?”<br />

“Ich suchte dich auf meinem Seelenfluge und fand dich hinter dieser Eiswand.”<br />

“Seelenflug? So bist du eine - Schamanin?”<br />

“So mögt ihr Kabluna es nennen. Ein Inuit sagt: Angakok.”<br />

“Bist du aus Etah?”<br />

“Dort war ich in der Tat einst zu Hause. Doch vor vielen Sommern schlug mein<br />

Kajak bei einem Sturm in der Nähe des Eisrandes um und ich fiel heraus. Die<br />

Strömung zog mich unter das Eis, und schon hatte ich mich verloren gegeben, als<br />

ich ein Loch in der glitzernden Fläche über mir sah.”<br />

“Ein Atemloch? So eines, wie es die Robben im Eis offenhalten?” fragte ich,<br />

frappiert von der möglichen Duplizität der Ereignisse.<br />

“Genau so eins”, entgegnete sie.


“Und - du hast dieses Eisloch erreicht?” Um mich zu vergewissern, daß ich<br />

tatsächlich hellwach war und alles, was sie mir erzählte, in Wahrheit hörte und<br />

nicht etwa einer vom eigenen Erleben gespeisten Halluzination aufsaß, knuffte ich<br />

mich mit der pelzhandschuhten Faust in die Seite. Dabei sprach ich so harmlos<br />

wie möglich weiter: “Mit letzter Kraft, wie ich vermuten muß."<br />

"Nein. Ich erreichte es nicht!", ward mir jedoch zu meiner nicht geringen<br />

Überraschung die Antwort.<br />

"Wie - wie aber hast du dann überlebt?!"<br />

"Am Grunde des eisigen Ozeans wohnt eine mächtige Frau, Sedna, die wir Die<br />

Würdevolle nennen. Sie ist die Mutter des Meeres und gebietet über alles Leben<br />

im Wasser. Sedna bestimmt über all unser Wohl und Wehe, denn vom Wasser<br />

allein leben wir. Nicht nur jeder Robbe, jedem Fisch, ja jedem Wurm gebietet sie.<br />

Ihr haben auch viele andere mächtige Geister zu gehorchen. Sedna ist seit ---"<br />

"Und Die Würdevolle hat dich gerettet?" unterbrach ich sie, ungeduldig<br />

geworden.<br />

"Sie hat mich zu sich genommen. Ich gehöre jetzt ihr."<br />

"Was bedeutet das? Und - wie ist es dazu gekommen?"<br />

"Ich schwamm und schwamm. Es ging um mein Leben. Und tatsächlich hätte ich<br />

jenes Atemloch beinahe erreicht. Doch plötzlich schoß aus der rettenden Öffnung<br />

in der Glitzerfläche über mir ein Eisbär auf mich zu. Er mußte meinen Unfall<br />

beobachtet haben und hoffte nun, leicht Beute machen zu können. Schließlich ist<br />

er unbestreitbar der bessere Schwimmer. Schon glaubte ich mich verloren, das sah<br />

ich aus dem Dunkel der Wassertiefe einen Walroßbullen auf mich zukommen,<br />

zunächst einem fliegenden Schatten gleich und dann bald zum Greifen nah. Das<br />

Tier war ein Bote der Würdevollen. Es klemmte mich vorsichtig zwischen seine<br />

gewaltigen Hauer, schwamm drohend noch ein paar Stöße auf den Eisbären zu,<br />

der eingeschüchtert abdrehte, und ---"<br />

“--- brachte dich zu ihr."<br />

"Richtig.”<br />

“Auf den Meeresgrund?”<br />

“Ja.”<br />

“Und was geschah dort mit dir?”<br />

“Die Würdevolle eröffnete mir, es sei bei einem der Nachbarstämme kürzlich in<br />

hohem Alter eine Frau verstorben, die eine mächtige und sehr einflußreiche<br />

Zauberin war. Angakok Kaschadu war ihr Name. Ich hatte nie von ihr gehört."<br />

"Ich verstehe! Und so machte Sedna dich zur Schamanin Kaschadu. "<br />

"Was willst du verstanden haben, Kablunafreund Karl? Nicht einmal ich verstehe,<br />

was das bedeutet: eine Schamanin zu sein. Du hast mich danach gefragt - ich kann<br />

dir darauf nicht antworten. Obwohl ich jetzt selbst eine bin."<br />

"Du kennst meinen Namen?"<br />

"Ja. Der Würdevollen ist nichts verborgen. Mich hat sie anstelle von Kaschadu<br />

zur Schamanin bestellt. In ihrem Geisterreich ist kein Platz für leere Stellen, kein<br />

Posten eines Schamanen oder einer Schamanin bleibt unausgefüllt. Das ist das<br />

einzige, was da zu verstehen ist."<br />

"Und - woher kommst du jetzt?"<br />

"Aus dem Lande der Schwebenden, Karl. Ich habe im Auftrag der Würdevollen


schon einmal versucht, mit dir in Kontakt zu kommen. Drüben in Ellesmereland.<br />

Aber da warst du ruhelos, warst nach kurzem Jagdaufenhalt erneut im Aufbruch.<br />

Hattest nur noch die Beute zu zerlegen und warst schon wieder so gut wie<br />

unterwegs. Eine Schwebende wie ich erreicht jedoch nur die Rastenden."<br />

"Da hast du dieses Mal aber Glück gehabt, Kaschadu. Ich wollte eben die Hunde<br />

füttern und dann von hier fortziehen."<br />

"So, wolltest du das? Dann hätte ich dich bei einer anderen Rast getroffen.<br />

Später. Für mich hat die Zeit keine Bedeutung."<br />

"Keine Bedeutung? Aber sie vergeht doch. Vergeht ständig, ganz ohne unser<br />

Zutun."<br />

"Keine Bedeutung, ja. Jedenfalls nicht die, die ihr Kabluna ihr beilegt. Zeit mißt<br />

nicht nur das Vergehen, sie steht auch für das Messen der Wiederkehr. Auf den<br />

alten Winter folgt neuer Sommer, auf jedes Unterwegssein eine neue Rast."<br />

"Warum hast du mich treffen wollen, Kaschadu?"<br />

“Die Würdevolle schickte mich nach dir aus. Sie allein bestimmt den tieferen<br />

Grund all meines Handelns.”<br />

"Warum also hast du mich in ihrem Auftrage treffen sollen?" präzisierte ich<br />

meine Frage.<br />

“Die Würdevolle will dich belohnen. Du hast als erster Kabluna - und bisher als<br />

einziger - den Großen Nagel erreicht. Das hat ihr gehörigen Respekt abverlangt.”<br />

“Und ich dachte immer, der Große Nagel sei eine Erfindung der Kabluna, für die<br />

Inuit spiele dieser Ort keinerlei Rolle.”<br />

“Das mag so gewesen sein. Doch nun, da mit deiner Tat der Kabluna in den<br />

letzten Winkel des Raumes jenseits von Leben und Wandern der Inuit<br />

eingedrungen ist, hat sich das Bild gewandelt. Dieser veränderten Lage trägt<br />

Sednas Gunstbezeig Rechnung. Nicht mehr und nicht weniger.”<br />

“Ich fühle mich sehr geehrt.”<br />

“Die Würdevolle nimmt das zur Kenntnis. Sie bietet dir Schutz und Geleit an, und<br />

mich hat sie dazu bestellt, dir als ihre Abgesandte zur Seite zu stehen, sobald du<br />

Hilfe benötigst.”<br />

“Ich danke dir für dieses Angebot. Doch denke ich, vorerst ---"<br />

“Du bist nach Süden unterwegs”, schnitt Kaschadu meine Rede ab. “In das Land,<br />

in dem du zu Hause bist.”<br />

“Ja. Genauer gesagt in mein Iglu in Radebeul, in dem meine Frau ---”<br />

"Hast du ein Iglu so groß wie die Iglus in jener Stadt, aus der Peary und der<br />

Kablunadoktor hierher gekommen sind?"<br />

Um jedem Vergleich der Villa Shatterhand mit den Wolkenkratzern Neuyorks,<br />

die sie ja offenbar kannte, die Grundlage zu entziehen, entgegnete ich: "Nein.<br />

Mein Haus ist bescheiden, und doch ist es größer als alles, was ihr hier gewohnt<br />

seid. Auch liegt es nicht unter Schnee und Erde vergraben. Überhaupt ist es in<br />

meiner Heimat wärmer als hier." Ich erzählte von dem Fluß Elbe, dem Großen<br />

Schmelzwasser meiner sächsischen Heimat, von dem blühenden Garten hinter<br />

meinem Haus und davon, daß meine Frau Klara dort auf mich wartete.<br />

“Ich komme als Schwebende viel herum. Doch in deiner Heimat bin ich noch<br />

nicht gewesen."<br />

"Bestimmst du bei diesen Ausflügen deine Ziele selbst?"


"Im allgemeinen ja. Es sei denn, die Würdevolle hat einen dringenden Auftrag,<br />

den zu erledigen sie mich ausschickt."<br />

"Und - du kannst auch Mitreisende zu deiner Begleitung auswählen?"<br />

"Durchaus. Aber nur, wenn diese vorher wenigstens die niederen Weihen als<br />

Schamane erhalten."<br />

Ich habe noch keinen Weißen kennengelernt, der von irgend einem Medizinmann<br />

oder Schamanen, sei es nun bei den Inuit, den Rothäuten oder anderswo auf der<br />

Welt, mit derartiger Offenheit in Geheimnisse, Anschauungen und Möglichkeiten<br />

des Schamanentums eingeweiht worden ist. Erkühnt durch das Bewußtsein, in<br />

dieser Hinsicht ein Bevorzugter des Schicksals zu sein, fragte ich: "Und du kannst<br />

auch Vorausagen treffen hinsichtlich des persönlichen Lebens von Personen, ich<br />

meine von ---"<br />

"Ja. Die Person muß allerdings anwesend sein. Oder ich muß mich im Seelenfluge<br />

zu ihr begeben."<br />

"Als schwarzweiße Lumme?"<br />

"Oft als Lumme, ja. Doch benutze ich zuweilen auch andere Federkleider. Zumal<br />

dann, wenn ein solcher Flug mich von Grönland fortbringt."<br />

"Du könntest mir also zum Beispiel sagen", bohrte ich weiter, in Begeisterung<br />

geraten über die sich hier bietenden Möglichkeiten,"wann und wo ich ein Schiff<br />

treffe, das mich in meine Heimat zurückbringt?"<br />

"Nichts leichter als das." Kaschadu hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf,<br />

verbarg urplötzlich das Gesicht in den nebeneinandergehaltenen Händen, summte<br />

eine eher eintönige, doch rhythmisch sehr stark betonte Melodie vor sich hin und<br />

sagte nach weniger als drei oder vier Minuten: "Karl, du wirst weiterhin der Küste<br />

folgen, und ehe du jenen Ort erreicht hast, den die Kabluna Kap York nennen,<br />

wirst du auf einen Walfänger treffen, der dich aufnimmt und in deine Heimat<br />

bringt."<br />

"Mich aufnimmt? Und - wo soll ich meine Hunde lassen? Ich kann sie doch nicht<br />

auf das Schiff und ins Land der Kabluna mitnehmen."<br />

"Du baust, ehe du an Bord dieses Fangbootes der Kabluna gehst, ein Schneeiglu<br />

und schirrst die Hunde daneben aus. In das Schneehaus bringst du zwei Robben,<br />

die du vorher ordentlich ausgenommen, gesäubert und in Futterportionen<br />

zerschnitten hast. Als Opfergabe für die Würdevolle legst du deine Waffen neben<br />

das Robbenfleisch. Diese Waffe” - sie deutete unmißverständlich auf meine<br />

Winchester - “mit dem Schießvorrat, der dir dann noch geblieben ist. Dazu alle<br />

anderen Waffen.”<br />

“Bin ich erst einmal an Bord jenes Schiffes, brauche ich in der Tat all das nicht<br />

mehr”, sagte ich. Innerlich war ich froh, bei der unumgänglichen Entwaffnung der<br />

Menschheit, welche ich sehnlichst herbeiwünschte , auf diesem Wege meinen<br />

ganz persönlichen Part zugewiesen bekommen zu habenund anderen Vorläufer<br />

sein zu können.<br />

“Sobald du mit dem Schiff hinter dem Südhorizont verschwunden sein wirst,<br />

komme ich, füttere die Hunde und nehme sie anschließend mit.”<br />

Alle Zeit der Welt schien mir seit dem Beginn unserer Unterhaltung verstrichen<br />

zu sein - Kablunazeit, Inuitzeit. “Ein Schiff wird also kommen”, sagte ich, mich<br />

der gegebenen Zusage noch einmal versichernd.


"Ja, Karl", bekräftigte Kaschadu. “Ein Schiff wird kommen.” Sie sagte es mit<br />

singendem Ton in der Stimme und beschrieb mit der Rechten eine weitausholende<br />

Geste nach Süden. "Eins dieser Kabluna-Kajaks, die den Inuit Wale wegfangen.<br />

Größer als Pearys Riesenkajak mit den drei Masten und doch nicht so groß wie<br />

die größten Kajaks, die ich in jener Hafenbucht der Kabluna gesehen habe."<br />

"In Neuyork?"<br />

"Ja. So oder so ähnlich heißt der Ort wohl. Ich sehe das Schiff, das dich<br />

aufnehmen wird, deutlich vor mir. Ein merkwürdiges Schiff. Der Kabluna, dem es<br />

gehört und dessen Befehlen die Mannschaft gehorcht, macht jedermann glauben,<br />

er habe dieses Schiff geführt, seit es Kabluna gibt."<br />

"Wie meinst du das?"<br />

"Wie ich es sage, Karl. Mehr weiß ich nicht. Du wirst meine Voraussage zur<br />

rechten Zeit bestätigt finden."<br />

"Erstaunlich - trotzdem erstaunlich", bemühte ich mich nun zu bekräftigen,<br />

obwohl ich ehrlich gesagt noch immer Zweifel an der Vison hegte. Ein Walfänger<br />

- nun, das war wohl so schwer nicht vorauszusagen. Andere Schiffe aus der Welt<br />

der Weißen als Walfänger und Robbenschläger verkehrten hier nicht, von Pearys<br />

"Roosevelt" und ähnlichen Expeditionsfahrzeugen einmal abgesehen. Aber - ein<br />

Kapitän, der vorgab, er habe dieses Schiff seit Erschaffung des Weißen Mannes<br />

befehligt? Spielte der Hinweis auf eines der Geisterschiffe an, die es ja ab und an<br />

auf den Weltmeeren gab, einen Fliegenden Holländer etwa? Nun, eine Klärung<br />

der Sache war für später in Aussicht gestellt, also mußte ich mich augenblicklich<br />

mit dem bescheiden, was ich soeben erfahren.<br />

"Wenn ich das ferne Land der Kabluna erreicht haben werde, Kaschadu ---" Ich<br />

stockte verlegen. Zwar wollte ich an die mir vorhin angebotene Schamanenhilfe<br />

erinnern und Näheres zu den dafür bestehenden Möglichkeiten erfahren, doch<br />

gebot die Höflichkeit der Inuit, daß Kaschadu von selbst darauf zurückkam.<br />

"Wenn du dort meine Hilfe brauchst", wurde mir prompt zur Antwort, "so werde<br />

ich alles tun, was in meinen Kräften steht, Karl."<br />

"Und - wie erreiche ich dich?"<br />

"Sooft der Mond uns sein halbes Gesicht hell und die andere Hälfte dunkel zeigt,<br />

ist die Macht der Würdevollen und all ihrer Helfer am größten. Dann ist auch<br />

Kaschadus Ohr weit geöffnet für deinen Hilfeschrei. Sobald du bei Halbmond<br />

meiner bedarfst, ruf mich bei meinem Namen, Karl - wo auch immer du gerade<br />

bist."<br />

"Und dann kommst du?"<br />

"Soweit dies in meinen Kräften steht. Oder ich schicke dir wenigstens ein<br />

Zeichen, das dir sagt: dein Ruf ist gehört worden."<br />

Die überlegene Art und Weise, in der Kaschadu mir zum Beweis unserer<br />

Freundschaft zu Diensten sein wollte, beschämte mich. Hatten wir Kablunas<br />

diesem Glauben an die überwirklichen Kräfte der Würdevollen und ihrer<br />

Angakok denn gar nichts zur Seite zu stellen? Da stand ich in der Eiswüste von<br />

Grönlands Westküste, die erste Anzeichen nahenden Frühlings zu erkennen gab,<br />

als Vertreter der Kulturmenschheit und insbesondere meines geliebten deutschen<br />

Vaterlandes und mußte mir sagen lassen: es gibt wirksamere Wege weltweiter<br />

Kommunikation als Telegraphenapparat oder Rohrpost. Selbst die jüngsten


Versuche des Italieners Marconi mit drahtloser Funkentelegraphie verblaßten vor<br />

dem, was ich da soeben gehört hatte. Ruf bei Halbmond meinen Namen, dann<br />

komme ich - so einfach war das!<br />

Vor Jahren hatte ich gelegentlich an spiritistischen Sitzungen teilgenommen,<br />

welche meine erste Frau Emma zu arrangieren pflegte - unter Begleitumständen,<br />

welche hier nichts zur Sache tun. (Im Grunde hatte Emma es wohl darauf<br />

abgesehen, mit Hilfe der von ihr gerufenen Geister mich und andere zu<br />

beherrschen - meine jetzige Frau Klara inbegriffen). Ein Freund, der mich zu<br />

diesem Tischerücken begleitete, hatte mir augenzwinkernd zugenickt, sobald die<br />

anderen Anwesenden die Antwort der von Emma gerufenen Geister zu hören<br />

vermeinten. Wir beide wußten sehr wohl, daß es nur Gedanken aus dem eigenen<br />

Innern anwesender Lebender waren, was man da vernehmen konnte und nicht<br />

etwa die Botschaften von Toten aus der sogenannten anderen Welt. Ich war<br />

überzeugt, daß - soweit es sich nicht schlankweg um Betrug handelte - es<br />

genügend rationale Möglichkeiten der Deutung für die beobachteten<br />

Erscheinungen gab: und sei es nur das erregte Zittern unserer auf der Tischplatte<br />

liegenden Hände in Erwartung von "Etwas". Wen sollte es eigentlich wundern,<br />

daß dieses "Etwas" dann tatsächlich eintraf? Mich jedenfalls nicht. - Ich bin, da<br />

ich diese Zeilen schreibe, weniger als damals davon überzeugt, daß es keine<br />

schwarze Kunst gibt und daß man dergleichen auch nicht nötig hat, um alle sich<br />

in der Welt abspielenden Dinge hinreichend zu erklären. Ich habe nämlich, seit<br />

ich Kaschadu zum erstenmal traf, mit ihren Künsten so manche Überraschung<br />

erlebt.<br />

Hätte ich als hinreichend aufgeklärter Mensch damals zu Kaschadu sagen sollen:<br />

"Sagdloc! Pilugsing nartunga, maungainarssuaq oqalutsiarnialermiunga,<br />

sagdlutsiarnialermiunga! Unwahr! Humbug, dummer Unsinn ---!" Wahrscheinlich<br />

hätten wir beide gelacht und wären als Freunde voneinander geschieden und die<br />

Sache hätte auf sich beruht. Doch der Teufel weiß, warum ich in der geschilderten<br />

Situation versucht habe, mein Gesicht als allwissender Kabluna zu wahren und<br />

warum ich bei diesem Versuch ausgerechnet auf den Gedanken verfiel, Kaschadu<br />

meine eigenen Fähigkeiten demonstrieren zu müssen, in die Zukunft zu schauen.<br />

Ich wählte das schlechteste Beispiel, welches sich dafür denken läßt und<br />

verkündete im Gestus eines altrömischen Haruspex, als hätte ich eben eine<br />

Ringelrobbe den Göttern zum Opfer geschlachtet, sie ausgeweidet und weissagte<br />

nun aus Flamme und Rauch beim Verbrennen der Eingeweide die Zukunft: "Ich<br />

sehe eine große Dunkelheit sich über dein Land ausbreiten, Kaschadu - jetzt<br />

mitten im frühen Sommer, der sonst nur unterunterbrochenen Sonnenschein<br />

kennt. Noch zwanzigmal Schlaf, und die Sonne wird ihr Gesicht verbergen und --<br />

- ."<br />

Ich hatte aus den von Doktor Cook benutzten astronomischen Tafeln in jener<br />

Kiste, die mir Harry Whitney geöffnet, das Datum einer in ganz Grönland<br />

sichtbaren totalen Sonnenfinsternis aufgeschnappt und es mir genau gemerkt: der<br />

17. Juni dieses Jahres 1909. Doch war Kaschadu davon offenbar unbeeindruckt.<br />

"Es wird nur eine kurze Finsternis sein, nicht wert, sich zu ängstigen, der Winter<br />

sei wieder hereingebrochen. Die Würdevolle hat uns davon unterrichtet."<br />

Nun war es an mir, überrascht zu sein. Ich konnte, wenn auch nicht im Ergebnis


eigener Messungen und Berechnungen, sondern als Zaungast eines<br />

entdeckerischen Jahrhundertstreits, mit dem Datum der nächsten Sonnenfinsternis<br />

aufwarten - und was mußte ich erleben? Meine neue Freundin, die Schamanin<br />

Kaschadu, wußte bereits davon! Hatte von der Meermutter Sedna, welche die<br />

Würdevolle zu nennen sie nicht müde wurde, schon davon erfahren! Da hatte<br />

sich die abendländische Zivilisation nun seit Thales von Milet abgemüht,<br />

Verfinsterungen unseres Tagesgestirns so genau wie möglich vorherzuberechnen,<br />

mit wissenschaftlicher Präzision sozusagen - die alten Chinesen vermutlich sogar<br />

noch bedeutend länger. Und all das verblaßte vor dem weltüberstreichenden<br />

Allwissen grönländischen Schamanentums. Ich schüttelte stumm den Kopf.<br />

"Du wirst das Kajak der Kablunawaljäger noch vor der Verdunklung der Sonne<br />

erreichen", sagte Kaschadu, mein Kopfschütteln offensichtlich für<br />

nichtverstehendes Mißtrauen haltend.<br />

"Ja, ja", beeilte ich mich zu versichern, "Du hast es doch schon gesagt: noch ehe<br />

ich am Kap York bin."<br />

"Richtig."<br />

"Und werde ich" - diese Auslotung des Gesagten wollte ich nun doch nicht<br />

versäumen - "während dieses Marsches auf Doktor Cook treffen, den<br />

Kablunadoktor, der wie ich ein Schiff nach dem Land der Kabluna sucht? Oder ist<br />

er mir zu weit voraus?"<br />

Kaschadu barg wie vorhin das Gesicht in ihren nebeneinandergehaltenen Händen<br />

und stimmte das mir nun schon bekannte rhythmische Summen an. Ich wartete<br />

geduldig, bis mir die Antwort wurde: "Der Kablunadoktor sitzt in einem Kabluna-<br />

Iglu und macht das, was ihr Schreiben nennt."<br />

"Und wo steht dieses Haus?"<br />

"In Upernavik." Das war weit südlicher als jenes Kap York, wo ich ihrer<br />

Voraussage nach das mir bestimmte Schiff treffen sollte.<br />

"Sind andere Kabluna bei ihm?"<br />

"Ja, ein Kablunaschamane und dessen Frau."<br />

Damit konnte nur der Vertreter der dänischen Krone in jener Niederlassung,<br />

Gouverneur Kraul, samt Gattin gemeint sein. Ich wußte nun, was ich wissen<br />

wollte und drang nicht weiter in sie. "Dann sehen wir uns also das nächste mal,<br />

wenn ich dich rufe, Kaschadu. Bei halbem Monde", sagte ich zum Abschied.<br />

"Ja. Ich wünsche dir Glück auf deiner Wanderung, Karl."<br />

"Und ich dir bei deinen Seelenflügen." In der Luft ein Zischen, ein<br />

Flügelschlagen, und sie war verschwunden. Nur ein kleiner schwarzweißer Vogel<br />

halbrechts über mir erinnerte noch an das eben Geschehene und das eben Gehörte.<br />

Ich winkte der Lumme nach. Sie zog dicht über dem Boden einen Kreis und<br />

verschwand sodann hinter dem Preßgrat der Eisschollen aus dem Gesichtsfeld<br />

meines Lagerplatzes.<br />

Kaschadus Ankündigung, meine Begegnung mit einem Schiffe betreffend, erfüllte<br />

sich bis aufs Haar. Ich war der Küste eben eine Woche - siebenmal Schlaf -<br />

gefolgt und hatte noch nicht die Gegend von Kap York erreicht, als ich eines<br />

Walfängers ansichtig wurde, der weit draußen Anker geworfen hatte. Ich mußte<br />

warten, bis eins der kleinen waljagenden Beiboote sich dem Lande so weit


genähert hatte, daß man mich bemerkte. Der im Bug stehende Harpunier, ein<br />

junger Schotte namens MacDonald, wurde als erster auf mich aufmerksam, der da<br />

als Schlittenlenker neben seinem Gefährt stand und - wie der junge Mann später<br />

über diese Begegnung am Rande des Eises sagte - "urkomisch mit seinen<br />

Fellarmen winkte und schrie, als gälte es, alle Hunde Grönlands zum Stehen zu<br />

bringen. Dabei standen seine verdammten Schlittenköter aber doch schon." Ich<br />

muß in der Tat einen höchst merkwürdigen Anblick geboten haben.<br />

Selbst für die Vision Kaschadus, der Kapitän des erwarteten Schiffes mache<br />

jedermann glauben, er befehlige an Bord, seit es Kabluna gab, fand sich eine<br />

Erklärung. Der Mann hieß Adams - nach dem Vater des Menschengeschlechts.<br />

Der Captain ließ mir Zeit, am Ufer Kaschadus Festlegungen hinsichtlich des<br />

Verbleibs der Hunde und ihrer Übernahme durch die Schamanin genauestens zu<br />

erfüllen; meine Winchester Automatic .22 erwies sich bei der Futterjagd als<br />

äußerst hilfreich. Ich legte, wie mir befohlen, das Gewehr mit der verbleibenden<br />

Munition und all meinen Eskimowaffen neben dem Fleischdepot ab. Wäre doch<br />

endlich die Zeit gekommen, da die gesamte Menschheit, um der<br />

Selbstvernichtung zu entgehen, all ihrer Waffen entsagen würde! Zum Abschied<br />

tätschelte ich der Leithündin Ohren und Hals, und sie ließ es leise jaulend<br />

geschehen.<br />

Der Walfänger hieß "Morning" und stammte aus dem schottischen Dundee. Der<br />

Gestank der Trankocherei umhüllte das Schiff als dichte Wolke; ich würde diese<br />

Düfte erst wieder loswerden, ging ich in Schottland von Bord und auch dann wohl<br />

noch eine ganze Weile nicht. Kapitän Adams begrüßte mich und erklärte sich<br />

gern bereit, mich bis in den Heimathafen mitzunehmen. Da die Tranfässer fast<br />

alle gefüllt seien, hieße es bald Rolling home ---<br />

Ich blickte zurück auf Grönlands Küste und dachte daran, wie ich zuerst mit Peary<br />

hierher gekommen - vor weniger als einem Jahr. Kaschadus Zeitverständnis kam<br />

mir in den Sinn, demzufolge Zeit nicht nur verfloß, sondern auch den Rhythmus<br />

der Wiederkehr maß. Was erwartete mich in Europa, was in meiner Heimat? Und<br />

- würde ich je an diese eisigen Gestade zurückkehren? Die Fragen bestürmten<br />

mich. Wie würde Klara mich bei der Heimkehr begrüßen? Ob wohl noch Frieden<br />

war in der Alten Welt? Die schottischen Seemänner waren zu lange von Dundee<br />

fort gewesen, um mir auf letzteres eine Antwort geben zu können.<br />

Keineswegs scheute ich mich vor dem, was daheim meiner harrte. Ich war<br />

zufrieden mit dem im Hohen Norden Erreichten, hatte ich doch meinen Platz im<br />

Kreis der erfolgreichsten Entdeckungreisenden aller Zeiten durch eine Großtat<br />

behauptet. Ich war der Entdecker des Nordpols.<br />

Allzu oft wird die Einbeziehung unbekannter Räume in das der zivilisierten<br />

Menschheit verfügbare Bild von der Erde so dargestellt, als seien stets und<br />

ständig Männer vom Schlage eines Kolumbus oder eines Magellan, Captain<br />

Cooks oder der kühnen Polarforscher meiner Generation unterwegs gewesen,<br />

bereit, die Grenzen der bislang beschriebenen Welt mit gewagten<br />

Jahrhundertstreichen weiter und immer noch weiter hinauszuschieben. Diesen<br />

Vorgang darf man sich jedoch mitnichten so simpel vorstellen. Auch beim<br />

Entdecken neuer Erdräume haben, wie auf zahlreichen anderen Gebieten<br />

menschlichen Tatendranges und menschlichen Forscherstrebens auch, die


Kärrnerarbeit ganz gewöhnliche Menschen geleistet: Reisende, die ihrem<br />

täglichen Gewerbe nachgingen und die dann anderen berichteten, was sie gesehen<br />

hatten; namentlich die in den Annalen der Entdeckungsgeschichte der Erde<br />

ungenannt gebliebenen Jäger, Fallensteller und Pelzaufkäufer, Fernhändler,<br />

Seeleute, Missionare, Schiffskapitäne, Robbenschläger und, ja, Walfänger. Ich<br />

kann mit Fug und Recht und nicht ohne begründeten Stolz behaupten: Old<br />

Shatterhand alias Kara Ben Nemsi war längst einer von ihnen. Vieles, was ich der<br />

Menschheit zu sagen hatte, hätte ohne mich nicht deren Bewußtsein erreicht.<br />

Wem wäre ohne meine Bücher geläufig, wo etwa im fernen Kurdistan die<br />

Siedlung Lisan und im Sudan die Gemarkung des Dorfes Foguda zu suchen ist<br />

oder wie man auf dem Wege zum Silbersee von Butlers Farm zum Osage Nook<br />

gelangt, ohne sich über Gebühr in Gefahr zu begeben! Das aber heißt: die Erde<br />

entdecken - wenn man sie in aller Vielfältigkeit den Daheimgebliebenen so<br />

vorführt, als seien diese selbst überall gewesen. Genau das tuen nämlich die<br />

Schriften über die Reisen eines Kolumbus, eines Magellan und eines Captain<br />

Cook. Und nichts anderes.<br />

Daß ich während meiner Reisen, sozusagen nebenher, das Gute auf der Welt habe<br />

befördern sowie Schwachen, Bedrohten und Unterdrückten Hilfe bringen können,<br />

ist mir besonders lieb und meinem Herzen teuer. Dieser Umstand allein gibt mir<br />

moralisch mehr als eine Nasenlänge Vorsprung vor solchen Raufbolden wie dem<br />

schießwütigen Indienfahrer Vasco da Gama und Massenmördern wie Pizarro,<br />

Cortes oder Aguirre, die zuweilen auch heute noch als Große unter den<br />

Entdeckern gefeiert werden. Welches Elend haben sie jedoch in Wahrheit den von<br />

ihnen besuchten Völkern gebracht und wieviel Leid haben sie angerichtet,<br />

während ich überall, wohin ich auch kam, durch mein persönliches Beispiel an<br />

Tüchtigkeit, Geradheit und Edelmut ein neues, besseres Menschentum zu<br />

befördern trachtete. Etwas anderes bezwecken auch meine Berichte über die von<br />

mir als Eskimo Tulimak jüngst erlebten arktischen Abenteuer nicht. Daß ich in<br />

dem Zusammenhang überhaupt erwähne, als erster Mensch den vielumworbenen<br />

Nordpol wirklich und tatsächlich erreicht zu haben, geschieht nur der<br />

Wahrhaftigkeit und der Vollständigkeit halber; es spielt eigentlich eine<br />

Nebenrolle. Denn nicht der Sieg in einem eher sportlichen, mit Verbissenheit und<br />

Trickreichtum geführten Wettstreit scheint mir das Wesentliche zu sein.<br />

Hauptthema des großen Menschheitsstrebens wie auch das Hauptthema im Leben<br />

jedes einzelnen Menschen - ob nun Entdeckungsreisender oder nicht - ist<br />

vielmehr die notwendige große Wandlung des Menschengeschlechts als Antwort<br />

auf die Frage, wie es empor ins Reich der Edelmenschen zu geleiten ist. Und jeder<br />

einzelne ebenso. Bei dieser Antwort habe ich allerdings ein Wort mitzureden und<br />

stelle mein Licht nicht unter den Scheffel.<br />

Die Entdecker haben nichts getan als bis in unsere Tage hinein das Territorium<br />

abzustecken, auf welchem sich diese Wandlung vollzieht. Von ihr sind nämlich<br />

weder Weißer noch Eskimo, weder Afrikaner noch Araber, weder Japaner noch<br />

Rothaut ausgenommen. Die Entdecker haben mit anderen Worten den<br />

Handlungsraum für den großen Schritt zum Edelmenschen abgesteckt, indem sie<br />

auch den letzten Weltwinkel besucht und beschrieben und die dortigen<br />

Erdenkinder in den Wandlungsprozeß einbezogen. Überall sind sie Menschen


egegnet, und alle diese Menschen streben einen Wechsel zum Höheren, Besseren<br />

an; sie benötigen ihn, um in Zukunft weiterleben zu können. Mit dem Vollzug<br />

dieser Wandlung sind wir selbst betraut: wir alle. Denn was die moralischen<br />

Werte und Maßstäbe dieses einzigartigen Vorganges angeht, so haben die Herren<br />

Entdecker uns zumeist verraten und alleingelassen. Wer wie ich sein Scherflein<br />

beim Aufbruch zu einem allgemeinen Empor! hat beitragen können, mag sich<br />

glücklich schätzen. Doch sind diese Fälle leider die Ausnahme. Die Regel ist der<br />

Raufbold.<br />

Zwar ist es auch auf meinen Reisen nicht immer gerade ruhig zugegangen, doch<br />

war dies nie meine Schuld, und ich rechne mich mit Fug und Recht jenen<br />

Reisenden zu, die man so treffend als die stillen Entdecker bezeichnet: Marco<br />

Polo und Alexander von Humboldt gehören dazu, ebenso Forschungsreisende wie<br />

Prinz Maximilian von Wied-Neuwied, der sowohl im Norden als auch im Süden<br />

Amerikas unter Indianern weilte; desgleichen der viel zu wenig bekannte Ungar<br />

Armin Vambery, dem es gelang, heimlich ins verbotene Buchara vorzudringen;<br />

der Schotte Mungo Park und - auch sie den afrikanischen Kontinent bereisend -<br />

meine deutschen Landsleute Eduard Vogel, Adolf Overweg und Heinrich Barth.<br />

Sie alle zählen zu dieser Kategorie, desgleichen der in meiner Jugendzeit im<br />

australischen Busch verschollene Cottbusser Ludwig Leichhardt, der Schwede<br />

Sven Hedin und mein Freund Pjotr Kusmitsch Koslow, der arabische Weltpilger<br />

Ibn Batuta, der Große Livingstone, Eduard Pöppig - Sachsens Poet am<br />

Amazonenstrome -, der Pommer Burmeister und der eben von erster<br />

Rekogniszierungsfahrt nach dem Rio Araguaya in Brasiliens Urwäldern<br />

zurückgekehrte Aschaffenburger Wilhelm Kissenberth. Uns allen ist eines<br />

gemeinsam: Hauen und Stechen gab und gibt es an unserem Wege nur, werden<br />

wir selbst angegriffen; geschossen wird nur in äußerster Notwehr. Den Genannten<br />

- und es ließen sich unschwer noch weit mehr Namen anführen - spüre ich mich<br />

mit jeder Faser meines Herzens verbunden. Ihnen und nicht jenen blutrünstigen<br />

Konquistadoren, die laut daherpolternde Expeditionsunternehmungen<br />

veranstaltetet haben und noch immer veranstalten, welche eher makabren<br />

Karnevalsumzügen gleichen als sachorientierten Forschungsfahrten.<br />

Mehr denn je sah ich mich, da ich vom Deck des Walfängers "Morning" auf das<br />

graublaue Wasser der Baffinbucht blickte, durch meinen Polerfolg in die Pflicht<br />

genommen. Ich hatte an genau diesem Abschnitt meinen Beitrag bei der<br />

Veredlung des Menschengeschlechts fortzusetzen. Auch ahnte ich schon, wie das<br />

zu geschehen hatte, waren mir doch durch eigenes Erleben - häufig vom Zufall<br />

befördert - zumindest flüchtige Blicke in die Seelenabgründe der selbsterklärten<br />

Polentdecker Cook und Peary gelungen. Bei der Erinnerung an die dabei<br />

geschaute menschliche Niedertracht und Verlogenheit überzog mich eine<br />

Gänsehaut. Ein Zusammenstoß der beiden Kämpen war offenbar unausbleiblich,<br />

doch galt es, dessen Vehemenz die Spitze zu nehmen. Und wer wenn nicht ich<br />

sollte dieses tun?<br />

Von Kapitän Adams mit Seemannskleidung versehen, konnte ich daran gehen,<br />

mir den von Whitney gestutzen Vollbart ganz abnehmen zu lassen. Ich behielt nur<br />

meinen altgewohnten Lippenbart. Harpunier MacDonald, der sich nicht nur aufs<br />

zielgerechte Schleudern des Mordstahles, sondern auch auf geschickte


Handhabung von Rasiermesser und Schere verstand, nahm die Prozedur vor. Als<br />

sich die schlohweiße Bartpracht neben mir aufhäufte, sagte ich mir: lange, sehr<br />

lange lag inzwischen die Zeit zurück, da ich, mein Gesicht von einem<br />

dunkelblonden Vollbart gerahmt, auf dem Ritt zum Silbersee durch die Elk<br />

Mountains gekommen war. In Erwartung unermeßlicher Reichtümer hatten die<br />

mit mir reisenden Schatzsucher den wildesten Träumen nachgehangen. Ich aber<br />

hatte schon damals gewußt: es gibt verschiedenerlei Schätze, nur war mir<br />

seinerzeit die Jugend noch nicht als ein solcher erschienen. Allein - die<br />

Erinnerung an die Jugend war kein Grund, verzagt zu sein. Man hat sein<br />

jeweiliges Alter wie eine jede Jahreszeit ihr Wetter hat: genau bestimmt und<br />

unabänderlich. Im Herbst soll niemand auf Frühlingssonne und Schneeglöckchen<br />

hoffen; er tut besser dran, sich am Spiel des Windes mit dem bunten Laub zu<br />

freuen.<br />

Sobald Grönlangs Südspitze endlich achteraus lag, verschnürte ich Robbenparka,<br />

Pelzhandschuhe, die Hose aus Eisbärenfell und meine Eskimofellstiefel, die<br />

Kamiker, zu einem handlichen Bündel. Mein arktisches Abenteuer, so jedenfalls<br />

dachte ich damals, war abgeschlossen. Bereit zu allem, was das Schicksal mir<br />

abfordern würde, dampfte ich an Bord der "Morning" ungeahnten Entdeckungen<br />

entgegen. Wie sich bald schon herausstellen sollte, auch neuen Abenteuern. Und<br />

wenn mich diese auch nicht wieder bis an den Nordpol brachten - die Arktik sollte<br />

noch für geraume Zeit in meinem Blickfelde bleiben. Ja, sie sollte schon bald eine<br />

Rolle in meinem Denken und Streben erlangen, welche die Bedeutung der<br />

unmittelbaren Reiseerfahrungen dort oben im Hohen Norden weit überragte.


4. IN DER GEISTERSCHMIEDE<br />

Die Jagd auf Wale und das Verwerten der dabei anfallenden Tierkadaver<br />

bestimmte für Wochen den mich umgebenden Alltag. Seit dem Tage der<br />

Sonnenfinsternis fuhr die "Morning" auf Heimatkurs. Tausende Lummen und<br />

Alke hatten bei unserer Umkehr das Schiff umflattert, und ich war fest überzeugt,<br />

Kaschadu unter all den Vögeln zu wissen; sie war gekommen, mir Lebewohl! zu<br />

sagen.<br />

Walfängerschicksal als Ausdruck des ewigen Ringens der Menschheit mit der<br />

Natur im Kampfe ums Überleben hat in der Reiseliteratur mehrfach sinnfälligen<br />

Ausdruck gefunden; hinweisen möchte ich in dem Zusammenhange auf den von<br />

Herrn Whitney gesprächsweise erwähnten Bericht Jules Vernes über Abenteuer<br />

und Schicksale des polbesessenen Kapitäns Hatteras. Auch soll das Buch eines<br />

bislang völlig unbekannt gebliebenen amerikanischen Autors - Herman Melville<br />

mit Namen - nicht unerwähnt bleiben, in dem uns die Rache der Kreatur an ihren<br />

Jägern vor Augen geführt wird. Ein weißer Wal, dem ein Kapitän die Vernichtung<br />

geschworen hat, bringt dessen Schiff samt der Mannschaft zum Untergange. Die<br />

Geschichte schildert das Leben der Walfänger derart einprägsam, daß ich es nicht<br />

wage, meinen Lesern einen weiteren Versuch in dem Genre anzubieten. Es<br />

erschien bereits 1851 und wird dem Publikum in unserem Vaterlande noch immer<br />

vorenthalten! Doch bin ich überzeugt: der Tag wird kommen, da das Buch Moby<br />

Dick auch der deutschen Leserschaft zugänglich sein wird. Es ist erstaunlich, wie<br />

leichtfertig derartige Meisterwerke immer wieder in denunziatorischer Absicht<br />

einer sogenannten Trivialliteratur zugeordnet werden, was ihr dichterisches<br />

Wirksamwerden in der literarischen Öffentlichkeit unerhört einschränkt.<br />

Erwartungsgemäß hörte während der Reise nach Schottland die Trankocherei<br />

nicht auf. Das Blutige und Stinkende an dem Geschäfte hatte für meine Begriffe<br />

nichts Großartiges an sich, es war eher abstoßend. Der Gedanke an ein<br />

menschliches Hohelied kam mir nicht, und zum Glück forderte mich Kapitän<br />

Adams weder zur Teilnahme an den rasanten Bootsjagden auf jene größten<br />

Meersäuger - jedesmal ein Unternehmen auf Biegen und Brechen - noch zur<br />

Mitarbeit beim Zerlegen der Tiere oder in der Fettsiederei auf. Wir hatten einen<br />

anständigen Preis für meine Passage vereinbart, zahlbar an ein Bankhaus in<br />

Edinburgh drei Wochen nach glücklicher Ankunft im Heimathafen.<br />

Dundee in Schottland ist eine Industriestadt mit etwa so vielen Einwohnern wie<br />

Chemnitz, das vielbesungene sächsische Manchester, und in weiten Teilen<br />

ebenso verräuchert wie dieses. Bei der Ankunft begrüßte uns dickster Nebel. Ich<br />

ging sofort an Land, mein spärliches Gepäck aufs deutsche Konsulat zu schaffen<br />

und mir dort einen Paß zu besorgen, war ich doch völlig ohne Papiere. Und schon<br />

hatte mich die Vergangenheit in Gestalt einiger Zeitungsartikel eingeholt, auf die<br />

Konsul von Trebnitz meine Aufmerksamkeit zu lenken die Liebenswürdigkeit<br />

besaß. Nach kurzem Gespräche hatte er sich als Verehrer Winnetous zu erkennen<br />

gegeben und war hocherfreut, mich, dessen engsten Vertrauten und Freund,<br />

kennenzulernen.<br />

Die Artikel waren haarsträubend. Meine Feinde in der Heimat, allen voran der<br />

verruchte Lebius, hatten während meiner Abwesenheit nicht geruht, neues Gift zu


ersinnen und die haarsträubendsten Verleumdungen über mein Vorleben und<br />

mein Werk in die Welt zu setzen. Nun, ich war nicht gesonnen, diesen Burschen<br />

etwas zu schenken; ich näherte mich dem vertrauten Kampfplatze mit Zuversicht.<br />

Doch wer beschreibt meine Entrüstung, als ich auf eine erst wenige Tage alte<br />

Meldung stieß, ganz offensichtlich von denselben Kreisen lanciert, die auch hinter<br />

jenen dummen, sensationell aufgemachten Berichten über meine Vorstrafen und<br />

die Scheidung von Emma Pollmer standen: "Der sattsam als Münchhausen von<br />

Radebeul berüchtigte Schriftsteller Karl May ist von einer angeblich im Vorjahr<br />

gemeinsam mit seiner jetzigen Gattin Klara, verw. Plöhn, geb. Beibler<br />

angetretenen Amerikareise bisher nicht zurückgekehrt", las ich. "Zwar liegt<br />

inzwischen vom Verlage des Herrn Fehsenfeld die Ankündigung eines Bandes<br />

vor, in welchem der Autor May die auf jener Reise gehabten Erlebnisse<br />

niedergelegt haben soll, doch kann man der einschlägig vorgewarnten Leserschaft<br />

die Vermutung nicht verargen, es handle sich womöglich wiederum um einen<br />

jener freihändig hingeworfenen, von jeder eigenen Ortskenntnis ungetrübten<br />

Reiseromane des Herrn May alias Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, wie er<br />

sie seit Jahren erfolgreich zu vermarkten weiß - sehr zum Schaden der<br />

heranwachsenden Generation. Frau Klara May war zu einem Kommentar über das<br />

Ausbleiben ihres Mannes nicht zu bewegen. Sie selbst will schon vor geraumer<br />

Zeit in die Radebeuler Villa Shatterhand heimgekehrt sein - allerdings verstrickt<br />

sie sich bei Bezifferung der seither vergangenen Monate in Widersprüche. Ihre<br />

Rückkehr dürfte, wie den Aussagen von Nachbarn zu entnehmen ist, noch vor<br />

Ende des vergangenen Jahres erfolgt sein. Sind das Schweigen und die von dieser<br />

Dame verbreiteten Desinformationen auch keinesfalls überraschend, so muß doch<br />

die Frage erlaubt sein, ob Karl May, mit dem wirklichen Leben in der Neuen Welt<br />

so ganz und gar unvertraut, möglicherweise im Wilden Westen verschollen, ob er<br />

etwa das Opfer von Railtroublern und Stakemen geworden ist oder ob ihm gar<br />

seine geliebten Rothäute den Skalp abgezogen haben."<br />

Der Name des Blattes tut nichts zur Sache, ich will das von diesen schreibenden<br />

Wichten so leichtsinnig gezündelte Feuer der Gehässigkeit nicht unnötig<br />

anfachen, indem ich ihnen die Ehre zuteil werden lasse, hier namentlich auf diese<br />

Unverschämtheiten einzugehen; das werden bei passender Gelegenheit die<br />

zuständigen deutschen Gerichte. All diese entsetzlichen Prozesse, zu denen die<br />

Rückständigkeit der einen und die Niedertracht der andern mich zwingt, sind mir<br />

zutiefst zuwider. Doch muß ich sie führen - und ich werde sie alle gewinnen. Die<br />

Prozessiererei, mir eigentlich wesensfremd, hält mich allerdings über weite<br />

Zeitstrecken von meiner eigentlichen Berufung fern. Eines will ich an dieser<br />

Stelle meinen Lesern nicht vorenthalten: Mich schaudert es jedesmal wieder neu<br />

vor soviel schamloser Ungereimtheit. Und ist mir diese auch, aus meinen<br />

bisherigen Erfahrungen mit derlei Radaujournalisten bestens bekannt, im<br />

höchsten Grade ekelerregend - ich werde mich, das verspreche ich hiermit nicht<br />

nur mir selbst, sondern auch meinen Lesern, von diesen Jämmerlingen nicht<br />

kleinkriegen lassen.<br />

Einziger Lichtblick im wild rauschenden Blätterwald ward mir die Meldung von<br />

der kürzlich erfolgten ersten Landung eines lenkbaren Zeppelin-Luftschiffes in<br />

Berlin. Hatte also die Unglücksserie, von welcher der Graf seit Jahren verfolgt


gewesen, endlich ihr Ende gefunden. Die meisten übrigen Zeitungsnachrichten<br />

bewirkten in mir nichts anderes als die aus dem feindlichen Lager gegen mich<br />

abgefeuerten Breitseiten: sie ließen mich des Ausmaßes an Mut bewußt werden,<br />

den ich aufzubringen hatte, wollte ich bei Rückkehr in die viel gepriesene<br />

Zivilisation den Grundsätzen treu bleiben, welche mein Leben bestimmten:<br />

Friedensarbeit und Voranbringen des Edelmenschentums. In Europa hatte die<br />

Kriegsgefahr seit meinem Aufbruch ins ewige Eis eher zu- als abgenommen, die<br />

Mächte waren auf dem Balkan wie in Marokko von einem für alle einigermaßen<br />

akzeptablen Gleichgewicht der Interessen noch immer weit entfernt. Ja, es hatte<br />

nicht viel gefehlt und nach der Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn<br />

sowie der darauf erfolgten scharfen Reaktion Rußlands wäre es fast zum Großen<br />

Knalle gekommen. Ich war in der Tat zu lange bei den Inuit gewesen, fernab des<br />

Weltgeschehens und somit der Möglichkeit beraubt, wie schon so oft im Notfalle<br />

als Friedensmittler helfend einzugreifen.<br />

Innerlich noch immer aufgewühlt gab ich dem Konsul die Zeitungsseiten zurück.<br />

Meine Erregtheit war Herrn von Trebnitz nicht verborgen geblieben. Offenbar<br />

deutete er sie vor allem als eine persönliche, und so sagte er lächelnd und wohl in<br />

der Absicht, mich zu beruhigen: "Na, ganz so schlimm scheinen es die<br />

Comanchen mit Ihnen ja nicht getrieben zu haben, Old Shatterhand. Erst einmal<br />

herzlich willkommen daheim, Sie Verschollener - na, zumindest doch fast<br />

daheim!"<br />

Er stellte mir sogleich - selbstverständlich auf meinen bürgerlichen Namen - den<br />

gewünschten Paß aus und ging großzügig auf die Bitte ein, mein Gepäck bis zur<br />

Weiterreise unter seiner Obhut lassen zu dürfen. Im übrigen lade er mich für den<br />

folgenden Nachmittag zum Tee ein. Ich nahm die Einladung mit dem größten<br />

Vergnügen an und stellte beim Abschied, die Hand bereits an der Türklinke, noch<br />

eine Frage, auf die ich bei Durchsicht der Zeitungen keine Antwort gefunden<br />

hatte: "Hat Ernest Shackleton eigentlich den Südpol erreicht?" Letzte Nachrichten<br />

vom antarktischen Abenteuer des britischen Navy-Leutnants und seiner Gefährten<br />

hatten mich in Neuyork erreicht, wenige Tage vor dem Ablegen mit Peary.<br />

"Das wissen Sie nicht? Mann Gottes, wo sind Sie denn die ganze Zeit gewesen?!"<br />

"Ich?" Meine Augen fixierten ihn. "Wo soll ich gewesen sein? Stellen Sie sich<br />

vor: Ich war am Nordpol!"<br />

"Hahaha, ein guter Witz! Zu schön um wahr zu sein: Old Shatterhand am<br />

Nordpol, - und Shackleton --- Tja, der arme Shackleton -. Nein, er hat umkehren<br />

müssen."<br />

"Wie nahe ist er dem Pol denn gekommen?"<br />

"Knapp hundert Meilen. Weniger als zwei Breitengrade haben schließlich<br />

gefehlt."<br />

"Woran ist er gescheitert?"<br />

"Das Übliche: Erschöpfung und Mangel an Vorräten. Und schlechtes Wetter<br />

natürlich."<br />

"Und doch ist er Sieger geblieben."<br />

"Wie meinen Sie das?"<br />

"Erstens hat er überlebt. Immerhin. Und zweitens hat er der Welt die Wahrheit<br />

über sein Scheitern gesagt. Zweimal ein Sieg über sich selbst. Das soll ihm erst


einmal jemand nachmachen!"<br />

"Aber so etwas ist doch ganz selbstverständlich!"<br />

"Ja --- , sollte man meinen. Doch schon so mancher Entdecker starb als Opfer der<br />

eigenen Großmannssucht, weil er seine Kraft überschätzte und nicht rechtzeitig<br />

kehrtmachte.” Oder er macht der Welt etwas vor und läßt fünfe gerade sein,<br />

dachte ich. Knapp hundert Meilen vom Pol entfernt war Shackleton umgekehrt,<br />

weil ihm die Vorräte ausgingen. Wie Peary - und doch: welch ein Unterschied!<br />

“Andere hätten das Ergebnis ihrer Reise geschönt und sich von der Welt groß<br />

feiern lassen”, sagte ich voller Respekt.<br />

"Nicht Shackleton! Ein integrer Mann. Ich hätte ihm den Erfolg gegönnt."<br />

"Unbedingt! Obwohl ich, ehrlich gesagt, meine Bedenken gegen diese Art<br />

Wettläufe habe."<br />

"Wer spricht denn von Wettlauf?"<br />

"Aber ich bitte Sie - sein alter Widersacher Scott liegt bestimmt schon auf der<br />

Lauer. Sehen Sie sich doch bloß an, was am Nordpol los ist!"<br />

"Man hat lange nichts mehr von dem Amerikaner gehört, diesem Perry - oder<br />

Peary, was weiß ich. Ein unerträgliches Großmaul."<br />

"Peary ist doch längst nicht der Einzige, den es zum Nordpol treibt."<br />

"Was Sie nicht sagen! Sie wissen darüber Genaueres?"<br />

"Wer wie ich monatelang mit Walfängern bei den Eskimos rumschippert,<br />

schnappt so manches auf."<br />

"Shackletons Vorstoß zum Südpol ein Sieg so oder so - ja, da mögen Sie recht<br />

haben. Faszinierend trotz des schließlichen Scheiterns. Kapitän Scott - oder wer<br />

auch immer der nächste ist - wird bei seinen Vorbereitungen umsichtiger sein<br />

müssen."<br />

"Bloß weil Shackletons Versuch nicht geklappt hat? Ganz im Gegenteil!<br />

Waghalsigkeit und Übermut werden zunehmen, wenn ich mir diese Prognose<br />

erlauben darf."<br />

"Und was bringt Sie zu dieser Ansicht?"<br />

"Es gibt nicht mehr viele von Menschen unbetretene Plätze auf unserer Erde, an<br />

denen sich sportlicher oder nationaler oder sonst irgendein Ehrgeiz festbeißen<br />

kann. Es wird dort unten bald ein ebensolches Feuerwerk konkurrierender<br />

Expeditionen geben wie gegenwärtig im Herzen der Arktik."<br />

"Wenn doch nur wir Deutsche stärker daran beteiligt wären! Sonst schnappen uns<br />

die Franzosen noch die besten antarktischen Happen vor dem Munde weg!"<br />

Jetzt empfahl ich mich wirklich. Mir sogleich nach Rückkehr in die zivilisierte<br />

Welt von einem Konsul des Deutschen Reiches, der andere höchst freigebig als<br />

Großmaul bezeichnete, das Lied von der deutsch-französischen Erbfeindschaft<br />

vorsingen zu lassen - danach stand mir nun wahrhaftig nicht der Sinn. Ich<br />

empfand dieses Lamentieren als Ohrfeige für meine Träume vom Edelmenschen,<br />

von der möglichen Bruderschaft aller Gutwilligen, die überall auf der Erde zu<br />

Hause sind und die sich weder um Rassen noch sogenannte Erbfeindschaften<br />

noch sonstigen, ähnlich gearteten Kram scheren.<br />

Konsul von Trebnitz, trotz des gezeigten vorlauten Betragens in vaterländischen<br />

Dingen kein Mann von Engstirnigkeit, war so umsichtig, mir in der Stadt, welche<br />

mir gänzlich fremd, zur Übernachtung eine Unterkunft in Hafennähe zu


empfehlen. Dies kam mir äußerst zupaß, wollte ich doch noch einmal kurz mit<br />

Kapitän Adams sprechen. R. D. Stan's Inn war der Name des Etablissements,<br />

welches der Konsul als gediegen, mit gutbürgerlicher Küche aufwartend<br />

charakterisierte. Ich dachte mir zunächst nichts bei dem Namen der Herberge und<br />

machte mich frohen Mutes sogleich auf den Weg. Mein unerschütterlicher Glaube<br />

an Gott und an die Möglichkeit einer Besserung und Veredelung des Menschen<br />

half mir, auf meinem Wege stadtabwärts zu der gehobenen Stimmung<br />

zurückzufinden, mit der ich den Landgang begonnen hatte.<br />

Während unseres langen Gesprächs und meiner ausgiebigen Zeitungslektüre in<br />

des Konsuls Räumen hatte der Nebel sich nicht gelichtet. Zudem war es<br />

schummrig geworden. Das graue Tageslicht würde nicht mehr lange vorhalten.<br />

Ich sah mich, nachdem ich geglaubt, zielstrebig bereits mehrere Straßenzüge<br />

durchschritten und dem breiten Mündungstrichter des River Tay zugestrebt zu<br />

sein, an dessen Norduferhang die Stadt Dundee sich ausbreitet, noch immer im<br />

eleganten Viertel der oberen Vorstadt, wo sich auch das Gebäude des Konsulates<br />

befand. Auf dem reichlich verwitterten Schild über dem Eingang zu einem<br />

Gasthause konnte ich Jeannie's Ta---n entziffern. Das zweite, im Mittelteil völlig<br />

unleserliche Wort mochte für Tavern stehen, doch selbst wenn diese Deutung<br />

stichhaltig war, half der nie zuvor gehörte Name der Schankwirtschaft bei<br />

meinem Versuch, mich zu orientieren, nicht weiter. Auch begegnete mir auf der<br />

Straße niemand, den ich nach dem Weg hätte fragen können. Ich schritt unbeirrt<br />

kräftig aus, denn wer aufgibt, hat bekanntlich bereits verloren.<br />

Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich plötzlich wieder vor dem Eingang zum<br />

Konsulat stand. Die Rollos vor den Fenstern waren inzwischen geschlossen,<br />

beiderseits des Portals brannten Gaslaternen. Es war in der Tat mittlerweile völlig<br />

dunkel geworden, und gerade jetzt rissen die Nebelschwaden um mich so weit<br />

auf, daß ich in der diesigen Ferne, vermutlich über den Wassern der Nordsee,<br />

verschwommenen den fast noch vollen Mond aufgehen sah.<br />

Ich zögerte augenblickslang. Sollte ich Herrn von Trebnitz noch einmal<br />

inkommodieren? Doch entschloß ich mich endlich, dieses nicht zu tun, würde ich<br />

ihn ohnehin doch schon am nächsten Nachmittag zum Tee wiedersehen. Ich ging<br />

also weiter, bestärkt in der Absicht, meinen Weg zum Ufer des River Tay alleine<br />

zu finden. Der Verlauf einer Gasse, die relativ gerade abwärts zu führen schien,<br />

kam mir zu Hilfe. Doch auch hier täuschte der erste Eindruck; kaum war ich<br />

einige Häuser weit gekommen, war mein weiter oben gelegener Ausgangspunkt<br />

abermals im dichten Nebel versunken. Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht. In<br />

Schwaden zog der graue Dunst an den kaum erkennbaren Giebeln der Häuser<br />

entlang. Neben mir ragte ein Kirchturm ins Dunkel, ohne daß ich hätte ausmachen<br />

können, ob er spitz oder stumpf endete. Schon bald merkte ich an der Art, wie der<br />

Nebel wallte, daß ich mich in derselben Richtung bewegte wie der leichte Wind,<br />

welcher sich aufgemacht hatte, das heißt: westöstlich anstatt nordsüdlich, dem<br />

Wasser zu. Mit anderen Worten, ich war erneut einer - wenn auch nur leicht -<br />

gekrümmten Straße gefolgt; allerdings war die Krümmung unter den<br />

herrschenden Sichtverhältnissen nicht auszumachen gewesen. Scharf eine<br />

Biegung vollziehend, spornte ich mich zu schnellerer Gangart an. Und siehe da,


es dauerte gar nicht lange, so hatte ich das Gefühl, der Hafengegend erheblich<br />

näher gekommen zu sein, und mein Gefühl trügt mich in diesen Dingen nur<br />

äußerst selten.<br />

Wie ein Leuchtzeichen sah ich just in dem Augenblicke eine Laterne hell überm<br />

Eingang zu einem Hause blinken - abermals eine Gastwirtschaft, wie sich bald<br />

herausstellte, genauer gesagt eine Spelunke; ihr Name lautete sinnigerweise Cool<br />

Up.Ich mußte lächeln, brauchte ich momentan doch genau das, was das Schild<br />

über dem niedrigen Eingang dem Ankömmling verhieß: eine Verschnaufpause zu<br />

meiner Abkühlung. Die Wegsuche hatte mich trotz der nassen Kälte des Nebels<br />

erhitzt und müde gemacht.<br />

Ich trat ein. Der enge Schankraum war von Tabaksqualm angefüllt wie die Gassen<br />

vom Nebel, und insgesamt waren die Lichtverhältnisse keineswegs günstiger als<br />

sie es draußen gewesen. Trinkende, rauchende Männer steckten über den Tischen<br />

die Köpfe zusammen, andere standen an Wände und Türrahmen gelehnt. Man<br />

hörte Gläser klirren und das leicht schmatzende Grunzen zufriedener Trinker.<br />

Auch ich sah mich gezwungen, ein Glas zu nehmen, und da ich in Schottland war,<br />

sollte es Whisky sein. Ich trat an die Theke. Bestellte. Die Gespäche um mich<br />

verstummten augenblicklich. Sobald ich das Gewünschte erhalten und mein Glas<br />

zum Munde geführt hatte, setzte das Gläserklirren, das Schmatzen und tuschelnde<br />

Reden der anderen Gäste erneut ein. Niemand schien mich mehr zu beachten, man<br />

hatte den neuen Gast flüchtig abgeschätzt und ihn alsbald eingestuft. Dies wäre in<br />

keiner Trinkstube der Welt anders gewesen als eben hier, im Cool Up in Dundee<br />

an Schottlands Ostküste. Schon bald sollte ich erfahren, welcher Art diese<br />

Einstufung war und wie sie meine Aufnahme durch die anderen Gäste<br />

beeinflußte.<br />

Der Wirt schob mir, ohne erst nachzufragen, alsbald ein frisch gefülltes Glas quer<br />

über den hölzernen Thresen zu. Ich hielt ihm mein immer noch halbvolles erstes<br />

Glas entgegen und sagte höflich: "Sir, ich bitte darum, in Ruhe austrinken zu<br />

dürfen! Mit allem Respekt ---"<br />

Rundum scholl bellendes Lachen auf. "Sir!" riefen einige und hielten auch ihre<br />

Gläser dem Wirte hin. Mein korrektes Englisch, auf das ich, zumal unter lauter<br />

Schotten, mit Recht stolz sein konnte, war offenbar zur Kenntnis genommen<br />

worden - doch mit welchem Ergebnis! Man machte sich schamlos über mich<br />

lustig. Es sollte noch schlimmer kommen. Der Wirt nahm wortlos das zweite Glas<br />

wieder an sich, jedoch nur, um es einem anderen Gast zuzuschieben, der es<br />

ebenso wortlos anhob. Der Fremde trank mir zu, ich tat ihm Bescheid und<br />

widmete mich erneut einer Betrachtung der wieder stumm oder leise tuschelnd<br />

dasitzenden oder herumstehenden Männer. Es waren einfache Menschen, zumeist<br />

Hafenarbeiter und Schauerleute. Kein Gesindel eigentlich, sollte man meinen. Der<br />

Fremde, der eben das für mich bestimmte Glas aufgenommen, stand plötzlich<br />

neben mir, den rechten Ellbogen auf die Theke gestützt. Er trug eine Schirmmütze<br />

und ein um den Hals geknotetes Tuch, das früher einmal lindgrün gewesen sein<br />

mochte.<br />

"Wie geht's so?" fragte er. Ich hatte Mühe, seine stark mundartlich gefärbte<br />

Redeweise überhaupt zu verstehen, doch half mir meine natürliche<br />

Sprachbegabung über diese Klippe hinweg.


"Ach, es geht so", entgegnete ich. "Und selbst?"<br />

"Hmm", ward mir darauf zur Antwort. Die Knappheit der Auskunft überraschte<br />

mich nicht, hatte ich doch im Wilden Westen der Neuen Welt tausenfach ganz<br />

ähnliche Unterhaltungen geführt, auch in einschlägigen Saloons. Wir hoben<br />

einander die Gläser entgegen. Meines war, als ich es wieder absetzte, nun<br />

tatsächlich leer, und ich winkte dem Wirt und erhielt ein neues, gefülltes über die<br />

Theke geschoben.<br />

"Schottischer Whisky", sagte der Fremde und nickte dabei bedeutungsvoll.<br />

"Hmm", war nun ich an der Reihe. Nach dem ersten Schluck aus dem neuen Glas<br />

stülpte ich genußvoll die Lippen auf und atmete tief die rauchige Kneipenluft ein,<br />

gemischt mit dem Whiskyhauch, der an meinem Schnurrbarte hängengeblieben<br />

war. Zu meinem Befremden sah ich, daß der Unbekannte mir das<br />

Lippenaufschürzen nachmachte, doch maß ich diesem Umstande keine Bedeutung<br />

zu. Ich dachte an Harry Whitney und an den von ihm stammenden Taschenflakon<br />

mit Bourbon, der mir nach meinem unfreiwilligen Tauchbad im Eiswasser das<br />

Leben gerettet hatte. Jener Bourbon war leidlich gut gewesen - dieser Scotch war<br />

in der Tat ausgezeichnet.<br />

"Schon lange in Dundee?" fragte der Fremde nach einer Weile.<br />

"Kommt drauf an."<br />

"Was heißt'n das!"<br />

"Es heißt das, was ich sage."<br />

"Und - was sagste?"<br />

"Nun - dem einen mag ein Tag zu kurz sein, dem anderen schon viel zu lange."<br />

"Nanana, nu werdma nich frech!"<br />

"Ich bitte Sie, Sir! ---" Ich mußte diese Unterhaltung sofort beenden. Der Kerl<br />

wirkte, nun ich genauer hinsah, schon reichlich angeschlagen und war<br />

wahrscheinlich, geübt, seinen wirklichen Zustand zu verschleiern, längst<br />

sturzbetrunken.<br />

"Sir! Sir! ---" scholl es da überall um mich her. "Duncan, du bist als alter Adel<br />

durchschaut! Kannste nix machen!"<br />

Ich mußte sofort diesen Ort verlassen, das hier nahm sonst kein gutes Ende. Zwar<br />

fürchtete ich mich nicht, obwohl ich allein war. Doch mit der Örtlichkeit nicht<br />

vertraut und ganz allein auf mich selbst gestellt zu sein - das war keine gute<br />

Kombination und ging ohne Zweifel weit über das hinaus, was ich als vertretbares<br />

Risiko anzusehen bereit bin. Ich konnte, wurde ich ernsthaft bedroht, einen, zwei,<br />

ja auch drei Angreifer mit meiner Schmetterhand niederstrecken, doch war hier<br />

die Übermacht so gewaltig, daß ich keine wirkliche Chance hatte. Ich griff in die<br />

Rocktasche, wollte meine Zeche bezahlen und gehen. Das halb ausgetrunkene<br />

Glas stellte ich neben mich auf die Theke.<br />

Da legte sich plötzlich die Hand des Fremden, den seine Saufkumpane Duncan<br />

genannt hatten, auf meine Schulter. "Nix da", sagte er. "Das mag bei dir in<br />

Preußen anders sein. Aber im Cool Up wird ausgetrunken. Merke dir das!" Die<br />

Angriffslust in seiner Stimme war unüberhörbar.<br />

Er hatte den Namen des Lokals kaum ausgesprochen, als es mir wie Schuppen<br />

von den Augen fiel. Diese Stadt, in welcher ich niemals zuvor gewesen, kam mir<br />

auf einmal bekannt vor. Du bist gar nicht in Dundee im Cool Up, sagte


unüberhorbar etwas in mir. Bist vielmehr auf dem fernen Stern Sitara, bist auf<br />

deiner Lebensreise in die Geisterschmiede im Walde von Kulub geraten, gelegen<br />

in Märdistan zwischen Ober- und Unterland, zwischen Dschinnistan und Ardistan<br />

- ja, zwischen Jeannie's Tavern und R.D. Stan's Inn --- zwischen R.D. Stan--- und<br />

Jeannies's Ta---n, scholl es wie ein Echo in mir nach, wieder und wieder ---<br />

zwischen R.D. Stan--- und Jeannies's Ta---n! Und schließlich erneut: zwischen<br />

Ardistan und Dschinnistan. Den Nachhall zu übertönen, rief ich verzweifelt: "Ich<br />

bin doch aber gar nicht aus Preußen! Ich bin Sachse, Sir!" In mir aber klang es<br />

weiter: Sitara, Sitara---<br />

"Sachse, Preuße - what's the differnce, you bloody German Pickelhaube!" rief<br />

mein Gegenüber streng. Seine Stimme sollte gebieterisch klingen und hätte auf<br />

einen Schwächeren mit Sicherheit nicht ihre Wirkung verfehlt. Ich aber war<br />

bereit, mich meiner Haut zu wehren, und ich hatte Mittel und Wege dazu.<br />

Drohend stand Duncan vor mir, die Faust zum Schlage erhoben. Da stürzten zwei<br />

andere sich von hinten auf mich und hielten mit aller Gewalt meine<br />

Schmetterhand nieder, die ich soeben zu schwingen gedachte. Und ringsum klang<br />

wieder das höhnende "Sir! Sir! Duncan, er hat wieder Sir zu dir gesagt, zu wem<br />

sonst? Sir, wo seid Ihr, Sir Duncan! Warum nennt der Kerl dich nicht Squire,<br />

verdammt." Das kichernde Lachen wollte kein Ende nehmen.<br />

"Du gibst also zu, Deutscher zu sein!" sagte Duncan. Er hatte noch immer die<br />

Faust geballt, hielt allerdings nun den Arm gesenkt, wußte er mich doch in der<br />

Gewalt seiner Kumpane.<br />

Ich schwieg. Was sollte ich sagen? Sollte ich erklären, daß nicht die<br />

Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Volke das Wesen eines Menschen ausmacht;<br />

daß es überall wertvolle Menschen gab, daß vielmehr die Trennung in Gut und<br />

Böse quer durch die ganze Welt lief? Verlorene Liebesmüh - dieser Duncan<br />

würde es nicht verstehen. Ja, Sitara war in der Tat überall, war in Dundee, das<br />

sich am Hange über dem Firth of Tay vom Rande des Hafens bis zur eleganten<br />

Oberstadt hinzog, war in Ernstthal und dem benachbarten Hohenstein im<br />

sächsischen Erzgebirge, wo ich aufgewachsen und wo ich die Teilung der Welt in<br />

reich und blutarm am eigenen Leibe erfahren. Es gab diese Teilung in Preußen,<br />

natürlich auch dort, doch ich war inzwischen Weltbürger und hatte geglaubt, der<br />

alten Einteilung in Oben und Unten durch meine eigenen Anstrengungen beim<br />

Trachten nach dem Guten längst entronnen zu sein. Aber gab es überhaupt ein<br />

Entrinnen? Sitara war vor allem ein Ort der Bewährung. Man mußte stets strebend<br />

sich bemühen - selbst dann, geriet man auf der Suche nach einem geeigneten<br />

Aufenthaltsorte für Edelmenschen im Walde Kulub in die Geisterschmiede und<br />

klang dort das Pinkepank vom Amboß der Gesellen des Bösen auch noch so<br />

drohend. Mußte seinen Mann stehen, wenn sie auch alles dransetzten, einen nach<br />

ihrer Absicht umzuschmieden und man gemartert wurde bis in die weiße Glut. All<br />

das ging mir in Blitzeseile im Kopfe herum, doch ich behielt es für mich. Nein,<br />

Duncan hätte es nicht verstanden. Die anderen auch nicht.<br />

"Wir werden dich schon zum Reden bringen", sagte Duncan da mit scharfer<br />

Stimme. "So oder so."<br />

"Was treibst du dich hier in unserer Stadt herum, anstatt zu Hause zu bleiben bei<br />

deinem Kaiser?" Nun mischten sich auch andere ein. "Spionierst stattdessen


an unseren Werften herum, willst wohl herausfinden, wo die Dreadnoughts gebaut<br />

werden?"<br />

Ich hatte von diesen britischen Großkampfschiffen gehört, von ihrem<br />

unübertroffenen Aktionsradius, ihrer unübertroffenen Panzerung, der<br />

unübertroffenen Durchschlagskraft ihrer Geschütze. Jetzt in Friedenszeiten<br />

bewirkten sie vor allem eines: sie waren der deutschen Flottenführung und, ja,<br />

Kaiser Wilhelm ein Ansporn, selbst immer mehr und immer größere<br />

Schlachtschiffe zu verlangen und bauen zu lassen. Eine Spirale des Wettrüstens,<br />

deren Ende nicht absehbar war. Welch absurde Idee, mich damit in Verbindung<br />

zu bringen!<br />

"Ich habe nicht, nie ---" sagte ich. "Ganz im Gegenteil. Ich verlange mit einem<br />

Vertreter des deutschen Konsulates zu sprechen!" Da sah ich, wie eine Hand eine<br />

noch reichlich gefüllte Flasche über meinem Kopfe schwang. Sie werden dich<br />

totschlagen, war als letzter Gedanke in mir, ehe mich mein Bewußtsein verließ;<br />

doch gestalteten sich die Umstände glücklicherweise weit günstiger, als ich hatte<br />

annehmen müssen.<br />

Als ich wieder zu mir kam, war Dunkelheit um mich. Ich lag auf der Erde; es roch<br />

erbärmlich nach Whisky. Verletzt schien ich nicht zu sein, obwohl meine Glieder<br />

schmerzten. Ich wälzte mich mit geringer Anstrengung auf die Seite. Man hat<br />

dich also nicht gefesselt, stellte ich mit Befriedigung fest. Doch trotz dieser<br />

freudigen Entdeckung spürte ich Verzagtheit in meiner Seele. Bekanntlich lauern<br />

die schlimmsten Feinde im eigenen Herzen. Warum bist du nicht in der Oberstadt<br />

geblieben und in Jeannie's Tavern eingekehrt, statt dich auf den Weg ins<br />

Ungewisse zu machen, rechtete ich mit mir. Der Umstand, daß ich im Nebel im<br />

Kreise gelaufen und schießlich wieder vor meinem Ausgangspunkt, dem Konsulat<br />

des Herrn von Trebnitz, gelandet war, schien mir nun als sicherer Hinweis darauf,<br />

daß ein Schutzengel mir einen Fingerzeig hatte geben wollen. Ich aber hatte<br />

diesen gröblich mißachtet. Wer würde mir nun weiterhelfen? Mein Konsul<br />

bestimmt nicht.<br />

Augenblickslang griff in mir der Gedanke Platz, auf das Angebot der Schamanin<br />

Kaschadu zurückzukommen, sie herbeizurufen und zu bitten, mir aus meiner<br />

verzweifelten Lage herauszuhelfen. Um zu entfliehen, ohne gemartert zu werden,<br />

mußte man fliegen. Mit dem Aufkommen motorisierter Flugapparate war<br />

zweifellos auch die Zeit des geistigen Aeroplans angebrochen. Wir würden aus<br />

diesem Verlies - oder diesem Keller oder was auch immer mein stockdunkler<br />

Kerker sein mochte - auf sanften Zauberschwingen entfleuchen. Schon öffnete ich<br />

die Lippen, setzte an zu einem, zur Probe zunächst leise gewollten "Kascha ---".<br />

Da fiel mir ein, daß ich am Abend den Mond als fast volle Scheibe hatte aufgehen<br />

sehen, und ich verwarf die Idee schnell. Kaschadu konnte mir bei Halbmond von<br />

Nutzen sein; in Nächten wie dieser war auch sie machtlos.<br />

Ich mußte schon Stunden hier im Dunkel gelegen haben - gewiß nicht Tage, sonst<br />

hätte ich Hunger verspürt. Endlich entschlossen, mir selbst zu helfen, griff ich ins<br />

Innere meines Rockes. Dort trug ich in einer Geheimtasche, wasserdicht verpackt<br />

und folglich auch vor dem schottischen Kornschnaps sicher, der sich über mich<br />

ergossen, stets einige Schwefelhölzer bei mir. Eines davon riß ich auf dem


steinernen Fußboden an, auf welchem ich lag.<br />

Die Flamme tauchte meine Umgebung in gespenstisches Licht. Ich befand mich<br />

am Fuß einer hölzernen Treppe, deren oberes Ende von einer Luke verschlossen<br />

war. Eine Falltür!, ging es mir durch den Kopf. Dies mußte folglich aller<br />

Wahrscheinlichkeit nach noch immer die widerliche Kaschemme Cool Up sein,<br />

in der man mich zunächst in ein abstruses Gespräch verwickelt und mir dann eine<br />

Flasche über den Kopf geschlagen hatte. Für diese Annahme sprach, daß<br />

beiderseits eines Ganges, welcher von Treppe und Luke fortführte, Fässer<br />

übereinandergestapelt waren. Das Ende des Ganges war im Licht der schon<br />

schwächer werdenden Zündholzflamme nicht auszumachen.<br />

Langsam kam mir die Erinnerung an Einzelheiten. Man hatte mich<br />

niedergeschlagen, weil ich Deutscher war. Angeblich sollte ich - ja, Spionage war<br />

der Vorwurf gewesen, den dieser Duncan oder einer seiner Saufkumpane hatte<br />

lautwerden lassen. Ich ein Militärspion, ich, dem die Idee des Friedens wie<br />

niemandem sonst am Herzen lag - absurder ging es schon nicht mehr.<br />

An derlei Absurditäten war ich seit langem gewöhnt. Wie oft hatte man mich<br />

unter Westmännern, solange man über meine wahre Identität noch nicht<br />

aufgeklärt war, für ein Greenhorn gehalten. Mich, Old Shatterhand! Und wie oft<br />

hatte ich am Marterpfahle irgendwelcher Indsmen gestanden, die mich nicht<br />

kannten--- gemartert nicht als Winnetous Blutsbruder, sondern als irgendein<br />

Weißer. Derlei pauschalisierendes Räsonieren meint weder jemals den Einzelnen<br />

noch ist es Vernunftgründen zugänglich.<br />

Um mich war Stille, sah ich vom Brummen in meinem Schädel ab, das noch<br />

immer ein erhebliches war. Als Spion für des Kaisers Marine verhöhnt und<br />

anschließend von einer Übermacht besiegt worden zu sein - das war in der Tat<br />

nicht erbaulicher als unerkannt zum Greenhorn gestempelt und an den<br />

Marterpfahl gebunden zu werden, den sicheren Tod vor Augen. Doch hatte es für<br />

mich auch in solch auswegslos scheinenden Lagen immer eine Rettung gegeben,<br />

sonst wäre ich jetzt nicht hier.<br />

Ehe das Zündholz zur Gänze erlosch, nahm ich als letztes einen in zwei, drei<br />

Armlängen Entfernung von mir an einem rostigen Wandhaken hängenden<br />

Hammer wahr, wie ihn der Böttcher benutzt, um beim Faßbau die Reifen über die<br />

Dauben zu zwingen. Dann senkte sich wieder das stumme Dunkel der<br />

Ungewißheit um mich. War ich in der Tat - und alles sprach dafür, daß es sich so<br />

verhielt - an keinen anderen Ort verbracht worden, so mußte folglich die Falltür<br />

im Fußboden des Schankraumes angebracht sein.<br />

Ich konzentrierte meine Gedanken. Die Schmerzen in meinen Gliedern konnten<br />

durchaus daher rühren, daß man mich kurzerhand durch diese Falltür gestürzt<br />

hatte, geradewegs die Kellertreppe hinunter. Daß sich dort oben jetzt nichts<br />

bewegte, daß weder Schritte noch Stimmen noch irgendwelche anderen<br />

Geräusche vernehmbar waren, kein Stühlerücken, kein gar nichts, konnte nur<br />

eines bedeuten: es war spät in der Nacht. Wirt wie Gäste hatten das Lokal längst<br />

verlassen. Ich richtete mich auf und tastete mit der Linken die Wand nach dem<br />

Hammer ab. Mit dem Griff des guten Stückes in Händen trat ich auf die Treppe<br />

zu. Nun mochte kommen, wer wolle. Ich stieg die Stufen empor.<br />

Sobald ich mich mit aller Kraft der freien Hand und schließlich gar mit meinem


Rücken gegen die Falltür stemmte, mußte ich erkennen, daß ich sie allein nicht<br />

anzuheben imstande war. Man hatte etwas darauf gestellt, um sie zu sichern.<br />

Nun war guter Rat teuer. Ich setzte mich kurz entschlossen auf die Treppenstufe,<br />

auf der ich eben gestanden. Auswegslose Lagen gibt es für mich grundsätzlich<br />

nicht. Und siehe da - plötzlich schimmerte in der Ferne ein Leuchten, das langsam<br />

heller und heller wurde. Das Licht mußte seinen Ausgang vom Ende des Ganges<br />

genommen haben, welcher mir nun gewissermaßen zu Füßen lag. Ich faßte den<br />

Hammergriff fester. Das Licht kam langsam, doch unaufhaltsam näher und<br />

beleuchtete bald Brust und Hals seines Trägers; sein Gesicht aber blieb im<br />

Dunkeln.<br />

Ich wartete ab. Die geringe Höhe, in der die Lichtquelle gehalten wurde - es<br />

handelte sich um eine nach oben abgeschirmte Petroleumlampe, wie ich schon<br />

bald konstatieren konnte -, ließ vermuten, daß der Herankommende etwas<br />

bestimmtes suchte, und zwar auf dem Boden des Kellers. Würde er mich zu früh<br />

erkennen, gab ich das Überraschungsmoment aus der Hand, welches mir schon so<br />

oft von Nutzen gewesen. Dorthin, wo ich saß, würde er zuallerletzt schauen. Bis<br />

es soweit war, blieb Zeit zu einer Entscheidung.<br />

Was ich üblicherweise meinen Instinkt nenne, bewährte sich einmal mehr. Denn<br />

in dem Augenblick, da der Mann den Fuß der Treppe erreicht hatte, die Lampe<br />

hob und der Lichtkegel meine angewinkelten Beine erfaßte und bald darauf meine<br />

Schultern und meinen Kopf - in dem Augenblick hatte auch ich sein Gesicht<br />

erkannt. Es war der junge Harpunier MacDonald von der "Morning".<br />

"Mann Gottes, MacDonald!" rief ich erstaunt. "Was suchst du denn hier! Oder<br />

vielmehr - wen?"<br />

"Na, wen schon! Ich wollte hier sein, ehe du mit deinem Geschrei alle Hunde von<br />

Dundee scheu machst wie damals die von ganz Grönland." Zufrieden lachte er<br />

und wollte die Lampe absetzen. Dabei muß er sie ungenau auf eine der<br />

Treppenstufen gestellt haben; die Lampe kippte, flackerte kurz auf und zerschellte<br />

mit lautem Geklirr am Boden. Der Geruch von Steinöl breitete sich in der<br />

Dunkelheit aus.<br />

"So ein Sch--- Mist", sagte der junge Seemann. "Wenn wir man bloß den<br />

Ausgang da hinten finden." Ich beruhigte ihn mit dem Hinweis auf meinen Vorrat<br />

an vorzüglichen Zündhölzern; eines davon hier über dem ausgeflossenen<br />

Lampenöl zu entzünden mochte ich mich jedoch nicht entschließen.<br />

"Wie hast du wissen können, daß du mich hier findest?" wollte ich wissen.<br />

Vorsichtig kroch ich, während ich sprach, die Stufen der Treppe abwärts, darauf<br />

bedacht, nicht in Lampenscherben zu fassen.<br />

"Wie? Na ganz einfach! Ich hab gesehen, wie sie dir eins mit ner Buddel<br />

übergebraten haben - und gleich gings ab durch die Luke, hier runter."<br />

"Wann war das?"<br />

"So um halb elf."<br />

"Und wie spät ist es jetzt?"<br />

"Na, so viertel vier. Wenn wir uns ranhalten, schaffen wirs raus, ehe der Markt<br />

aufmacht. Dort endet der Gang nämlich."<br />

Er schien sich bestens in Dundees Unterwelt auszukennen. Wir machten uns auf


den Weg. Nach wenigen Schritten erfühlte ich den Mauerhaken und hängte den<br />

Küferhammer an seinen Platz zurück. Ich spürte MacDonalds Atem im Nacken.<br />

"Erstmal gehts geradeaus", sagte er. "Laßmal dein Lichtchen noch stecken."<br />

Mich interessierte vor allem eine Frage, und ich stellte sie in aller Offenheit: "Sag<br />

mal, wenn du mich gleich erkannt hast - warum hast du mir dann nicht geholfen?<br />

Ich meine, das war doch kein fairer Kampf einer gegen einen - ganz im<br />

Gegenteil!"<br />

"Ich kam doch gerade man erst in die Kneipe, als die Klopperei so gut wie vorbei<br />

war. Und außerdem - gegen Duncan und seine Schläger kannste nich anstinken."<br />

"Notorische Krakeeler also! Hätte ich mir fast gedacht. Wie konnten sie mich nur<br />

für einen deutschen Spion halten!"<br />

"So, hamse das?"<br />

"Bloody German Pickelhaube haben sie mich genannt!"<br />

"Ach, du bist Deutscher! Sag mal - Pickelhaube? Was issn das eigentlich?"<br />

"Nun, wie soll ich sagen - die in meiner Heimat übliche Form des Helmes. Ja, so<br />

kann man es formulieren."<br />

"Versteeh! Die Dinger mit Blitzableiter! Habich auf Bildern gesehn. Kaisers<br />

Mariner ham die aber nich. Und andere Deutsche hab ich noch nie gesehen. Dich<br />

hab ich ehrlich gesagt bis eben fürn Yankee gehalten."<br />

"Dieser Duncan kann mir doch nicht mein Herkommen vorwerfen!"<br />

"Macht er aber, hastja gesehen.<br />

"Ich hab ihm doch auch keine Schottenwitze erzählt."<br />

"Issn das?"<br />

"Nun, lieber MacDonald, das sind Anekdoten, in denen ihr Schotten gelinde<br />

gesagt als Geizhälse dargetellt werdet."<br />

"Knickrich meinste?"<br />

"In etwa."<br />

"Ham bestimmt die Engländer in die Welt gesetzt. Und die - na die erstmal.<br />

Knickrich sind die natürlich kein Stück, hahaha."<br />

"Ich sehe, du hast mich verstanden."<br />

"Na, laß schon gut sein. Wärst du wirklich ein Yankee, hätter Jonathan zu dir<br />

gesagt und sie hätten dich genauso fertiggemacht."<br />

"Wie hat dieser Duncan es nur herausgefunden!"<br />

"Was? Daß du ein Kraut--- ich meine: daß du Deutscher bist? Duncan ist<br />

sprachbegabt wie Sau."<br />

"Ich hielt mein Englisch immer für unanfechtbar."<br />

"Ist es auch, ist es auch. Aber hier ist nicht England, Mann. Duncan sagt dir,<br />

wenns drauf ankommt, aus welchem Dorf in Yorkshire du stammst. Oder in<br />

Exeter. Und bei dir muß er gerochen haben: es ist nicht Yorkshire. Und auch nicht<br />

Exeter. Gegen Engländer hat er übrigens auch was."<br />

"Schweig endlich! Wenn ich daran denke, so will der Ingrimm mich übermannen.<br />

Die sittliche Aufwärtsentwicklung in das uns verheißene Land der Edelmenschen<br />

als Heimat aller Gutwilligen ist offensichtlich ein weiter Weg."<br />

"Die bitte was?"<br />

"Die sittliche Aufwärts---", setzte ich an, verstand jedoch, daß es zwecklos<br />

gewesen wäre, bei meinem Retter jetzt und hier mit eben dieser


Aufwärtsentwicklung beginnen zu wollen. So entgegnete ich ausweichend, indem<br />

ich mich ganz zu ihm umdrehte: "Ich fragte nur: ist es noch ein weiter Weg bis<br />

zum Ende des Ganges?" "Nee, sind gleich da. Kannst schonmal eins von<br />

deinen Streichern anreißen." Ich tat wie mir geheißen. Anstelle der Fässer<br />

säumten jetzt Kisten den Gang.<br />

"Warum hältst du es eigentlich für geraten, vor Öffnung des Marktes mit mir<br />

draußen zu sein?" fragte ich, mich abermals zu MacDonald umwendend.<br />

Anstatt zu antworten legte er mir die Rechte auf die Schulter und sagte: "Laß<br />

mich mal vor jetzt. Gleich gehts um die Ecke."<br />

Ich trat zur Seite und preßte mich gegen die Kisten.<br />

Im Vorbeidrängeln kam der Schotte auf meine Frage zurück: "Die frühe Stunde<br />

istn kleiner Sicherheitsfimmel von mir. Duncan hat doch seine Leute überall.<br />

Lauter Schmuggelware hier", sagte er, auf die Stapel längs der Wände deutend.<br />

Ich nickte stumm, und stumm folgte ich ihm, sobald er vor mir ging. Das<br />

Streichholz erlosch. Ich lief jetzt nach Gehör. Auf einmal stieß ich gegen<br />

MacDonald, der stehengeblieben sein mußte.<br />

"Pst!", raunte er mir zu. Beide hielten wir den Atem an. Doch schon nach<br />

wenigen Sekunden gab er Entwarnung. "Ich dachte bloß--- . Man wird doch<br />

nochma denken dürfen. Machma wieder Licht."<br />

Im Weitergehen riß ich ein Zündholz an. Jetzt war ein starker Luftzug zu spüren,<br />

der die Flamme gelöscht haben mochte, hätte ich nicht meine freie Hand<br />

schützend davorgehalten. Weit konnte es nicht mehr sein bis zum Ausgang.<br />

Erneut blieb MacDonald stehend. Er sicherte wie ein Hund, zog schnüffelnd die<br />

Luft dabei ein. "Klar Schiff", stellte er endlich fest und ging weiter. Das Holz in<br />

meiner Hand erlosch, als eben das erste Tageslicht durch eine Türöffnung fiel.<br />

Der Markt lag still, Buden und Stände präsentierten sich leer. Die Sonne war eben<br />

aufgegangen. Vom gestrigen Nebel fehlte jede Spur. "Käppn Adams will dich<br />

übrigens nochmal sehen", sagte MacDonald auf einmal in der ihm eigenen<br />

unvermittelten Art und Weise.<br />

"Ich hatte selbst die Absicht, ihn aufzusuchen", entgegnete ich. "Gestern abend<br />

war ich zu ihm unterwegs. Wie du weißt, ist leider etwas dazwischengekommen."<br />

Meine Frage, ob auch er auf die "Morning" wolle, verneinte er. Er wies mir den<br />

Weg, und als wir uns mit einem herzlichen Handschlag verabschiedeten, dankte<br />

ich ihm dafür, daß er mir zu Hilfe gekommen war.<br />

"Keine Ursache", sagte er. "Hättste für mich doch auch gemacht." Ich nickte<br />

gedankenvoll und ging in die mir gewiesene Richtung.<br />

Der Liegeplatz des Schiffes war unschwer zu finden. Kapitän Adams war bereits<br />

an Deck, das Entladen der Tranfässer beaufsichtigend. Er unterbrach seine<br />

Tätigkeit, sobald er meiner auf der Laufplanke ansichtig wurde und lud mich zum<br />

Morgenkaffee in seine Kajüte ein.<br />

"Es ist nett von Ihnen, noch einmal vorbeizuschauen", sagte er. "Ich wollte Ihnen<br />

nämlich ein Angebot machen."<br />

"Ich hoffe, es betrifft genau den Grund, der mich zu Ihnen führt", entgegnete ich.<br />

Und in der Tat - er bot mir an, was ich im Stillen gehofft hatte: "Sollte es sie noch<br />

einmal nach Grönland ziehen, lassen Sie es mich wissen! Mein Schiff steht Ihnen,<br />

falls es mit unserem eigenen Turnus zu vereinbaren ist, dafür jederzeit als


Transportmittel zur Verfügung."<br />

Mich verbeugend, bedankte ich mich. Und da weder die frische Luft noch der<br />

ausgezeichnete Kaffee des weltgewandten Fahrensmannes mein Kopfgrimmen<br />

völlig beseitigt hatten, schloß ich eine Bitte an: ob es wohl möglich sei, meine<br />

Koje noch einmal für ein paar Stunden belegen zu können, um mich auszuruhen.<br />

Mein Sinn stand mir weder nach R. D. Stan's noch nach einem anderen Inn. Ab<br />

und an in kleinen Dingen abergläubisch zu sein hat mir noch nie geschadet.<br />

"Mit Vergnügen", erwiderte Adams. "Es ist immer gut zu wissen, daß sich jemand<br />

bei uns an Bord wohl gefühlt hat." Ich bat, nachmittags um drei Uhr geweckt zu<br />

werden, was er zu veranlassen versprach.<br />

Die Stunden der Ruhe in der vertrauten Umgebung verfehlten ihre wohltuende<br />

Wirkung nicht. Erfrischt, an Geist und Seele gestärkt machte ich mich, nachdem<br />

ich von Kapitän Adams Abschied genommen, auf den Weg in die Oberstadt - den<br />

Kopf klar und von Schmerzen frei.<br />

Herr von Trebnitz erwartete mich bereits voller Ungeduld. Seit unserem gestrigen<br />

Gespräch über Entdeckungsreisen im allgemeinen und die Polarforschung im<br />

besonderen hatte es eine - wie er sich ausdrückte - überaus dramatische Wendung<br />

der Dinge gegeben. In der Tat: sobald er zu berichten anfing, empfand ich das<br />

Spannungsgeladene der Situation mit jeder Faser des Körpers, wenngleich<br />

offensichtlich auf ganz andere Weise als der Konsul selbst, wußte ich doch um<br />

einige der ihm unbekannten Zusammenhänge. Vom kleinen Hafen Lerwick auf<br />

den Shetlandinseln sei heute, führte von Trebnitz gestenreich und offenbar höchst<br />

erregt aus, im Auftrage eines gewissen Doktor Frederick Cook die Nachricht in<br />

die Welt hinaustelegrafiert worden, dieser habe vor fast anderthalb Jahren,<br />

genauer gesagt am 21. April 1908, über das Packeis der Polarsee in Begleitung<br />

zweier Eskimos mit Hundeschlitten den Nordpol erreicht. Die Zeitungen der<br />

ganzen Welt, so sei zu erwarten, wären morgen vom Nordpolfieber ergriffen. Was<br />

ich davon halte und ob mir dieser Doktor Cook, offensichtlich Amerikaner wie<br />

Peary, bekannt sei.<br />

Auf die Fragen des Konsuls ging ich gar nicht erst ein, sondern fragte stattdessen<br />

selbst: "Wie kommt Doktor Cook auf die Shetlands?"<br />

"Er ist bereits nicht mehr dort. An Bord des dänischen Schiffes 'Hans Egede' ist er<br />

von Grönland nach Dänemark unterwegs, heißt es in besagten Kabelnachrichten.<br />

Lerwick wurde offensichtlich nur angelaufen, weil sich dort eine<br />

Telegrafenstation befindet."<br />

Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Was hatte Cook vor? "Kopenhagen?"<br />

fragte ich schließlich.<br />

"Was Kopenhagen?"<br />

"Fährt die 'Hans Egede' nach Kopenhagen?"<br />

"Vermutlich."<br />

"Und wie kommt man am schnellsten von Dundee dorthin?" Ich war fest<br />

entschlossen, meine Verantwortung gegenüber der Polarforschung sofort<br />

wahrzunehmen und die Weltöffentlichkeit, soweit dies in meinen bescheidenen<br />

Kräften stand, vor dem Schlimmsten an Lug und Trug zu bewahren.<br />

"Mit der Eisenbahn bis nach Edinburgh. Aus dem Firth of Forth gibt es


egelmäßige Dampferverbindungen überall hin."<br />

"Trotzdem - es dürfte wohl schwerfallen, die 'Hans Egede' einzuholen."<br />

"Das sollte man annehmen."<br />

Herr von Trebnitz ließ Tee kommen. Er selbst genoß das anheimelnd duftende<br />

Getränk, britischer Sitte entsprechend, mit Sahne, ich bevorzugte Zitronensaft.<br />

Wir plauderten noch eine Zeitlang über den Kaiser, Gott und die Welt. Das<br />

Polthema war, nachdem er meine Zugeknöpftheit akzeptiert hatte, vom Tisch.<br />

Auch mein kleines Mißgeschick in der vergangenen Nacht behielt ich<br />

umständehalber für mich. Was hätte einem Herrn von Trebnitz wohl mein<br />

Geständnis genützt, daß ich mich zwar in einer heiklen Situation zunächst nach<br />

konsularischem Schutze gesehnt, diesen aber schon wenig später, nachdem das<br />

Unglück geschehen und ich die Dinge realistisch zu betrachten gezwungen<br />

gewesen, als wenig wirksam verworfen hatte.<br />

"Ich darf Sie nunmehr um mein Gepäck bitten", sagte ich plötzlich, entschlossen,<br />

weiteren Zeitverzug zu vermeiden, der bei Fortsetzung unserer Teeplauderei<br />

unumgänglich geworden wäre.<br />

"So unverhofft?" fragte von Trebnitz, als verlange er nun doch Aufklärung zu<br />

allem, was er - ausgesprochen oder nicht - als Frage auf dem Herzen hatte, als<br />

Konsul und Mensch.<br />

Ich begnügte mich zur Antwort mit einem knappen "Oh ja!"<br />

Er ließ es gelten. "Sie werden dafür Ihre Gründe haben", sagte er mit aller ihm zu<br />

Gebote stehenden diplomatischen Verbindlichkeit.<br />

"Allerdings habe ich die."<br />

"Nun, es würde mich freuen, Ihnen wenigstens in geringem Maße behilflich<br />

gewesen zu sein."<br />

"Ich werde Ihre überaus liebenswürdige und verständnisvolle, vor allem höchst<br />

unbürokratische Unterstützung nach meiner Rückkehr auf den Kontinent an<br />

passender Stelle zu würdigen wissen, Herr Konsul. Was ist man schließlich in der<br />

Zivilisation ohne Papiere!"<br />

Für die Fahrt zum Bahnhof ließ er eine Droschke kommen. Ich nahm den ersten<br />

Zug in die schottische Hauptstadt. In Edinburgh nutzte ich die knappe Zeit bis<br />

zum Ablegen des Dampfers nach Kopenhagen für einen Weg zur Bank of Queen<br />

Mary, um meine Verbindlichkeiten gegenüber Kapitän Adams zu regeln und mich<br />

bereits in den Besitz einiger Dänenkronen zu bringen.<br />

Die Überfahrt nach der dänischen Hauptstadt verlief glatt und undramatisch.<br />

Nordsee, Skagerrak und Kattegat zeigten sich zu meiner Begrüßung von der<br />

besten Seite. In Kopenhagen stieg ich im Hotel "National" am Hauptbahnhof ab.<br />

Wie ich den Blättern entnehmen konnte, war Doktor Cook im noblen Hotel<br />

"Phoenix" an der Bredgade - dem Broadway Kopenhagens - untergebracht. Nicht<br />

nur im Fremdenteil, auch auf den Titelseiten der Zeitungen, in<br />

Gesellschaftsbeilagen und in Sonderausgaben, die speziell seinem angeblichen<br />

Polsieg gewidmet waren, konnte man das Lob dieses - wie es an einer Stelle hieß<br />

- auch im Triumph einfach und bescheiden gebliebenen Mannes nachlesen. Ich<br />

brannte darauf, ihn wiederzusehen. Hoffentlich konnte ich ihn noch vor den<br />

schlimmsten Mißgriffen bei der Darstellung seiner eigenen Rolle in der


Polarforschung bewahren.<br />

Seit unserer ersten Begegnung waren fast auf den Tag genau fünf Jahre<br />

vergangen. Was hatte sich in dieser Zeit nicht alles ereignet! Doktor Cook, seit<br />

seiner Teilnahme an der ersten Überwinterung in der Antarktik eine weltbekannte<br />

Forscherpersönlichkeit, hatte den höchsten Gipfel des nordamerikanischen<br />

Kontinents bezwingen wollen - einen auf den Namen des um die<br />

Jahrhundertwende ermordeten amerikanischen Präsidenten McKinley getauften<br />

Sechstausender in Alaska - und war mit viel Pomp und Getöse dazu<br />

aufgebrochen. Er hatte der amerikanischen wie der Weltöffentlichkeit eines Tages<br />

erklärt, den Berg auch bezwungen und auf dem Gipfel des Kontinents gestanden<br />

zu haben. Nur waren damals sofort Gerüchte aufgetaucht, dies sei nicht der Fall<br />

gewesen.<br />

Wie auch immer es sich damit verhielt - bald nach seiner gefeierten Rückkehr aus<br />

Alaskas eisiger Bergwelt hatte Cook den Entschluß gefaßt, Peary dessen<br />

lauttönend angekündigten Sieg am Nordpol streitig zu machen, und ich war,<br />

durch die Zufälligkeit der Umstände begünstigt, zum Ohrenzeugen dieses<br />

Entschlusses geworden. "Ich schnappe ihm den Pol vor der Nase weg, ehe er<br />

sich’s versieht. Der Kerl spreizt sich ja wie ein Gockel, der glaubt, das Krähen<br />

erfunden zu haben!", hatte er mir damals anvertraut.<br />

Schon bald nachdem diese Worte gefallen waren, hatte sich Cook die Eroberung<br />

des Nordpols zur Lebensaufgabe gemacht, und zwar vor einem Erfolg Pearys - als<br />

fixe Idee, der sich alles unterzuordnen hatte. Außer ihm selbst und seinen beiden<br />

Weggefährten zum Pol, den Eskimos Etukishuk und Akwelah, wußte nur ich, was<br />

daraus geworden war. Die Inuit waren mit ihm nie außer Sicht von Land<br />

gewesen--- . Kam das alles je heraus, war Doktor Cook geliefert.<br />

Ich sah diese Dinge ganz nüchtern. Meine Rolle war es, diesen Menschen vor<br />

dem Schlimmsten zu bewahren. Denn eigentlich war Cook kein schlechter Kerl.<br />

Nur flunkerte er - aus welchen Gründen auch immer - der Welt etwas über seine<br />

letzten Reiseerfolge vor. Zwar konnte ich nachfühlen, was der damit verbundene<br />

Gewinn an Ansehen in der Welt ihm bedeuten mochte, doch waren Lügen über<br />

den Mount McKinley oder den Nordpol dafür in meinen Augen ein zu hoher<br />

Preis.<br />

Andererseits wollte ich nicht, daß Peary aus dieser Situation Profit zog. Peary war<br />

nicht nur ein Lügner, er war, wie er selbst gesagt hatte, zu äußerster<br />

Rücksichtslosigkeit gegen Cook bereit. Daß ich selbst als Einziger am Nordpol<br />

gewesen, war für meine Einstellung in dieser Angelegenheit belanglos. In mir war<br />

jene Entschlossenheit, die vor keiner Gefahr zurückschreckt, wenn nur<br />

einigermaßen Aussicht vorhanden ist, sie glücklich zu bestehen.<br />

Meinem Hotel direkt gegenüber lag der Vergnügungspark Tivoli. Bei einem<br />

ersten Spaziergang durch die Anlagen sah ich mit Wohlgefallen die zahlreichen<br />

Restaurants, die Konzerthallen, Spiegelkabinette und Karussels. Und ich sah ein<br />

weitläufiges Gerüst aus stählernen Pfeilern und Streben, gekrönt von weit<br />

geschwungenen Schienen, auf denen wagenähnliche Gondeln pfeilschnell bergab<br />

tobten und, vom dabei gewonnenen Schwunge getragen, sofort wieder Höhe<br />

gewannen: eine sogenannte Achterbahn.<br />

Bei näherem Hinsehen erwies sich das Ganze als eine nervenzerrende Attraktion


ersten Ranges. Man gewann zwar immer wieder an Fahrt, jedoch nur, um diese<br />

sogleich - nämlich beim nächsten Anstieg - erneut zu verlieren. Es war dies nicht<br />

anders als beim Zugewinn an Elan und Schneid im menschlichen Leben, der sich<br />

sofort wieder an alltäglichen Ärgernissen verbraucht. Da kam es mir plötzlich vor,<br />

als sei meine gesamte bisherige Lebensbahn und insbesondere das Wegstück vom<br />

Nordpol hierher nach Dänemark eine einzige atemberaubende Fahrt auf einer<br />

solchen Berg-und-Tal-Bahn gewesen. Auf und ab war ich gesaust, mal schneller,<br />

mal langsamer, im Sprunge die Gondeln wechselnd, sobald eine zu rasend<br />

talwärts geschossen war oder sich zu überschlagen drohte, außerstande, den Lauf<br />

der Ereignisse wirklich zu verändern oder gar aufzuhalten. Nun war ich zwar<br />

endlich wieder in Europas Mitte angekommen, doch wußte ich: meine Fahrt war<br />

noch nicht zu Ende; sie hatte vielmehr eben erst einen neuen Abschnitt begonnen.<br />

Mit dem Hin- und Hergeworfenwerden zwischen Dschinnistan und Ardistan war<br />

noch lange nicht Schluß. Vielmehr würde der damit verbundene Kampf aller<br />

Voraussicht nach schon bald unerhört an Brisanz gewinnen.


5. MIEZ UND MAUSEL<br />

Wenige Stunden nach jenem ersten Bummel durch den Tivoli-Park machte ich<br />

mich auf, meine Seemannskluft - zusammengestottert aus Schlaghosen,<br />

Teerjacke, Sweater und Schirmmütze - mit einer akzeptablen Grundaustattung an<br />

gesellschaftsfähiger Kleidung zu vertauschen. Solange dies nicht geschehen war,<br />

konnte ich nicht daran denken, Herrn Doktor Cook meine Aufwartung zu machen.<br />

Ich fand in der Nähe des Königlichen Theaters einen vertrauenerweckenden<br />

Schneider, der nach sorgfältigem Maßnehmen versprach, mir den in Auftrag<br />

gegebenen Anzug schon am nächsten Morgen zur Anprobe ins Hotel bringen zu<br />

lassen; fertig zum Abholen sei das gute Stück dann am Nachmittag. Als Material<br />

hatte ich einen hellgrauen Kammgarnstoff gewählt.<br />

Gehobener Stimmung schlenderte ich die Gothersgade entlang bis zum<br />

Botanischen Garten. Gleich mir genossen zahlreiche andere Spaziergänger den<br />

lauen Spätsommertag. Noch standen die Bäume in voller Blätterpracht, ja, hier<br />

und da prangte eine der exotischen Pflanzen, die mich sämtlich wie gute Bekannte<br />

grüßten, im herrlichsten Blütenschmuck. Für jemanden, der wie ich gerade aus<br />

der Welt des ewigen Eises kam, war dies eine besondere Augen- und<br />

Seelenweide. Vorbei an einem breiten Gewässer, auf dem Ruderboote ihre Kreise<br />

zogen, kam ich in jene Ecke des Parkes, welche vom imposanten Bau des<br />

Observatoriums beherrscht wird. Es mag der Anblick dieses Gebäudes sowie des<br />

sich davor erhebenden Denkmals für den großen AstronomenTycho de Brahe<br />

gewesen sein, wodurch ich mich veranlaßt fühlte, den Blick zum Himmel zu<br />

heben. Und siehe da, über der Sternwartenkuppel stand der Mond als halbe<br />

Scheibe eingangs des letzten Viertels in der fahlen Bläue des Nachmittags.<br />

An einem Rosenbeet setzte ich mich auf eine Parkbank. Ich mußte plötzlich und<br />

ganz unvermittelt an Kaschadu denken und an das großzügige Versprechen der<br />

Schamanin, zu erscheinen, sobald ich bei halbem Mond nach ihr rufen würde.<br />

Eher augenblicklicher Neugier denn tieferer Absicht oder gar einer Notwendigkeit<br />

folgend, tat ich genau das: ich rief - mit leiser Stimme zunächst, bald aber schon<br />

lauter und fordernder - ihren Namen. Mein Blick folgte dabei bange den sittsam<br />

einherschreitenden Flaneuren jenseits des Rosenbeetes, welche mich jedoch nicht<br />

beachteten und weiterhin ihrer Wege gingen.<br />

Es dauerte keine zwei Minuten, da umschwirrte mich laut tschilpend ein Flug<br />

Sperlinge. Die kleinen Schwarmgeister schienen weder um einen Ruheplatz für<br />

die kommende Nacht besorgt, noch waren die lieben Tierchen auf Futtersuche.<br />

Spielerisch hin- und herhuschend, tobten sie auf und ab wie eine Mückenwolke,<br />

meinem Kopf dabei zeitweise bedenklich nahe kommend - mitunter so nahe, daß<br />

ich diesen einzuziehen gezwungen war.<br />

Bekanntlich schafft die Erfahrung von Ferne, wer auch immer ihrer teilhaftig<br />

geworden, Bindungen und Einsichten weit über die Grenzen der Einzelkreatur<br />

hinaus. Was Gott seine Geschöpfe von der Herrlichkeit seiner Schöpfung schauen<br />

läßt, macht diese für die Art, in der andere Gottesgeschöpfe die weite Welt zu<br />

erleben vermögen, aufgeschlossener. Und so bin ich als einer, der selbst viel<br />

gereist ist und der dieses Unterwegssein stets auch als Teilnahme an einem


höheren Gottesdienste empfunden hat, wohl berechtigt, zu behaupten: die mich<br />

immer dichter umflatternden Sperlinge schienen von weither zu kommen. Mein<br />

Gespür in diesen Dingen hat mich selten getäuscht.<br />

Nun ist zwar der gemeine Haussperling - und um diesen handelte es sich - kein<br />

Zugvogel; er ist ohnehin auf der ganzen Erde beheimatet (interessanterweise zeigt<br />

der weniger universal verbreitete Feldsperling eine jahreszeitlich bestimmte<br />

Zugunruhe). Doch wußte ich dessenungeachtet über das eben erwähnte Gespür<br />

hinaus schon bald mit größter Bestimmtheit, daß es mit diesem Spatzenschwarm<br />

eine besondere Bewandtnis haben mußte.<br />

Während ich noch den hier lediglich kurz gestreiften und somit zwangsläufig<br />

unvollständig wiedergegebenen Gedanken nachhing, schwirrte die wilde Jagd der<br />

kleinen Braunweißen auch schon wieder auf und davon - bis auf einen einzigen<br />

der Federbälle, der auf der Lehne meiner Parkbank Posten gefaßt hatte. Die<br />

Augen abwechselnd starr auf mich und schnippisch, ja frech schräg in den<br />

Himmel gerichtet, verharrte er. Bald fanden sich unsere Blicke, und von diesem<br />

Moment an vergingen nur Sekunden, bis kein Sperling mehr neben mir auf der<br />

Parkbank in Kopenhagens Botanischem Garten saß, sondern ein Mensch. Das<br />

Zottelhaar und die mir bekannten charakteristischen Gesichtszüge der Eskimos<br />

legten sogleich die Vermutung nahe, es handle sich um einen Inuit. Und richtig:<br />

bei genauerem Hinsehen erkannte ich Kaschadu, die Schamanin.<br />

"Kaschadu", sagte ich, meine Überraschung nur schlecht verhehlend. "Wie hast<br />

du zu mir gefunden?"<br />

"Du hast mich gerufen. Und da Halbmond ist und somit die Macht meiner Herrin,<br />

der Würdevollen, so gut wie grenzenlos, habe ich mich zu dir aufgemacht. Was<br />

gebietest du?"<br />

Sie hatte, während sie diese Worte sprach, über die Schulter zur Kuppel des<br />

Observatoriums geblickt, über welcher der halbe Mond - wenngleich zuweilen für<br />

kurze Augenblicke hinter schnell ziehenden Wolkenfetzen verborgen - am<br />

Himmel hing, als sei er unverrückbar dort oben festgemacht. Ich zögerte, das so<br />

überaus großherzige Angebot, über sie zu verfügen, ohne weiteres anzunehmen,<br />

wußte ich doch zunächst nicht einmal, wie ich es hätte nutzen können. Doch<br />

sogleich fiel mir ein, daß ich zwar wieder auf dem europäischen Erdteile war,<br />

aber noch immer nicht daheim in Radebeul bei meiner Klara, dem Herzle, wie<br />

ich meine Frau in Gedanken - und auch, war sie zugegen - zu nennen pflegte.<br />

Zurück zu ihr zu gelangen war mein seligstes Sehnen und Streben. Und so sagte<br />

ich kurz entschlossen zu Kaschadu: "Bringe mich in mein Haus zurück. Mein<br />

Iglu, wenn du so willst; ich habe dir davon erzählt. Es steht unweit des Großen<br />

Schmelzwassers Elbe, in Radebeul. Ich möchte sehen, wie meine Frau sich auf<br />

meine bevorstehende Rückkehr freut und wie sie diese vorbereitet." Denn daß ich<br />

nicht in Person vor Klara würde erscheinen können, sondern höchstens als<br />

unerkannter Beobachter und Lauscher, schien mir gänzlich unstrittig.<br />

"Ich habe dir versprochen", entgegnete Kaschadu, "dich, sobald du dies wünschst,<br />

als Schwebenden auf einen Seelenflug mitzunehmen."<br />

"Das hast du."<br />

"Ist jetzt dieser Zeitpunkt gekommen?"<br />

"Ja, das heißt--- " Noch immer unsicher hinsichtlich aller Konsequenzen, die ein


solcher Seelenflug haben mochte, war mein anfängliches Zögern zwar geringer<br />

geworden, jedoch längst noch nicht ganz überwunden. Doch gab ich mir in<br />

Sekundenschnelle innerlich einen Ruck und ergriff die mir gebotene Gelegenheit.<br />

Wann würde sich mir eine solche schon abermals bieten! Kurz entschlossen sagte<br />

ich: "Kein Wenn und Aber! Die Antwort ist Ja. Nur - ich bin, wie du weißt, kein<br />

Angakok, kein Schamane. Ich habe noch nie--- . Du hast mir bei unserem ersten<br />

Treffen gesagt, man müßte vor einem mit dir unternommenen Seelenfluge<br />

zumindest die niederen Weihen---"<br />

Kaschadu ließ den Einwand nicht gelten und sagte nun ihrerseits: "In der Tat:<br />

Kein Wenn und Aber, auch hier! Du bist ein Angakok, Karl, ob du es nun selbst<br />

wahrhaben willst oder nicht."<br />

"Ich - ein Schamane? Nie im Leben, ich sag es dir doch. Ich habe seit meiner<br />

frühesten Jugend dem Glauben an---"<br />

"Und doch bist du es!", unterbrach mich Kaschadu, "wenn du es auch nicht so<br />

nennen magst. Du bist im Verlauf deines Lebens zum Angakok geworden, wenn<br />

auch auf andere Weise als ich und überhaupt anders als ein Inuit dazu kommt. Die<br />

Würdevolle hat mir von deinem Berufe erzählt: du setzt, sagte sie, Zeichen auf<br />

sogenanntes Papier, dünner als allerfeinste Robben- oder gar Fischhaut.”<br />

“Sedna hat mit dir sogar über meinen Beruf gesprochen?”<br />

“Allerdings hat sie das. Sie weiß alles über dich und hat mir das, was ich wissen<br />

muß, mitgeteilt. Was ist daran so überraschend?”<br />

“Eigentlich nichts. Ich dachte nur--- .” Ich war trotz allem recht verwirrt und froh<br />

darüber, daß Kaschadu meine Verwirrung nicht gelten ließ.<br />

“Na also!” sagte sie und kam sogleich wieder zur Sache, “--- Zeichen auf<br />

sogenanntes Papier also, das dünner als allerfeinste Fisch- oder Robbenhaut ist.<br />

Und diese Zeichen sollen dem Betrachter Nachricht geben von deinen Gedanken,<br />

von deinen Gefühlen und wohl auch von deinen Absichten oder Erinnerungen,<br />

ganz so, als höre er dich mit deinem eigenen Mund von diesen Gefühlen und<br />

Gedanken und Absichten sprechen. Und von Geschehnissen, die längst vergangen<br />

sind. Verhält es sich so?"<br />

"Ja, aber---"<br />

"Kein Aber. Halt uns nicht unnötig auf."<br />

"Also - ja, so kann man es jedenfalls nennen."<br />

"Siehst du. Und all das, obwohl du, während jemand diese Zeichen betrachtet, gar<br />

nicht neben dem Betrachter stehst und er dich gar nicht sieht? Ist das richtig?"<br />

"Ja. Diese Zeichen nennen wir Kabluna gemeinhin Schrift, den Vorgang<br />

Schreiben", beeilte ich mich zu erklären, "und das Wiedererkennen der Zeichen<br />

nennen wir Lesen." Mir war, da die Worte meinem Munde entwichen waren,<br />

sofort klar, wie unerhört vorlaut und naseweis diese Äußerung war. Sedna, deren<br />

Auftrag Kaschadu immer wieder ins Feld geführt, gilt dem Inuit nicht nur als<br />

Meeresmutter und Nahrungsspenderin; sie gebietet auch über den Mondgeist<br />

Tarkek und Windbeherrscher Sila und andere machtvolle Geister. Nun schickte<br />

sich eine Sendbotin dieser Würdevollen an, mich - offenbar auf deren direktes<br />

Geheiß - nicht nur in die Geheimnisse der Geisterwelt einzuweihen, sondern mich<br />

im wahrsten Sinne des Wortes an ihnen teilhaben zu lassen, und ich<br />

schwadronierte daher wie ein Oberlehrer.


"Ich habe davon gehört", sagte Kaschadu, von meiner Schwatzhaftigkeit offenbar<br />

unbeeindruckt. "Es ist nicht wichtig, wie ihr Kabluna diese Dinge nennt; wichtig<br />

ist, was ihre innerste Bestimmung ausmacht. Und die innerste Bestimmung<br />

dessen, was du Schreiben nennst, ist das Übertragen von Gedanken und wohl<br />

auch von Gefühlen in sichtbare Dinge. In Zeichen, wenn du so willst, die<br />

wiederum in Gedanken, Gefühle und Handlungen anderer umsetzbar sind. Mit<br />

anderen Worten: du machst das Unsichtbare sichtbar. Etwas anderes tut auch ein<br />

Angakok nicht, wenn er zum Trommelklang tanzt und dabei zum Ausdruck<br />

bringt, was er im Innersten sieht. Beim Tanzen wie bei deinem Schreiben wird<br />

Raum und Zeit überbrückt, als seien diese---"<br />

Nie hatte ich meinen Beruf von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet. Während<br />

sie fortfuhr, mir das Schriftstellerdasein als praktiziertes Schamanentum<br />

schmackhaft zu machen, eilten meine Gedanken unhaltbar voraus. Schon sah ich<br />

mich, das Schwirrholz, den beinernen Trommelschlegel und bunte Federwische<br />

schwingend, beim gemeinsamen Einzuge mit ihr im heimatlichen Radebeul für<br />

Aufsehen sorgen. Die Schuljugend würde zusammenlaufen und uns das Geleit<br />

geben, die Rückkehr des Verschollengeglaubten gebührend zu feiern. Klara,<br />

durch den Lärm zunächst auf unseren von wildem Wein umrankten Hausaltan<br />

gelockt, würde in dem Augenblick, da sie die Situation erfaßte, sofort zurück in<br />

die Villa Shatterhand stürzen, würde umsichtig die entscheidenden Dinge regeln,<br />

würde vor allem Sekt auffahren lassen und die Honoratioren der Stadt<br />

benachrichtigen und wohl auch ein Kabel an Verleger Fehsenfeld absetzen, der<br />

daraufhin umgehend herbeigeeilt käme, nicht ohne bereits die Presse unterrichtet<br />

zu haben: Reiseschriftsteller May nach Jahren erfolgreicher Kundfahrt im Eise<br />

des Hohen Nordens endlich zurück in der Heimat! Triumphaler Empfang für den<br />

Großen Entdecker durch seine Mitbürger. In Begleitung Old Shatterhands<br />

diesmal keine Rothaut, sondern rätselhafte Eskimozauberin. Mir bliebe es<br />

danach wie immer vorbehalten, die Dinge im Einzelnen richtigzustellen. Doch<br />

würde ich mich der Aufgabe nicht entziehen, würde vielmehr die Gelegenheit<br />

nutzen, es Lebius und all den anderen Kleingeistern einmal so richtig zu geben;<br />

ich würde ihnen zeigen, wo Bartel den Most holt und wo der Hammer hängt -<br />

oder, wie der Russe zu formulieren pflegt: wer Kuskins Mutter ist. Ich würde---<br />

Kaschadus Stimme riß mich aus meinen Träumen. "Siehst du dieses Stück<br />

Schwemmholz dort vor uns am Wegrand?" sagte sie ruhig. Und obgleich das<br />

Hölzchen, auf welches sie wies, beileibe von nirgendwoher angeschwemmt,<br />

sondern offenbar durch mutwillige Kinderhand vom nächsten Ebereschenbusch<br />

abgebrochen worden war, sagte ich gehorsam: "Ich sehe es!"<br />

"Nimm es auf und kratze mit Zeichen, die du Schrift nennst, den Namen des<br />

Ortes, an den du mit Hilfe der Würdevollen unter meiner bescheidenen<br />

Mitwirkung zu gelangen wünschst, dort in den Sand."<br />

Ich griff nach dem Stöckchen, vergewisserte mich kurz, daß auch wirklich die<br />

Wegstreu zu unseren Füßen gemeint war, hockte mich, sobald mir dazu<br />

bejahender Bescheid geworden, nieder und schrieb in großen, deutlichen<br />

Schriftzügen: Radebeul an der Elbe. Wohlgefällig mein Werk betrachtend setzte<br />

ich, ehe ich mich erhob, vorsorglich noch in Sachsen darunter.<br />

Kaschadu sah, daß ich nun fertig war und kam sogleich zur Sache. "Sprich mir


jetzt diese Worte nach", sagte sie und blickte mir fest ins Auge. "Ich vertraue<br />

mich der von Sedna, der Würdevollen beauftragten Kaschadu für diesen Flug an<br />

und bitte, als mitreisender Angakok an den von mir genannten Ort und wieder<br />

hierher zurück zu gelangen." Ich wiederholte, was sie gesagt. Sobald ich geendet<br />

hatte, spürte ich ein Ziehen und Rütteln in meinen Gliedern, wie ich es niemals<br />

zuvor empfunden hatte. All die kleinen Wehs und Achs, wie sie einem<br />

siebenundsechzig Jahre alten Manne nun einmal in den Knochen sitzen, waren<br />

verschwunden. Ich fühlte mich jung, leicht und froh und - bis auf den vagen<br />

Gedanken an die Tage mit Doktor Cook, die mir bevorstanden - sorgenfrei.<br />

Mit mir mußten tiefgreifende Wandlungen vorgehen. Sah ich Kaschadu an, so<br />

konnte ich ahnen, daß diese nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich von<br />

erheblichem Umfange waren. Die Schamanin saß mit einemmal wieder auf der<br />

Lehne unserer Bank; sie hatte die menschliche Gestalt verloren und stattdessen<br />

die eines Raben angenommen. Auch mir mußte ganz ähnliches geschehen sein.<br />

Blickte ich direkt vor mich, sah ich zunächst einen pechschwarzen Schnabel und<br />

erkannte, sobald ich den rechten Fuß in mein Blickfeld hob, vor meinen Augen<br />

einen mit Krallen bewehrten Fang (so nennt der Weidmann gewöhnlich den<br />

Vogelfuß). Viel Zeit blieb nicht, mich in die neue Situation hineinzudenken, denn<br />

schon strich Kaschadu ab und ich, als hätte ich mein Lebtag mit nichts anderem<br />

als Fliegen zugebracht, folgte ihr.<br />

Während des Fluges war um uns eigenartige Dunkelheit. Zwar fehlte, was man<br />

gemeinhin als Licht bezeichnet, doch flogen wir trotzdem nicht orientierungslos.<br />

Äußere Wegzeichen, nach denen Kaschadu sich hätte richten können, gab es<br />

nicht, jedenfalls konnte ich weder Küstenlinien erkennen noch Flüsse,<br />

Bahnstrecken oder Städte. Schrill leuchteten hier und da Personen und einzelne<br />

Wegstationen aus meinem bisherigen Leben vor meinen Augen auf. Die<br />

Ernstthaler Großmutter Johanne, welche mir zuerst vom Lande Sitara erzählt,<br />

winkte mir von einer Wolke zu. Robert Peary im tadellosen Gesellschaftsanzug<br />

deklamierte von der Tribüne des Kongresses hinab, bei dem ich ihn<br />

kennengelernt: Dies, meine Herren, ist eine Zeit für große Dinge. Der Nordpol<br />

wird fallen, und zwar durch mich! Irgendwo im Ungewissen sah ich das vom<br />

Skorbut entstellte Milchbartgesicht Rudolf Frankes, den ich seinerzeit<br />

schwerkrank an meiner Statt nach Neuyork hatte zurückfahren lassen, während<br />

ich als Eskimo Tulimak in Richtung Nordpol aufzubrechen mich anschickte.<br />

Mehr und mehr Gestalten tauchten auf, wirbelten um mich durch die Lüfte. Sie<br />

trugen die Gesichter von Schriftstellerkollegen, welche ich um ihre Erfolge<br />

beneidet hatte und die ich trotzdem nicht hatte ausstehen können; von Frauen, die<br />

ich begehrt und die mich doch abgewiesen. Auch fehlten meine ärgsten<br />

Widersacher und Feinde nicht - allen voran Lebius, überm Kopf eine Ausgabe<br />

seines Kampfblattes “Sachsenstimme” schwenkend. Ebenso waren natürlich die<br />

Freunde vertreten: solche, die mich bestärkt und solche, die mir geholfen, indem<br />

sie mich gebremst hatten. Es folgten Konsul von Trebnitz und Kapitän Adams,<br />

Pearys angetraute Gattin Josephine und seine Eskimofrau Aleqasina, mein<br />

Schlittengenosse Matt Henson, der Jäger Whitney, und schließlich, die<br />

Silberbüchse emporreißend, Winnetou mit wehendem Haar---<br />

In dem bunten Wirrwarr blieb der kantige Vogelschwanz vor mir das einzig Stete.


Ohne Mühe und Vorbehalt folgte ich dem Stoß von Kaschadus Federkleid, und<br />

ehe ich mich's versah, waren wir auch schon über der Lößnitz und ihren<br />

Weinbergen angelangt. Rechts tauchte die Elbe im Dunst auf, eine erste<br />

Häuseransammlung, ein Bahnhof. Doch Radebeul war dies noch nicht, war<br />

vielmehr erst Kötzschenbroda - der Unterschied in der Anlage des Bahnhofs<br />

verriet es mir schließlich, nachdem ich anfänglich, im Fährtenlesen aus der Luft<br />

ungeübt, kurz gezaudert hatte: dies war lediglich ein einfacher Bahnhof an einer<br />

einzigen, gerade durchgehenden Strecke. Radebeul hingegen ist ja bekanntlich ein<br />

Knotenpunkt (und zwar an der Einmündung der Linie Radeburg-Radebeul in die<br />

Strecke der Sächsischen Staatsbahn Dresden-Risa-Leipzig).<br />

In weitem Schwunge glitt Kaschadu abwärts, ich hinterdrein. Da tauchte auch<br />

schon die Wilhelmshöhe auf und die ersten Villen von Radebeul wurden sichtbar,<br />

der Bahnhof, die Rußbrennerei. Ich war heimgekehrt.<br />

Wir segelten direkt auf Villa Shatterhand zu. Kurzes Flügelschlagen zur<br />

Kurskorrektur, ein flatterndes Sichaufrichten unmittelbar vor der Landung, schon<br />

saß ich aufgeblockt neben Kaschadu auf der Balustrade des Balkons im<br />

Obergeschoß meines Hauses, inmitten knallig bunt leuchtender Wildweinblätter.<br />

Das Gefühl, welches sogleich in mir Platz griff, ist nicht zu beschreiben. Es war<br />

eine Heimkehr, doch war ich nicht Ich. Begierig darauf, schallend willkommen<br />

geheißen zu werden und nach dem Rechten zu sehen, mußte ich mich unerkannt<br />

mit einer stillen Zuschauerrolle begnügen. Kaschadu sah mich an, krächzte kurz,<br />

doch ich verstand nicht, was mit dem Krächzen hätte gemeint sein können. Ich<br />

krächzte ratlos zurück, und wiewohl dieses mein Krächzen weniger eine Antwort<br />

denn ein Zeichen der Hilflosigkeit gewesen, bewirkte es augenblicklich<br />

Gewaltiges. Von Zauberhand geöffnet lag plötzlich das Innere des ganzen Hauses<br />

sichtbar vor mir, als eine Art Ansammlung ineinander verschachtelter Glaskästen.<br />

Die Einganshalle lag leer, desgleichen Klaras Zimmer und meine Bibliothek.<br />

Doch in meinem Arbeitszimmer - ich schaute genauer hin, ich lauschte, ein<br />

Zweifel war ausgeschlossen: ausgerechnet in meinem geliebten Arbeitszimmer,<br />

an jenem Ort der Ruhe und Einkehr, welcher sonst ausschließlich meiner<br />

schöpferischen Einsamkeit zu Diensten war, hatte sich eine größere<br />

Menschengruppe versammelt. Auf den Sitzgelegenheiten am Rande des Raumes -<br />

diese stammten zum Teil von meiner großen morgenländischen Reise zur Zeit der<br />

Jahrhundertwende - hatten die Anwesenden Platz genommen. Sie sprachen laut<br />

und angeregt miteinander. Zuerst glaubte ich, eine jener spiritistischen Sitzungen<br />

zu erkennen, zu denen meine geschiedene Frau Emma das Herzle immer wieder<br />

zu gewinnen trachtete; denkbar wäre es schon, daß sie dazu die Zeit meiner<br />

Abwesenheit nutzen würde, war ihr doch meine Ablehnung dieses Hokuspokus<br />

nicht verborgen geblieben. Doch ging es dafür entschieden zu laut zu; auch schien<br />

die Gestalt, welche in einigem Abstand von den anderen Teilnehmern der Runde<br />

hinter meinem Schreibtische saß, kein unter einer gewaltigen Bürde ächzendes<br />

Medium einer solchen Séance zu sein als vielmehr der Wortführer einer höchst<br />

lebhaften allgemeinen Unterhaltung über diesseitige Dinge.<br />

Die Gesichter waren im Halbdämmer nicht sogleich zu identifizieren. Auch<br />

erkannte ich die Stimmen zunächst nicht. Als sich jedoch die Person hinterm


Schreibtisch gegen das Fenster beugte, ein Papierkonvolut ins hereinsickernde<br />

Licht hielt und nach kurzem Blick auf eine der Seiten in die Runde verkündete:<br />

"Ich muß mich da korrigieren, mein hochverehrter, lieber Herr Gerlach. Sie haben<br />

mein diesbezügliches Schreiben bereits am 17. Juno beantwortet!", fiel es mir,<br />

nicht anders als weiland dem blinden Saulus, wie Schuppen von den Augen.<br />

Der diese Worte gesprochen, war niemand anderes als Friedrich Ernst Fehsenfeld,<br />

mein Verleger. Der von ihm als hochverehrt angesprochene "liebe" Herr<br />

Gerlach, Rechtsanwalt Oskar Gerlach, war Anwalt der Münchmeyer-Partei, eben<br />

derjenigen Clique, die mir schon länger als ein Jahrzehnt in ganz übler Weise<br />

mitspielte. Und schon sah ich auch deren Galionsfigur, die Verlegerwitwe Pauline<br />

Münchmeyer. Sie hatte sich in letzter Zeit mit dem Erzschurken Lebius zu einer<br />

unheiligen Allianz verbündet. Zu ihren hinterhältigsten Betrügereien bedienten<br />

die beiden sich der böswilligen Hilfe meiner geschiedenen Frau, die in<br />

gehässigster Weise all ihr Wissen um Interna beisteuerte; auch Emma war<br />

natürlich - was hätte mich daran noch überraschen sollen! - zugegen, und zwar<br />

saß sie halbverdeckt hinter dem Globus, direkt neben--- Nun verschlug es mir<br />

doch den Atem. Ich mußte ein zweites Mal hinsehen, ehe ich meinem Auge<br />

glaubte. Ja, Emma saß neben dem Herzle. Genauer gesagt: die rechte Hand<br />

meiner ersten ruhte entspannt und gelassen im Schoß meiner zweiten Frau.<br />

Beiden zu Füßen lagen Seelchen und Engelchen, unsere Schoßhunde - ein Bild,<br />

wie ich es aus besseren Tagen in Erinnerung hatte. Als Klaras erster Mann, mein<br />

Freund Richard Plöhn, noch unter den Lebenden weilte, waren die beiden Frauen<br />

unzertrennlich gewesen. Wir Männer hatten sie scherzhaft M&M genannt, Miez<br />

und Mausel, so herzig und innig war ihre Zweisamkeit. Doch ließ mich, was ich<br />

jetzt eben erleben mußte, bis ins Mark erzittern und mißtrauisch fragen: Was<br />

mochten sie damals wohl hinter meinem Rücken getrieben haben?! Und--- was<br />

würde ihr nächster Schritt sein?<br />

Von Klara verraten--- Das war das letzte, was ich hatte erwarten dürfen. Miez und<br />

Mausel im Kreise derer vereint, die mir übel wollten--- . Meine Gedanken<br />

purzelten durcheinander, doch hatte ich mich augenblicklich wieder in der Gewalt<br />

und sah mich weiter um in dieser illustren Runde. Ich erkannte den russischen<br />

Großverleger Iwan Dmitriewitsch Sytin sowie meine Rechtsanwälte Paul<br />

Brückner, Rudolf Bernstein und Doktor Johannes Minckwitz, das Nashorn<br />

genannt in Anspielung auf sein kräftig ausgebildetes Riechorgan. Die übrigen<br />

Personen waren mir unbekannt.<br />

Was wurde hier gespielt? Indes ich mein Denken in Ordnung zu bringen<br />

versuchte, ging die Unterhaltung äußerst lebhaft weiter. "Wie Sie jenem<br />

Schreiben haben entnehmen können, steht meine Mandantin der vorgeschlagenen<br />

Unternehmensgründung höchst wohlwollend gegenüber. Frau Münchmeyer ist<br />

bereit, gemeinsam mit dem jetzigen Inhaber des Verlages, Herrn Fischer, in die<br />

Verfilmung der Werke von Herrn May eine beträchtliche Summe zu investieren.<br />

Sie hat sich erboten, vor allen hier erschienenen Geschäftsfreunden aus der<br />

Verlegerbranche diese Bereitschaft persönlich zu bekräftigen."<br />

"Das habe ich in der Tat", sagte die Angesprochene, gegen Klara und Emma<br />

verbindlich lächelnd. "Ich denke, wir sollten unverzüglich mit der Umsetzung von<br />

Herrn Mays Werken in diese neue, hoffnungsvolle Kunstform beginnen. Und


zwar gemeinsam. Lassen Sie uns das Vergangene vergessen und für die Zukunft<br />

alles Trennende beiseiteschieben. Eröffnet das Kino doch alle Möglichkeiten,<br />

noch breitere Kreise anzusprechen als das mit dem gedruckten Worte allein<br />

möglich ist. Ja, Bioscop heißt die Bühne, auf die unser Autor gehört. Wir freuen<br />

uns daher besonders, bei unserer kleinen Zusammenkunft auch Fachleute der<br />

Kinowelt" - hierbei verneigte sie sich gegen eine Gruppe mir unbekannter<br />

Teilnehmer an der Beratung - "begrüßen zu dürfen. Ich schlage vor, bei der<br />

Verfilmung mit jenem Teil von Karl Mays Werk zu beginnen, das ohnehin schon<br />

in dramatisierter Form vorliegt."<br />

"Das hieße: Babel und Bibel", wurde sie durch Fehsenfeld unterbrochen. "In<br />

diesem Falle gibt es allerdings noch urheberrechtliche Fragen zu klären, verehrte<br />

gnädige Frau. Vor allem Fragen hinsichtlich des Titels. Herr May hat das Stück<br />

nach der ins Auge springenden Ankündigung eines Vortrages von Herrn Professor<br />

Delitzsch in der Deutschen Orientalischen Gesellschaft benannt, und ich möchte<br />

vermeiden, daß---"<br />

"Wenn es etwas zu klären gibt, so klären Sie, lieber Fehsenfeld. Doch klären Sie<br />

schnell. Sie wissen, die Zeit drängt. Klären Sie es am besten gemeinsam mit<br />

Gerlach. Der kennt sich in diesen Dingen aus."<br />

Ich hatte selbstvergessen all diesen Ungeheuerlichkeiten gelauscht, doch war nun<br />

der Punkt gekommen, da es mich drängte, mit meiner Meinung nicht länger<br />

hinterm Berge zu halten. Offenbar - die Münchmeyer hatte es ausgesprochen -<br />

wußten die Konspirateure sich unter Zeitdruck, fürchteten sie doch vor allem eins:<br />

meine Rückkehr. Und eben diese würde die selbstgerechte Verschwörerrunde nun<br />

gleich erleben.<br />

Ungeduldig wechselte ich den Standfuß und schüttelte mein Gefieder. Es war<br />

nicht zu fassen! Der Beutelschneider Gerlach ein Fachmann für Fragen des<br />

Urheberrechts; Pauline Münchmeyer, von Fehsenfeld sonst nur als die Schlange<br />

bezeichnet, plötzlich eine verehrte gnädige Frau, er selbst im Gegenzuge dafür<br />

der liebe Fehsenfeld! Mich selbst hatte das Reptil gar unser Autor genannt! Wie<br />

es schien, mußte ich zufrieden sein, daß nicht auch noch Rudolf Lebius zu diesem<br />

illustren Kreise gehörte, gekommen, mich an sein Herz zu drücken.<br />

Warum um alles in der Welt aber schwieg Klara? Sie wußte doch - wie übrigens<br />

Fehsenfeld und meine Anwälte auch - von meiner strikten Ablehnung des<br />

sogenannten Kintopp als Kunstform. Der Film war ein Anschlag auf Seele und<br />

Nerven der Menschheit, war im höchsten Maße jugendverderbend und seine<br />

Spielstätten darüberhinaus Treffpunkte undurchsichtiger Existenzen. Der Film<br />

öffnete der Mißinterpretation meiner Bücher Tür und Tor, und zwar<br />

sperrangelweit - in einer Weise, daß dagegen jede bisherige Verfälschung meiner<br />

Werke als armselige Pfuscherei dastehen würde. All diese meine Gedanken waren<br />

Klara nicht unbekannt. Sollte sie sie doch der verehrten gnädigen Frau<br />

Münchmeyer ins Gesicht schreien! Warum aber schwieg sie? Allerdings - ohne<br />

Klaras Einladung in die Villa Shatterhand wäre diese Beratung ja wohl nicht<br />

zustande gekommen, noch dazu ausgerechnet in meinem geliebten<br />

Arbeitszimmer. Also mußte sie, wenn auch vielleicht nur teilweise, mit den Zielen<br />

der Initiative einverstanden sein. Unternehmensgründung! Mich grauste vor dem,<br />

was da offensichtlich beabsichtigt war. Ratlos, was die Rolle meines Herzle bei


dieser unglaublichen Scharade betraf, würde ich, was ich zu sagen hatte, direkt an<br />

sie richten. Und ich war entschlossen, mich sehr deutlich auszudrücken. Deutlich<br />

und unmißverständlich!<br />

Doch kaum öffnete ich meinen Schnabel, entrang sich diesem nichts als ein<br />

heiseres Krächzen. Die Unterhaltung im Hause stockte lediglich für einen<br />

winzigen Augenblick. Dann sprach wieder Fehsenfeld. Mein verzweifelter<br />

Aufschrei hatte ihn nur kurz beim Darlegen eines von ihm Terminplan<br />

Schrägstrich Sofortmaßnahmen genannten Arbeitspapiers unterbrochen.<br />

Hilfeheischend sah ich Kaschadu an. Sie aber mißverstand den Versuch, mich zu<br />

äußern, offenbar gänzlich und hielt mein Gekrächze wohl für die Aufforderung<br />

zum Abflug. Sie krächzte zurück, breitete ihre Schwingen aus und stieß sich von<br />

der Balkonbalustrade ab. Was blieb mir übrig? Ich mußte ihr folgen. Doch ehe<br />

auch ich mich wieder der Luft anvertraute, brach ich ein rotgelb gemasertes Blatt<br />

vom Wilden Weine der Villa Shatterhand - meiner Villa Shatterhand! - und trug<br />

es im Schnabel mit fort.<br />

Ich spreche und schreibe französisch, englisch, italienisch, spanisch, griechisch,<br />

lateinisch, hebräisch, rumänisch, arabisch in mindestens sechs Dialekten, mehrere<br />

afrikanische Sprachen, einige Sunda-Idiome, hindostanisch, türkisch und<br />

malaiisch, mindestens zwei kurdische Dialekte und sechs chinesische, dazu<br />

natürlich die gebräuchlichsten Indianersprachen aus Nord- wie aus Südamerika,<br />

die Sprachen der Lappen wie die der Eskimos nicht zu vergessen, und hatte mich<br />

plötzlich doch in der Rolle des willenlosen, zum eigenen Wortergreifen unfähigen<br />

Zuhörers erleben müssen. Bedingt zwar durch besondere Umstände, zugegeben -<br />

noch dazu in einer Situation, die mich ohnehin bis an die Grenze des seelisch<br />

Zumutbaren belastete. Aber das zählte unter dem Striche nicht, ich steckte tief in<br />

Niedergeschlagenheit und Verzweiflung. Der Schock saß fest, und doch konnte<br />

ich mich nicht untätigem Sinnieren überlassen. Ich mußte fliegen, Kaschadu<br />

folgen.<br />

Irgendwann war der Seelenflug allerdings zu Ende, den ich als Rabe im Gefolge<br />

der Schamanin durch die Lichtlosigkeit unternommen, und ich saß wieder in<br />

meiner Teerjacke in Kopenhagens Botanischem Garten, der Sternwarte<br />

gegenüber. Kaschadu war verschwunden, auch schwirrte ringsum keine<br />

Sperlingsschar, kein Kolkrabe zog seine Kreise. Der Wind schwieg. Kein Zweig,<br />

kein Blatt rührte sich. Die Spaziergänger auf der anderen Seite des Rosenbeetes<br />

waren das einzig Bewegte in meinem Gesichtsfelde. Es schienen noch immer<br />

dieselben Flaneure zu sein, einander zum Verwechseln ähnlich bis zur<br />

Austauschbarkeit, auch stand der fahle Halbmond noch an genau der Stelle im<br />

Himmel über dem Observatorium, an der er vor meinem unglaublichen Abenteuer<br />

gestanden - so, als sei überhaupt keine Zeit vergangen.<br />

Neben mir auf der Parkbank lag meine Seemannsmütze - geschmückt mit einem<br />

knallig bunt leuchtenden Blatt vom Wilden Wein am Radebeuler Balkon. Ein<br />

Traum war der Alp, den ich soeben durchlebt, also nicht. Alle Welt hatte sich<br />

gegen mich verbündet! Die Witwe Münchmeyer mit Iwan Dmitriewitsch - hinter<br />

dem möglicherweise die berüchtigte russische Filmmafia steckte - und meinen<br />

eigenen Rechtsbeiständen; Verleger Fehsenfeld, von dem ich so große Stücke


gehalten, mit Schlitzohr Gerlach. Was sollte ich tun? Wieder einmal war ich - wie<br />

schon so oft im Leben - ganz allein auf mich selbst gestellt. In dieser Sache durfte<br />

ich mich offenbar nicht einmal auf das Herzle verlassen.<br />

Ich stand auf, wischte das bunte Blatt von der Mütze und ging meines Weges.<br />

Nachdenklich gelangte ich ins Hotel zurück. Sollte ich sofort, dieses Mal in<br />

Person, nach Radebeul aufbrechen und Klara zur Rede stellen? Die anderen<br />

Teilnehmer der obskuren Runde waren inzwischen ohnehin längst wieder<br />

verschwunden. Sie würde Ausflüchte benutzen, würde behaupten, alles geschähe<br />

doch nur zu meinem eigenen Wohle. Würde - geschäftstüchtig war sie schon<br />

immer - mir womöglich Bilanzen unter die Nase halten, die nur zu diesem einen<br />

einzigen Zweck vorbereitet waren: mich umzustimmen. Indes, all dieses Mühen<br />

wäre vergeblich.<br />

Winnetou auf der Leinwand! Ein Unding. Man konnte damit meine Absicht zur<br />

Veredelung der Menschheit und all meine anderen hehren und erhabenen Ziele so<br />

sehr entstellen, daß davon weniger übrigblieb als von einer Brücke über einen<br />

Gebirgsbach nach dem Frühlingshochwasser. Ich entsann mich der bösen Briefe,<br />

die ich Fehsenfeld hatte schreiben müssen, als er eine Postkartenserie zu meinen<br />

Reiseerzählungen herausbrachte. Ich hatte mich dieser Bilder geschämt, auf denen<br />

ich aussah wie ein vom Esel gestürzter dummer August. Das Gute, Edle und<br />

Schöne, für das ich meine Leser begeistern wollte, blieb jedenfalls auf der<br />

Strecke. Und dann die dummen Sachfehler im Detail! Bei einem Meisterschuß<br />

hob mein Pferd, grad als der Schuß fällt, das Bein. Unmöglich, da sicher zu<br />

zielen! Und Kara Ben Nemsis Pferd Rih hatte auf einem Bild eine Blesse -<br />

ausgerechnet das herrlichste Pferd, das ich je zwischen meinen Schenkeln hatte!<br />

Kein Beduine reitet ein Pferd mit einer Blesse, weil dies für ihn die Vorbedeutung<br />

des baldigen Todes hätte.<br />

Und das waren stehende Bilder! Mich schauderte bei dem Gedanken an all die<br />

Möglichkeiten der Entstellung und Verdrehung, die sich eröffneten, wären die<br />

Bilder, in die meine Werke umgesetzt werden sollten, auch noch bewegt. Doch<br />

offenbar ging denen, die ich da unfreiwillig belauscht, der erhoffte Gewinn über<br />

alles und setzte jegliche künstlerischen und ethischen Beweggründe außer Kraft.<br />

Der Kinematograph überschwemmte mit ausländischen Produktionen den<br />

deutschen Kinomarkt; warum also nicht Deutschlands größten lebenden Dichter<br />

auf die Leinwand bringen? Klug, überklug gedacht - nur würde diese Rechnung<br />

nicht aufgehen, hatte man sie doch geschrieben, ohne den Wirt zu hören. Nicht<br />

umsonst heißt es: Du sollst dir kein Bild machen. Für mich war und blieb das<br />

einzige Bild, das beim Lesen meiner Erzählungen entstehen sollte, dasjenige,<br />

welches der Leser in seinem Kopfe formte. Die meisterhaften Darstellungen<br />

meines Freundes Sascha Schneider nehme ich bei dieser - zugegeben, recht<br />

rigorosen - Absage an eine bildliche Umsetzung meines Werkes einmal explizit<br />

aus.<br />

In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Nach reiflichem Überlegen und dem<br />

Abschätzen aller mir offenstehenden Möglichkeiten kam ich zu dem Entschlusse,<br />

vorerst Radebeul Radebeul und die Filmverschwörung Filmverschwörung sein zu<br />

lassen; ohne meine Zustimmung würde sich in der Angelegenheit nichts wirklich<br />

bewegen. Die Verschwörer mochten sich auf meine Rückkehr so gründlich


vorbereiten wie sie nur wollten - ich würde ihnen letztendlich die Suppe<br />

versalzen. Wer weiß, vielleicht glaubten sie auch den Nachrichten, die mich für<br />

verschollen ausgaben - oder sie hielten mich sogar für tot. Da ich auf so<br />

ungewöhnliche Art von dem Vorhaben Wind bekommen, konnte mich nun<br />

niemand mehr damit überraschen oder mich gar überrumpeln, tauchte ich erst<br />

wieder auf der Bildfläche auf. Und den Augenblick dieses Wiederauftauchens<br />

bestimmte noch immer ich. Vorerst jedoch galt es, das Abenteuer zu Ende zu<br />

bringen, das zu bestehen ich von Grönland nach Dundee und von dort nach<br />

Kopenhagen geeilt. Ich durfte Doktor Cook jetzt nicht allein lassen - zu seinem<br />

eigenen Nutz und Frommen wie zu dem der gesamten Menschheit.<br />

Zur Frühstückszeit muß ich kurz eingenickt sein. Der Hoteldiener klopfte mich<br />

bald darauf wieder wach. Er war begleitet von dem Schneidergesellen mit<br />

meinem fast fertigen Anzug. Die Probe ließ kaum etwas zu wünschen offen, und<br />

so konnte ich schon gegen Mittag - ich hatte mir inzwischen noch ein wenig<br />

Schlummer gegönnt - den fertigen Dreiteiler in Empfang nehmen. Jacke, Weste,<br />

Beinkleid, alles saß ausgezeichnet. Der Abschied von meiner Seemanskleidung<br />

fiel mir nicht schwer. Neue, bequeme Schuhe ergänzten die Ausstattung. Nun<br />

stand einem Besuch bei Doktor Cook endlich nichts mehr im Wege.<br />

Ich machte mich unverzüglich ins "Phoenix" auf. Jedoch traf ich den Gesuchten<br />

leider nicht in seinem Hotel an. Dem Vernehmen nach war er im Schlosse,<br />

berichtete dort der königlichen Familie sowie dem gerade zu Besuch weilenden<br />

griechischen Kronprinzen Georgios nebst Gattin von seinen Erlebnissen in der<br />

Arktik und - das mußte ich nach Lage der Dinge befürchten - am sogenannten<br />

Nordpole. Für den Abend hatte die Zeitung "Politiken" die zur Begrüßung des<br />

Polarforschers aus zahlreichen Ländern Europas herbeigeeilten Journalisten zu<br />

einem Diner im Tivoli eingeladen. Ich ging auf die Redaktion und erbat, ohne<br />

dabei meine wirkliche Identität zu offenbaren, eine Einladung. Bei dieser<br />

Gelegenheit trat ich als Vertreter der "Sachsenstimme" auf - eine kleine Rache an<br />

Rudolf Lebius, dem langjährigen Geschäftsführer dieses inzwischen<br />

eingegangenen Revolverblattes allerniedrigsten Ranges.<br />

Bereits um fünf Uhr war ich im Restaurant "Divan"; von meinem Hotel aus lag es<br />

buchstäblich über die Straße. Man rüstete noch für das Galaessen. Niemand<br />

konnte mir sagen, wann Doktor Cook kommen würde, ja es schien völlig unklar,<br />

ob überhaupt mit seinem Erscheinen zu rechnen war. Im Augenblick spreche er<br />

gerade zur Dänischen Geographischen Gesellschaft, vertraute mir ein junger, naiv<br />

daherplaudernder Redaktionsmitarbeiter von "Politiken" an. Der Forscher sei von<br />

dem Empfang in Dänemark überwältigt, von all den Ehrungen und Audienzen wie<br />

von der Aufmerksamkeit der Presse, und dabei sei er doch ein so bescheidener<br />

Mann. Ich hatte von Cooks Bescheidenheit meine eigene Meinung und zog mich<br />

in abwartender Gelassenheit mit einem Glas Aquavit in eine Polsterecke im<br />

hintersten Winkel des Etablissements zurück, der Dinge harrend, die da kommen<br />

sollten.<br />

Das Harren hatte auf einmal ein Ende und die mir zugänglichen Informationen<br />

versprachen sehr bald Hand und Fuß zu bekommen, als unverhofft mein alter<br />

Bekannter William T. Stead auf der Bildfläche erschien. Stead, geborener<br />

Engländer, war Weltbürger vom Scheitel bis zur Sohle und stets bestens


unterrichtet. Selbst aus bescheidenen Verhältnissen stammend und inzwischen ein<br />

international erfolgreicher Journalist, trat er wie ich immer und überall für die<br />

Benachteiligten auf. Er war mir, der Baronin Bertha von Suttner und anderen<br />

Verfechtern des Friedensgedankens stets ein zuverlässiger Verbündeter.<br />

Allerdings war er dabei in der Wahl seiner Mittel immer für Überraschungen gut.<br />

So versprach Stead sich eine Befriedung der zerstrittenen und bis an die Zähne<br />

bewaffneten Völker der Erde vom Triumph einer Idee, die er etwas blumig die<br />

Wiedervereinigung der englischen Rasse nannte; im Klartext: die<br />

Amerikanisierung der Welt - unter diesem Titel hat er sogar vor einigen Jahren ein<br />

Buch veröffentlicht. In der letzten Zeit sorgte er allerdings vornehmlich durch<br />

seine Bücher über ein Weiterleben nach dem Tode und zur Propagierung des<br />

Spiritismus für Wirbel. Von seinen Freunden ließ er sich Dabbya nennen. (Diese<br />

Verkürzung eines mit W beginnenden Vornamens ist sonst vor allem in Texas bei<br />

Ungebildeten üblich).<br />

Er hatte mich sofort entdeckt und kam quer durch den Saal auf mich zu.<br />

"May, was machst du denn hier? Willst du etwa heute abend Doktor Cook die<br />

Show stehlen?", rief er.<br />

Ich machte ihm neben mir auf dem Sofa Platz. Er setzte sich und legte die Füße<br />

auf einen Sessel.<br />

“Die Amerikanisierung der Welt macht vor ihrem Erfinder nicht halt”, frotzelte<br />

ich.<br />

“Mensch, ich bin hundemüde. Dieser Cook - kolossal. Aber er hält einen ganz<br />

schön auf Trab, was?”<br />

“Das kann man wohl sagen.”<br />

“Ich bin stehenden Fußes von London hierher geeilt. Und seitdem keine Minute<br />

zur Ruhe gekommen.”<br />

“So, von London. Was du nicht sagst. Bei dir muß man ja immer darauf gefaßt<br />

sein, daß du eventuell geradewegs aus dem Paradiese kommst.”<br />

“Ha- Paradies! Du stänkere nur! Deine naiven Vorstellungen vom Reiche der<br />

Toten will ich dir heute mal nachsehen.”<br />

“Ich - stänkern? Nichts liegt mir ferner als das. Ich bin voll Bewunderung. So<br />

einen heißen Draht dorthin wie du hat kaum jemand.”<br />

“Vielleicht kommt mal der Tag, da du um meine guten Dienste bittest, das<br />

Neueste aus der Anderen Welt zu erfahren.”<br />

“Sobald es soweit sein wird, komme ich auf dein Angebot zurück. Denn - das war<br />

doch ein Angebot, oder?!”<br />

“Für Freunde jederzeit. Aber sag mal - was trinkst du denn da?" fragte er plötzlich<br />

unvermittelt. Er wies dabei auf mein inzwischen fast leeres Glas. Ich hielt es ihm<br />

unter die Nase. Kaum hatte er den Aquavit identifiziert, stöhnte er laut: "Ach,<br />

dieses dänische Gift. Gibts denn hier keinen anständigen Obstsaft?" Ein<br />

befrackter Kellner huschte herbei. Natürlich seien Obstsäfte da, beeilte er sich zu<br />

erklären. Herr Stead werde vollauf zufrieden sein.<br />

"Also, was liegt an?" Offensichtlich erfreut, gleich einen Gesprächspartner<br />

gefunden zu haben, klopfte er mir auf die Schulter. Ich gestand ihm, inkognito<br />

hier zu sein, als Journalist wie er selbst; eigentlich wolle ich mit Doktor Cook nur<br />

ein paar Worte unter vier Augen wechseln.


"Du meinst: ein Exklusivinterview? Da mußt du früher aufstehn, mein lieber May.<br />

Habe ich längst im Sack."<br />

"Kein Interview eigentlich. Nur einige freundschaftliche Hinweise."<br />

"Na ja. Das sagt sich dann immer leicht. Gib schon zu, ich war fixer als du."<br />

“Nichts täte ich lieber als dies einzugestehen. Aber sag mal, was machst du denn<br />

ansonsten, Dabbya? Ich meine - für wen schreibst du im Augenblick? Noch<br />

immer fürs eigene Hausblatt, die Review of Reviews?”<br />

“Willst du mich absichtlich in Verlegenheit bringen? Wenn ich dir das Neueste<br />

stecke, wirst du zugeben müssen, was für ein Glückspilz ich bin, May!”<br />

“Na, sag’s schon! Ich habe, was das Aufkommen von Neid angeht, eine lange<br />

Leitung. Oder, wenn du so willst, eine dicke Haut.”<br />

“Also dann - ich hab dich gewarnt! Zu Beginn dieses Jahres hat mich der Große<br />

Hearst als Sonderkorrespondenten verpflichtet.”<br />

“William Randolph? Der Herr und Gebieter über Amerikas Massenblätter?”<br />

“Genau der. Hast dich nicht verhört. Nun bist du wohl doch neidisch, was?”<br />

“Keine Spur. Schon mal was von der ‘Sachsenstimme’ gehört?”<br />

“Nee.”<br />

“Siehst du. Für die bin ich hier”, flunkerte ich und fragte dann, um unser<br />

Gespräch auf das mich eigentlich interessierende Thema zurückzubringen: “Wird<br />

Cook denn überhaupt herkommen? Oder bleiben wir Zeitungsleute heute abend<br />

hier unter uns?"<br />

"Er hat sich breitschlagen lassen. Für fünf Minuten, hat er gesagt. Das heißt: soll<br />

er gesagt haben. Seit wann bist du denn schon in Kopenhagen?"<br />

"Seit gestern."<br />

"Und hast ihn noch nicht sehen können für deine - deine freundlichen Hinweise?"<br />

"Freundschaftlichen."<br />

"Meinetwegen. Hast ihn also noch nicht gesehen?"<br />

"Nein."<br />

"Tja - ist halt schwer, an ihn ranzukommen."<br />

"Wenn man nicht König von Dänemark ist. Oder bei Hearst."<br />

"Wohl doch neidisch, was?"<br />

"Dabbya, wie könnte ich auf dich neidisch sein! Du sagst, er kommt nachher auf<br />

zehn Minuten?"<br />

"Auf fünf."<br />

"Ich brauche ihn nur für drei."<br />

"May, du bist unverbesserlich. Na, ich wünsche dir Glück. Sag mal - ist der<br />

Kaiser schon aus dem Manöver zurück? Was hat er vor, wenn Frankreich die<br />

dreijährige Militärdienstzeit einführt?"<br />

"Das kommt ganz drauf an, was Doktor Cook dir vom Nordpol verraten hat."<br />

"Nix da, mein Lieber. Jedenfalls heute abend nicht. Morgen steht es in allen<br />

Hearst-Blättern."<br />

Unsere gutmumige Flaxerei wurde immer wieder von der Ankunft weiterer Gäste<br />

unterbrochen, die einmal mir, einmal ihm zuwinkten. Schließlich nahm Stead die<br />

Füße vom Sessel, griff sein Glas Johannisbeersaft und ging. Ich gewahrte unter<br />

den Eintretenden das bärtige Gesicht des norwegischen Kapitäns <strong>Otto</strong> Sverdrup,<br />

eines engen Mitstreiters von Nansen bei dessen langen Expeditionen im Hohen


Norden. Sie hatten gemeinsam vor zwei Jahrzehnten als Erste das Inlandeis<br />

Grönlands gequert, und während der Fram-Drift hatte Sverdrup, als Nansen zu<br />

seinem nun schon fast legendären Schlittenvorstoß nach Norden aufbrach, das<br />

Kommando an Bord übernommen. Offensichtlich erfreut, mich wiederzusehen,<br />

kam Sverdrup mir mit offenen Armen entgegen. Ich sprang auf, wir umarmten<br />

einander.<br />

"Wenn Nansen gewußt hätte, daß Sie hier sind, lieber May, hätte er sich vielleicht<br />

breitschlagen lassen, nach Kopenhagen mitzukommen."<br />

"Wie geht es ihm denn?"<br />

"Ausgezeichnet! Er scheint ganz in seiner neuen Rolle als Professor für<br />

Ozeanographie aufzugehen. Als ich ihn aufforderte, Doktor Cook zu begrüßen,<br />

hat er gesagt: ‘Was zum Teufel geht es mich an, wenn einer vom Nordpol<br />

zurückkehrt? Mein Forschungsgebiet ist jetzt Norwegens Küste.’ Unsere<br />

Unäbhängigkeit von Schweden hat ihn - ich möchte mal sagen: in seinem Wesen<br />

verändert."<br />

"Ja, Nansen--- . Und was ist aus seiner 'Fram' geworden?"<br />

"Das wissen Sie nicht? Die hat er schon vor zwei Jahren an Amundsen abgetreten.<br />

Der will damit zum Nordpol."<br />

"Ich erinnere mich, von Amundsens Nordpolplänen gehört zu haben. Ist er also<br />

dabei geblieben."<br />

"Erst einmal sehen, was jetzt daraus wird. Vielleicht ändert er seine Absichten<br />

unter dem Zwang der Umstände."<br />

"Und Sie selbst, lieber Sverdrup? Sie waren dem Schiffe doch auch verbunden."<br />

"Natürlich. Und ich bin es noch immer. Ich weiß die 'Fram' bei Amundsen in<br />

guten Händen. Zwar halte ich nicht viel von blindwütiger Polstürmerei, aber als<br />

Roald sagte, er wolle zum Nordpol driften, dachte ich: Gottseidank ist da einer,<br />

der diesem arroganten Peary Paroli zu bieten vermag. Wie Nansen ganz richtig<br />

sagt: ’Man muß den Pol erreichen, damit die Besessenheit aufhört.’ Na, nun hat<br />

Cook das besorgt.”<br />

"Sind Sie Peary schon einmal begegnet?"<br />

"Ja. Das muß vor ziemlich genau elf Jahren gewesen sein. Ich war damals mit<br />

meinen Leuten auf der 'Fram' an der Küste von Ellesmereland, zu ziemlich<br />

ergiebiger Landesaufnahme. Keiner von uns dachte daran, zum Pol zu gehen.<br />

Irgendwann im Oktober stieß Peary mit seinem schwarzen Diener auf das im Eis<br />

festliegende Schiff."<br />

"Zufällig? Mitten im Eis des Polarmeeres?"<br />

"Ich denke, es war keineswegs Zufall. Er hat vielmehr nach uns gesucht. Einzig<br />

und allein um zu erfahren, ob wir ihm den Pol vor der Nase wegschnappen<br />

wollen."<br />

"Das ist bei ihm eine wirkliche Besessenheit. Fast möchte ich sagen: krankhaft."<br />

"Na - und nun ist es ganz anders gekommen." Er lächelte schadenfroh. "Nicht<br />

einmal Kaffee hat der Kerl sich damals von mir anbieten lassen. Sein Zelt sei nur<br />

zwei Schlittenstunden entfernt, hat er gesagt. Dort gedenke er zu Abend zu<br />

speisen und auch seinen Kaffee zu trinken."<br />

"In der Tat - er kann sehr verletzend sein."<br />

“Sie kennen Peary persönlich?”


“Oh ja. Ich habe ihn von der unangenehmsten Seite erlebt.”<br />

"Ach, wissen Sie, es gibt Yankees und Yankees.”<br />

“Peary ist ganz gewiß einer von der weniger erfreulichen Sorte."<br />

"Erzählen Sie doch! Tja, der Gute wird Augen machen, wenn er erfährt, daß<br />

Doktor Cook inzwischen---" In diesem Augenblick wurde zu Tische gebeten. Im<br />

Gedränge verlor ich Sverdrup aus den Augen. Ich sah ihn auch später nicht mehr.<br />

So verpaßte er die Gelegenheit, mich über meine Abenteuer mit Peary<br />

auszufragen.<br />

Meine Tischdame war eine reizende junge Griechin, Mitteleuropa-<br />

Korrespondentin mehrerer Athener Blätter. Leider habe ich ihren Namen nicht<br />

behalten. Sie war aus Anlaß des Besuches des griechischen Kronprinzenpaares<br />

nach Kopenhagen gekommen. Wir unterhielten uns auf neugriechisch, obschon<br />

ihr Deutsch höchst bemerkenswert war. Sie hatte, um herzugelangen, die eben<br />

eröffnete Eisenbahnfähre zwischen Saßnitz auf Rügen und dem schwedischen<br />

Hafen Trelleborg benutzt. Des Lobes voll äußerte sie sich über die<br />

gastronomischen Einrichtungen an Bord des Trajektschiffes. In der vergangenen<br />

Woche sei sie in Dresden auf dem Hofball gewesen, erzählte sie. Als sie hörte, ich<br />

sei Sachse, zeigte sie sich begeistert. Sie schwärmte von der architektonischen<br />

Anlage Dresdens und von der Pracht bei Hofe. "Man nennt es zu Unrecht<br />

Elbflorenz. Ein Vergleich mit dem weitläufigen Palaste von Knossos scheint mir<br />

viel angebrachter. Wie dieser ist es eine Menschensiedlung allerhöchster<br />

Raffinesse und allerfeinster Kulturstufe, ganz und gar friedlich, ohne Mauern und<br />

andere Wehranlagen---"<br />

"---die dann plötzlich ohne erkennbare Gründe zerstört wurde", unterbrach ich sie.<br />

Ihr Vergleich gefiel mir. Daß allerdings die Brühlsche Terrasse ursprünglich ein<br />

Festungswall war und daß der Zwinger Wassergräben besaß, war ihr entgangen.<br />

"Zerstört? Was tut das! Jedenfalls hat es dereinst existiert." Sie erzählte<br />

schwärmerisch von einem Besuch bei den Grabungen eines Engländers dort auf<br />

Kreta, Arthur Evans mit Namen, von denen ich vor meinem Aufbruch in die<br />

Arktik wahre Wunderdinge gehört hatte. "Sie müssen Knossos unbedingt sehen",<br />

beharrte meine Gesprächspartnerin. "Kreta ist wohl eine der schönsten und<br />

kostbarsten Perlen im griechischen Diadem. Seit im vergangenen Juli die Fahne<br />

unseres Landes auf der Insel gehißt wurde, ist absehbar, daß der Türke eines<br />

Tages ganz von dort wird verschwinden müssen. Dann wird es auch Herr Evans<br />

bei seinen Grabungen leichter haben." Ich dankte für die freundlichen Hinweise,<br />

gab allerdings zu bedenken, daß generell jedes Verschwindenmüssen nur neue<br />

Härten heraufbeschwöre und erinnerte in diesem Zusammenhange an das<br />

furchtbare Schicksal der Rothäute. "Im übrigen habe ich mich den Kretern<br />

zeitlebens verbunden gefühlt und werde die schöne Insel, zumal sie mir nun so<br />

ausdrücklich und so charmant empfohlen worden, sicher eines Tages besuchen."<br />

Nach dem köstlichen Hummersalat ließ ich mir ein Filet mignon mit<br />

Bambusspitzen und Trüffeln schmecken. Die Zeit rohen Seehundfleisches,<br />

verrotteter Narwalhaut und anderer Eskimoleckerbissen war vorüber und ich<br />

genoß in vollen Zügen die Segnungen der ausgezeichneten Küche, welche man<br />

uns bot. Wir waren eben dabei, den Nachtisch zu wählen, als - lauter und immer<br />

lauter anschwellend - im Raume ein "Ahhhh!" erscholl. Es kam zunächst von der


Tür her, wo in Begleitung anderer befrackter Herren Doktor Frederick Cook<br />

erschien. Der Überraschungsruf machte vom Eingange aus die Runde und hatte<br />

schließlich als ein erleichterter Stoßseufzer die ganze Tischgesellschaft ergriffen.<br />

Cook war braungebrannt und wirkte müde. Er trug eine gestärkte Hemdbrust. Um<br />

seine weit ausladenden Schultern war eine Rosengirlande drapiert. Ein erstes<br />

"Vivat!!" sprang auf, es wurde geklatscht. Man dirigierte Cook an die Spitze der<br />

Tafel. Er nahm Platz und der Gastgeber des Abends, vermutlich der<br />

Chefredakteur oder der Eigentümer von "Politiken", klopfte ans Weinglas. Er<br />

sagte die offenbar bei derlei Gelegenheiten unumgänglichen Worte vom<br />

historischen Augenblick, den gemeinsam zu erleben man soeben die Ehre habe.<br />

Neue Hochrufe, ringsumher Gläserklirren. Dann ergriff der Vertreter des Pariser<br />

"Matin" das Wort.<br />

"Mesdames et Messieurs", rief der Korrespondent mit hoher, sich vor<br />

Begeisterung fast überschlagender Stimme in den Saal, "ein Traum der<br />

Menschheit hat sich erfüllt. Und wir, die wir hier an dieser gastlichen Tafel Platz<br />

genommen haben - wir können sagen, wir sind dabei gewesen. Zwar nicht dort<br />

oben in Nacht und Kälte, wo der wackere Doktor Cook, sich mühsam<br />

Schlittenlänge um Schlittenlänge vorankämpfend, dem Gipfel der Erde<br />

entgegenstrebte, aber doch hier, wo sein Sieg gefeiernd gebürdigt" - nun hatte er<br />

sich doch verhaspelt - "und, der Größe des Augenlickes entsprechend, für die<br />

Öffentlichkeiten der Länder, welche wir an diesem Tisch zu vertreten die Ehre<br />

haben, für die Ewigkeit registriert werden wird. Der bescheidene Arzt der Armen<br />

aus Brooklyn steht als der Eine, der Einzige dar, dem es gelang---"<br />

Von der Tür her war abermals Unruhe spürbar. Unsicher über Köpfe, leere Teller<br />

und volle Champagnergläser blickend, sah der Franzose vom Manuskript seiner<br />

Rede auf und verhielt. Ein Botenjunge, ein zweiter, Hotelboys, Postangestellte,<br />

Bedienstete der Presseleute tröpfelten durch den Saaleingang, einzeln zunächst, in<br />

loser Folge, dann aber bald als Schwarm, ein jeder mit einem kleinen Kouvert in<br />

der Hand, wohl Telegrammen, die sie den jeweiligen Empfängern reichten. Auch<br />

meine Hellenin erhielt eine solche Depesche, sie riß den Umschlag ebenso<br />

ungeduldig auf wie die anderen. Ich bekam natürlich nichts, die "Sachsenstimme"<br />

hatte selbst zu den Zeiten, da sie noch ihr Gift in die Welt verspritzte, kein<br />

Kopenhagener Büro unterhalten.<br />

"Können Sie Englisch?" fragte die Griechin, und als ich bestätigend nickte, hielt<br />

sie mir die Nachricht hin. Es war ein Kabel einer Londoner Agentur, nur wenige<br />

Zeilen lang, doch von unglaublicher Brisanz. "In einem Funkspruch aus Indian<br />

Harbor in Labrador teilt Robert Peary mit: Habe Stars and Stripes am Pol<br />

aufgeplanzt", stand da. Ich schluckte. Um mich wurden Rufe laut, ein Wirrwarr<br />

erregter Stimmen.<br />

"Nun, was ist?", fragte meine Tischdame.<br />

"Ach, ich dachte, Sie hätten---"<br />

"Nein. Ich hatte eigentlich Sie bitten wollen."<br />

Zu verstehen war nun nichts mehr. Ich zuckte hilflos die Schultern. In dem<br />

Tumult war an eine Fortsetzung der Rede des Herrn vom "Matin" nicht zu<br />

denken. Jemand rief plötzlich laut: "Stead soll es vorlesen! Stead soll---"<br />

Schon stand Dabbyas untersetzte Gestalt, den meisten offensichtlich vertraut, wie


ein Fels in der Brandung. Unter der fliehenden Stirn blitzten spitzbübisch seine<br />

hellen Augen. In der Linken hielt Stead das Papier mit der Nachricht. Bis auf<br />

ungeduldiges Stühlescharren und das Quietschen der Schwingtür zur Küche war<br />

mit einem Mal Stille.<br />

"Da gibts nicht viel vorzulesen", sagte er und gab den Text zur Kenntnis. "Im<br />

übrigen denke ich, wir sollten hier ruhig weitermachen und den Mann feiern, der<br />

genau das auch getan hat: das Sternenbanner am Pol aufgeplanzt." Er strich sich<br />

gelassen den weißen Vollbart und nahm wieder Platz.<br />

Die Rufer, die sich meldeten, sobald er geendet, waren geteilter Meinung.<br />

"Jawohl, weitermachen!" hieß es auf der einen, "Hier stimmt doch was nicht!"<br />

und "Betrug!" auf der anderen Seite. Wer hier des Betruges geziehen wurde, war<br />

nicht auszumachen.<br />

"Nun, was steht in dem Telegramm?" fragte meine Nachbarin abermals.<br />

"Aber Dabbya hat doch eben--- . Ich meine: Mister Stead, selbstverständlich."<br />

"Ja, hat er. Aber doch auch auf englisch !"<br />

"Ach ja!" Ich verstand endlich ihr Begehr und schrie ihr, so gut dies gegen den<br />

allgemeinen Lärm möglich war, die Nachricht des Abends in vollendetem<br />

Hellenisch zu. Dies getan, sah ich mich nach Doktor Cook um.<br />

Da stand er, ebenso ratlos wie die anderen Schwarzgekleideten neben ihm. Der<br />

Blumenkranz hing ihm schief von der Schulter, aus seinem Gesicht war der<br />

Ausdruck von Müdigkeit verschwunden. Er legte das Telegramm, welches auch<br />

er erhalten, auf seinen Platz, sagte etwas zu seinem Nebenmanne, der darauf<br />

nickte, und sah sich suchend um. Schließlich schien er das Gesuchte gefunden zu<br />

haben und ging ruhigen Schrittes auf eine Tür zu, über welcher ein Schild hing.<br />

Aus der Entfernung vermochte ich dieses nicht zu entziffern. Ich sah jedoch ein,<br />

daß es nicht viele Möglichkeiten gab hinsichtlich dessen, was diese Tür zu<br />

verbergen hatte. Kurz entschlossen folgte ich ihm. Nicht nur Kaiser, auch<br />

Nordpolentdecker gehen derlei Wege zu Fuß, und dänischer Aquavit, so köstlich<br />

er ist - bei mir wirkt er harntreibend.<br />

Vor der weißen Kachelwand standen drei befrackte Gestalten. Cooks Rücken war<br />

an den Rosen in seinem Nacken kenntlich. Ich stellte mich neben ihn und schlug<br />

mein Wasser ab. Er blickte kurz auf, erkannte mich aber möglicherweise nicht<br />

sofort. Jedenfalls sagte er erst, als wir allein in dem Raume geblieben waren:<br />

"Ach, sieh einer an, der Herr Doktor May! Woher kommen Sie denn?"<br />

"Aus Grönland. Wie Sie."<br />

"Na, davon erzählen Sie mir später mal. Was sagen Sie denn zu der plötzlichen<br />

Wendung der Dinge hier?"<br />

"Was soll ich sagen? Ich bin überrascht, trotz allem."<br />

"Tja, Sie sind überrascht. Und ich bin aufgeschmissen."<br />

"Wie meinen Sie das?"<br />

"Sie kennen doch Peary. Der duldet niemanden neben sich. Der wird bis aufs<br />

Messer kämpfen."<br />

"Freilich wird er das. Doch macht das seinen Anspruch nicht glaubhafter."<br />

"Verleumdungen, Nervenkrieg, Schmutz in den Zeitungen - er ist der<br />

Herausforderer, also bestimmt er die Waffen. Ob ich das alles durchstehe, weiß


ich nicht. Ich gehe jetzt raus und sage den Journalisten, daß Peary lügt."<br />

Ich brachte mein Beinkleid in Ordnung und sagte: "Warum sollte er lügen? Weil<br />

nicht sein kann, was nicht sein darf, Doktor Cook?" Natürlich hätte ich ihm sofort<br />

- jetzt, hier - reinen Wein einschenken können. Doch hielt ich es für ratsamer,<br />

vorerst das Terrain zu sondieren.<br />

Im Vorraum, beim Händewaschen - er stand erneut neben mir - sah ich ihn im<br />

Spiegel an und fragte, gegen das Rauschen des Wassers die Stimme hebend: "Ist<br />

es nicht wenigstens - nun, sagen wir mal: denkbar, daß Peary den Pol erreicht hat,<br />

genau wie Sie?"<br />

"Eben nicht genau wie ich. Ein ganzes Jahr nach mir, wenn überhaupt. Und jetzt<br />

will er sich zum Sieger profilieren! Ich könnte den Kerl in der Luft zerreißen."<br />

Ein dienstbarer Geist reichte mir ein Handtuch. Cook zögerte, griff dann nach<br />

dem anderen Ende und sagte: "Es gibt eine amerikanische Redensart: jemandem<br />

einen goldenen Ziegelstein andrehen."<br />

"Ich verstehe: einen Bären aufbinden, wie man bei uns sagt."<br />

"Tja, und genau das beabsichtigt Peary mit seiner Meldung. Das werde ich denen<br />

da draußen jetzt klar und deutlich zu verstehen geben."<br />

"Genau das werden Sie nicht tun, Herr Doktor Cook." Ich hatte schon nach der<br />

Türklinke gegriffen und wandte mich bei diesen Worten noch einmal energisch<br />

um.<br />

"Was soll ich denn sonst machen?" Wir verhielten für einen Augenblick. Ich sah<br />

sein Gesicht von Angst und Ratlosigkeit gezeichnet. Mich um Hilfe anflehend,<br />

beide Hände mit gespreizten Fingern vor seiner Brust rasch auf und ab bewegend,<br />

wiederholte er wie eine Beschwörungsformel: "Was soll ich denn sonst machen?"<br />

"Sie werden erklären, daß sie sich über Pearys Polerfolg freuen. Und daß der<br />

Ruhm, den Nordpol bezwungen zu haben, groß genug ist für zwei. Etwas in der<br />

Art."<br />

"Da spielt doch Peary nicht mit! Der hat doch nur giftige Pfeile in seinem<br />

Köcher. Mit anderen schießt dieser Bursche doch gar nicht."<br />

"Und wenn! Es ist jedenfalls den Versuch wert."<br />

"Meinen Sie wirklich?"<br />

"Sie müssen alles dransetzen, erst einmal die bessere Presse zu haben als er. Und<br />

die Presse ist hier - nicht bei Peary in Labrador."<br />

"Ach, es ist schon ein Kreuz mit diesen Zeitungsleuten! Man kann nicht ohne sie<br />

leben---"<br />

"--- aber mit ihnen auch nicht!", ergänzte ich, dabei vor allem an Lebius und<br />

seinesgleichen denkend.<br />

"Gut. Ich sehe, wir verstehen einander. Ich werde der Meute sagen, was Sie mir<br />

geraten haben. Und - was mache ich dann?" fragte er, schon auf dem Weg zurück<br />

in den Saal.<br />

"Dann machen Sie genau so weiter, wie Sie es vorhatten, ehe das Telegramm<br />

kam."<br />

"Das geht nicht. Ich wollte zunächst noch in Europa bleiben. Unaufschiebbare<br />

Besuche in Belgien---"<br />

"Nein, das geht wirklich nicht. Und unaufschiebbar ist wenig auf der Welt. Sie<br />

müssen sofort in die Staaten zurück. Das, lieber Cook, ist allerdings


unaufschiebbar."<br />

"Davon bin ich jetzt auch überzeugt."<br />

"In Neuyork das Eisen schmieden, solange es heiß ist - möglichst schon ehe Peary<br />

dort eintrifft."<br />

"Das dürfte zu schaffen sein. Indian Harbor ist zwar näher dran, aber immerhin<br />

läuft die 'Roosevelt' nicht wie ein Ozeandampfer. Doch selbst wenn ich<br />

rechtzeitig zur Stelle bin, wird es unüberwindliche Schwierigkeiten geben."<br />

"Nur unverzagt ran, mein Lieber! Ich bin bereit, Ihnen in Amerika zur Seite zu<br />

stehen, falls Sie dies wünschen."<br />

"Sie mir? Wie komme ich zu dieser Ehre, May?"<br />

"Sie haben mir einmal das Leben gerettet, damals auf unserer gemeinsamen<br />

Rückfahrt vom Geographenkongress. Erinnern Sie sich nicht mehr?"<br />

"Äußerst vage."<br />

"Am Ohio, als die Eisenbahnbrücke bei Cincinnati von russsichen Terroristen<br />

gesprengt wurde. Sie selbst waren schwer verletzt. Mir genügt das fürs erste als<br />

Grund, Ihnen zu helfen."<br />

"So glauben Sie, es geht auf Leben und Tod?"<br />

"Geht es das nicht immer, Cook?"<br />

Er schob mich in eine Fensternische. “Sie kommen wirklich mit mir nach New<br />

York?” Sobald ich mit einem Kopfnicken geantwortet, hielt er mir die Rechte hin.<br />

"It's a deal, May! Und ich danke Ihnen." Ich schlug ein und bekräftigte: “Der<br />

Handel gilt.”.<br />

Nebeneinander traten wir durch das breite Portal zurück in den Saal. Dort lauerten<br />

die Reporter, ein Rudel hungriger Coyoten. Ihre Fragen fielen wie Schüsse.<br />

"Was haben Sie der Weltöffentlichkeit zu Pearys Erfolg zu sagen, Herr<br />

Cook?" "Wie steht es um die Nachprüfbarkeit Ihrer eigenen Angaben?“<br />

“Sind Sie in der Tat am Nordpol gewesen?"<br />

Mit ausgestrecktem Arm bahnte Cook sich schweigend einen Weg durch die<br />

Menge und kehrte an seinen Platz an der Spitze der Festtafel zurück. Mit raschem<br />

Griff ordnete er die Blumenkette um seinen Hals, sodaß die Rosenstränge nun<br />

wieder gleichlang und gerade die weiße Hemdbrust rahmten. Ich stellte mich<br />

neben ihn. Er griff eine Kuchengabel und klingelte gegen eine Karaffe mit<br />

Cognac. "Meine Herren, ich bitte um Ruhe!" Als er sich noch einmal umgeblickt<br />

hatte und man ihm endlich Gehör schenkte, sagte er: "Meine Damen und Herren!<br />

Ich habe eine Erklärung abzugeben. Wie Sie alle freue ich mich über Pearys<br />

Polerfolg, der uns soeben gemeldet wird. Der Ruhm, den Nordpol bezwungen zu<br />

haben, ist groß genug für zwei, glauben Sie mir. Hier geht es nicht um<br />

persönliches Renommee, sondern - der Begriff ist heute abend hier schon gefallen<br />

- um die Erfüllung eines alten Menschheitstraumes."<br />

Sobald er geendet, klatschten einige wenige unter den Anwesenden Beifall. Die<br />

meisten sprangen allerdings sofort von ihren Plätzen auf und stürmten davon, sich<br />

in der Saaltür drängend und mit Ellenbogen bearbeitend. Morgen würde, was<br />

Cook soeben gesagt, in allen großen Zeitungen der Welt zu lesen sein. Als seine<br />

Worte. Ich war es zufrieden. Er wandte sich mir zu und sah mich stumm an. Da<br />

schloß ich die Augen und nickte.


6. VIERSPÄNNIG DURCH DIE RUHMESPFORTE<br />

Es gab keine Zeit zu verlieren. Wöchentlich einmal, nämlich freitags, fuhr ein Schiff<br />

der Scandinavian America Line von Kristiansand an Norwegens Südspitze nach<br />

Neuyork. Und wiewohl ich auf meinen bisherigen Reisen stets deutsche<br />

Ozeandampfer benutzt hatte, war ich bereit, mich dieses Mal aus naheliegenden<br />

Gründen der genannten Reederei anzuvertrauen. Bin ich früher zumeist nach<br />

Amerika aufgebrochen, um Irrungen und Anfechtungen in der Heimat zu<br />

entkommen oder aber um Abenteuer zu suchen, über die ich zu schreiben<br />

beabsichtigte, so trieb mich jetzt, wie ich zunächst annahm, allein das Bestreben,<br />

einem bedrängten Menschen zu helfen. Daß es sich jedoch auch bei diesem<br />

Aufbruch in die Neue Welt, den an der Seite von Doktor Cook zu unternehmen ich<br />

mich anschickte, im Grunde um eine Flucht handelte, wollte ich seinerzeit nicht<br />

sofort wahrhaben. Ich gestand es mir erst später ein; zu frisch und zu tief war<br />

zunächst die Verletzung durch das in Radebeul beim Seelenfluge zur Villa<br />

Shatterhand Geschaute.<br />

Vom amerikanischen Gesandten in Kopenhagen war Herrn Doktor Cook<br />

freundlicherweise ein gewisser Walter Lonsdale als Sekretär zur Seite gestellt<br />

worden. Dieser tüchtige Mann buchte für uns drei die Passage und kümmerte sich<br />

darum, daß wir und unser nicht sonderlich umfangreiches Gepäck das Schiff auch<br />

erreichen würden. Das hatte ein häufiges, zuzeiten als Drängeln einherkommendes<br />

Ermahnen zur Folge - mir nicht immer angenehm, aber wohl doch notwendig. Die<br />

“Oscar II.” - so hieß unser Ozeandampfer - würde nicht auf uns warten, und der<br />

nächste Freitag war bald. Genauer gesagt: er drohte ganze vier Tage nach jenem<br />

denkwürdigen Bankett im Tivoli.<br />

Um mit Doktor Cook letzte Einzelheiten unseres Vorgehens in Neuyork zu<br />

besprechen, suchte ich am Mittwochnachmittag sein Hotel auf. Wer beschreibt<br />

meine Verblüffung, als mir, kaum hatte ich das weitläufigen Foyer des “Phoenix”<br />

betreten, der frischgebackene Hearst-Korrespondent William T. Stead<br />

entgegenkam, strahlend und bester Laune wie immer.<br />

“Na, May - willst du bei unserem Helden noch immer deine - nun, deine<br />

freundschaftlichen Hinweise loswerden?” flaxte er schon von der breiten Treppe<br />

her.<br />

“Kommst du gerade von Doktor Cook?” fragte ich meinerseits, um Ernsthaftigkeit<br />

bemüht.<br />

“Woher sonst! In dieser Hütte wohnt doch niemand außer dem Doc, der für<br />

Hearst-Leser von Interesse sein könnte.” Er stellte sich neben mich und fragte<br />

leise, fast im Verschwörerton: “Hast du übrigens mein Interview mit ihm gelesen?<br />

Brilliant, nicht wahr?”<br />

“Oh ja - brilliant wie immer, Dabbya”, beeilte ich mich zu erklären, obwohl mich<br />

sein protziges Gehabe als Vertreters eines großen Zeitungsimperiums abstieß, das<br />

er urplötzlich an den Tag legte. Doch blieb ich weiter so sachlich wie möglich und<br />

fragte: “Wem wird Doktor Cook seine Polstory verkaufen?”


“Dreimal darfst du raten, May! Bist doch ein pfiffiges Kerlchen. Aber damit wir<br />

unsere Zeit nicht mit Raterei vertun, hier eine Information unter Freunden: Ich<br />

habe ihm eben gesagt, daß Hearst jedes - und wenn Hearst jedes sagt, dann meint<br />

er auch wirklich: jedes - jedes Angebot, welches Cook von anderer Seite für seine<br />

Geschichte unterbreitet wird, zu verdoppeln bereit ist. Da staunste, was?” Er<br />

stemmte die Rechte energisch in die Seite, richtete sich zu voller Größe auf und sah<br />

mich abschätzend von oben her an.<br />

“Da staune ich allerdings. Hat er denn schon andere Angebote?”<br />

“Na, die sollen mal kommen - nach solch einer Offerte! Ich kenne doch Cook. Der<br />

weiß, wo die Weide am saftigsten ist. Vor allem jetzt, bei dem trouble mit Peary.<br />

Übermorgen sticht er in See, danach werden wir sehen. Der Wettlauf um die<br />

Siegespalme am Pol geht erst richtig los, und sowas kann kostspielig werden. Ich<br />

wüßte nicht, was es da lange zu überlegen gibt.” Sein selbstgefälliger Redeschwall<br />

schien nicht enden zu wollen.<br />

“Ich werde dich auf dem laufenden halten, Dabbya”, sagte ich knapp.<br />

“Du?”<br />

“Ja, wer sonst. Ich werde Doktor Cook in die Staaten begleiten.”<br />

“Ach nee! Wann habt ihr denn das ausgeheckt?” Das Strahlen wich augenblicklich<br />

aus seinem Gesicht.<br />

Ich entgegnete nichts und ließ ihn, mich höflich verbeugend, stehen. Im<br />

Davongehen fragte ich lediglich: “Ist der Doktor jetzt allein auf seinem Zimmer?”<br />

Er nickte wie geistesabwesend. “Nur Mister Lonsdale ist bei ihm”, sagte er<br />

nuschelnd, so daß ich ihn kaum verstand. Seine Überraschung war offenbar eine<br />

tiefe.<br />

“Okay then - see you later. Und nicht vergessen, Dabbya : Parole Oscar Zwo!”<br />

Auf der Treppe drehte ich mich kurz um und winkte Stead mit der Linken. Er<br />

stand noch immer wie vom Donner gerührt, mit offenem Munde und schlaff<br />

herabhängenden Armen. Eigentlich tat er mir leid, denn im Herzen war Stead ein<br />

guter Kerl. Von Aufregung beflügelt, eilte ich meinem Ziele zu.<br />

Cooks Zimmerflucht lag im Beletage. Auf mein Klopfen wurde mir von Lonsdale<br />

geöffnet. “Come on in, Karl”, sagte er leutselig und ließ mich in das mit Blumen<br />

und Geschenkpaketen vollgestopfte Empfangszimmer treten. “Allerdings werden<br />

Sie sich einen Augenblick gedulden müssen - der Doc hat gerade Besuch.” Wir<br />

kannten einander erst seit zwei Tagen, doch war in dieser kurzen Zeit eine<br />

Vertrautheit gewachsen, die für unsere zukünftige Zusammenarbeit nur das beste<br />

erhoffen ließ.<br />

“Wer ist es denn?”, fragte ich, nun doch ein wenig überrascht. Der neue Gast<br />

mußte erst eben gekommen sein, gleich nach Dabbyas Weggang.<br />

“Kapitän Amundsen”, sagte Lonsdale geheimnisvoll hinter vorgehaltener Hand,<br />

“ein Norweger. Alter Freund vom Doc. Beide haben vor Jahren auf der ‘Belgica’<br />

die erste Überwinterung im Südpolargebiet---”<br />

“Ich weiß, ich weiß”, winkte ich ab.<br />

“Kennen Sie ihn?”


“Nicht persönlich. Aber natürlich habe ich eine Menge über ihn gehört. Erst<br />

kürzlich hat mir Kapitän Sverdrup von den neuesten Plänen seines Landsmannes<br />

berichtet.”<br />

“Möchten Sie ihn kennenlernen?”<br />

Ich nickte. “Wird er denn lange bleiben?” Der Sekretär zuckte die Schultern.<br />

“Kommen Sie, Karl, ich zeige Ihnen inzwischen die letzten Grußtelegramme.” Er<br />

zog mich zu einer Sitzecke, ich nahm neben ihm auf dem Sofa Platz. In einer Art<br />

Album, das er von einem niedrigen Tische nahm, hatte Lonsdale Depeschen und<br />

andere Grußbotschaften ansprechend arrangiert. “Hier ist eins von Ihrem Kaiser”,<br />

sagte er und las sofort daraus vor: “Lieber, hochverehrter Herr Doktor Koch! Das<br />

Land Ihrer Vorfahren ist stolz darauf, daß Sie---” Bisher hatten wir stets englisch<br />

miteinander gesprochen. Sein Deutsch war knarrend und unbeholfen, und so sagte<br />

er bald: “Na, Sie lesen ja selbst. Es ist alles so überwältigend!” und blätterte<br />

weiter. “Hier - von Präsident Taft aus dem Weißen Haus!”<br />

“Ach - ist denn mein Freund Teddy Roosevelt nicht mehr amerikanischer<br />

Präsident?”<br />

“Schon ein dreiviertel Jahr nicht mehr, Karl. Haben Sie das nicht gewußt? Wo<br />

haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt? Ich meine---”<br />

“Ich war in Grönland. Wie Doktor Cook. Es war - es ist mir entfallen”, sagte ich<br />

zerstreut, während ich das Telegramm von Präsident Taft überflog. Es war<br />

offensichtlich die Antwort auf eine Botschaft, die Cook sogleich nach seiner<br />

Rückkehr ins Weiße Haus geschickt hatte. Von herzlichen Glückwünschen zur<br />

Erreichung des Pols war die Rede und von dem Stolz aller Amerikaner, daß ein<br />

Landsmann von ihnen diese Tat vollbracht habe. Ich gab Lonsdale die Depesche<br />

zurück. “Na, der neue Präsident wird ja nun wohl auch für Peary passende<br />

Grußworte finden müssen. Schließlich hat jeder Amerikaner bei solchen Dingen<br />

Anspruch auf allerhöchstes Lob durch das Staatsoberhaupt. ”<br />

“Da ist mir nicht bange - dem Speachwriter des Präsidenten wird schon was<br />

einfallen. Ich kenne den Mann ziemlich gut. Wir haben immerhin ein paar Jahre<br />

gemeinsam Yale besucht. Wie übrigens der Präsident auch.”<br />

“Roosevelt?”<br />

“Nein, Taft. Roosevelt hat, wenn ich mich nicht irre, an Harvard und Columbia<br />

studiert.” Er blätterte weiter in dem Hurrakonvolut. Viel mehr als die darin<br />

aufgereihten Blätter und Lonsdales wortreiche Begeisterungsausbrüche zu jedem<br />

einzelnen Stück interessierte mich allerdings inzwischen, was aus dem<br />

Nachbarzimmer an Gesprächsfetzen zu uns drang. Beide Herren hatten - soviel<br />

konnte ich ihren Worten entnehmen - außer einem beiderseitigen Erstauntsein über<br />

ihr offenbar völlig unverhofftes Wiedersehen noch nicht viel Substantielles<br />

auszutauschen vermocht. Ja, auch jetzt spielte jenes Erstauntsein in ihrem höchst<br />

angeregten Gespräche noch immer die Hauptrolle. Als Cook eben ansetze, von<br />

seiner Überwinterung mit den beiden Eskimos zu berichten, unterbrach ihn<br />

Amundsen: “Spar dir die Einzelheiten erst einmal, darauf kommen wir später. Ein<br />

wenig weiß ich ja schon aus den Zeitungen. Eins allerdings interessiert mich sofort,


Fred. Mal Hand aufs Herz. Ich meine, mir kannst du es ja ruhig sagen. Aber bist<br />

Du wirklich und wahrhaftig am Nordpol gewesen?”<br />

“Aber natürlich war ich am Nordpol, Roald - wo denkst du hin! Warum sollte ich<br />

dich belügen?”<br />

“Dann hat sich mein Besuch schon erledigt.”<br />

“Wie meinst du denn das?”<br />

“Du weißt, daß ich selbst--- mit der Fram--- .”<br />

“Zum Nordpol? Ja, jetzt erinnere ich mich. Damals, als Peary von seinem<br />

vorletzten Sturm auf den Pol zurückkam.”<br />

“Seinem erfolglosen Sturm. Neunzehnhundertundsechs.”<br />

“Er hat es auch diesmal nicht geschafft, glaube mir. Nun aber will er mir das<br />

Wasser abgraben, und ich muß gute Miene zu seinem bösen Spiel machen.”<br />

“Für das, was ich vorhatte, ist euer Streit irrelevant. So oder so - der Pol ist<br />

bezwungen. Ich bin zu spät dran. Und dabei wollte ich Nansens Drift wiederholen,<br />

mit Nansens Schiff - aber mit glücklichem Ausgang diesmal.”<br />

“Immer noch ein hochinteressantes wissenschaftliches Unternehmen.”<br />

“Wissenschaftlich hochinteressant? Vielleicht. Ansonsten aber der Schnee von<br />

vorgestern. Jetzt, wo du am Pol gewesen bist, Fred. Von Peary will ich mal gar<br />

nicht mehr sprechen, um dich nicht zu ärgern.”<br />

“Mich damit zu ärgern wirst du heute nicht schaffen, Roald. Ich freue mich viel zu<br />

sehr, dich endlich einmal wiederzusehen.”<br />

“Ich freue mich auch. Als ich in den norwegischen Zeitungen von deiner Ankunft<br />

in Kopenhagen las, habe ich mich gleich auf den Weg gemacht. Ich hätte sowieso in<br />

nächster Zeit hierher kommen müssen. Wer heutzutage grönländische<br />

Schlittenhunde einkaufen will, muß diese beim Königlich-Dänischen<br />

Staatsmonopol für den Grönlandhandel bestellen.”<br />

“Du planst also einen Polvorstoß von der driftenden ‘Fram’ aus? Klingt sehr<br />

vernünftig. Mit Hundeschlitten?”<br />

“Ja. So dachte ich. Eigentlich wollte ich dich bitten, mir von der Gegend um den<br />

Pol all die Dinge zu sagen, die mir bei meiner Expedition von Nutzen sein könnten.<br />

Aber während der Herfahrt habe ich mir so meine Gedanken gemacht. Nee, weißt<br />

du, Fred - ich will nicht der zweite am Nordpol sein. Oder sogar, entschuldige<br />

bitte, der dritte. Dazu habe ich mich für das Unternehmen zu tief in Schulden<br />

gestürzt. Nun muß sich die Sache auch wirklich lohnen.”<br />

Lonsdale war mein Interesse an der Unterhaltung im Nebenraume nicht verborgen<br />

geblieben. Er klappte die dicke Postmappe zu und legte sie auf das Tischchen<br />

zurück. “Darf ich Ihnen etwas anbieten?”, fragte er. “Mineralwasser, Bourbon,<br />

Scotch, Tee, einen Brandy?” Kaum hatte ich dankend abgelehnt, war von nebenan<br />

Cooks Stimme zu vernehmen: “Walt - wer ist denn gekommen?”<br />

“Karl!”, rief der Sekretär zurück, “Karl May. Er hat ein paar Fragen an Sie.”<br />

“Warum schickst du ihn nicht einfach zu uns rein? Vor May habe ich keine<br />

Geheimnisse.” Sobald ich das Nebenzimmer betrat, kam Cook mir entgegen. “Darf<br />

ich Ihnen meinen alten Freund und Reisegefährten Roald Amundsen vorstellen,”


sagte er. “Oder kennen sich die Herren bereits?”<br />

“Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen”, entgegnete ich. Amundsen reichte mir<br />

die Hand und sagte aufgeräumt: “Nansen hat mir viel von Ihnen erzählt und mir<br />

eins Ihrer Bücher empfohlen, Herr May. Nur habe ich augenblicklich leider den<br />

Titel vergessen.”<br />

“Nichts leichter als das - ich kann all meine Bücher aufzählen!” Verbindlich<br />

lächelnd, verneigte ich mich. Amundsen winkte ab. “Vielleicht hilft es bei der<br />

Suche, daß Nansen gesagt hat, dieses Buch sei vorzüglich geeignet, dem Leser die<br />

vielen kleinen Widrigkeiten überwinden zu helfen, die einem auf Reisen immer<br />

wieder begegnen. Und die großen auch, wie er mit einem Augenzwinkern<br />

hinzugesetzt hat.”<br />

“Jetzt bringen Sie mich als Schriftsteller aber in arge Verlegenheit, Kapitän<br />

Amundsen. Davon handeln eigentlich alle Bücher, die mich zum Verfasser haben.”<br />

“Umso besser! Ich befinde mich augenblicklich gerade in solch einer - nun, sagen<br />

wir ruhig: Widrigkeit. Und zwar in einer wirklich horrenden, glauben Sie mir! Sie<br />

als Autor kennenzulernen, wird sich schon noch Gelegenheit bieten. Erst einmal<br />

freut es mich, Ihnen persönlich begegnet zu sein.”<br />

Unvermittelt wandte er sich an Cook: “Fred - ich will dich deinem Besucher nicht<br />

über Gebühr vorenthalten. Ihr habt sicher allerlei Dringendes zu besprechen. Das<br />

hat Vorrang vor meiner Wehklagerei.”<br />

“Aber Roald, ich bitte dich!”<br />

“Vielleicht können wir heute abend zusammen speisen?”<br />

“Das wird leider nicht gehen. Termine, Termine - du verstehst. Heute abend<br />

Festessen mit den Herren der Kopenhagener Universität, und der morgige Abend<br />

gehört noch einmal ganz der königlichen Familie. Ein Abschiedsbankett. Die<br />

Royals scheinen einen Narren an mir gefressen zu haben. Stell dir vor - der King<br />

und ich heißen auch noch beide Frederick.”<br />

“Na, du Glückspilz! Gut, da ist also nichts zu machen. Dann komme ich am<br />

besten nachher noch einmal vorbei. Wozu wohnen wir schließlich im selben Hotel!<br />

Wenn ich auch nicht ganz so nobel untergebracht bin wie du. Dritter Stock,<br />

Zimmer 348.” Bei der Nennung seiner Zimmernummer fixierte er mich derart<br />

eindringlich, daß ich es als Bitte deuten mußte, ihn dort aufzusuchen.<br />

Amundsen verneigte sich und verließ das Zimmer. Seine wuchtige Gestalt füllte<br />

augenblickslang den Türrahmen auf höchst eindrucksvolle Weise. Nicht ohne<br />

Grund ist er immer wieder der letzte Wikinger genannt worden. Ich hörte ihn einige<br />

Artigkeiten zu Lonsdale sagen, ehe er ging. Bald darauf schaute der Sekretär noch<br />

einmal zu uns herein und sagte, an mich gewendet: “Karl, haben Sie daran gedacht,<br />

die dänischen Zollbescheinigungen auszufüllen?”<br />

“Habe ich, habe ich, lieber Walt,” sagte ich, griff in die Innentasche meines Rockes<br />

und reichte ihm die Papiere.<br />

Er überflog die Seiten, war wohl auf etwas bestimmtes aus. “Eine Waffe führen Sie<br />

also nicht mit sich”, sagte er, sobald er die gesuchte Stelle gefunden hatte.<br />

“Nein. Die habe ich im Auftrage einer Eskimo-Schamanin in Grönland vor meiner


Abreise Sedna geopfert, der Herrin des Meeres”, entgegnete ich durchaus ernst.<br />

Mit schallendem Lachen nahmen die beiden meine Mitteilung auf.<br />

“Na dann ist ja alles in Ordnung”, sagte Lonsdale, ehe er sich anschickte, das<br />

Zimmer wieder zu verlassen.<br />

“Hätte das Mitführen einer Waffe denn Schwierigkeiten bereitet?” fragte ich hinter<br />

ihm her.<br />

“Nein, das nicht.” Er drehte sich noch einmal kurz zu uns um. “Nur muß alles<br />

aufgeführt sein. Sonst heißt es nachher noch: Deutscher Autor gibt Doktor Cook<br />

illegal Schützenhilfe!”<br />

Nun lachten wir alle drei, dann ließ Walt uns allein.<br />

Cook bot mir einen Stuhl neben dem mit Karten und Manuskriptblättern schier<br />

überladenen Tische an. Neugierig fragte ich: “Woran arbeiten Sie, wenn mir die<br />

Frage erlaubt ist?”<br />

“Alle wollen alles, und zwar möglichst sofort. Es ist zum Verzweifeln, mein lieber<br />

May!”<br />

“Sind Sie denn schon irgendwelche Verpflichtungen hinsichtlich der Rechte an<br />

Ihrer Polstory eingegangen?”<br />

“Noch nicht. Aber nun werde ich mich wohl bald binden.”<br />

“An wen?”<br />

“Eben war ein Beauftragter von Hearst bei mir. Mit einem höchst vorteilhaften<br />

Angebot.”<br />

“Ach - was Sie nicht sagen! Etwa mein alter Spezi Stead?”<br />

“Ja, genau der! Sie kennen ihn?”<br />

“Und ob! Vor ein paar Minuten ist er mir hier in der Hotelhalle über den Weg<br />

gelaufen. Er schien arroganter als es sonst seine Art ist.”<br />

“Arrogant oder nicht - er kam mit millionenschweren Instruktionen von seinem<br />

Boß.”<br />

“Millionenschwer? Was genau hat Mister Hearst Ihnen durch Stead ausrichten<br />

lassen?”<br />

“Er ist bereit, jedes andere Angebot schlankweg zu verdoppeln, wenn ich ihm die<br />

Zeitungs- und Zeitschriftenrechte gebe. Die Exklusivrechte wohlgemerkt.”<br />

“Und Sie sind, wie ich sehe, nicht abgeneigt.”<br />

“Mensch, May - ich stecke bis zum Hals in Schulden, noch aus der Zeit, als ich<br />

die Expedition vorbereitete. Außerdem fragt meine Familie nach Geld, wenn ihr<br />

Ernährer nach zwei Jahren mal wieder zu Hause vorbeischaut.”<br />

“Also - wieviel hat Hearst Ihnen geboten? Anders gefragt: Welche Beträge ist er zu<br />

verdoppeln bereit?”<br />

“Bisher besteht nur eine lose Absprache mit James Gordon Bennett Junior.”<br />

“Vom Neuyorker ‘Herald’.”<br />

“Ja. Sie kennen ihn?”<br />

“Ich hatte kurz das Vergnügen. Während der Zeit, als Peary noch für den ‘Herald’<br />

schrieb. Sie wissen, daß ich jetzt mit Peary in Grönland war?”<br />

“Sie hatten es angedeutet. Müssen Sie später mal erzählen. Mir schwirrt jetzt so


viel im Kopfe herum, daß ich mich manchmal frage: Wozu mache ich das alles?”<br />

“Also - wie viel hat Ihnen Hearst denn nun geboten?”<br />

“Unterm Strich fast eine halbe Million Dollar. Dazu all die kommenden Vorträge,<br />

Bücher---”<br />

“Davon verspreche ich mir nicht allzuviel. Und Sie sollten es auch nicht.”<br />

“Trotzdem! Wer den Pol hat, kann Millionär werden.”<br />

“Das hat mir neulich auch jemand einzureden versucht. Es ist hier rein- und dort<br />

wieder rausgegangen.” Ich wies zunächst nach meinem rechten, dann nach dem<br />

linken Ohre. “Millionär können Sie später noch werden. Erst einmal kommt es<br />

darauf an, daß Sie sich Ihrer Haut wehren und Peary in die Schranken weisen, und<br />

zwar gehörig. Das klar erkannt, ist es besser, Sie schlagen Hearsts Angebot aus.”<br />

“May - Mann Gottes, was sagen Sie da!”<br />

“Wenn die Öffentlichkeit Sie für geldgierig hält, sinkt Ihre Glaubwürdigkeit sofort.<br />

Ich sage das aus eigener Erfahrung, glauben Sie mir. Und überhaupt - haben Sie<br />

nicht schon Ihre erste Meldung an Bennett verkauft?”<br />

“Ja. Zweitausend Wörter lang. Gleich von der ersten Funkstation aus, auf den<br />

Shetlandinseln. Er hat sofort zugegriffen und die Kosten für das lange Telegramm<br />

übernommen. Immerhin dreitausend Dollar. Bennett hält zu mir, wenn es wirklich<br />

drauf ankommt.”<br />

“Sehen Sie! Loyalität ist allemal wichtiger als Geld. In der gegenwärtigen Situation<br />

können Sie es sich einfach nicht leisten, das Blatt zu wechseln. Zumal Peary fest<br />

mit der Neuyorker ‘Times’ liiert ist.”<br />

“May, May - in Ihren Händen bin ich Wachs, seit Sie mir im Tivoli die Richtung<br />

gewiesen haben.”<br />

“Nun, so drastisch würde ich das nicht sehen. Ich habe lediglich Vorschläge<br />

gemacht.”<br />

“Und ich habe sie angenommen. Alles hört sich so einfach an.”<br />

“Ist es im Grunde auch.”<br />

“Ich bin wahrscheinlich durch den Wechsel von der absoluten arktischen<br />

Einsamkeit zur Massenherzlichkeit des Empfanges hier in Dänemark überfordert.”<br />

“Ja, manch einem fällt eine solche Umstellung schwer.”<br />

“Schon ehe Sie kamen, habe ich so viele Händedrücke erwidern müssen, daß ich<br />

Angst hatte, an meinen Fingern würde das Fleisch bald bis auf die Knochen<br />

durchgescheuert sein.”<br />

“Eine Art Zivilisationsskorbut. Sie als Arzt sollten das in die wissenschaftliche<br />

Literatur einführen. Da müssen wir beide durch, Cook, beide. Und zwar Seite an<br />

Seite. Doch jetzt werde ich Sie allein lassen. Schreiben Sie weiter, und wir sehen<br />

uns abends beim Galaessen mit Magnifizenz und den Spektabilitäten. Lassen Sie<br />

aber vorher Walt Lonsdale ein entsprechendes Kabel an den ‘Herald’ absetzen.”<br />

Ich stieg in den dritten Stock. Amundsen hatte mich in der Tat erwartet. Er nötigte<br />

mich in einen bequemen Sessel und kam sofort zur Sache. Die Nachricht vom<br />

möglichen Doppelerfolg am Nordpol habe ihn wankend gemacht hinsichtlich seiner


eigenen Pläne. Die “Fram” sei frisch geteert und im wesentlichen schon in einigen<br />

Monaten abfahrbereit, die Dampfmaschine gegen einen Dieselmotor ausgetauscht.<br />

“Wie viele Pferdestärken?” fragte ich, angelegentlich interessiert.<br />

“Dreihundertsechzig. Verstehen Sie denn etwas von diesen Dingen?”<br />

“Der modernen Technik gehört die Zukunft. Seit ich Indianer mit einer<br />

binsengeflochtenen Flugmaschine in den Himmel des sogenannten Wilden<br />

Westens habe aufsteigen sehen, halte ich alles für möglich. Der Fortschritt der<br />

Menschheit ist nur durch deren Selbstzerstörung aufzuhalten.”<br />

“Das mag schon so sein - nur hilft mir das, entschuldigen Sie, im Augenblick nicht<br />

weiter. Was mir am Herzen liegt, ist die Entdeckung einer der letzten<br />

unentdeckten Stellen auf der Erdoberfläche.”<br />

“Sie meinen: die Eroberung--- .”<br />

“Nun - ja. Jedenfalls: des Nordpols.”<br />

“Aber sowohl Peary als auch Ihr Freund Doktor Cook behaupten, bereits am<br />

Nordpol gewesen zu sein.”<br />

“Das ist, wenigstens teilweise, mein Problem. Ich will nicht verspätet dort<br />

ankommen. Sowas rechnet sich nicht. Wenn Sie wissen, was ich meine.” Mir<br />

wurde spätestens an dieser Stelle klar, daß wir einander überaus glänzend<br />

verstanden, obwohl Welten unsere Ansichten trennten. Mit ruhiger Stimme sagte<br />

ich: “Gestatten Sie mir, daß ich als der ältere von uns beiden Ihnen das<br />

freundschaftliche Du anbiete. Ich glaube, gewisse Dinge lassen sich dann<br />

bedeutend einfacher darlegen.”<br />

Roald akzeptierte sofort. Ja, er war über mein Angebot offensichtlich erfreut.<br />

Allerdings hatte er meinen Vornamen als Brian in Erinnerung - keine sonderliche<br />

Empfehlung für sein Erinnerungsvermögen und wohl auch eine Folge von Cooks<br />

zerstreuter Knappheit, als er uns miteinander bekanntgemacht. Sobald ich dies zu<br />

korrigieren Gelegenheit genommen, ging es zügig voran.<br />

“Glaubst du wirklich, Karl, daß Peary am Pol war?”<br />

“Was heißt glauben? Sobald er der Weltöffentlichkeit seine Meßwerte zur Prüfung<br />

vorlegt---”<br />

“Irgendwie bewundere ich ihn. Seit mehr als zwanzig Jahren geht er ins Eis des<br />

Nordens, neun Zehen hat er durch Erfrierung verloren. Und nun dieser Erfolg!”<br />

“Sobald er der Weltöffentlichkeit seine Meßwerte zur Prüfung vorlegt hat und<br />

diese für gut befunden sind, wird jeder Zweifel daran, daß er am Pol war, ja sogar<br />

jedes bessere Wissen verstummen. Dann werde auch ich es wohl oder übel<br />

hinnehmen müssen.”<br />

“Du hast also - Bedenken?”<br />

“Die habe ich allerdings.”<br />

“Ob er nun am Pol war oder nicht - die arktische Forschung verdankt ihm<br />

unendlich viel! Nimm nur mal die Idee, den Transport von Vorräten durch eine<br />

Staffette von Schlitten besorgen zu lassen, die dann am letzten Vorstoß gar nicht<br />

beteiligt sind. Die Peary-Methode---!”<br />

“Die bitte was?” Ich saß da wie vom Blitze getroffen. Der überschwengliche


Begeisterungsausbruch meines neuen Freundes brachte es an den Tag: er hatte<br />

allerdings keins meiner Bücher gelesen. Dafür kannte Peary sich in ihnen offenbar<br />

umso besser aus. Denn was Roald da soeben als Peary-Methode beschrieb, hatte<br />

ich schon praktiziert, als ich noch gemeinsam mit Winnetou und Old Surehand im<br />

Llano Estacado eine Reiterkette Wasser von einer Oase herbeischaffen ließ. Doch<br />

war dies nicht der Augenblick, derlei Dinge richtigzustellen; das würde ohnehin im<br />

Urteil der Geschichte passieren. So gelassen wie möglich sagte ich: “Sicher hat<br />

Peary in der Arktik Bleibendes geleistet - ganz unabhängig davon, ob er nun am<br />

Pol gewesen ist.”<br />

“Und Cook? Er ist ein alter Freund von mir, wir haben so manches Schlimme<br />

gemeinsam durchgemacht damals in der Antarktik.”<br />

“Dazu hat er dir sein Wort gegeben, daß er am Nordpol war.”<br />

“Das hat er. Doch klang, was er sagte, mir nicht sehr glaubhaft.”<br />

“Diesen Eindruck teile ich allerdings, Roald. Ich muß zugeben, daß ich völlig<br />

unbeabsichtigt einen Teil eurer Unterhaltung aus dem Nebenzimmer belauscht<br />

habe - ehe Doktor Cook mich zu euch rief.”<br />

“Mit Fred war vorhin ja nicht vernünftig zu reden. Er verbirgt irgendetwas. Wir<br />

haben im antarktischen Winter monatelang auf engstem Raum nebeneinander<br />

gehockt. Da spürt man sowas.”<br />

“Dein Gefühl trügt dich nicht. Ich denke, er ist einfach überfordert - und zwar<br />

gleichermaßen von dem, was er von der Zukunft erwartet wie von dem, was er in<br />

der Arktik erlebt hat.”<br />

“Wenn ich doch nur wüßte, was er mir verheimlicht!”<br />

“Ich weiß es”, sagte ich mit Bestimmtheit und erzählte in knappen Worten, wie<br />

ich einen von Cooks Poleskimos hatte sagen hören, der Doktor sei mit ihnen zu<br />

keinem Zeitpunkt außerhalb der Sichtweite von Land gewesen.<br />

Zunächst schien, was ich gesagt, Roald die Sprache verschlagen zu haben. Doch<br />

hatte er sich schnell wieder in der Gewalt und sagte: “Gut. Wenn Fred nicht am<br />

Nordpol war, bleibt immer noch Peary. Ich würde als Zweiter dort ankommen und<br />

nicht als Dritter. Kein gewaltiger Unterschied. Die Geschichte erinnert sich immer<br />

nur an die Ersten. Sie sind die Sieger. Hast du keine Lösung für mein Problem? Du<br />

wirktest von Anfang an so vertrauenseinflößend auf mich.”<br />

“Ich glaube, Roald, du solltest tun, was du nun einmal tun willst. Du willst einen<br />

Polsieg - also siege am Pol.”<br />

“Aber da waren doch schon zwei. Oder wenigstens einer. Jedenfalls<br />

möglicherweise.”<br />

“Wo will dieser eine gewesen sein? Überleg doch mal!”<br />

“Na - am Nordpol.”<br />

“Eben.”<br />

“Was heißt denn das, Karl?”<br />

“Du kommst nicht drauf? Bist doch ein unabhängiger Geist, wie mir scheint.”<br />

“Ich habe es jedenfalls immer von mir geglaubt.”<br />

“Na also. Und wie viele Pole hat die Erde?”


“Nein - das kann ich nicht machen.” Er zögerte sichtlich, doch schien er<br />

verstanden zu haben. “Nein, das geht auf gar keinen Fall”, bekräftigte er. “Zur<br />

vollständigen Finanzierung des Nordpolunternehmens fehlen mir zwar noch immer<br />

erhebliche Mittel, aber wenigstens hat das Storting den Umbau der ‘Fram’ mit<br />

Hilfe von Steuergeldern finanziert, Nansen hat für mich gebürgt, selbst das<br />

Königspaar hat die Reise zum Nordpol mit Geld unterstützt - da kann ich doch<br />

jetzt unmöglich sagen: Irrtum, ich fahre zum Südpol! Denn das meinst du doch,<br />

Karl?”<br />

“Allerdings. Genau das meine ich. Der Südpol ist nach Lage der Dinge der einzige<br />

noch nicht von Menschen erreichte geographische Pol unserer Erde, Roald.”<br />

“Aus London habe ich sichere Nachricht, daß Scott eine Expedition dorthin<br />

vorbereitet.”<br />

“Das war nach Shackletons vorzeitiger Umkehr zu erwarten.”<br />

“Es wird, wie ich aus glaubwürdiger Quelle weiß, nächste Woche in den Zeitungen<br />

stehen.”<br />

“Ein Grund mehr, nicht lange zu zögern.” Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück<br />

und schaute auf Kapitän Roald Amundsen. Der Mann, der als erster die seit<br />

Jahrhunderten umkämpfte Nordwestpassage bezwungen hatte, focht einen inneren<br />

Kampf aus, welcher jenem von ihm dort oben in Nacht und Eis ausgestandenen an<br />

Heftigkeit und Kraftaufwand in nichts nachstand. Er hielt die Augen geschlossen,<br />

legte die Stirn in Falten, schürzte schließlich die Lippen, schüttelte energisch den<br />

Kopf und sagte, mit beiden Fäusten die Lehnen seines Sessels bearbeitend: “Nein,<br />

nein, nein! Es geht nicht.”<br />

“Was geht nicht?”<br />

“Daß ich plötzlich der Welt erkläre: ich fahre zum Südpol, weil am Nordpol schon<br />

jemand gewesen ist. Cook. Oder Peary. Von mir aus auch beide, wenns recht ist.”<br />

“Nun, wenn das so ist, daß das nicht geht, Roald, will ich dir etwas anvertrauen,<br />

was noch niemand weiß. Ich habe dir schon gesagt, was ich von Cooks Eskimo<br />

erfahren mußte. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Auch Peary ist nicht am<br />

Nordpol gewesen.”<br />

“Was sagst du da? Zu schön, um wahr zu sein. Aber - woher willst du das<br />

wissen?”<br />

“Ich weiß es eben.”<br />

“Und kannst es natürlich beweisen.”<br />

“Ich weiß es. Mir ist das Beweis genug. Und du hast gesagt, du hättest Vertrauen<br />

zu mir.”<br />

“Na - dann ist ja alles im Lot. Weder Fred Cook noch Peary waren am Nordpol.”<br />

“Richtig.”<br />

“Nichts braucht sich an meinen Plänen zu ändern. Der Nordpol ist unerreicht, ich<br />

brauche nur---” Er war aufgesprungen. Mit ausgebreiteten Armen stand er da, als<br />

wolle er die ganze Welt umarmen. Ich mußte ihn schleunigst auf den Boden der<br />

Tatsachen zurückbringen.<br />

“Der Nordpol ist erreicht, Roald.”


Er ließ die Arme sinken. Enttäuschung legte sich auf seine Züge. “Aber - du sagtest<br />

doch eben, weder Peary noch Cook seien dort gewesen. Also ist der Pol<br />

unerreicht, ich werde der erste sein.”<br />

“Das stimmt nur, wenn du den Südpol meinst.”<br />

“Was soll das nun schon wieder? Warum soll ich Nansen und König und Königin<br />

und das Parlament und all die anderen vor den Kopf stoßen müssen, die Geld und<br />

Vertrauen in mein Unternehmen gesteckt haben - wenn ich doch getrost wie<br />

geplant mit der ‘Fram’ zum Nordpol driften und dort als erster Mensch, der<br />

diesen Punkt je besucht hat, die norwegische Fahne aufpflanzen kann, ganz wie ich<br />

es ihnen versprochen habe?”<br />

Mich schauderte. Ob Cooks und Pearys Stars and Stripes oder aber das<br />

Norwegerkreuz - wo war da der Unterschied! Der ganze Jammer herkömmlichen<br />

Entdeckerdenkens packte mich an, welcher in seinen Worten gelegen. Ich mußte -<br />

ich würde ihm die Wahrheit sagen. Und zwar sogleich, jetzt.<br />

“Als Fahnenaufpflanzer wärest du freilich der erste. Doch nicht als Besucher.”<br />

“Du sprichst in Rätseln!”<br />

“--- die eine ganz einfache Lösung haben.”<br />

“Eine ganz einfache? Da bin ich aber gespannt.”<br />

“Ja, eine ganz einfache. Ich - ich bin am Nordpol gewesen.” Kurz umriß ich, was<br />

ich als Eskimo aus Pearys Gefolge in der Arktik erlebt; wie ich schließlich als<br />

einziger Expeditionsteilnehmer wirklich den Nordpol erreicht; daß ich eigentlich<br />

vorgehabt, nie jemandem auch nur ein Sterbenswörtchen von meinem Alleingang<br />

zum Pole zu sagen, daß mich aber seine ratlose Verzweiflung dazu gezwungen,<br />

diese Absicht fallenzulassen. Doch bat ich ihn, was er nun wisse, für sich zu<br />

behalten. Was er, stumm nickend, versprach.<br />

Die Erschütterung über das Gehörte wich nur langsam von ihm. Interessant, daß<br />

der erste Gedanke, den zu äußern er wieder imstande war, nicht seiner eigenen<br />

Lage galt. “Da sieh doch einer diesen Peary an! Für so durchtrieben hätte ich ihn<br />

gar nicht gehalten. Kehrt um, weil der Pemmikan langsam alle wird und pflanzt<br />

trotzdem trutzig die Fahne auf und sagt sich und der Welt: Dies ist der Pol!” In<br />

seinen Worten schwang jene Bewunderung für Peary mit, der er vorhin aufs<br />

beredteste Ausdruck gegeben.<br />

“Ich nenne so etwas betrügerisch und unmoralisch im höchsten Maße!”<br />

protestierte ich. “Das ist ja, als hätte ich mein Leben lang der Welt weisgemacht,<br />

all die Örtlichkeiten aus persönlicher Anschauung zu kennen, an denen meine<br />

Bücher spielen - und wäre in Wahrheit nie dort gewesen! Unvorstellbar!”<br />

“Für mich hört es sich eher wie eine Notlüge an. Und so etwas muß doch wohl<br />

noch erlaubt sein.”<br />

“Notlüge - inwiefern?”<br />

“Peary weiß, daß der Weg zurück zum Schiff nicht zu schaffen sein wird, wenn er<br />

euch weitermarschieren läßt. Also bläst er zur Umkehr. Der Mann ist ein Held!”<br />

“Die Absicht, unserer Expedition das Überleben zu sichern, wäre auch erfüllt<br />

worden, hätte er daran nicht seine Lüge vom Polsieg geknüpft. Nun - wie dem auch


sei, Roald, du weißt nun alles, was du für einen Entschschluß in deiner eigenen<br />

Sache wissen mußt. Treffen mußt du diese Entscheidung allerdings ganz allein.<br />

Dabei kann ich dir nicht mehr helfen.”<br />

“Ich danke dir jedenfalls. Und - ich gratuliere zur Entdeckung des Nordpols!” Er<br />

sprang auf, verbeugte sich kurz und streckte mir mit förmlicher Geste die Hand<br />

entgegen, doch ergriff ich dieselbe nicht und blieb sitzen. “Laß mal, laß mal. Ist<br />

schon gut”, sagte ich. “Viel wichtiger ist jetzt, daß du dich richtig entscheidest.<br />

Und daß du es bald tust.”<br />

Er setzte sich wieder. “Mein Entschluß wird durch das, was du mir gesagt hast,<br />

wesentlich erleichtert.” Er lächelte. “Ich danke dir nochmals. Zum frühest<br />

möglichen Zeitpunkt werde ich mit der ‘Fram’ zum Südpol aufbrechen.”<br />

“Das nenne ich eine klare Entscheidung. Was wirst du der Öffentlichkeit sagen?”<br />

“Da ich ohnehin vorhatte, die Drift zum Nordpol nach Durchsegeln der<br />

Beringstraße zu beginnen, nicht wie Nansen an Nordkap und Lenamündung vorbei,<br />

merkt am Anfang niemand etwas von meiner geänderten Absicht. Solange der<br />

Kanal von Panama noch nicht fertiggestellt ist, muß ich schließlich in jedem Falle<br />

zunächst in den Südatlantik - ganz gleich, ob ich von dort um Kap Hoorn und<br />

anschließend ins Beringmeer oder aber in die Antarktik fahre. Wenn ich am Südpol<br />

erfolgreich bin und Scott zuvorkomme, ist nichts zu befürchten. Den Sieger fragt<br />

niemand nach seinen Beweggründen. Nur eins wird bestraft: Erfolglosigkeit.”<br />

“Ist das nicht reichlich zynisch?”<br />

“Das kann man so sehen. Man kann aber auch sagen: es ist realistisch.” Er war<br />

plötzlich aufgelebt und schritt erregt auf und ab. “Mir wird schon etwas einfallen,<br />

die Gemüter zu beruhigen. Ich könnte zum Beispiel sagen: Um die Nordpolfahrt<br />

vollständig finanzieren zu können, mußte ich zuerst den Südpol haben. Das Geld<br />

von Vorträgen, Büchern---”<br />

“--- Zeitungsrechten. Ja, das klingt glaubhaft.”<br />

“Ein Erfolg am Südpol wird die Spendenfreudigkeit meiner lieben Landsleute<br />

neuen, ungeahnten Höhen entgegenführen.”<br />

“Na, dann wünsche ich Glück bei der Sache! Und vergiß nicht, die Hunde zu<br />

bestellen. Wohin werden die lieben Tierchen denn geliefert?”<br />

“In einen norwegischen Hafen meiner Wahl, Mitte kommenden Jahres. Ich dachte<br />

an Kristiansand.”<br />

“Hört sich sehr vielversprechend an. Wie viele wirst du ordern?”<br />

“Hundert.”<br />

“Ausgezeichnet! Die laufen zum Südpol genauso geduldig wie über das Eis der<br />

Arktik.” Ich erhob mich. “Und jetzt darf ich mich verabschieden. Dein Freund -<br />

mein Schützling Cook - hat nachher das Kreuzfeuer der Fragen dänischer<br />

Professoren und Universitätsgewaltiger zu bestehen. Da gibt es noch einiges<br />

anzudenken und im Stillen vorzubereiten.” Wir schieden mit einem Händedruck in<br />

herzlichem Einvernehmen.<br />

Die Überfahrt nach Neuyork war eine stürmische - nicht nur wettermäßig. Zum


Luxus an Bord der “Oscar II.” gehörte - jedenfalls solange das Schiff in Reichweite<br />

der Küstenfunkstationen war - die Möglichkeit einer Nutzung des drahtlosen<br />

Marconi-Telegrafen. So blieben wir zunächst mit der Welt verbunden. Dieser<br />

Umstand hatte allerdings nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile. Zu den Vorteilen<br />

zählte zweifellos die Gelegenheit für ein klärendes Telegramm an meine Frau.<br />

Nachts bei der Durchfahrt zwischen Shetland- und Orkney-Inseln einsam an Deck<br />

stehend, den im Mondlicht vorüberrollenden Wellen nachschauend, hatte ich alle<br />

Gesichtspunkte meiner Entdeckung bei jenem unverhofften - und unbemerkten -<br />

Auftauchen in Radebeul noch einmal überdacht. Ich hielt es für unbillig, voreilig<br />

endgültige Schlüsse zu ziehen und ließ daher, kaum hatte die “Oscar II.” im<br />

Morgendämmer die gischtumtobte Felseninsel Fair Isle passiert, folgenden<br />

Funkspruch absetzen: “Frau Klara May Radebeul Sachsen Villa Shatterhand Stop<br />

Angelegenheit Filmkonsortium nicht ueberstuerzen Stop Bin auf dem Weg nach<br />

Neuyork Stop Behalte mir Kontaktaufnahme Edison vor Stop Informiere<br />

Fehsenfeld Sytin Minckwitz etc Stop Kontakte Muenchmeyer Emma etc<br />

umgehend abbrechen Stop Drahtantwort Hotel Waldorf Astoria Stop Alles Liebe<br />

Scharlih Stop.” Sollte das Herzle doch rätseln, woher meine Informationen<br />

stammten - ich mußte erst einmal klare Verhältnisse schaffen. In Amerika den<br />

rührigen Erfinder Edinson in seinem Wissenschaftsparadies Menlo Park<br />

aufzusuchen, um mit ihm über die Verfilmung meiner Werke zu sprechen, fiel mir<br />

nicht im Traum ein - dieser Hinweis von mir war eine bewußt ausgelegte falsche<br />

Fährte zur Irreführung der Verschwörer daheim. Ich konnte doch, nur weil ich<br />

nicht rechtzeitig selbst zur Stelle war, die Dinge unmöglich ihren verhängnisvollen<br />

Lauf nehmen lassen!<br />

Zu den größten Nachteilen des Verbundenseins mit dem Weltgeschehen durch den<br />

Funktelegrafen gehörte, daß uns Pearys Anfeindungen auch auf hoher See<br />

erreichten. Er schoß sich hartnäckig auf den Gegner Cook ein. Sich zunächst in<br />

kleinen Spitzen gegen den Lügner Cook entladend, ließen sie deutlich die Taktik<br />

erkennen, Zeit zu gewinnen und inzwischen so viel wie möglich über Cooks Reise<br />

in der polnahen Gegend zu erfahren. Es war unschwer auszumachen, daß Peary<br />

vorhatte, mangels eigener Ergebnisse aus der direkten Umgebung des Pols gewisse<br />

Beobachtungen seines Widersachers als die seinen zu verkaufen. Ein zäher,<br />

unappetitlicher Vorgang. Lediglich das Funkloch in der Mitte des Atlantischen<br />

Ozeans bescherte uns vorübergehend Ruhe. Cook und ich nutzten diese wenigen<br />

Tage, umsorgt von Lonsdales Dienstbarkeit, zu langen Gesprächen und<br />

ausgiebigem Schlaf, den wir beide bitter nötig hatten. Allerdings muß ich der<br />

Vollständigkeit halber anführen, daß Doktor Cook während der ersten Tage an<br />

Bord von der Seekrankheit böse heimgesucht wurde .<br />

Sobald wir uns der Höhe von Neufundland näherten, besserte sich das Wetter. An<br />

der Seite des in seinem Liegestuhl entspannt schnarchenden Cook genoß ich die<br />

fahle Mittagssonne, die zaghaft hinter vorbeihastenden Wolkenfetzen hervorlugte.<br />

Mein Lager war bequem und - dies sei zum Lobe des Schiffspersonals gesagt - die<br />

Decken waren so zahlreich und mollig, daß ich mich besser gegen die Kälte


geschützt fühlte als zu manchem Zeitpunkte meines arktischen Abenteuers. Ich<br />

hatte eben für einen Moment die Augen geschlossen, als ich plötzlich Lonsdale<br />

sich über mir räuspern hörte. Ich wandte den Kopf und fragte, ohne zunächst die<br />

Augen zu öffnen: “Was gibt es denn, Walt?”<br />

“Ich muß um Verzeihung bitten, Karl. Mir wurde soeben diese Depesche an<br />

Doktor Cook übergeben.”<br />

“Die Funkstille ist wohl zu Ende!” sagte ich und setzte mich ruckartig auf.<br />

“Soll ich den Doktor wecken?” fragte Lonsdale, doch ich schüttelte den Kopf und<br />

sagte so leise wie möglich:“Lassen Sie ihn ruhig noch schlafen. Er wird ausgeruhte<br />

Nerven bald bitter nötig haben. Geben Sie her.”<br />

Ich griff nach dem Blatte in seiner Hand. Es war eins der üblichen grünen<br />

Formblätter, auf denen die für Passagiere bestimmten Nachrichten aus der<br />

Funkerkabine an Deck kamen. “Doktor Frederick Cook care of Scandinavian<br />

America Line Steamship Oscar Two”, las ich. “Newyork times September 11<br />

veroeffentlicht folgende Erklaerung Pearys Stop.” Mein Blick hastete den Text<br />

hinab, ohne ihn zunächst überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ich suchte erst<br />

einmal den Absender und las nach dem Hinweis, daß um sofortige Antwort<br />

nachgesucht werde, die Unterschrift: JGB. Das war James Gordon Bennett; die<br />

Angelegenheit war beim “Herald” zur Chefsache deklariert - so hatte ich es mir<br />

von Anfang an gewünscht.<br />

Pearys Erklärung überraschte mich nicht; der volle Text lautete: “Es sollte keine<br />

Zeit damit vertan werden, Cooks Behauptung, am 21. April 1908 am Pol gewesen<br />

zu sein, zu widerlegen. Er kann sie ohnehin nicht beweisen. Die Sache wird sich<br />

von selbst erledigen. Er hat weder zu dem genannten noch zu irgendeinem anderen<br />

Zeitpunkt den Pol erreicht.” Und dann stand dort doch tatsächlich wortwörtlich<br />

der Satz, den ich Cook im Kopenhagener Restaurant “Divan” auf dem Weg von<br />

der Toilette zurück in den Saal gerade noch hatte ausreden können: “He has<br />

simply handed the public a gold brick Stop.” Bei aller Kompliziertheit der Lage<br />

mußte ich nun doch lächeln. Er hat der Öffentlichkeit einfach einen goldenen<br />

Ziegelstein angedreht--- . Die beiden Heißsporne nahmen einander nichts in ihrer<br />

grenzenlosen Verbohrtheit. Umso wichtiger war, daß ich einen klaren Blick für das<br />

Geschehen behielt.<br />

“Haben Sie etwas zum Schreiben?” fragte ich Walt kurz entschlossen.<br />

“Ja.” Lonsdale stellte sich breitbeinig hin, fertig zur Diktataufnahme.<br />

“Geben Sie dieses sogleich an JGB auf: Nicht durch Pearys Erklaerung<br />

verunsichern lassen Stop Landung Manhattan uebermorgen Stop Zuversicht<br />

Cook.”<br />

Kaum war Walt zur Funkerkabine aufgebrochen, wurde ich unsicher. War es<br />

überhaupt möglich, in zwei Tagen in Neuyork zu sein? Ich hatte von<br />

seemännischen Dingen nie sonderlich Ahnung. Doch wenn es irgendwie zu<br />

schaffen war, mußte es uns gelingen. Wir konnten unseren wichtigsten Trumpf,<br />

den zeitlichen Vorsprung vor Peary, nicht leichtsinnig aus der Hand geben. Ich<br />

mußte mich dafür der Hilfe des Kapitäns versichern, und zwar sofort.


Entschlossen warf ich die Decken zur Seite und stand auf.<br />

Erst jetzt spürte ich das leichte Schwanken des Decks unter mir. Ich griff nach<br />

einem Handlauf und schritt hurtig voran. Auf dem Weg zur Brücke nickten mir<br />

andere Passagiere angelegentlich zu. Man kam Doktor Cook - und mit ihm seiner<br />

Begleitung und also auch mir - an Bord insgesamt äußerst freundlich entgegen.<br />

Doch war das noch kein Probefall dafür, wie die Stimmung in den Staaten sein<br />

würde, man war hier auf ebendie Meldungen angewiesen, die wir über Funk<br />

erhielten. Und die waren sicherlich nur ein kleiner Ausschnitt aus dem breiten<br />

Spektrum dessen, was das amerikanische Publikum insgesamt vorgesetzt bekam.<br />

Nachdem mich der Erste Schiffsoffizier in Empfang genommen und gemeldet hatte,<br />

durfte ich sogleich eintreten. Der Kapitän stand über den Kartentisch gebeugt, in<br />

der Linken den Stechzirkel. Er nahm, sobald ich vor ihm stand, mit der freien Hand<br />

seine Brille ab und fragte mit leichter Verbeugung: “Womit kann ich Ihnen dienen,<br />

Herr Doktor May?”<br />

“Ich möchte vorausschicken, daß ich mich bei Ihnen an Bord sehr wohl fühle und<br />

am liebsten für immer und ewig so fortfahren würde - aufmerksamst umsorgt und<br />

mit den Stürmen der Welt nur durch den Funktelegrafen verbunden.”<br />

“Das freut mich aufrichtig. Wir von der Scandinavian America Line sind ständig<br />

bestrebt, all unseren Passagieren---”<br />

“Das glaube ich gern”, unterbrach ich ihn. “Man fühlt das in der Tat, Herr<br />

Kapitän. Ich denke, jeder Ihrer Passagiere spürt dieses Bemühen am eigenen Leibe<br />

auf das Wohltuendste. Doch gibt es da ein Problem, das ich gerne mit Ihnen<br />

besprochen hätte.”<br />

“Ich bin ganz Ohr, lieber Herr Doktor!”<br />

“Kurz gesagt: in Neuyork wird die Ankunft von Herrn Doktor Cook mit großem<br />

Pomp vorbereitet. Wann, denken Sie, werden wir in Manhattan sein können?”<br />

“Wenn wir weiter so gute Fahrt machen wie bisher und das Wetter uns keinen<br />

Strich durch die Rechnung macht - in drei Tagen.”<br />

Ich war baff vor Schrecken. JGB würde mein Telegramm ganz sicher zum Anlaß<br />

nehmen, die von mir soeben gegenüber dem Kapitän erwähnten Feiern zu Cooks<br />

Empfang für übermorgen vorzubereiten. Und wir wären dann nach Lage der Dinge<br />

noch gar nicht zur Stelle! Die zum Winken und Hurrarufen herbeigeeilten<br />

Schaulustigen würden umsonst auf uns warten: Schulklassen mit ihren Lehrern,<br />

Ladenschwengel und Bürodamen, Bürger mit ihren Familien, Rechtsanwälte,<br />

Ärzte, Kutscher, Börsenmakler--- . Eine Katastrophe! Nichts war für Begeisterung<br />

tötender als hingehalten und auf den nächsten Tag vertröstet zu werden.<br />

Um meine Erstarrung zu überwinden, räusperte ich mich kurz. “Und es würde<br />

nicht möglich sein, unsere Ankunft um einen Tag - nun, sagen wir: vorzuverlegen?”<br />

Der Kapitän legte den Stechzirkel beiseite. Er griff mit der Rechten nach seinem<br />

gepflegten Knebelbarte und sagte zunächst nur: “Hm.” Mehr nicht. Doch war sein<br />

angestrengtes Nachdenken förmlich zu spüren. Auch die Offiziere am Kartentisch<br />

hatten mittlerweile ihre Meßinstrumente abgelegt. Einer von ihnen gab dem<br />

Rudergast leise einen Befehl, den der Mann mit kurzem Kopfnicken bestätigte und


durch ein leichtes Drehen des Rades, auf dem seine Hände ruhten, sofort<br />

ausführte.<br />

“Hm”, sagte der Kapitän nochmals. Und dann: “Ich denke, das läßt sich machen.<br />

Um einen Tag, sagen Sie?”<br />

“Ja.”<br />

“Das würde bedeuten, wir müßten hundert Tonnen mehr Kohle verfeuern. Ich<br />

nenne nur einmal die Größenordnung.”<br />

“Selbstverständlich. Plus oder minus zwanzig Prozent - ich meine: in etwa?”<br />

“Allerhöchstens!”<br />

“Dann machen wir das so. Setzen Sie die extra verfeuerten Brennstoffe mit auf<br />

Doktor Cooks Rechnung.” Wir besiegelten die Angelegenheit mit Handschlag.<br />

Ich beeilte mich, zurück auf meinen Liegestuhl zu gelangen. Cook schlief noch<br />

immer. Ich wickelte mich in die Decken und genoß die würzige Seeluft. Mein<br />

Heimatstädtchen Ernstthal kam mir in den Sinn, eingebettet in die Berge seiner<br />

Umgebung. Wehmutsvoll gab ich mich meinen Gedanken hin. Wer wie ich aus dem<br />

sächsischen Gebirge stammt, erinnert sich auf Hoher See beim Anblick der<br />

Wellenberge nur allzu leicht jener Gegenden, in denen er seine frühen Jahre<br />

verbrachte sowie der Menschen, die er dort einst gekannt.<br />

Das Beben des Schiffskörpers, welches bisher so leicht gewesen, daß man es vom<br />

Schwanken unseres Gefährts auf den Wellen kaum zu trennen vermochte, nahm<br />

auf einmal beträchtlich zu. Das Schiff schien in gewaltigem Satze mit einem<br />

Seufzer voranzuspringen. Ich genoß das Gefühl, wieder einmal die Dinge um mich<br />

herum nicht einfach auf sich beruhen gelassen, sondern dank meiner Entschlußkraft<br />

zum Bessern gewendet zu haben.<br />

Sobald Cook die Augen aufschlug, setzte ich ihn von dem Geschehen und von<br />

meinen Anordnungen in Kenntnis. Er billigte mein Vorgehen uneingeschränkt.<br />

Über Pearys ehrenrührige Stänkereien war er entsetzt: “He handed the<br />

public a gold brick - so etwas äußert ein Gentleman einfach nicht über einen<br />

anderen Gentleman.”<br />

“Das scheint mir allerdings das Hauptproblem der Auseinandersetzung zwischen<br />

Ihnen und Peary zu sein: er hält Sie nicht für einen Gentleman, sondern nur sich<br />

ganz allein. Und er möchte die Welt dieses wissen lassen.”<br />

“Das kann er doch aber auch anders. Ich meine, ohne sich selbst dabei zu<br />

diskreditieren - und erst recht vor der Presse!” Er setzte sich auf und schüttelte<br />

verständnislos mißbilligend den Kopf. An seine eigene Bereitschaft, in<br />

Kopenhagens Restaurant “Divan” den versammelten Zeitungsleuten aus aller Welt<br />

goldene Ziegelsteine an Pearys Adresse verteilen zu wollen, schien er sich nicht<br />

mehr zu erinnern. Ich bin meinem Schöpfer dankbar, mich vor so fragwürdiger<br />

Vergeßlichkeit bewahrt zu haben, die sich an den Notwendigkeiten des<br />

Augenblicks ausrichtet.<br />

Nach Cooks Notizen und einem hastig niedergeschriebenen Entwurf von der Hand<br />

des Doktors diktierte ich Lonsdale am Nachmittag einen Artikel für den “Herald”,


welcher sogleich als drahtloses Marconi-Telegramm abgesetzt wurde. Am<br />

nächsten Tage - wir saßen eben beim gemeinsamen Lunch - trat der Funker an<br />

unseren Tisch und reichte Cook einen grünen Bogen. “Kam soeben vom ‘Herald’<br />

für Sie, Doc”, sagte er.<br />

Ich bat Cook, der den Text schnell überflogen hatte, um das Telegramm. Er reichte<br />

es mir schulterzuckend: es war JGBs Antwort auf die Depeschen vom Vortage.<br />

“Teile Ihre Zuversicht Stop Artikel wird redaktionell aufgefrischt Stop Benoetigen<br />

zwecks Vorbereitung Ankunftszeremoniell einen Tag laenger als geplant Stop<br />

Koennen Sie Schiff so lange aufhalten Stop Dringantwortet JGB Stop”.<br />

“Das erledige ich”, sagte ich mit Bestimmtheit. Ich faltete sorgfältig meine<br />

Serviette und ging sogleich zum Kapitän, welcher ebenfalls gerade lunchte. Er war<br />

allein, sieht man vom Steward ab, der ihm aufwartete.<br />

“Wie viele Tonnen Kohle wurden inzwischen zusätzlich verfeuert?” fragte ich.<br />

“Das muß ich erst feststellen lassen. Müssen Sie es denn ausgerechnet jetzt sofort<br />

wissen?”<br />

“Ich frage nie grundlos. Allerdings kann ich warten, bis Sie Ihr Mittagbrot beendet<br />

haben.”<br />

Er bot mir einen Platz am Tische an. Ein Glas Tee, das der Steward wortlos vor<br />

mich hinstellte, schob ich ungeduldig beiseite. “Es haben sich neue Gesichtspunkte<br />

ergeben, die mir gestern noch nicht bekannt waren”, sagte ich.<br />

Der Kapitän wischte mit einer Brotrinde Eigelb und Bratensoße von seinem Teller,<br />

führte den Bissen zum Munde und kaute genußvoll daran. “So - neue<br />

Gesichtspunkte! Dachte ich’s mir doch, daß Doktor Cook Sie zurückpfeifen<br />

würde.”<br />

“Warum sollte er das?”<br />

“Ein teurer Spaß, den Sie da in seinem Namen geordert haben. Egal, wieviele<br />

Tonnen Zusatzkohle es bis zur Stunde genau sind.”<br />

“Sie verkennen die Sachlage, Herr Kapitän! Es geht nicht um die Kosten - es geht<br />

einzig und allein darum, daß wir morgen noch nicht in Neuyork eintreffen dürfen.”<br />

“Und warum nicht, wenn ich fragen darf?”<br />

“Die Empfangsvorbereitungen für - nun, für den Entdecker des Nordpols sind erst<br />

übermorgen abgeschlossen.”<br />

“So - die Empfangsvorbereitungen, sieh einer an! Na, da bleibt wohl nichts anderes<br />

übrig als wieder auf unsere normale Geschwindigkeit zurückzugehen.”<br />

“Aber - haben wir nicht inzwischen schon zu viel aufgeholt? Ich meine, Sie sind<br />

der Fachmann, doch möchte ich zu bedenken geben, daß wir immerhin seit<br />

geraumer Zeit dahinbrausen, als gelte es das Blaue Band zu erobern.”<br />

“Es war Ihr Wille, Herr Doktor May.”<br />

“Das verhält sich durchaus so, wie Sie sagen. Und doch muß ich Sie nunmehr<br />

ersuchen, unsere Ankunft in Neuyork so einzurichten, daß diese erst übermorgen<br />

erfolgt, zeitgleich mit dem Abschluß der Begrüßungsvorbereitungen. Auf keinen<br />

Fall früher.”<br />

“So - zeitgleich also. Nun, ich denke, auch das wird sich machen lassen.” Dem


Steward gab er Anweisung, den Tisch abzuräumen und ließ sodann den Ersten<br />

Offizier rufen.<br />

Sobald dieser erschienen war, fragte er ihn nach dem zusätzlichen Kohleverbrauch<br />

seit Beginn der beschleunigten Fahrt. Er wiederholte die Zahl noch einmal für<br />

mich, doch ich widmete ihr keine Aufmerksamkeit. Details haben mich noch nie<br />

interessiert, lediglich das Ergebnis. Ich nippte an dem inzwischen kalt gewordenen<br />

Tee. Da kam endlich des Kapitäns Befehl: “Wir gehen über Nacht bei Shelter<br />

Island vor Anker. Weiterfahrt so, daß wir erst übermorgen in Manhattan anlegen.”<br />

An mich gewandt fügte er hinzu: “Shelter Island liegt in der Abdeckung von Long<br />

Island. Ich hoffe, Sie sind mit dieser Regelung einverstanden?”<br />

Ich stand auf, verbeugte mich und sagte, nachdem ich mich kurz bedankt: “Es war<br />

mir ein Vergnügen, Herr Kapitän.” Damit empfahl ich mich.<br />

Die Nacht verlief ruhig, sieht man von einigem Lärm in der Ferne ab, der die<br />

Großstadt erahnen ließ. Dieser vervielfachte sich naturgemäß noch während des<br />

Wartens am nächsten Tage. In mir wuchs die Ungeduld. Es gab nicht viel zu<br />

packen, also pflegte ich ausgiebig der Ruhe. Wer konnte denn wissen, was an Land<br />

auf uns wartete.<br />

Mit dem Lotsen kamen die ersten Zeitungen an Bord, darunter der “Herald”. Mein<br />

redaktionell aufgefrischter Artikel war erheblich verschlimmbessert, will sagen:<br />

man hatte ihn agressiver, ja: feindseliger gestaltet, als dies je meine Absicht<br />

gewesen. Der Beitrag war flankiert von einem JGB gezeichneten Kasten, der hart<br />

mit Pearys Praktiken sowie denen des Konkurrenzblattes “Times” ins Gericht<br />

ging. Ich komme nicht umhin, hier wenigstens eine Kostprobe davon zu liefern; sie<br />

mag stellvertretend für viele ätzende Zeilen stehen, welche damals in beide<br />

Richtungen gingen. “Mister Peary hat an die Adresse unseres Blattes<br />

unmißverständliche Drohungen ausgesprochen, falls wir Doktor Cook eine<br />

Möglichkeit geben, seine Berichte vom Nordpol der Öffentlichkeit vorzulegen”,<br />

hieß es. Und weiter: “Inzwischen lassen Pearys Darstellungen des eigenen<br />

Polabenteuers nach wie vor auf sich warten. Stattdessen bringt sein Leib-und-<br />

Magen-Blatt, die ‘New York Times’, pausenlos Anschuldigungen und Haßtiraden<br />

gegen Doktor Cook - sowohl direkt von Peary stammende als auch solche aus der<br />

Feder von ‘Times’-Leuten. Es ist bedauerlich, daß sich Journalisten zu derlei<br />

Manövern hergeben. Sie verstricken sich mit jedem Tage hoffnungsloser in ein<br />

Gewebe aus Lüge und Betrug. Sollte unser Appell an das berufliche Ehrgefühl<br />

einer Handvoll wohlfeiler Schreiberlinge allerdings ohne Ergebnis bleiben, so hat<br />

das Publikum noch immer die Hoffnung auf pragmatische Einsichtigkeit der hinter<br />

Peary stehenden Herren aus den gehobeneren Gesellschaftskreisen. Bei der<br />

Gründung des Peary Arctic Club schwebte ihnen angeblich ein einziges Ziel vor<br />

Augen: beim Rennen zum Nordpol unserem Lande den Sieg zu sichern. Von<br />

Anfang an hatten sie dabei auf Peary allein gesetzt, mochte ihr Anliegen auch noch<br />

so patriotisch und all-amerikanisch klingen. Wo bleiben die Herren Bridgman und<br />

Rechtsanwalt Hubbard jetzt, da ihr Rennpferd offenbar durchgegangen ist, als


störrischer Gaul durchs Gelände stakst und jeden wegbeißt, der ihm auch nur zu<br />

nahe kommt? Sind sie nicht Manns genug, ihre Kreatur zu einer zivilisierteren<br />

Gangart zu zwingen oder doch wenigstens dem Wüten Einhalt zu gebieten?” Ich<br />

erspare meinen Lesern den Rest; auch bei JGBs Anwürfen handelte es sich bei<br />

genauem Hinsehen um nichts anderes als um ebensolche Anschuldigungen und<br />

Haßtiraden, wie sie der Eigentümer des “Herald” der “Times” vorwarf. Man kann<br />

den Streit um den Nordpol, wie er sich unter meinen Augen und unter meinem<br />

ständigen Bemühen, das Allerschlimmste zu verhindern, schließlich entfaltete,<br />

nicht voll verstehen, läßt man außer Betracht, daß er auch - fast bin ich “vor<br />

allem!” zu sagen geneigt - eines war: der Kampf zweier großer Zeitungen um<br />

Gunst und Aufmerksamkeit der Leser, mit anderen Worten: ein einziges riesiges<br />

Pressespektakel. Bei diesem Rummel ging es nicht um Wahrheit und Ehrlichkeit,<br />

sondern allein um Unterhaltung und Auflagenhöhe. Die Vorstellung,<br />

amerikanischen Zeitungslesern werde, da es so viele Blätter gab, ein breites<br />

Spektrum an Meinungen geboten, blieb dabei auf der Strecke. Es gab schließlich<br />

nur noch solche Berichterstattung, die entweder gegen Cook und für Peary Stellung<br />

bezog oder aber für Cook und gegen Peary. Gesucht wurde wahrlich nicht der<br />

Sieger am Nordpol, sondern derjenige unter zwei desperaten Kämpen, dem<br />

zuzutrauen war, er werde den Sensationshunger der breiten Masse immer noch um<br />

einige Grade mehr anstacheln als sein Widersacher. Ich bin heute noch froh, daß ich<br />

meinen guten Namen aus dieser Schlammschlacht der ständig neue Schlagzeilen<br />

hämmernden Federfuchser in den Redaktionsstuben herauszuhalten vermochte und<br />

- wenigstens in Einzelfällen - den Lauf der Ereignisse sowie die Berichterstattung<br />

darüber habe humanisieren können.<br />

Wir machten langsame Fahrt. In der schmalen Rinne der Narrows zwischen<br />

Brooklyn und Staten Island brachten die Schlepper eine Schar aufgeregt winkender<br />

Zeitungsleute herbei, denen der Kapitän jedoch dankenswerterweise den Zugang<br />

zum Schiffe verwehrte; zunächst, rief er ihnen durchs Megaphon zu, müßten<br />

Einreise- und Quarantäneformalitäten erledigt werden. Auch Cook mußte solange<br />

warten, ehe er Gattin und Kinder umarmen konnte, und als es endlich dazu kam,<br />

war dieser denkwürdige Septembertag fast vorüber. Es war, wie wir später<br />

erfuhren, derselbe Tag, an dem Peary den kanadischen Hafen Sydney auf Cape<br />

Breton Island erreichte.<br />

Dort befand sich der Endpunkt der Eisenbahn. Die ersten Berichte der Presseleute,<br />

die Peary in Scharen entgegengeeilt waren, ließen nichts gutes erahnen. Sie<br />

zeichneten einen streitsüchtigen und angriffsbereiten Peary: von seinen tanzenden<br />

Muskeln, hart wie Bessemerstahl war die Rede, starken, fast wölfischen Zähnen<br />

und von einem drohend gurgelnden Geräusch in seiner Kehle, sobald er spricht,<br />

wobei sein Adamsapfel in dem losen Fleische hervorsteht wie ein Batzen Kohle.<br />

All das sollte wie extra starker Tobak klingen. Verstand man jedoch wie ich<br />

zwischen den Zeilen zu lesen, blieb von dem Muskelmann mit dem Kohleklumpen<br />

im Hals nicht viel übrig. Er habe, hieß es in der ersten Neuyorker “Times”, die ich


zu Gesicht bekam, verlauten lassen, er werde weder irgendwelche Ehrungen noch<br />

offizielle Einladungen annehmen, bis die schwelende Kontroverse mit Cook um<br />

den Sieg am Pole durch kompetente Autoritäten entschieden sei. Er selbst habe im<br />

Augenblick keine neuen Gesichtspunkte zur Lösung des Streits anzubieten. Im<br />

Klartext: Die von Mister Bennett angemahnte Intervention der Herren Bridgman<br />

und Hubbard war offensichtlich bereits erfolgt; sie hatten das durchgegangene<br />

Paradepferd aus ihrem Rennstall noch einmal aufhalten können, waren ihm<br />

sozusagen per Funkspruch oder Drahtnachricht in die Zügel gefallen, ehe es<br />

weiteren Schaden anrichten konnte. Noch eine einzige Bemerkung von der Brisanz<br />

seines unseligen gold brick-Vorwurfs, und Peary wäre für immer untragbar und<br />

seine Ansprüche wären gänzlich unvertretbar geworden. Welch segensreiche<br />

Erfindung ist doch die Telegrafie! Sie überbrückt Entfernungen und Zeit auf eine<br />

Weise, die einem den Atem zu nehmen imstande ist. Und wer wie ich einst auf die<br />

Nachrichtenübermittlung durch Rauchzeichen, geknickte Zweige am Wegrand, die<br />

Imitation von Vogelrufen und andere höchst unzulängliche Mittel angewiesen war,<br />

weiß derlei Neuerungen ganz besonders zu schätzen.<br />

Wie lange würden wir wohl Ruhe vor Peary haben? Cook mangelte es unterdessen<br />

weder an offiziellen Einladungen noch an Ehrungen aller Art, und jede davon war<br />

er anzunehmen bereit, und zwar unverzüglich. Ich erlebte an seiner Seite das vom<br />

Neuyorker “Herald” höchst wirkungsvoll in Szene gesetze Willkommen einer<br />

begeisterten Menge. Es galt zum einen Doktor Cook als Autor jenes Blattes, der<br />

sich tapfer seiner Haut zu wehren verstand. Daneben hörte man unabläßlich Vivat-<br />

Rufe auf den ersten Menschen, der je am Nordpol gestanden - und diese bezog ich<br />

mit leichtem Schmunzeln bei aller Bescheidenheit durchaus auf mich selbst. Es ging<br />

mir nicht anders als in jüngeren Jahren, da ich es stets genossen hatte, von<br />

Unbekannten im Wilden Westen nicht sofort als derjenige erkannt worden zu sein,<br />

der ich nun einmal war: Old Shatterhand.<br />

Wir befanden uns noch an Bord, als tausende von Händen bereits buntes Konfetti<br />

zu uns emporschleudern wollten, was natürlich mißlang. Sobald die schmale<br />

Gangway passiert war, begann das Bad in der Menschenmenge. Nun waren wir<br />

eingehüllt in Wolken aus bunten Papierfetzen, die mir augenblickslang die Sicht<br />

nahmen, dann aber, sobald sie sich auf Kopf, Schultern und Arme gelegt, den Blick<br />

auf die Umstehenden wieder freigaben. Wie wirbelnder aput, der zu quanik wird,<br />

würde der Inuit sagen.<br />

Lonsdale verhandelte mit Gepäckträgern, Doktor Cook, sichtlich beglückt, endlich<br />

Frau Marie und die Kinder um sich zu haben, gab Autogramme und beantwortete<br />

Fragen - jedenfalls glaubte ich letzteres aus den Bewegungen seiner Lippen<br />

schließen zu dürfen. Zu verstehen war kein einziges Wort. Über dem allgemeinen<br />

Gejohle, Gekreische, Geblase und dem spontanen Anstimmen und<br />

Wiederverstummen von Liedern, die mir sämtlich unbekannt waren, lag<br />

anhaltendes Heulen und Pfeifen von den anderen Schiffen her - ein wahrer<br />

Höllenlärm. Ein Mann, der mich offensichtlich mit Cook verwechselte, stellte sich


als Vertreter des Waldorf Astoria vor. Er sei, schrie er mir ins Ohr, hier erschienen,<br />

mich willkommen zu heißen. Im Hotel, das er vertrete, sei die Präsidentensuite für<br />

mich hergerichtet. Ich klärte ihn über seinen Irrtum auf, mußte meinen Namen<br />

allerdings viermal wiederholen, ehe er mich verstand.<br />

“Für Sie haben wir auch ein Zimmer reserviert, Mister May - ein sehr schönes<br />

Zimmer!” Er schrie mir eine Zimmernummer zu, die ich jedoch nicht verstand.<br />

“Ist denn für mich ein Kabel aus Germany bei Ihnen eingegangen?” schrie ich<br />

zurück. Er schüttelte heftig den Kopf. In diesem Augenblick gab Cook mir ein<br />

Zeichen. Er wies auf eine in den Landesfarben blau, weiß und rot ausgeschlagene<br />

Kutsche jenseits der Menschenmenge. Vier Schimmel tänzelten unruhig vor dem<br />

Gefährt. Ich nickte dem Hotelabgesandten zu und versuchte, mir einen Weg zu der<br />

Kutsche zu bahnen. Doch war dies komplizierter als ich hatte annehmen können.<br />

Schob ich einen Ellenbogen vor, wurde dieser sogleich ausgehebelt, um mir die<br />

Hand zu schütteln; versuchte ich, rückwärts voranzukommen, hielt man mich von<br />

beiden Seiten fest und ließ neue Hochrufe erschallen. Schließlich hatte ich es<br />

geschafft. Ich nahm neben Lonsdale Platz; die Cookschen Kinder krabbelten um<br />

unsere Füße. Frau Cook fragte mich eingedenk meiner vor Jahren gemeinsam mit<br />

Klara in ihrem Hause verbrachten Zeit nach meiner Gattin; ich antwortete<br />

ausweichend. Der Doktor wandte sich, übers ganze Gesicht strahlend, an unseren<br />

Kutscher, wohin die Fahrt denn nun eigentlich gehe.<br />

Ich hatte die Antwort zunächst nicht verstanden - der Lärm war nach wie vor ein<br />

unbeschreiblicher -, bekam jedoch Lonsdales lautstarken Protest darauf mit und<br />

konnte mir meinen Reim machen: “Nein, nein, nicht nach Brooklyn!” schrie der<br />

Sekretär mit zornrotem Gesicht. “Von Brooklyn aus können wir unmöglich die<br />

öffentliche Meinung Amerikas erobern! Wir fahren ins Waldorf Astoria. Ich habe<br />

zwar keine aktualisierte Bestätigung für unsere Zimmer dort, aber bestellt sind<br />

sie.”<br />

“Für gestern!” mischte ich mich kurz ein. Was ich eben von dem Hotelmanager<br />

erfahren, behielt ich dabei für mich. Ich hatte Frau Cooks enttäuschten Blick<br />

gesehen,<br />

aus dem bereits jedwede Hoffnung gewichen schien, den Gatten und Vater ins<br />

traute Heim kutschiert zu sehen, und zwar so schnell und so direkt wie möglich.<br />

Mein Einwurf, obwohl knapp bemessen, saß. Die Verwirrung war nun eine<br />

vollständige. Als erste gewann Marie Cook die Sprache zurück. “Amerika erobern<br />

können Sie morgen noch, lieber Walt”, sagte sie ruhig. Und doch hatten sie alle<br />

verstanden.<br />

“Was heißt Amerika, Ma’am! Die Welt - die ganze Welt müssen wir erreichen.<br />

Und das geht nur von einem Etablissement wie dem Waldorf Astoria aus. Sie<br />

wissen ja gar nicht, was auf dem Spiele steht!”<br />

Glücklicherweise erkannte Cook in diesem Augenblick die Notwendigkeit,<br />

einzugreifen. Er wandte sich abermals nach dem Mann auf dem Kutschbocke um<br />

und rief ihm zu: “Nach Hause! Und morgen sehen wir weiter.” Die Pferde zogen<br />

an, wir alle sanken in die Wagenpolster. Den East River aufwärts ging es zur


Brooklyn Bridge.<br />

Sobald dieses Wunderwerk der Technik in eher verhaltenem Tempo überquert war,<br />

fuhren wir auf der Brooklynschen Seite mit flottem Hufgeklapper des<br />

Vierspänners durch die Straßen von Cooks engerer Heimat. Vieles hier war mir<br />

noch aus der Zeit bekannt, da ich nach jenem Anschlag russischer Bombenleger auf<br />

die Ohiobrücke mit Klara an meiner Seite als Gast Doktor Cooks allmählich wieder<br />

zu Kräften gekommen.<br />

Noch immer säumten begeisterte Menschen die Fahrbahn und winkten uns zu.<br />

Gelegentlich winkte einer von uns zurück. Vor einer Hochbahnbrücke hatte man<br />

einen Triumphbogen errichtet, mit einem Globus gekrönt, in dessen Nordpol<br />

flatternd ein Sternenbanner stak. WE BELIEVE IN YOU stand, gerahmt von<br />

Girlanden, in goldenen Buchstaben über der Durchfahrt. Wir glauben an Dich--- .<br />

Ein Siegeskranz auf der rechten Seite umschloß ein Datum - ich vermochte es in<br />

der Eile ebensowenig zu entziffern wie die Schrift in einem links angebrachten<br />

Kranze. Die Säulen, an deren Spitzen die Kränze hingen, trugen den eigentlichen<br />

Ruhmesbogen. Er war mit anspruchslosen Gemälden geschmückt, Szenen aus dem<br />

Entdeckerleben in arktischen Breiten darstellend: links ein Schiff im Eis und rechts<br />

ein Jemand, der mit einem Sextanten hantiert; neben ihm Hunde und zwei weitere<br />

Gestalten, vermutlich Eskimos. Zwischen beiden Bildern prangte ein umkränztes<br />

Porträt. Es war als Brustbild ausgeführt und zeigte einen Mann mit hoher Stirn<br />

sowie einem mäßig ausgeprägten Schnauzbart. Er trug Stehkragen und Halsbinde.<br />

Wenn das Cook sein sollte, war die Ähnlichkeit eine äußerst geringe, nicht nur was<br />

den Schnurrbart anging. Cook war auch bedeutend jünger als der Dargestellte. Und<br />

Pearys Schnauzer war wesentlich üppiger als der in dem Porträt angedeutete<br />

Oberlippenschmuck. Am ehesten glich noch die bescheidene Barttracht meiner<br />

Wenigkeit der des Mannes auf jenem Bilde.<br />

In brausender Fahrt ging es unter dem Siegestore hindurch.Der Kutscher ließ die<br />

Peitsche knallen. Die Kinder juchzten. Auch mein Herz schlug höher. Ich muß<br />

gestehen: Ursache meiner augenblicklichen Beschwingtheit war die Erinnerung<br />

daran, daß ich mich Amundsen gegenüber - und sei es nur aus der Notwendigkeit,<br />

ihn augenblicklich zu einer Entscheidung zwingen zu müssen - als Erster Mensch<br />

am Nordpol geoffenbart hatte. Galt das Siegestor diesem Ersten, so hatte ich allen<br />

Grund, Ruhm und Ehre auf mich zu beziehen und sie auch anzunehmen. Immerhin<br />

wußte ich, daß Cook keinerlei Gründe dafür hatte. Ja, warum nicht: mich - mich<br />

feierte man hier als den Polsieger---!<br />

Dieser Irritation unterlag ich allerdings nur kurzzeitig. Ich hatte nicht die Absicht,<br />

mich von dem momentanen Hochgefühl forttragen zu lassen. Großes gelingt nur<br />

dem, der sich selbst treu bleibt. Ich würde jedenfalls mein Cook gegebenes<br />

Versprechen erfüllen, ihm beim Streite mit Peary zu helfen.<br />

Hinter der Kranz- und Bilderpforte fielen die Pferde wieder in ruhigen Schritt.<br />

Noch einmal knallte die Peitsche, doch änderte das die Gangart der Tiere nicht.<br />

Jenseits des Bahnkörpers erstreckten sich bis ins Endlose eintönige Hausfassaden<br />

und zwischen ihnen, schier unentwirrbar, ein bizarres Gewebe aus Fernsprech-


und Telegrafenleitungen, mit den Fahrdrähten der Straßenbahnen als Schußfäden.<br />

Amerika hatte mich wieder - aber unter welchen Begleitumständen! Ich schaute auf<br />

Cook, konnte jedoch seine Züge nicht ausmachen. Auf sein Gesicht fiel in eben<br />

diesem Augenblicke der Schatten einer über uns dahinratternden Hochbahn.


7. WOLKEN ÜBERM HORIZONT<br />

Die Cook angewiesene Zimmerflucht war mir von einem Besuche im Waldorf<br />

Astoria vor fünf Jahren bekannt. Kurz nachdem ich Peary kennengelernt, hatte<br />

mich Präsident Teddy Roosevelt unter geheimnisvollen Umständen hierher bringen<br />

lassen. Vor dem Kamin hatten wir gemeinsam die entscheidenden Details seiner<br />

Vermittlung im russich-japanischen Krieg besprochen. War der Zugang zur<br />

Präsidentensuite seinerzeit durch die verwirrenden, ja eigentlich gänzlich<br />

unverständlichen Festlegungen des Secret Service geregelt und demzufolge äußerst<br />

beschränkt gewesen, so herrschte jetzt ein Kommen und Gehen wie im<br />

sprichwörtlichen Taubenschlage. Reporter und Botenjungen, Lieferanten,<br />

Hotelbedienstete, fliegende Händler, Autogrammjäger, Verlagsvertreter,<br />

Honoratioren aller möglichen und unmöglichen Vereinigungen, dazu die Impresarii<br />

der angesehensten amerikanischen Veranstaltungsdienste - sie alle gaben einander<br />

buchstäblich die Klinke in die Hand. So manches Mal dachte ich, ein wenig<br />

Regulierung täte diesem Besucherstrome ganz gut - nur bitte nicht gleich durch<br />

rigoroses Dazwischenfahren von Geheimdienstlern! Vor allem brauchten die von<br />

Lonsdale angestellten Hilfskräfte mehr Ruhe beim täglichen Durcharbeiten der<br />

Presse. Alle großen Blätter aus den wichtigsten Städten des Landes wollten<br />

gewissenhaft ausgewertet werden. Das Zeitungsecho, nach wie vor gespalten, war<br />

in den Tagen seit dem Einzug in unser luxuriöses Hauptquartier weit<br />

cookfreundlicher als ich zu hoffen gewagt. Als beispielsweise die “Pittsburgh<br />

Press” eine Umfrage unter ihren Lesern veranstaltete, gaben erstaunliche 96<br />

Prozent der Befragten an, sie hielten Cook für den Sieger am Nordpol. Noch weit<br />

erstaunlicher war, daß drei von vier unter den Cook-Sympathisanten Peary nicht<br />

abnahmen, überhaupt am Pole gewesen zu sein. Eine mögliche Erklärung für diese<br />

günstige Entwicklung bot sich sofort an: Peary blieb nach seiner Ankunft im<br />

kanadischen Sydney von der Bildfläche verschwunden und niemand wußte den<br />

Ort seines Aufenthalts. Doch gab es sicher auch andere Gründe.<br />

Walt liebte das hektische Treiben. Er rotierte von früh bis spät, notierte alle<br />

Verabredungen, empfing die wichtigsten Besucher und blitzte die frechsten ab, ehe<br />

sie zu Cook vorzudringen vermochten, diktierte nach meinen Entwürfen<br />

Mitteilungen an die Presse, nahm Geschenke entgegen, telefonierte mit Verlagen,<br />

Redaktionen, möglichen Sponsoren in Finanzwelt und Wirtschaft. Mit einem<br />

Worte: er tat sein Äußerstes, System in das Chaos zu bringen<br />

Mein Ressort war der Außendienst. Ich nahm die wichtigsten Termine wahr, die<br />

Walt arrangiert hatte und legte fest, zu welchen Treffen Cook persönlich<br />

erscheinen mußte. Der Doktor brachte den größten Teil seiner Zeit damit zu,<br />

Ordnung in seine Erinnerungen und diese - für JGB sowie einige interessierte<br />

Buchverlage - zu Papier zu bringen. Solange die Harry Whitney zur Aufbewahrung<br />

anvertrauten Notizen und anderen Unterlagen noch nicht verfügbar waren, blieb<br />

Cooks Erinnerung die einzige Quelle, aus der zur Stützung seiner Ansprüche<br />

geschöpft werden konnte.


Sobald ich von meinen Wegen zurück ins Hotel kam, informierte ich mich über das<br />

aktuelle Geschehen. Beim Eintreten lenkte ich jedesmal meine Schritte zu dem<br />

Schranke, in welchem sich zu Teddys Zeiten die Hausbar befunden; dort hatte<br />

Lonsdale eine übersichtliche Ablage für Zeitungen und die von unseren<br />

Mitarbeitern verfaßten Presseübersichten installiert. Ich verfolgte die Berichte über<br />

Pearys Muskeln aus Bessemerstahl ebenso amüsiert wie einen von der Neuyorker<br />

“Times” ganz groß herausgestellten Brief von Pearys Frau Josephine an ihren<br />

Mann vor Ankunft der “Roosevelt” im kanadischen Sydney: “Sweetheart,<br />

Sweetheart - nach allem, was Du hast erdulden müssen, tut man Dir nun dieses an!<br />

Ich bin halb wahnsinnig, seit die ersten Nachrichten über die Polkontroverse<br />

eintrafen. Wenn Du doch nur stillhalten und schweigen könntest anstatt mit dieser<br />

Kreatur - mir will der Name nicht in die Feder - herumzustreiten.” Einmal mehr<br />

ward hier zwischen den Zeilen meine Vermutung bestätigt: die Herren vom Peary<br />

Arctic Club hatten es darauf abgesehen, Peary den voreiligen Mund zu verbieten,<br />

und Bridgman und Hubbard nutzten sogar Frau Peary als Werkzeug für diese<br />

Absicht. Wo aber war Sweethaert Peary inzwischen, dem die Böse Welt all dieses<br />

Unrecht antat? Daß er bei der Landung des Schiffes in die Arme seiner vor Ärger<br />

über die Polkontroverse halb wahnsinnig gewordenen Gattin zurückgefunden,<br />

stand jedenfalls außer Zweifel. Möglicherweise wußten die Zeitungsleute, die bei<br />

der Ankunft der “Roosevelt” in Sydney gewesen, wohin die beiden von dort aus<br />

verschwunden waren. Ich war entschlossen, dies in Erfahrung zu bringen.<br />

Eines der angesehensten Presselokale in Manhattan ist der Lightening Bug - zu<br />

deutsch: Glühwurm - in der 70. Straße. Auf der Suche nach jemandem, der Peary<br />

in Sydney gesehen und mit ihm gesprochen hatte, betrat ich den verräucherten<br />

Treffpunkt der Journalisten eines späten Nachmittags. Ehe meine Augen, an das<br />

helle Tageslicht gewöhnt, den herrschenden Dämmer zu akzeptieren bereit waren,<br />

wurde ich in dem Qualme einzig der Glut hier und dort aufleuchtender Zigarren<br />

und Zigaretten gewahr. Über dem Schanktisch hing eine Petroleumlampe, doch<br />

reichte deren Schein nicht weit. Der Lärm der allgemeinen Unterhaltung war ein<br />

unbeschreiblicher. Doch war nicht etwa, wie zu erwarten gewesen, Cook-oder-<br />

Peary das beherrschende Thema. Vielmehr ging es bei dem, was verhandelt wurde,<br />

um eine Wette, deren Inhalt ich erst verstand, als mein Nachbar am Tresen mich<br />

unsanft anstieß und sagte: “Na und du - hast du gar keine Meinung? Schafft es die<br />

‘Mauretania’ oder schafft sie es nicht?” Ich hatte Bourbon bestellt und führte eben<br />

das Glas zum Munde. Der Rippenstoß des Unbekannten ließ den Drink<br />

überschwappen. Hastig trank ich den Rest, um zu retten, was noch zu retten war.<br />

Ich setzte das leere Glas ab und sagte, mit dem Handrücken flüchtig über meinen<br />

feuchten Jackenschoß wischend: “Was soll sie denn schaffen, deine<br />

‘Mauretania’?”<br />

“Na, Leute, da kommt aber einer aus dem Mustopp! Ich halte zehn Dollar<br />

dagegen, daß die ‘Mauretania’ das Blaue Band holt, und der Kerl weiß nicht<br />

einmal, worum es geht!” Er wollte sich vor Lachen ausschütten. Ich unterbrach<br />

ihn, indem ich seinen Ellenbogen ergriff und, ihm fest in die Augen blickend, so gut


das in dem herrschenden Dämmerlicht ging, sagte: “Und ich halte dafür, du wirst<br />

lachen! Die ‘Mauretania’ wird das Blaue Band erringen!” Ich hatte bei meiner<br />

Zeitungslektüre im Waldorf Astoria als eine der wichtigsten Nebennachrichten von<br />

dem Versuche gelesen, bei einer Fahrt über den Atlantik mit diesem neuen Schiff<br />

den Geschwindigkeitsrekord zu brechen. Die Berichte hatten von fünfundzwanzig,<br />

gar von über sechsundzwanzig Knoten als möglicher Leistung der “Mauretania”<br />

gesprochen. Sie war vor drei Tagen in Irland gestartet und wurde schon morgen im<br />

Neuyorker Hafen erwartet.<br />

Der Angesprochene lachte tatsächlich weiter, nachdem er sich kurz unterbrochen<br />

und dabei fast verschluckt hätte. “Und wieviel setzt du?” rief er schließlich<br />

angeregt in die Runde.<br />

“Na, zehn Dollar, wenns recht ist!”<br />

”Und wenn der noble Eimer unterwegs einen Eisberg rammt, bist du die los.<br />

Trotzdem - es bleibt dabei?”<br />

“Wenn ich zehn Dollar sage, meine ich zehn Dollar. Woher soll denn zu dieser<br />

Jahreszeit ein Eisberg kommen?!”<br />

“Na, dann gib mal dein Geld gleich dem Johnnie - dort drüben! Der hält die Bank.”<br />

Johnnie nahm meinen Einsatz entgegen; auf einer Liste notierte er im Licht einer<br />

rußenden Kerze Charles Frederick May als meinen Namen. Ich sprach meinen<br />

Familiennamen so aus, wie man auf englisch zum Mai-Monat sagt, um Johnnie das<br />

Aufschreiben zu erleichtern. Er erwies sich als gesprächig, vor allem schien er mir<br />

weniger arrogant als mein erster Gesprächspartner. Johnnie war Mitarbeiter der<br />

Neuyorker “Times”. Ja, er sei in Sydney dabeigewesen, als Peary dort ankam,<br />

bestätigte er mir sofort. Nein, den Artikel mit den Muskeln aus Stahl habe nicht er<br />

verfaßt, der sei von dem Kollegen dort in der Ecke - ich verstand weder den<br />

Namen, den er dabei nannte, noch vermochte ich in der Richtung, in die er wies, ein<br />

Gesicht zu erkennen. Und nein, Peary sei nicht mit der “Roosevelt” weiter auf<br />

Kurs geblieben, sondern per Eisenbahn mit der lieben Familie auf und davon.<br />

Vermutlich auf seine Insel in Maine, man habe von Billets nach der Hafenstadt<br />

Portland gemunkelt.<br />

“Eagle Island?”<br />

“Scheint so! Ich kenne mich da oben nicht aus.”<br />

Dafür ich umso besser - doch behielt ich dieses Wissen für mich. Auf der Fahrt<br />

mit der “Roosevelt” hatte ich an Pearys Adler-Insel nordöstlich von Portland<br />

Station gemacht; wir nahmen seinerzeit Schlittenhunde, die er dort hielt, sowie ein<br />

eisenbeschlagenes Reserveruder für das Expeditionsschiff an Bord. Ich hatte ihn<br />

oft von dem felsigen Eilande schwärmen hören - seinem Gelobten Land, wie er es<br />

nannte. Doch mehr als ein Sommerhaus besaß er auf der Insel nicht, seines<br />

Bleibens auf Eagle Island konnte nicht ewig sein. In wenigen Wochen würden Neu-<br />

Englands gefürchtete Novemberstürme das Leben dort unleidlich machen.<br />

Ich wußte, was ich hatte wissen wollen. Daß die eigentlichen Fädenzieher im<br />

Peary Arctic Club ihren vorlauten Polsieger so gründlich aus dem Verkehr<br />

nahmen, daß er sich gleich in seinen Schmollwinkel auf Eagle Island zurückzog,


war einerseits geeignet, mir Mut zu machen; wir blieben auf jeden Fall noch einige<br />

Zeit vor neuen unsachlichen Ausfällen Pearys verschont. Andererseits - was<br />

hatten Hubbard, Bridgman und Konsorten tatsächlich vor? Cook kampflos den<br />

Sieg am Pol überlassen konnten sie nicht - zu viel hatten sie im Laufe der Jahre in<br />

Pearys Unternehmungen investiert. Nicht nur an Geld, auch an Prestige, ja, ihre<br />

ganze gesellschaftliche Glaubwürdigkeit.<br />

Was würde ihr nächster Schritt sein? Setzten sie wirklich auf die angemahnte<br />

Entscheidung des Streites durch sogenannte kompetente Autoritäten? Dann<br />

mußten auch wir uns bald etwas einfallen lassen. Vor allem brauchte Cook<br />

dringend die von ihm in Etah Harry Whitney anvertrauten Unterlagen und<br />

Instrumente.<br />

Johnnie hatte sich als vertrauenerweckende Gewährsperson erwiesen; also fragte<br />

ich ihn nach dem Jäger aus New Haven, Connecticut. Nein, einen Whitney habe er<br />

in Sydney nicht zu Gesicht bekommen. Überhaupt sei Peary nur von Kapitän<br />

Bartlett begleitet gewesen. Ja, Captain Bartlett von der “Roosevelt”. Und noch<br />

von ein paar Hafengewaltigen. Na, und von seinem schwarzen Diener.<br />

“Henson.”<br />

“Ja - Henson! Scheinst dich ja auszukennen.”<br />

“Ich bin da einer Story auf der Spur.”<br />

“Für den ‘Herald’, was?” Ich nickte flüchtig, es war schließlich nur eine halbe<br />

Lüge. “Habe ich mir denken können. Na, nichts für ungut, - unter uns Kollegen<br />

sollte trotz allem der Draht nicht abreißen. Auch wenn die Bosse sich gegenseitig<br />

die Pest an den Hals wünschen.”<br />

Ich wollte schon gehen, hatte eben den Hut gelüftet und Johnnie gedankt. Da<br />

mischte sich jemand in unsere Unterhaltung, der eigentlich nur seinen Wetteinsatz<br />

entrichten wollte und eine Weile lang hatte warten müssen. “Whitney, sagst du?<br />

Der soll sofort von Bord gegangen und mit der Bahn abgedampft sein - ohne<br />

Pearys Fototermin abzuwarten. Er war, hieß es, dem Commander nicht grün. Wer<br />

weiß, was dahintersteckt.”<br />

Nichts Gutes ahnend nahm ich eine Autodroschke zurück ins Hotel. Schon im<br />

Vorzimmer eilte Walt Lonsdale, zwei Depeschen schwenkend, mir entgegen. “Gut,<br />

daß du endlich kommst”, sagte er. “Die Dinger hat der Telegrammbote schon vor<br />

drei Stunden gebracht. Hier, lies!” Daß er mich unverhofft duzte, zeigte den Grad<br />

seiner Erregtheit. Er drückte mir ein aufgefaltetes Blatt Papier in die Hand, das der<br />

Adressat bereits zur Kenntnis genommen hatte. “Doktor Cook Care of New York<br />

Herald Tribune Stop Commander Peary hat Transport jeglicher Ihnen gehoerender<br />

Sachen an Bord Roosevelt strikt abgelehnt Stop Habe daraufhin Ihre Geraete und<br />

Unterlagen in sicherem Versteck unweit Etah deponiert Stop Naeheres weiss<br />

Etukishuk Stop Beste Wuensche Whitney Stop.” Die Nachricht traf mich wie ein<br />

Keulenschlag. Ausgerechnet Etukishuk! Da hatte der gute Harry in seiner Naivität<br />

ja den Bock zum Gärtner gemacht! Gerade demjenigen unter den Eskimos in Etah<br />

hatte Whitney sich anvertraut, aus dessen Munde ich selbst gehört, daß Cook<br />

niemals am Pole gewesen--- . Ich ließ das Blatt sinken und sah Walt an.


“Was sagt der Doktor dazu?”<br />

“Er ist am Boden zerstört. Und das, nachdem in den letzten Tagen alles so<br />

verheißungsvoll gelaufen war.”<br />

“Ist er zu sprechen?”<br />

“Ich an Ihrer Stelle würde noch etwas warten. Geben wir ihm eine kurze<br />

Verschnaufpause. Lesen Sie doch erst einmal das hier - es ist an Sie persönlich.”<br />

Die zweite Depesche war ungeöffnet. Es war ein langes Überseekabel von Klara.<br />

Sie habe, schrieb sie, sich die Sache mit der Filmerei noch einmal genau überlegt<br />

und sich auch mit Freundin Emma - ja, genau so stand es da: Freundin Emma! -<br />

beraten. Bei längerem Fernbleiben meiner Person von Europa werde Sie die Sache<br />

selbst in die Hand nehmen. Und wieder: gemeinsam mit Freundin Emma. Sie seien<br />

bereits dabei, sich die von der Behörde geforderten Vollmachten zu besorgen;<br />

nötigenfalls werde man mich für tot erklären, was angesichts meiner<br />

gerichtsnotorisch als waghalsig bekannten Abenteuer im Wilden Westen und<br />

anderswo keine Schwierigkeiten bereiten dürfe. Abschließend glaubte sie mir noch<br />

einen besonders gut gezielten Tritt versetzen zu müssen, indem sie mich warnte:<br />

“Bei Realisierung Vorstoss Edison ergeht hier sofort Antrag auf Einstweilige<br />

Verfuegung Stop.”<br />

Nun wäre es eigentlich an mir gewesen, am Boden zerstört zu sein. Doch hoffe ich<br />

stets, hoffte also auch jetzt. Ich bin nämlich gewöhnt, so lange zu hoffen, bis der<br />

Beweis des Gegenteils unumstößlich ist. Mein Weib, mein Herzle, Klara, mein<br />

Alles - was ging mit ihr vor? War sie das Opfer von Einflüsterungen geworden,<br />

derer sie sich nicht zu erwehren vermochte, weil ich nicht an ihrer Seite stand?<br />

Oder verhielt sich die Sache noch viel schlimmer, hatte sie mich etwa deshalb auf<br />

das Polabenteuer geschickt, um in aller Ruhe gemeinsam mit Freundin Emma ihre<br />

Ränke schmieden zu können? War ich nicht nachgerade verpflichtet, stracks in die<br />

Höhle der beiden Löwinnen zurückzukehren und dort nach dem Rechten zu sehen,<br />

auch wenn das hieße, Cooks Auseinandersetzung mit Peary einfach den beiden<br />

arktischen Streithähnen und ihren Hintermännern zu überlassen? Nur - hatte Cook<br />

überhaupt Hintermänner, wenn ich ihn nun im Stiche ließ? Und schließlich - was<br />

hieß das überhaupt: angesichts meiner gerichtsnotorisch als waghalsig bekannten<br />

Abenteuer im Wilden Westen und anderswo?<br />

Die Fragen bestürmten mich. Ich sackte auf einen der herumliegenden<br />

Zeitungsstapel und hielt mich nur mühsam in einer verkrampften Sitzhaltung.<br />

“Ist Ihnen nicht gut?” fragte Lonsdale aufgebracht.<br />

Mit einer ziemlich hilflos ausfallenden Handbewegung versuchte ich seine<br />

Besorgtheit wegzuwischen, doch gelang mir dies nicht. Walt verschwand. Bald<br />

drauf kam er mit einem Glas Wasser zurück. Während ich hastig trank und<br />

gleichzeitig überlegte, was in dieser leidigen Sache sogleich und was längerfristig<br />

getan werden mußte, hielt der chaotische Lärm an, welcher in unserem<br />

Hauptquartiere beständig herrschte. Ja, er wurde gar von Atemzug zu Atemzug<br />

stärker und dabei immer bedrohlicher, schwoll zu ohrenbetäubendem Brummen<br />

und schließlich zu einem Krachen an, das an splitternde Eisbarrieren im Hohen


Norden erinnerte. Da war das Wasserglas plötzlich meinen Händen entglitten. Mit<br />

letzter Kraft wollte ich mir die Ohren zu halten, doch wurde mir schwarz vor<br />

Augen.<br />

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem Chaiselongue im Kaminzimmer. Man<br />

hatte mich mit einem Plaid zugedeckt und meinen Kragenknopf geöffnet. Doktor<br />

Cook beugte sich über mich, sein Gesicht verriet tiefe Besorgnis.<br />

“Kann ich irgend etwas für Sie tun, lieber May?” fragte er. Ich schüttelte den<br />

Kopf, bat leise, in mein Zimmer gehen zu dürfen und wollte mich schon aufsetzen.<br />

Doch Cook drückte mich sanft auf meine Liegestatt zurück. Er bestand darauf,<br />

daß ich zunächst noch nicht laufen solle. Mit einem gequälten Scherz versuchte er<br />

mich aufzumuntern: “Vergessen Sie nicht, daß der Erstbezwinger des Mount<br />

McKinley und nun auch des Nordpols, Doktor Frederick Cook, vor allem eines<br />

ist: Doktor Cook. Und Sie als Patient haben zu gehorchen!” Ich gab mir Mühe, zu<br />

lächeln - nicht zuletzt, um dem gestrengen Onkel Doktor selbst Mut machen.<br />

Doch mißlang mein Versuch.<br />

“Ein kleiner Schwächeanfall, weiter ist nichts passiert. Das kriegen wir schon<br />

wieder hin!” hörte ich erneut Cooks Stimme, welche hinter dem naßforschen Tone<br />

die Besorgtheit nicht zu verbergen vermochte. “Ruhen Sie sich noch aus. Und<br />

morgen sehen wir weiter.”<br />

Ich schloß die Augen und war in der wohltuenden Stille, die mich umfing, sofort<br />

eingeschlafen. Bald plagte mich ein bizarrer Traum. Über die Kammhöhe im<br />

sächsischen Erzgebirge, schon aufs böhmische Hinterzinnwald zu, hetzten zwei<br />

prächtige Rappen. Auf ihnen thronten in voller Wildwestmontur Klara und Emma.<br />

Sie wandten die Köpfe, und sobald sie gewahr wurden, daß ich sie beobachtete,<br />

riefen sie lachend wie aus einem Munde: “Da staunst du, was, Scharlih! Was du<br />

mit deinem Winnetou machen kannst, können wir schon lange --- lange --- !” Ihre<br />

Stimmen hallten im Tale nach, gefolgt von einem Lachen, das als hämisch zu<br />

bezeichnen ich nicht umhinkomme. Ich konnte die beiden an den<br />

Kopfbedeckungen ganz klar unterscheiden. Emma trug eine Mütze aus Katzenfell,<br />

deren getigerter Schwanz hinter der Trägerin herflog wie weiland die<br />

Waschbärenlunte hinter dem reitenden Davy Crockett, und Klaras Haarturm war<br />

vom Balg einer ausgewachsenen Bisamratte gekrönt; deutlich sah ich den<br />

rundlichen, ziemlich kurzen, stumpfnasigen Kopf des Nagetieres, die kleinen<br />

Ohren, den kurzen, dicken Hals.<br />

“Miez und Mausel”, rief ich, “so wartet doch! Wir haben so viel miteinander zu<br />

besprechen--- besprechen--- besprechen--- .” Das Tal warf auch meine Worte<br />

vielfach als Echo zurück, ohne daß diese auf die beiden Davonhastenden Eindruck<br />

zu machen vermochten. Einzig ihr hämisches Lachen erklang abermals. Da fühlte<br />

ich mich plötzlich vom Sturme gepackt, der mich hin und her warf. Ich versuchte<br />

mit aller Gewalt, mich der Macht jener Lüfte entgegenzustemmen, war ich doch<br />

entschlossen, mit den Frauen zu einer Einigung zu gelangen. Vor allem sah ich zu,<br />

sie beide im Blick zu behalten. Für einen kurzen Moment gelang mir dies auch.


Inmitten goldgelber Blumen und Gräser stehend rief ich nach ihnen und winkte<br />

noch einmal, doch ward mir wieder nur ihr Lachen zur Antwort. Da zog über den<br />

Bergen ganz unversehens nicht zu durchdringender Nebel auf, der die Reiterinnen<br />

verschluckte.<br />

Sobald sie meinen Blicken entschwunden, meldete sich im Nebel eine dritte, mir<br />

völlig unbekannte Frauenstimme und rief: “Laß sie reiten, kannst sie ohnehin nicht<br />

aufhalten, Karl. Auf mich hast du ja nicht hören wollen. Nie!” Ich schaute mich<br />

um, konnte die Ruferin jedoch nicht entdecken. Da riß plötzlich der Nebel auf und<br />

hellster Sonnenschein lag über dem Gebirge - nun freilich nicht mehr das heimische<br />

Erzgebirge , sondern die Beartooth Mountains nordöstlich des Yellowstone.<br />

Laut rief ich in alle vier Richtungen: “Bist du eine Schoschonin?”, denn dies war<br />

das Land jenes Stammes. Durch den Umstand ermutigt, daß der leidige Nachhall<br />

meiner Worte ausblieb, lauschte ich auf eine Antwort. Und tatsächlich, da erklang<br />

es ganz nah neben mir: “Nein. Erkennst du mich denn nicht mehr?”<br />

Ich blickte auf und sah ein mir unbekanntes, doch freundliches und noch junges<br />

Gesicht über mich gebeugt. Blonde Locken umspielten die edel geformte Stirn.<br />

“Nein”, erwiderte ich der Wahrheit gemäß.<br />

“Aber Karl - ich bin doch die Minna. Hast du mich denn ganz aus deinem<br />

Gedächtnis verbannt? Hast du denn all das vergessen, was einst zwischen uns<br />

gewesen? Das kann doch dein Ernst nicht sein!”<br />

“Minna?” Ich war mir noch immer nicht sicher, was von der Erscheinung zu halten<br />

war.<br />

“Ja”, sagte sie. “Minna Ey. Du hast mich einst heiraten wollen, und dann hast du<br />

es dir anders überlegt, weil diese Emma aus deinem langweiligen Ernstthal<br />

dazwischenkam. Dabei bin ich doch aus Dresden! Ja, ich bin es, Karl, ich, dein<br />

kleines Küken, dein Herzblut, dein Täubchen, dein --- ach, was hast du mir nicht<br />

alles für zärtliche Namen gegeben damals. Und dann war plötzlich alles nur Lug<br />

und Trug.”<br />

Jetzt dämmerte mir die Sache. “Minna Ey?” sagte ich. “Aber dann bist du ja---<br />

Bist die Schwester dieses Reptils, dieser Pauline Münchmeyer, meiner damaligen<br />

Prinzipalin. Seinerzeit lebte ihr Mann unseligen Angedenkens noch, und du<br />

solltest an mich verkuppelt werden, um mich an das Haus Münchmeyer zu<br />

binden, damit ich weiterhin Sklavendienste als Schreiber verrichtete für immer und<br />

ewig.”<br />

“So hast du es dir später zurechtgebogen, Karl, mein Gutster. Dir und der Welt.<br />

Zurechtgebogen und zurechtgelogen. Siehst ja, was dabei herausgekommen ist.<br />

Nicht nur die Emma, auch Klara hat dich verraten, verlassen--- verlassen.” Nun<br />

klang auch, was sie sagte, vom Echo verzerrt. “Jetzt, wo sie Geld mit dir machen<br />

können, ohne dich am Halse zu haben. Nun brauchen sie dich auf einmal nicht<br />

mehr. Die Einzige aber, die all die Zeit in ihrem Innersten bei dir geblieben ist, die<br />

dich immer noch liebt und die stets zu dir halten wird, bin ich, die Minna. Mich<br />

hat all das viele Geld nie interessiert, ich wollte immer nur dich. Ja, ich bin dir<br />

immer gut gewesen, mein ganzes Leben lang. Und ich bin es auch jetzt noch. Auch


jetzt noch. Ich trag dir nichts nach, mein Karlimann.”<br />

“Für Sie immer noch Herr Doktor May!” unterbrach ich sie scharf. Dies war eine<br />

Unterhaltung, die ich so nicht weiterzuführen beabsichtigte. Nicht einmal im<br />

Traum.<br />

“Aber Karl - die Sache ist doch ganz einfach. Ich zeige dir, wo du die Notizen des<br />

Herrn Doktor Cook und seinen Sextanten findest, und du nimmst mich zu dir als<br />

deine Gefährtin, als deine Gefährtin--- .” Plötzlich hatte sie wie eine<br />

Gassensängerin eine Karte des nördlichsten Grönland an ihrem ausgestreckten<br />

Arm hägen. Mit der freien Linken schwang sie einen Zeigestock und wies damit<br />

auf einen Fleck auf jener Landkarte, neben dem in großen Buchstaben Etah stand.<br />

“Etah - aber das weiß ich doch!” rief ich entrüstet. “Soll das etwa dein Anteil an<br />

unserem deal sein?”<br />

“Mein lieber Karl, wer wird nur so unwirsch und so ohne jede Geduld sein, wenn<br />

ihm Hilfe geboten wird!” Sie schlug mit dem Zeigestock gegen die an ihrer Rechten<br />

baumelnde Karte. Sogleich wurde eine weit detailliertere Darstellung der Gegend<br />

um Etah sichtbar, mit Markierung aller Stapelplätze für Schwemmholz und jede<br />

einzelne Eskimo-Wohnhöhle, mit einem Zeichen für jedes Atemloch im Eise der<br />

Hafenbucht - getrennt nach Robben und Walrossen (mit Kreuzchen bezeichnet),<br />

Eisbären (Dreiecke) und Walen (kenntlich durch einen Kreis). “Und hier”, sagte<br />

sie, wobei sich ihr Zeigestock auf ein Felsenkap nördlich der Siedlung senkte, “hier<br />

hat dein famoser Harry Whitney die Sachen verborgen, die er nicht mit auf Pearys<br />

Schiff nehmen durfte. An einem leicht zu erkennenden Steinhaufen.”<br />

Sie rollte die Karte ein. Ich war sprachlos, was sie sogleich bemerkte. “Du sagst ja<br />

gar nichts, Karl” - das war mehr gehaucht als gesprochen - “hat dich mein Angebot<br />

überrascht?” Und als ich noch immer nichts entgegnete, sagte sie doch tatsächlich:<br />

“Wo ist denn dein Anteil an unserem deal? Bist du nach all diesen Jahren bereit,<br />

mich als deine einzige uneigennützige Freundin anzuerkennen und zu dir zu<br />

nehmen? Gib mir zum Zeichen, daß du dazu bereit bist, jetzt einen Kuß Kuß Kuß-<br />

--”<br />

Während sie mit Hilfe einer sinnreichen Vorrichtung ihren Zeigestock auf<br />

Unterarmlänge stauchte, beugte sie sich mir entgegen. Ich hob abwehrend meine<br />

Arme und setzte zum Sprechen an, doch wurde ihr Bild zusehends blasser. Ehe ich<br />

etwas über meine Lippen gebracht, war Minna Ey ganz verschwunden, ohne die<br />

mir abverlangte Gegenleistung tatsächlich eingefordert zu haben. Schweißgebadet<br />

erwachte ich.<br />

Man hatte mich in mein Zimmer umgebettet. Der Transport aus dem<br />

Kaminzimmer mochte jenes Sturmgefühl beim Verschwinden von Miez und<br />

Mausel zwischen Erzgebirge und Beartooth Mountains in mir erzeugt haben.<br />

Klaras Kabeldepesche lag, mit dem Text nach unten, auf meinem Nachttisch. Ich<br />

wußte jetzt, was ich davon zu halten hatte. Und ich wußte, wo Cooks Notizen zu<br />

finden waren, ohne die er seinen Kampf gleich für verloren erklären konnte.<br />

Mit frischer Kraft griff ich nach der Zimmerglocke und schellte. Walt Lonsdale<br />

erschien und zeigte sich hocherfreut, mich wieder bei Kräften zu sehen. Doktor


Cook habe sich, sagte Walt, große Sorgen um mich gemacht. Jetzt sei der Doc zu<br />

einem klärenden Gespräch im Explorers’ Club, von dem er sich große Stücke<br />

verspreche. Ob er mir etwas Stärkendes bringen dürfe, fragte er angelegentlich. Ich<br />

nickte und sagte: “Etwas Bourbon würde mir jetzt gut tun.” Walt entschwand<br />

ohne ein Widerwort, und ich war’s zufrieden.<br />

Wie nach Etah gelangen? Daß die Rückführung der Notizen und Instrumente die<br />

einzige Möglichkeit war, die Weltöffentlichkeit von der Berechtigung der<br />

Ansprüche Cooks zu überzeugen, war mir klar. Es ging nicht um Wahrheit oder<br />

Lüge, es ging um das Auffüllen eines Argumentiervakuums; nicht um mehr und<br />

nicht um weniger. Die Zeit eisfreien Wassers so weit oben in Grönland war längst<br />

vorüber, und bis zum nächsten Juni zu warten schied als Möglichkeit aus, zumal<br />

meine vollständige Wiederherstellung rasche Fortschritte machte. Damit hatte sich<br />

Kapitän Adams’ freundliches Anerbieten erledigt, im Bedarfsfall bei ihm um eine<br />

Passage nach Grönland vorstellig zu werden. Ich entschloß mich zu einem<br />

abermaligen Versuch, mit Kaschadus Hilfe im Seelenfluge mein Ziel zu erreichen.<br />

Bis zum Eintritt des Halbmondes blieb noch etwas Zeit. Ich nutzte diese zu<br />

kräftigenden Spaziergängen im Central Park, meine kleinen Streifzüge bewußt<br />

weiter und weiter ausdehnend. Hier war ich, auch damals ein Rekonvaleszent, vor<br />

Jahren mit Klara lustwandelt, als der Frühling die Bäume und Gräser<br />

verheißungsvoll sprießen ließ. Nun lagen die Ruderteiche, die weiten Rasenflächen,<br />

die Waldstücke öde und verlassen. Buntes Laub flatterte von den Bäumen, Blatt<br />

um Blatt griff der Wind danach und wehte es fort. Ich fühlte mich einsam. Doch<br />

war ich ohne Bitterkeit und von der festen Absicht erfüllt, im Dienste der Sache,<br />

der ich mich verschrieben, mein Äußerstes einzusetzen. Zu Doktor Cook sprach<br />

ich kein Wort von dem, was ich vorhatte.<br />

Nach Tagen dehnte ich einen meiner Spaziergänge bis in den Lightening Bug aus.<br />

Der Journalistentreff lag im Westteil der 70. Straße. Kaum war ich eingetreten,<br />

bekam ich von Johnnie zwanzig Dollar ausbezahlt, ohne ihn daraufhin<br />

angesprochen zu haben. Daß ich die Wette gewonnen, verwunderte mich nicht.<br />

Was mich allerdings überraschte, war die Anwesenheit eines Teilnehmers an der<br />

Rekordfahrt der “Mauretania”: man feierte die Ankunft von William T. Stead. Ja,<br />

Dabbya, Spezialist für Kontakte ins Reich der Verblichenen und so etwas wie ein<br />

Doyen der erfolgreichen Presseleute, gegenwärtig als Sonderkorrespondent mit<br />

dem Hearst-Zeitungsimperium liiert, nahm leutselig Glückwünsche und ihm<br />

gewidmete Trinksprüche entgegen. Es ging reichlich laut zu. Ich bekam vom<br />

Kellner ein Glas Champagner in die Hand gedrückt. Der Drink, obzwar schon<br />

reichlich fade, half mir, den augenblicklich herrschendenTumult abzuwettern.<br />

Im Dunkel an eine Wand gelehnt, hörte ich mir die Lobreden auf Stead an, die ihn<br />

abwechselnd als einen zweiten Neptun und als den glücklichen Überlebenden einer<br />

Wahnsinnsfahrt priesen, die allzuleicht in waghalsige Raserei hätte ausarten<br />

können. Stead genoß es, das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Er<br />

ging von Gruppe zu Gruppe, ein Glas mit einer dunklen, sprudelnden Flüssigkeit


in der Hand - vermutlich die allgegenwärtige Coca Cola - und ich hatte ihn bei<br />

seinem Vorbeikommen an meinem Wandplatz minutenlang für mich allein.<br />

Er staunte nicht wenig, mich hier zu sehen. “Ist denn dein lahmer Kahn wirklich<br />

schon angekommen, May?!”, scherzte er.<br />

“Wie du siehst, kommt man auch ohne das Blaue Band über den Großen Teich,<br />

Stead. Dafür habe ich dir ein paar entscheidende Tage mit Cook voraus.”<br />

“Du - mit Cook? Captain James Cook?”<br />

Ich muß ziemlich baff dreingeschaut haben, doch sagte ich beherrscht: “Frederick<br />

Cook.”<br />

“Nie gehört den Namen. Sag mal, wer war eigentlich Doktor Cook?” Er lachte laut.<br />

“Jedenfalls ist er beim Rennen um die Eroberung des Nordpols vom Start besser<br />

weggekommen als sein Rivale. In Kopenhagen hast du auf ihn gesetzt.”<br />

“Ich setze nie auf jemanden. Das einzige, worauf ich etwas gebe, ist, daß die Story<br />

weitergeht.”<br />

“Das tut sie - aber gewaltig. Nur nicht für Peary.”<br />

“Noch nicht, glaube mir. Und das auch nur, weil die ‘Times’-Leute länger zum<br />

Warmwerden brauchen. Wirst sehen, dafür haben sie den längeren Atem als JGB<br />

und sein ‘Herald’-Team.”<br />

“Heißt das, du hast einsehen müssen, daß Hearst ganz aus dem Rennen geflogen<br />

ist?”<br />

“Was soll denn das nun schon wieder?”<br />

“Ihr wolltet Cook jede Summe verdoppeln, die andere für seine Polgeschichte zu<br />

zahlen bereit waren.”<br />

“Laß sie sich doch gegenseitig die Fressen einschlagen! Umso heißer wird die Story<br />

für uns. Wer schließlich wen zum Sieger am Nordpol erklärt, bleibt sich völlig<br />

gleich. Wir brauchen in unseren famosen Überschriftsbalken nur die Namen<br />

auszutauschen, um aktuell zu bleiben.”<br />

“Sag mal - vom Veredeln der Leser hältst du wohl nichts mehr? Du und dein neuer<br />

Herr Brötchengeber.”<br />

“Weißt du, May - deinen Kinderglauben in allen Ehren. Aber das Veredeln<br />

überlasse mal lieber den Leuten in einer Baumschule. Die verstehen wenigstens<br />

was von dem Geschäft.”<br />

“Ich weiß, ich weiß: Gedruckt wird nur, was irgend jemanden, der es liest, in<br />

Verlegenheit bringt. Alles andere ist Werbung und sollte bezahlt werden. William<br />

Randolph Hearst.”<br />

“Bravo! Ich sehe, du hast deine Lektion gelernt, May! Wer nur den Chronisten<br />

spielt, hat aufgehört, Zeitungsmacher zu sein.”<br />

“Was hat dieser Großmogul nur aus dir gemacht! Ich bitte dich - so kann man doch<br />

unmöglich---”<br />

“Natürlich kann man. Siehst doch, wie die Hearst-Blätter florieren. Und das wird<br />

auch in Zukunft so sein - ganz gleich, wen diese Saubermänner beim ‘Herald’ und<br />

bei der ‘Times’ als Polsieger auskegeln. Jedenfalls immer wieder ein Vergnügen,<br />

dich zu sehen!” Er prostete mir lachend zu und ging weiter.


Es drängte mich aus dem stickigen Raum an die frische Luft. Da mühte ich mich<br />

ab, die Idee vom Edelmenschen zu fördern, und diese Schreiberlinge übelster Sorte<br />

hatten gar keine Skrupel, waren nur darauf aus, die Story am Kochen zu halten,<br />

appellierten dabei ans Niedrigste--- . Die Gedanken bestürmten mich. Es war<br />

inzwischen dunkel geworden. Die Beleuchtung der Straßen am Central Park war<br />

eine höchst spärliche. Sobald ich den Columbus Circle genannten Platz erreicht<br />

hatte, setzte ich mich auf eine Bank. Das Denkmal des Entdeckers der Neuen Welt<br />

stand etwas verloren da zwischen Parkrand und Häusermasse. Über der Stadt war<br />

der Mond aufgegangen, als hell leuchtende halbe Scheibe hing er inmitten hoch<br />

aufragender Häuser.<br />

Nach anfänglichem Zaudern hielt ich den Zeitpunkt für günstig, Kaschadu zu<br />

rufen. Ich legte meine ganze Stimmkraft in diesen Ruf. Ein Dandy, der gerade<br />

vorüberschritt, sein Spazierstöckchen wie ein Cowboy das Lasso wirbelnd, blieb<br />

kurz stehen, ging dann aber weiter und war sogleich vom Gewimmel der Passanten<br />

verschluckt. Und noch einmal rief ich: “Kaschaduhu---”<br />

Nichts. Ich saß ratlos und wartete. Sah Automobile, Kaleschen, Droschken<br />

vorbeifahren und den nicht abreißenden Fußgängerstrom an mir vorüberhasten.<br />

Daß Neuyork durchaus in Kaschadus Aktionsbereich lag, hatte sie mit ihrer<br />

genauen Kenntnis von Wolkenkratzern und Ozeanriesen zwar zu verstehen<br />

gegeben; doch wer weiß, womöglich war der Grad der Verstädterung gerade hier<br />

trotz der Nähe des Parkes so hoch, daß herkömmlicher Schamanenzauber<br />

unwirksam wurde?<br />

Ich grübelte. Schließlich versuchte ich es abermals. “Kaschadu---”<br />

Nichts.<br />

“Kaschadu, so antworte doch! Hast du vergessen, was du mir auf dem<br />

grönländischen Eise versprachst? Und unseren Seelenflug an die Elbe, nach<br />

Radebeul--- . Hast du all das vergessen?” Ich war erregt aufgesprungen und schrie<br />

zur Bekräftigung noch einmal “Kaschadu, melde dich!” Dann sank ich erschöpft<br />

auf meine Bank zurück.<br />

Um mich hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Nun ist es zwar weder in<br />

Neuyork noch in anderen amerikanischen Städten ungewöhnlich, daß allerlei<br />

Straßenprediger ihre Botschaften lautstark in die Welt schreien, und niemand<br />

schert sich darum. Doch offensichtlich hatte meine stimmgewaltige Erregtheit<br />

etwas in den Passanten angesprochen. Nur konnten sie sich keinen Reim auf das<br />

machen, was ich schrie. Ich sah besorgte Blicke auf mich gerichtet, eine Lady legte<br />

ihre Rechte, welche sie eigens dafür von einem parfümierten Handschuh befreit,<br />

auf meine Stirn und schüttelte - wohl als beruhigenden Kommentar für alle<br />

Umstehenden - den Kopf. Die meisten gingen daraufhin weiter, doch blieben<br />

immerhin so viele bei meiner Bank stehen, daß es genug Zeugen für all das höchst<br />

verwunderliche Geschehen gibt, welches sich in den nächsten wenigen<br />

Augenblicken abspielte. Jedenfalls war das, was ich an dem fraglichen<br />

Mittwochabend Anfang Oktober dort am Columbus Circle erlebte, auf gar keinen<br />

Fall eine Ausgeburt meiner Phantasie.


Ich hatte nach meinem letzten Rufe eben wieder Atem geholt und war, da sich in<br />

den Lüften noch immer nichts regte, schon bereit, aufzustehen und meiner Wege<br />

zu gehen, als sich aus dem Sternbild der Cassiopeia ein leuchtender Punkt löste<br />

und, mit atemberaubender Schnelligkeit größer und immer größer werdend, in<br />

rasender Fahrt auf die Erde zu schoß. Sobald in dem gleißenden Rund die ersten<br />

Einzelheiten zu unterscheiden waren, erwiesen sich diese - konzentrisch um eine<br />

gemeinsame Mitte verlaufend - als Kränze aus dunklen und hellen Punkten, eine<br />

Art ringförmiges Lichtraster, dessen Bedeutung ich schon sehr bald erkennen<br />

sollte. Ein stetig anschwellender und schließlich ohrenbetäubender Lärm begleitete<br />

das Herabsausen des leuchtenden Fleckes. Jedermann schaute gebannt auf die<br />

Erscheinung, und ich, der ich mehr wußte als alle anderen Anwesenden, hatte die<br />

Umstehenden schon bald vergessen. Die einzige Frage, die mich bewegte, war:<br />

Würde Kaschadu auch bei dieser feurigen Art ihres Auftretens willens und in der<br />

Lage sein, mich zu einem Seelenfluge mitzunehmen - und zwar nach Grönland?<br />

Denn dorthin mußte ich, und zwar sofort. Daß es sich bei dem Lichtgefährt um ein<br />

Transportmittel der Schamanin handelte, stand für mich außer Zweifel.<br />

Das Tosen verstärkte sich noch. Sobald der Leuchtfleck, nun visuell immerhin von<br />

der Größe einer Schrapnellwolke im Augenblicke der Explosion und auch von ganz<br />

ähnlicher Bedrohlichkeit, wenige Fuß über den höchsten Häusern angelangt war,<br />

schossen aus den bislang dunklen Punkten des Ringrasters armstarke Lichtbündel,<br />

die tastend den Boden suchten und, sobald sie diesen erreichten, eins nach dem<br />

anderen stillhielten. Dies geschehen, schienen die Lichtstrahlen die rasende Scheibe<br />

zu tragen. Ja - es wurde in eben diesem Augenblick klar, daß das Ganze nicht etwa<br />

eine Kugel, sondern vielmehr tatsächlich eine einigermaßen flache Scheibe war,<br />

einem umgestülpten Suppenteller nicht unähnlich.<br />

Die frei schwebende Scheibe kam, während sie einen schrillen Sirenenton von sich<br />

gab, plötzlich zum Stillstand. Sogleich legte sie sich unter Verkürzung der einen<br />

und Verlängerung anderer Lichtbündel parallel zum Erdboden, und aus ihrer Mitte<br />

quoll ein gewaltiger Feuerstrahl. Kaum hatte dieser den Boden erreicht, verloschen<br />

die Trägerlichter, die Sirene verstummte und die Scheibe senkte sich unter<br />

beständiger Verkürzung des Feuerstrahls auf die Erde.<br />

Das Feuer erlosch, und auf einmal war Stille. Nur vereinzelt ließ sich ein<br />

ängstliches “Oh my God!” aus dem Kreise der Umstehenden vernehmen. Ich hob<br />

die Hand von der Rückenstütze meiner Parkbank und schritt entschlossen auf das<br />

gelandete Ungetüm zu. Es war etwa von gleicher Höhe wie die Säule mit dem<br />

Kolumbus-Standbild inmitten des Platzes. Die Lichtpunkte in den konzentrischen<br />

Kreisen, jetzt die einzigen Quellen von Helligkeit, erwiesen sich als erleuchtete<br />

runde Fensterlöcher, bei einem Schiff hätte ich gesagt: Bullaugen. Doch ließ weder<br />

die Art und Weise, in der das Gefährt hierher gelangt war, noch seine Gestalt in<br />

mir den Gedanken an einen Vergleich mit Schiffen überhaupt aufkommen.<br />

Während ich, mir hier und da mit der ausgestreckten Linken den Weg durch die<br />

Zuschauermenge bahnen müssend, auf das Phänomen zuging, das mich ebenso<br />

unwiderstehlich anzog wie einst das Lagerfeuer eines mir bislang unbekannten


Indianerstammes, fiel aus einem Kreisabschnitte unterhalb der leuchtenden Ringe<br />

eine Art Zugbrücke oder auch Laufplanke herab. Von zwei stabilen Ketten<br />

gehalten, tat sich ein schmaler Weg in das Innere der flachen Kapsel auf. Sobald ich<br />

davor stand, zögerte ich. Nicht, daß es mir an Mut gebrach - doch hatte die<br />

Einmaligkeit der Situation so viel Überwältigendes an sich, daß ich einfach eine<br />

Verschnaufpause brauchte. Dies war eine Schwelle, wie ich sie in meinem an<br />

Übertretungen aller Art gewiß reichen Leben noch nie überschritten hatte.<br />

Dasjenige in mir, was ich oft den früheren Karl genannt, hatte zurückzubleiben.<br />

Die Verfehlungen meiner Jugend, für die ich gebüßt, die Irrtümer des Ruhm- und<br />

Erfolgbesessenen, zu denen jeder, der schreibt, früher oder später neigt, meine<br />

Fehler im vertrauten Umgange mit Frauen wie mit Männern - all das war<br />

Vergangenheit und mußte schweigen beim Eintritt in jene Andere Welt, die sich da<br />

vor mir öffnete.<br />

Ich setzte einen Fuß auf den herabgelassenen Laufsteg, doch zögerte ich erneut.<br />

Was, wenn dies ein ausgeklügelter Hinterhalt war, den mir meine Feinde stellten?<br />

Von diesen hatte ich ja nun wahrlich genug, sogar überreichlich, vor allem in<br />

meinem lieben Deutschland. Dort lauerten sie auf mich in Redaktionsstuben und<br />

Literatenvereinen, bei den Zusammenrottungen von Klerikern, Germanisten und<br />

sogenannten Kunsterziehern. Und, ja, in Gerichtssälen. Meinen Widersachern zu<br />

entgehen hatte ich mich gemeinsam mit Doktor Cook hierher nach Amerika<br />

davongemacht; allein der Gedanke an die sogenannte Gerechtigkeit eines Gerichtes<br />

verursachte bei mir noch immer Schüttelfrost und eine Gänsehaut wie bei manchen<br />

Leuten der Genuß von Walderdbeeren.<br />

Während ich noch zauderte, erklang schräg über mir aus einem Megaphone<br />

gebieterisch blechern eine mir nicht sogleich bekannte Stimme, die zum<br />

Weitergehen aufforderte: “Nur zu, lieber Karl May, sei unerschrocken und mutig<br />

wie sonst! Wir sind gekommen, weil du uns gerufen hast!” Ich stutzte. Kaschadu<br />

sprach da jedenfalls nicht.<br />

All meine Beherztheit zusammennehmend, ging ich die leichte Schräge hinan. Es<br />

roch unverkennbar nach Schwefel wie zuweilen in einer vom Gewitter gerüttelten<br />

Landschaft. Dieser Teufels- und Höllengeruch hätte mich warnen sollen, doch<br />

schob ich leichtfertig alle Bedenken von mir und überschritt die Schwelle ins<br />

Innere. Sofort waren sie wieder da, die gemischten Gefühle. Doch ehe ich mich’s<br />

versah, war es zu spät. Pfeifend ging der Laufsteg hinter mir hoch, mit lautem<br />

Klapp schloß sich der Einstieg. Irritiert blickte ich mich um. Es gab keinen Weg<br />

zurück.<br />

Vor mir stand in einem rotgelben Gewand, einer Art Taucheranzug mit einer den<br />

Kopf umschließenden gläsernen Kugel, ein dünnlippiger Bebrillter, dessen hohe<br />

Stirn mir bekannt vorkam, wiewohl ich für ihrenTräger in diesem Augenblick<br />

keinen Namen zu nennen gewußt. Von der Glaskugel gingen rätselhafte Schnüre<br />

und Schläuche aus, welche die Gestalt in jenem merkwürdigen Kostüm weitläufig<br />

mit einem Brett an der Wand der Kabine verbanden.


In seiner Rechten hielt der Unbekannte ein dem Lauf eines Stutzens nicht<br />

unähnliches Rohr, das er langsam auf mich richtete, indem er sagte: “Denke nicht,<br />

dies sei ein Indianerlager oder irgendeine Verschanzung im wilden Kurdistan. Wenn<br />

diese Waffe losgeht, bist du atomisiert. Also füge dich in dein Schicksal.” Bei den<br />

letzten Worten nahm er den gläsernen Helm ab, und ich erkannte Rudolf Lebius,<br />

meinen übelsten Widersacher. Ich war ihm in die Falle gegangen.<br />

Mich in mein Schicksal zu fügen war ich noch nie bereit. Manche am Marterpfahle<br />

verbrachte Nacht hatte mich in dem Glauben bestärkt, daß es im Vertrauen auf die<br />

eigene Kraft immer noch einen Ausweg zurück ins Leben gibt. Doch war ich<br />

diesmal allein, konnte weder auf die Hilfe von Winnetou noch auf anderen<br />

unerschrockenen Beistand hoffen. Das klang schlimm genug. Allein - ich war auch<br />

jetzt nicht gesonnen, gegen den Widerling aufzugeben. Lebius wies mir, weiter mit<br />

seiner unbekannten Waffe drohend, einen Platz auf einer rund um den Raum<br />

laufenden gepolsterten Bank an. Er hielt etwa zehn Fuß Abstand von mir, ein<br />

Umstand, der mich nachdenklich machte. Indessen begann er mit seinem Verhör.<br />

“Bist du bereit, alle vor deutschen Gerichten gegen mich anhängigen Klagen<br />

zurückzuziehen und gleichzeitig meine Behauptung anzuerkennen, daß du, Karl<br />

May aus Ernstthal in Sachsen, ein geborener Verbrecher bist?”<br />

“Nein. Sowohl was das generelle Zurückziehen meiner Klagen vor den Gerichten<br />

betrifft als auch speziell hinsichtlich des Beleidungsverfahrens wegen Ihrer<br />

ungeheuerlichen und durch nichts zu rechtfertigenden Äußerung, ich sei ein<br />

geborener Verbrecher.”<br />

“Bist du bereit, künftig alle aus der Veröffentlichung deiner Werke erwachsenden<br />

Erträge mit mir zu teilen, sagen wir erst einmal - fifty fifty?”<br />

“Nein.”<br />

“Bist du bereit, in Verhandlungen über die Verfilmung deiner Reiseromane<br />

einzutreten und mich - nun ja: fifty fifty - an dem Geschäft zu beteiligen?<br />

“Nein in beiden Punkten.”<br />

“Das ist dumm und unüberlegt von dir. Andere werden ohne dich das Geschäft<br />

machen. Und leider dann wohl auch ohne mich.”<br />

“Ich werde mich mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln bis zu meinem letzten<br />

Atemzuge der sogenannten Verfilmung meiner Werke widersetzen. Sie kann<br />

ohnehin nur auf eine Verwässerung dessen, was mir am Herzen liegt, hinauslaufen.<br />

Und so etwas dulde ich nicht.”<br />

“Du nicht - aber die Mieze läßt das Mauseln nicht, wenn du weißt, was ich<br />

meine!”<br />

Und ob ich das wußte! Zornentbrannt sprang ich von der Bank auf, die er mir als<br />

Sitz angewiesen.<br />

“Du nimmst sofort wieder Platz!” rief Lebius scharf. “Sonst hast du dein Leben<br />

verwirkt.” Bei diesen Worten hob er seine Atomisierungsbüchse gegen mich.<br />

Notgedrungen gehorchte ich, die Waffe durfte offenbar nicht unterschäzt werden.<br />

Doch sann ich sogleich auf die erstbeste Möglichkeit, seine Übermacht zu brechen,<br />

und binnen kurzem war mir auch etwas Passendes eingefallen.


Ich vermochte beide Hände so unter meinem Sitzfleisch zu positionieren, daß sie<br />

mich bei dem Sprung, den ich plante, zusätzlich zur Kraft meiner Beine durch die<br />

Wucht machtvollen Abstoßens zu unterstützen vermochten. Zunächst galt es, Zeit<br />

zu gewinnen und ihn womöglich näher an mich heranzulocken.<br />

“Herr Lebius”, sagte ich, denn ich war keinesfalls gewillt, mich der von ihm<br />

gewählten herablassenden Anredeform des dumm-vertraulichen Du zu bedienen,<br />

“wir hatten über die Jahre unseren Zwist, zugegeben; doch sind wir stets<br />

miteinander im Gespräch geblieben, wenn auch - selbst das bin ich gern<br />

einzuräumen bereit - weit häufiger durch Schmähschriften und über Anwälte als im<br />

wirklichen Dialog, ich meine: im Gespräche von Mann zu Mann. Doch hat es auch<br />

dieses gegeben.”<br />

“Die Zeiten sind vorbei, lieber May! Und zwar ein für allemal.”<br />

“Ich erinnere nur an unsere Begegnung im Kaffeehaus Bauer Unter den Linden<br />

oder---”<br />

“Genug davon, genug! Jedesmal hast du mich bei diesen Treffen über den Tisch<br />

ziehen wollen. Aber damit ist endgültig Schluß! Jetzt ist nicht damals, laß dir das<br />

gesagt sein.”<br />

“Für eine Einigung ist es nie zu spät. Was sollte denn die heutige Situation so ganz<br />

anders machen, Herr Lebius?” Ich stellte mich dumm, so gut ich dies eben<br />

vermochte. Natürlich ahnte ich, worauf seine Antwort hinauslaufen würde.<br />

“Herr Lebius, Herr Lebius! Schluß mit dem Gestammel, das deine Angst vor mir<br />

nicht verbergen kann. Siehst du denn wirklich nicht, was los ist? Das--- das hier<br />

ist anders als früher. Und zwar ganz und gar anders! Eine Zauberbüchse. Da<br />

kannst du mit Henrystutzen und Bärentöter gleich einpacken.” Er hob mit beiden<br />

Händen seine schreckliche Waffe, von deren Zerstörungskraft ich nur die<br />

nebulösesten Vorstellungen hatte. Augenblickslang bedauerte ich, nicht einmal<br />

mehr meine Winchester Automatic zur Hand zu haben.<br />

Ohne daß es wehleidig geklungen hätte, machte ich den Versuch, an seine Vernunft<br />

zu appellieren: “Machen Sie sich doch nicht unglücklich, Herr Lebius! Wir haben<br />

nie über Kimme und Korn miteinander verhandelt.”<br />

“Einmal muß es das erste Mal sein”, sagte er aufgebracht, seine äußerliche<br />

Überlegenheit sichtlich genießend. Er fuhrwerkte mit der makabren Wunderbüchse<br />

vor meinen Augen herum, als sei er jederzeit bereit, abzudrücken. “Dieses Ding<br />

zerlegt dich in Sekundenschnelle in deine allerkleinsten Bestandteile.” Dabei tat er<br />

einen Schritt auf mich zu. Und schließlich noch einen.<br />

Darauf hatte ich gewartet. Jetzt war er mir so nah, daß ich es wagen konnte. Ich<br />

warf mich ihm mit einem Sprunge entgegen, wie er dem Berglöwen eigen ist, wenn<br />

sich dieser in großer Bedrängnis befindet. Die Distanz, die es dabei zu überbrücken<br />

galt, hatte Lebius offenbar noch immer für sicher genug gehalten, ich jedoch hatte<br />

gewußt, daß er mein Sprungvermögen unterschätzte. Mit beiden Händen, die ich<br />

schon während des Absprunges vor meine Brust gehoben, umklammerte ich seinen<br />

Hals. Ich drückte jedoch nicht fest zu. Alle Kraftreserven einsetzend, vermochte<br />

ich, indem ich ihn mit meinem eigenen Körpergewicht niederhielt, seinen Händen


die unheilversprechende Büchse zu enwinden. Ich schleudert sie von mir. Er<br />

versuchte noch einmal aufzuspringen, um sich erneut in den Besitz der Waffe zu<br />

bringen. Dabei glitt ihm die gläserne Kugel, die schon vorher verrutscht war,<br />

endgültig vom Kopfe. Ich nutzte die Gelegenheit und versetzte ihm mit der<br />

Rechten einen Schlag gegen die Schläfe, daß er wie eine leblose Puppe<br />

zusammensank. Mit meiner Schmetterhand hatte ich schon ganz andere Leute<br />

außer Gefecht gesetzt.<br />

Lebius lehnte besinnungslos an der gepolsterten Wandbank. Der Helm mit den<br />

langen Drähten und Schläuchen lag umgestülpt neben ihm. Rundherum tickten<br />

allerlei Gerätschaften, auf deren Zweck ich mir keinen Vers machen konnte.<br />

Glühbirnen blinkten in unterschiedlichen Farben. Über der Szene lag ein<br />

allgemeines leises Gesumme, das offenbar gleichfalls aus jenen Geräten drang. Mit<br />

Genugtuung konstatierte ich: der penetrante Schwefelgeruch war verschwunden.<br />

Das Wichtigste war offensichtlich getan, die Entscheidung Wer Wen? gefallen -<br />

und zwar endgültig und zu meinen Gunsten. Jetzt galt es, den Überwältigten für<br />

längere Zeit unschädlich zu machen, ohne ihn jedoch zu töten. Ich halte das Leben<br />

eines Menschen für das höchste irdische Gut desselben, und darum soll man es<br />

schonen. Kann ich ohne Blut zum Zwecke kommen, so tue ich es. Mit einem<br />

elektrischen Kabel, das ich von der Wand riß, fesselte ich Lebius sekundenschnell.<br />

Darauf verlosch zwar das Licht in dem Raume, in dem wir gekämpft, doch traf<br />

mich eine solche Situation nicht unvorbereitet.<br />

Der Geheimtasche meines Rockes entnahm ich eins der dort wasserdicht<br />

aufbewahrten Zundhölzer und riß es am Fußboden an. Im flackernden Licht der<br />

kleinen Flamme vollführten Apparate und Hebel überall in dem weitläufigen<br />

Gemach einen bizarren Tanz. Am Boden entdeckte ich neben Lebius ein etwa<br />

daumenlanges schwarzes Kästchen mit mehreren grell bunten Knöpfen; es mußte<br />

einer Tasche im Kleid des Bösewichtes entfallen sein, als ich ihn überwältigte.<br />

Ich griff ein Messer, das der Bewußtlose am Gürtel seines rotgelben Gewandes<br />

trug, und wollte eben die zu seinem gläsernen Helm führenden Schläuche und<br />

Kabelschnüre durchtrennen, als im Hintergrund gedämpft eine Stimme erscholl:<br />

“Nein, nein! Zerstöre nichts, Kabluna Karl! Du wirst den gläsernen Helm bald<br />

schon selbst nötig haben. Wir sind gekommen, dich dorthin zu bringen, wohin es<br />

dich zu fliegen verlangt.”<br />

In der Richtung, aus der die Stimme gekommen, erkannte ich über einem<br />

heruntergeklappten Teil der Kabinenwand Kaschadu, die Schamanin. Sie trug einen<br />

ebensolchen Anzug wie Lebius und auch einen gläsernen Helm, der ihre Stimme<br />

verfälscht hatte.<br />

“Kaschadu”, sagte ich, “wie kommt es, daß ich dich erst jetzt bemerkt habe?” und<br />

schritt auf sie zu. Sie nahm ihren Helm ab und stieg aus dem Nebengelaß in die<br />

Mitte des Raumes. Ohne ein weiteres Wort bückte sie sich und nahm das<br />

schwarze Kästchen vom Boden auf. Sie drückte auf mehrere Tasten, und<br />

augenblicklich fielen noch mehr Wandklappen von der Art, wie eine auch sie<br />

bislang verborgen gehalten, herunter. Über ihnen wurden andere Gestalten in


orangefarbenen Anzügen und mit übergestülpten Glashelmen sichtbar. Doch<br />

hatten diese, soweit durch die gläsernen Kopfhüllen in dem schwachen Lichte<br />

erkennbar, kein menschliches Antlitz.<br />

Ich wollte mich sogleich vergewissern, mit wem ich es zu tun hatte, riß zu diesem<br />

Zwecke ein frisches Zündholz an und schritt auf einen der Fremdlinge zu. “Der<br />

Mann, den du niedergeschlagen”, hörte ich hinter mir Kaschadus Stimme, “hat die<br />

Besatzung dieses Raumkajaks getäuscht und das Gefährt jetzt eben, kurz vor<br />

unserer Landung, in seine Gewalt gebracht.”<br />

“Ein Raumkajak?” Ich wandte mich abrupt zu ihr um. “Aus welchem Raume?”<br />

“Aus dem Weltraum, Karl. Diese Fremden sind auf die Erde gekommen, weil sie<br />

nach einem verschollenen Fahrzeug aus ihrer Flotte suchen.” Die maritimen<br />

Sprachbilder, die sie benutzte, verwirrten mich. Sollten diese mit dem Wohnort<br />

von Sedna, ihrer vielgepriesenen Würdevollen, auf dem Meeresgrunde zu tun<br />

haben? Ich habe weißgott nie unter einem Mangel an Phantasie gelitten, doch<br />

konnte ich mir Flotten und Schiffe, die auf den Wogen des kosmischen<br />

Weltenraumes umherfahren sollten, bislang nie vorstellen - selbst wenn Kaschadu,<br />

eingedenk ihrer Herkunft, von einem Kajak sprach. Und nun stand ich selbst in<br />

einem solchen Sagengefährt.<br />

In Amerika erheben die Gazetten zuweilen ein großes Geschrei um derlei<br />

Raumschiffe. Mal wollte jemand ein zigarrenförmiges Flugobjekt über Chikago und<br />

mal ein “eher kegelartiges” über West Virginia gesichtet haben. Ich hatte diese<br />

Meldungen stets höchst reserviert aufgenommen, doch gab es diese fliegenden<br />

Boten aus dem All offenbar tatsächlich. Die eigene Erfahrung ist noch immer die<br />

überzeugendste und wohl auch die allerheilsamste Maulschelle zum Austreiben<br />

von Ungläubigkeit.<br />

“Wir sind dir dankbar, daß du uns von diesem trügerischen Kabluna befreit hast”,<br />

fuhr Kaschadu fort. “Er hat sich eingeschlichen, als ich an Bord genommen wurde.<br />

Doch ich denke, Null-Eins will dich selbst hier an Bord willkommen heißen.”<br />

Dabei wies sie mit einem Kopfnicken hinter mich. Dort stand der Fremdling, auf<br />

den ich zugegangen. Er hatte seine Glaskugel vom Kopfe genommen. Stattlich, mit<br />

breiten Schultern, einem kurzen Hals und stolzer, aufrechter Haltung war er einem<br />

Menschen ähnlicher als ich zunächst anzunehmen bereit gewesen. Er hatte Arme<br />

und Beine, doch waren seine Gesichtszüge aus kleinen, jeweils ebenen Dreiecken<br />

zusammengesetzt, die mit scharfen Kanten gegeneinander abgesetzt und mit allerlei<br />

Rillen überzogen waren. Die großen Augen starrten weit aufgerissen. Sie hatten die<br />

Reglosigkeit einer photographischen Optik.<br />

Ich verneigte mich kurz. Er erwiderte meine Geste und sprach mich in einem mir<br />

unverständlichen Idiome an, das als melodisch zu bezeichnen ich nicht anstehe,<br />

obwohl es im ersten Zuhören eher bellend klang. Sobald ich, mein Unverständnis<br />

zu signalisieren, hilflos die Schultern zuckte, lachte er kurz auf. Seine<br />

Gesichtsflächen, jene ebenen Dreiecke, verschoben sich dabei übereinander wie die<br />

Schuppen eines Reptilienpanzers, doch war der Eindruck, den dieses Verschieben<br />

vermittelte, eben der durchaus freundliche eines Lächelns. Er entnahm einer


Brusttasche seines Raumanzuges - ich benutze einmal dieses Wort, obwohl ich<br />

nicht sicher bin, ob meine Leser sich darunter etwas vorzustellen vermögen - einen<br />

fast handtellergroßen Kasten, ähnlich dem, mit dem Kaschadu die Wandverliese<br />

entriegelt hatte (ihr eigenes war vermutlich durch einen Impuls beim Hinfallen der<br />

Lebius entglittenen Box geöffnet worden).<br />

Mein Gegenüber richtete das Kästchen auf mich und drückte eine der Tasten.<br />

Dazu sagte er in demselben bellenden und doch melodischen Singsang, in dem er<br />

bisher gesprochen: “Großer Unbekannter! Wir sind dir dankbar. Sei unser Gast.<br />

Gib uns dein Fahrtziel an.” Ich konnte ihn plötzlich verstehen - mittels<br />

Knopfdruck hatte er mich seine Sprache gelehrt! Da drückte er abermals auf einen<br />

der Knöpfe, und sofort ging das Licht wieder an, gerade zur rechten Zeit. Mein<br />

Zündholz war inzwischen gefährlich weit heruntergebrannt, und ein neues<br />

anzureißen hatte ich in der Aufregung dieser höchst ungewöhnlichen Situation<br />

völlig vergessen.<br />

Mich kurz verneigend, sagte ich: “Ich habe Kaschadu gerufen, weil ich nach Etah<br />

in Grönland gebracht zu werden wünsche. Sie weiß, wo das liegt.” Ein kurzes<br />

fragendes Armaufheben des Fremdlings in Richtung auf Kaschadu, welches diese<br />

mit einem Nicken beantwortete, zeigte mir, daß auch ich verstanden wurde.<br />

Sofort wurden Kommandos hörbar, aus denen ich die Worte Maschine klar,<br />

Flugbahn Orbitsegment und Kurssektor Eins-Eins-Eins heraushören konnte. Was<br />

die letzten beiden zu bedeuten hatten, blieb mir allerdings unverständlich. Von den<br />

Befehlen elektrisiert wie Galvanis berühmte Froschschenkel, sprangen die<br />

Mitglieder der Besatzung aus den Wandklappenöffnungen. Jeder schien einen ihm<br />

angestammten Platz einzunehmen. Der mir von Kaschadu als Null-Eins<br />

Vorgestellte, offensichtlich der Kapitän oder Kommandant, trat mit einem seiner<br />

Leute zu mir. Er wies auf diesen und sagte: “Großer Unbekannter! Eins-Eins wird<br />

dir beim Anlegen des Schutzanzuges behilflich sein. Dazu muß er mit deiner Hilfe<br />

den Großen Betrüger entkleiden, den du überwältigt hast.” Bei diesen Worten trat<br />

er an Lebius heran. Dieser war mittlerweile gänzlich zu Boden gerutscht. Er bot ein<br />

Bild des Jammers. Null-Eins kniete neben ihm nieder. Er zog strumpfartige<br />

Kappen von den Armen seines Anzuges. Da sah ich, daß er keine Finger besaß,<br />

sondern spitz auslaufende Armenden. Diese langten beherzt nach der Fesselung,<br />

mit der ich Lebius ruhiggestellt. Durch ein paar geschickte Griffe löste der<br />

Kommandant die Knoten und wälzte den Liegenden auf den Rücken. Darauf erhob<br />

er sich und sagte dem Raumfahrer neben mir: “Empfehle Beseitigung.”<br />

Sogleich war ich auf meiner Hut. Hatte ich dem Überwältigten das Leben<br />

geschenkt, so gab dieser Umstand doch niemandem das Recht, ihm dasselbe von<br />

sich aus zu nehmen. Eins-Eins setze sich rittlinks auf den Liegenden und nahm<br />

sich die Armkappen ab. Auch er hatte keine Finger, sondern zwei spitz<br />

auslaufende, nicht einmal handartig verbreiterte Armenden.<br />

Offenbar entsprach das von ihnen verwendete binäre Zahlensystem der Form und<br />

Ausgestaltung ihrer zum Zählen benutzten Körperteile, überlegte ich. Kein<br />

Wunder, daß bei ihnen nicht unser dezimales System üblich war, beruht dieses


doch ausschließlich auf dem Vorhandensein von zehn Fingern an den<br />

Menschenhänden.<br />

Eins-Eins war somit logischerweise der Dritte in ihrer Bordhierarchie. Er griff<br />

entschlossen mit beiden Spitzarmen nach einem länglichen Metallstück - einer Art<br />

Brosche - am Halsende des Anzuges, welchen Lebius trug, riß das Ganze mit<br />

energischem Griff nach unten und legte dadurch hinter dem Verschluß die Brust<br />

des Ohnmächtigen frei. Durch ausgeklügelte Verzahnung vieler einzelner<br />

Metallelemente war das Ganze bislang zusammen gehalten worden. Eine, wie mir<br />

schien, auch für Menschen höchst sinnreiche Vorrichtung. Man könnte sie Reiß-<br />

Verschluß nennen.<br />

Darauf wies er mich an, den Liegenden unter einer Schulter zu packen. Gemeinsam<br />

pellten wir Lebius aus seinem Anzuge. Sobald Rumpf und Oberschenkel befreit<br />

und wir bei den Waden angelangt waren, stieg mir ein fast unerträglicher<br />

Schweißfußgeruch entgegen, der Eins-Eins jedoch nicht anfocht. Der reglose<br />

Körper entglitt meinen Händen.<br />

Mein Partner deutete auf die Einstiegsklappe, die sich indessen wieder geöffnet<br />

hatte, sagte: “Dort hinaus”, und griff Lebius unter die Achseln. Ich zögerte einen<br />

Augenblick und entgegnete sodann: “Laß mich dorthin!”<br />

Eins-Eins legte den Oberkörper am Boden ab und schritt um Lebius herum. Ich<br />

kniete neben dem Liegenden und steckte ihm die zwanzig Dollar zu, welche ich<br />

soeben - aber was heißt schon soeben, wenn man sich plötzlich in einer gänzlich<br />

unbekannten Anderen Welt befindet?! - bei der Wette um die Rekordfahrt der<br />

“Mauretania” gewonnen hatte.<br />

Wir schritten die Laufplanke hinab und warfen den Bewußtlosen hinaus aufs<br />

Pflaster. Mein Startgeld würde ihm helfen, weiterzukommen. Selbst mitten im<br />

Llano Estacado hätte ich einen überwundenen Gegner niemals ohne den rettenden<br />

Trunk Wasser sich selbst überlassen.


8. NACHRICHT VOM LEBENSSTERN<br />

Die Erkenntnis tat gut: beseitigen hieß in der Sprache der Fremden offenbar nicht<br />

unbedingt töten. Und der Erste Mann an Bord gab nicht etwa Befehle, sondern<br />

empfahl. Ich sollte in der kurzen Zeit unseres Beisammenseins noch manch andere<br />

Überraschung erleben. Der Flug dauerte, nachdem das Treibwerk gezündet und das<br />

Lichtermeer von Neuyork unter uns veschwunden war, nur Minuten. Von dem<br />

Lärm, den ich als Zuschauer bei der Landung des Gefährtes erlebt hatte, drang<br />

beim Start kaum etwas ins Innere.<br />

Gleich nördlich von Neuyork wurde es dunkel am Boden; wann das Land mit dem<br />

Meere und wann dieses mit Grönlands Eis wechselte, war nicht zu erkennen. In<br />

Etah herrschte stockfinstere Nacht. Es war noch nicht die Polarnacht, die Sonne<br />

würde am späten Morgen des nächsten Tages für einige Stunden aufgehen. Dieser<br />

Umstand half uns zum Zeitpunkt der Ankunft zwar wenig, allein die Landung war<br />

durch die herrschende Dunkelheit zu keinem Augenblicke gefährdet. Selbst für das<br />

Sehen in der Finsternis gab es an Bord eine Vorrichtung. Es war dies eine grün<br />

leuchtende Scheibe über dem Pulte, von welchem aus Null-Eins gemeinsam mit<br />

Eins-Null unsere Fahrt steuerte. Die Scheibe zeigte die mir vertrauten Umrisse der<br />

kleinen Hafenbucht, ja sogar jede einzelne Erdhütte unterm Schnee und jeden<br />

Liegeplatz für die Kajaks der Inuit als Muster aus hellgrünen Punkten und<br />

Strichen.<br />

Es dauerte wenige Sekunden, dann hatte ich mich an das Lesen dieser so eigenartig<br />

strahlenden Karte gewöhnt. Ich strengte meine Augen an, die ja nicht mehr die<br />

jüngsten waren. Und siehe da, auf dem Felsenkap nördlich der Siedlung, war bei<br />

geduldigem Hinschauen eine Steinpyramide zu sehen: der Ort, an dem Cooks<br />

Unterlagen verborgen sein mußten.<br />

An dem Schaltpulte wurden hastig einige Hebel umgelegt. Zwischen den<br />

Fensterlöchern griffen die Suchscheinwerfer ins Dunkel, erfaßten den eisigen<br />

Grund. Legten den Flugkörper waagerecht zu Grönlands weißer Einöde. Ein<br />

weiterer Hebelruck, und die Bremsrakete wurde gezündet. Nun wurde es auch in<br />

unserer Kabine recht laut. Das Raumschiff erzittterte. Mein Anzug schlotterte wie<br />

das Fell einer Schamanentrommel in der Extase des Tanzenden. Dann war Stille.<br />

Wir hatten aufgesetzt.<br />

Kaschadu war hinter mich getreten. “Wir sind in Etah”, sagte sie, und ich empfand<br />

einigen Stolz, als ich mit einem Kopfnicken bestätigen konnte, daß ich die<br />

Örtlichkeit bereits erkannt hatte. “Wir werden hier liegen bleiben, damit du morgen<br />

bei Sonnenlicht aussteigen kannst, Karl. Dann erst fliegen wir weiter.”<br />

“Wohin geht eure Reise?”<br />

“Die Fremdlinge suchen das verschollene Kajak in Sibirien.”<br />

“Sibirien ist groß. Wo genau vermuten sie es?”<br />

“Am Flusse Tunguska.”


“Obere oder Untere? Oder Steinige? Es gibt immerhin drei Flüsse dieses Namens,<br />

alle sind sie Nebenflüsse des Jennisseij. Die Obere Tunguska oder Angara ist ein<br />

Abfluß des Baikalsees, die Untere Tunguska entspringt in den Bergen westlich von<br />

Kirensk und die Steinige Tunguska. . .”<br />

“An der Steinigen Tunguska”, sagte Kaschadu mit Bestimmtheit.<br />

“Eine schwer zugängliche Gegend, mitten in der Taiga. Höchstens ein paar<br />

nomadisierende Ewenken. Und Rentiere. Nicht auszudenken, wenn da etwas<br />

passiert sein sollte...”<br />

“Ihr Kabluna seid mit euren Schlüssen immer so voreilig. Noch hoffen wir, das<br />

Kajak in gutem Zustand und die Besatzung bei bester Gesundheit zu finden. Es<br />

ist aber trotzdem möglich, daß Hilfe gebraucht wird.”<br />

“Ich wollte nur sagen: man darf selbst das Schlimmste nicht ausschließen.”<br />

“Ich werde ihnen den Weg weisen. Und dann komme ich zurück und hole dich ab.<br />

Dadurch, daß der betrügerische Kabluna sich bei uns einschlich, ging viel Zeit<br />

verloren.”<br />

“Aus welchem Grunde sind die vermißten Raumfahrer zur Erde gekommen?”<br />

“Sie haben sich in Sednas Auftrag auf den weiten Weg gemacht, um die Bewohner<br />

der Erde zu warnen.”<br />

“Warnen - wovor?”<br />

“Vor einem großen Krieg, der unweigerlich kommen wird, falls niemand die<br />

Entwicklung in den Ländern der Kabluna aufhält. Dort wird die Bedrohung nicht<br />

erkannt, die aus immer mehr Feuergewehren erwächst. Und aus immer größeren<br />

Kajaks, die zur Vernichtung anderer Kablunakajaks gebaut werden anstatt zum<br />

Fischfang. Und, glaube mir, das wird schon bald nicht mehr alles sein an<br />

schrecklichen Waffen, die Kabluna gegeneinander richten. Noch viel schrecklichere<br />

werden hinzukommen!”<br />

Wie klar sie die Dinge sah... Sie wußte um das Flottenwettrüsten und um<br />

die Gefahr, die aus der immer weiter perfektionierten Produktion immer neuer<br />

Waffen und Waffensysteme erwuchs. Ich schwieg zu dem Gesagten, weil ich völlig<br />

mit ihr übereinstimmte und ihren Sorgen um den Frieden in der Kablunawelt nichts<br />

hinzuzufügen hatte. Später habe ich dieses Schweigen bedauert, ließ ich doch eine<br />

einmalige Gelegenheit vorübergehen, mein eigenes Friedenswerk über den Erdkreis<br />

hinaus bekanntwerden zu lassen und dafür möglicherweise Verbündete zu finden,<br />

von deren Existenz ich noch am Tage zuvor keine Ahnung gehabt.<br />

“Wirst du wiederkommen, noch ehe der Halbmond zu einer schmalen Sichel<br />

schrumpft?”, fragte ich nach einer Weile.<br />

“Ich hoffe es, Karl.” Ihre Stimme war, obwohl wir beide die Glaskugel trugen, gut<br />

zu verstehen - jedenfalls bedeutend besser als bei jedem beliebigen Gespräche<br />

zwischen zwei Telephonapparaten in Radebeul.<br />

Wir waren abseits der Siedlung gelandet, und zwar leicht südlich davon, soweit ich<br />

dies einzuschätzen vermochte. Rund um das Raumschiff hatte der Feuerstrahl Eis


und Schnee in einer weiten Schneise restlos hinweggeschmolzen. Als sich keine<br />

Eskimos zeigten, schaltete Eins-Eins die Scheinwerfer ab. Bald darauf erscholl eine<br />

Glocke und alle Mitglieder der Besatzung versammelten sich um einen aus dem<br />

Kabinenboden herausgefahrenen Tisch. Sie nahmen die Glaskugeln von den<br />

Köpfen und verharrten für einen Moment reglos. Von der Decke fielen dünne<br />

Schläuche aus einem kautschukartigen Material herab.<br />

Auf ein erneutes Klingelzeichen hin griff jeder sich einen solchen Schlauch und<br />

steckte ihn in die schmale Öffnung zwischen den Gesichtsplatten, die bei ihnen<br />

wohl die Stelle des Mundes einnahm. Gleichzeitig erscholl die Stimme von Null-<br />

Eins: “Großer Unbekannter und Große Kaschadu! Bitte nehmt die Gästeschläuche<br />

und teilt unser bescheidenes Mahl mit uns. Ich empfehle euch das Gericht<br />

Nummer Eins-Null-Eins: Schlafsuppe mit Imunisierungssirup und Kraftextrakt.<br />

Morgen wird für uns alle ein langer und anstrengender Tag.”<br />

Ich nahm neben Kaschadu Platz. Mein Nachbar auf der anderen Seite gab mir eins<br />

der bei ihnen für alle möglichen Verrichtungen unumgänglichen schwarzen<br />

Kästchen und wies mich auf die Drucktasten hin. Ein Feld war mit einem Dreieck,<br />

das andere mit einem Kreise gekennzeichnet. Offenbar stand der Kreis für das<br />

Volle, die Einheit: die Eins, das Dreieck für die Null. Ich steckte den Schlauch in<br />

den Mund und wählte mein Essen gemäß der gegebenen Empfehlung. Eine zähe,<br />

doch erfrischende und - alles in allem - wohlschmeckende Flüssigkeit füllte bald<br />

meine Mundhöhle.<br />

Ich schluckte und empfand sogleich nicht nur wohlige Sattheit, sondern auch eine<br />

gewisse Bettschwere. Je müder ich wurde, desto langsamer floß das Manna aus<br />

meinem Schlauch. Ich bin dann wohl, meinen Oberkörper über den Tisch gelehnt,<br />

eingeschlafen. Als ich erwachte, waren die Eßschläuche in der Decke<br />

verschwunden. Mit mir saß nur noch Kaschadu am Tische. Auch sie war eben<br />

dabei, aufzuwachen und rieb sich die Augen. Durch die Fensterluken fiel fahles<br />

Tageslicht. Der Himmel war wolkenverhangen.<br />

“Wo sind unsere Gastgeber?” fragte ich sie.<br />

Die Schamanin zeigte sich trotz der frühen Tagesstunde wohlinformiert. “Sie<br />

erledigen Wartungsarbeiten außen am Raumkajak”, entgegnete sie.<br />

“Von woher sind sie eigentlich auf unsere Erde gekommen?”<br />

“Gut, daß du diese Frage mir stellst und nicht ihnen. Sie haben es nicht gern,<br />

ausgeforscht zu werden. Mir haben sie es von sich aus gesagt. Aus einem ganz<br />

einfachen Grund, den du gleich verstehen wirst.”<br />

“Woher also...?”<br />

“Sie kommen vom Wandelstern Eins-Null-Eins-Null. Er trägt den Namen der<br />

Würdevollen: Sedna. Daher vertrauen sie mir.”<br />

“Planet Sedna? Nie gehört! Ein Wandelstern, sagst du? Jenseits von Neptun gibt<br />

es keine Wandelsterne.”<br />

“Von den Kabluna ist der Wandelstern Sedna noch nicht entdeckt worden.”


“Dacht’ ich mir’s doch! Aber sag mal - du nennst ihre Heimat Wandelstern Eins-<br />

Null-Eins-Null?”<br />

“Ja. Hier!” Sie hielt mir ihre zehn Finger entgegen.<br />

“Aber - Neptun, der fernste den Menschen bekannte Wandelstern, ist Eins-Null-<br />

Null-Null. Hier, so viel...”, sagte ich, ihr von meiner Rechten alle fünf Finger und<br />

von der Linken die Schwurfinger weisend. “Wie geht das?”<br />

“Das geht ganz einfach, Karl: Es gibt Dinge, die die Kabluna nicht wsissen. Also<br />

sag bitte nicht immer Menschen, wenn du nur euch Kabluna meinst. ”<br />

Ich ging auf ihre spitze Bemerkung nicht ein. Zu sehr beschäftigte mich die<br />

Nachricht von einem zehnten Planeten. “Das hieße ... nein, es ist nicht zu glauben!<br />

Das heißt ja, logischerweise: es muß auch noch einen neunten Planeten geben -<br />

Wandelstern Eins-Null-Null-Eins!”<br />

“Ja, Karl. Das heißt es.”<br />

“Und niemand kennt ihn. Ebenso den Planeten Sedna. Ich meine - niemand hier auf<br />

der Erde.”<br />

“Doch. Der Würdevollen ist er bekannt. Sie hat mir die Aufgabe anvertraut, den<br />

Erdengästen vom Planeten Sedna zu helfen. Sie gebietet nämlich nicht nur über das<br />

Meer, wo sie lebt und waltet, sondern übt auch die Oberhoheit über die<br />

Beherrscher des Reiches der Luft, des Mondes und des gesamten Himmels aus.<br />

Einschließlich aller Sterne.”<br />

“Aber die Wissenschaften... Astronomie - ich meine: das heißt doch Sternenlehre,<br />

Himmelskunde. Nur was sie uns lehrt, ist bewiesene Tatsache. Davon allein ist die<br />

Rede, wenn ich kennen sage: von menschlichem Wissen.”<br />

“Bist du mit einem astronomischen Hundeschlitten hierher gekommen? Oder mit<br />

einem Raumkajak vom Wandelstern Eins-Null-Eins-Null?”<br />

“Ein Raumkajak...” murmelte ich, eher gedankenversunken. Kaschadu nahm es als<br />

Antwort auf ihre Frage und sagte: “Na also, Karl!”<br />

Ich beließ es dabei. Wir standen auf. Sie versenkte den Tisch und ließ die Luke am<br />

Ausstieg herab. “Deinen Raumanzug brauchst du vorerst nicht mehr”, sagte sie.<br />

“Ich habe Pelzkleidung für dich.” Sie half mir, mein bisheriges Gewand ab- und<br />

Eisbärenfellhose, Pelzanorak und Kamiker-Stiefel anzulegen. Dann schritten wir<br />

über die Laufplanke.<br />

Draußen spielten Eskimokinder, wie konnte es anders sein. Mit den Besuchern aus<br />

der Anderen Welt gaben sie sich furchtlos und unkompliziert, als seien es alte<br />

Vertraute. Ich verneigte mich vor Null-Eins und dankte fürs Mitnehmen. Dann<br />

verabschiedete ich mich von Kaschadu. “Vergiß mich nicht und komm bald<br />

wieder!”<br />

“Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, Karl.” Die Unbestimmtheit ihrer<br />

Antwort fiel mir damals nicht auf.<br />

Ich wandte mich zum Gehen. Einen der Eskimoknaben fragte ich nach dem Jäger<br />

Etukishuk. “Der ist mit den anderen zur Jagd unterwegs”, ward mir zur Antwort.


“Wohin?”<br />

Er wies nach Süden, über die Siedlung hin.<br />

“Werden die Jäger lange fortbleiben?”<br />

“Sie kommen erst zurück, wenn die Sonne zum Mittag nicht wiederkehrt.”<br />

Das hieß: in drei Wochen. So lange konnte ich nicht warten. Ich machte<br />

mich allein auf den Weg zu dem Felsenkap im Norden. Die Siedlung umging ich.<br />

Der Schnee war fest. Ich kam gut voran. Bald sah ich das bewußte Steinmal. Ich<br />

beschleunigte meine Schritte. Hinter mir war plötzlich ein röhrendes Fauchen<br />

vernehmbar. Ich drehte mich um und sah das Himmelsgefährt vom Planeten Sedna<br />

vom Erdboden abheben. Ein feuriger Schweif stieß den fliegenden Suppenteller in<br />

den Himmel. Dann hatten die Wolken das Ungetüm verschluckt. Ich hörte,<br />

während ich weiterging, nur noch schwächer und immer schwächer werdendes<br />

Rauschen.<br />

Der Schnee rings um das Steinzeichen schien unberührt, doch hatte das nichts zu<br />

bedeuten. In der nächsten Umgebung war allerdings eine Wölbung auszumachen,<br />

unter der etwas hätte vergraben sein können. Doch halt - hatte Whitney nicht<br />

unter der Steinpyramide gesagt? Plötzlich war ich mir dessen nicht mehr sicher.<br />

Ich setzte mich an den Fuß des Steinmales und versuchte, Ordnung in meine<br />

Gedanken zu bringen. Was hatte Whitney in seiner Depesche über den Ort des<br />

Versteckes verlauten lassen? Eigentlich gar nichts. Er hatte nur gekabelt: in der<br />

Nähe von Etah, Näheres wisse Etukishuk. Und Etukishuk war nicht da. Wenn ich<br />

mehr über den Ort des Versteckes wußte, dann allein aus jenem Traume, von<br />

Minna Ey. Und die hatte gesagt: an einem leicht zu erkennenden Steinhaufen und<br />

hatte auf ihrer ominösen Karte nach diesem Felsenkap nördlich der Siedlung<br />

gewiesen.<br />

Tief holte ich Luft. Es war naheliegend, zunächst unter der Schneewölbung zu<br />

suchen.<br />

Gesagt, getan. Ich grub und grub mit dem Mut der Verzweiflung. Plötzlich stieß<br />

mein Fausthandschuh an etwas Hartes. Vorsichtig erweiterte ich das von mir<br />

geschaffene Loch im Schnee. Sobald ich die Hand herauszog, bemerkte ich auf dem<br />

Grunde der Öffnung, was ich beim Graben ertastet hatte: das Vorhängeschloß jener<br />

Seemanskiste, in welcher ich mit eigenen Augen Cooks Sachen in Whitneys Obhut<br />

gesehen hatte. Ich hob es vorsichtig heraus. Der Bügel des Schlosses hing offen. Er<br />

war stark verrostet und nur schwer zu bewegen. Ich wühlte weiter, fand jedoch<br />

von dem Behältnisse, zu dem das Schloß einst gehört, lediglich Spuren, nämlich<br />

Holzsplitter mit Resten der farbenfrohen Bemalung. Jemand hatte die Kiste<br />

zerstört - kein Wunder in dieser holzarmen Gegend.<br />

Was aber war mit den Dingen geschehen, die in der Kiste gelagert hatten? Nach<br />

einer weiteren halben Stunde erfolglosen Grabens wußte ich wenigstens dies: in<br />

dem Loche, dem Whitney den Schatz in der Kiste anvertraut hatte, lag nichts<br />

davon. Kein Blatt Papier, kein Sextant, kein Thermometer - nichts. Keine Spur


von Cooks Karte, von seinem Logbuch mit den täglichen Positionseintragungen...<br />

Ich war nahe daran, zu verzweifeln. Wo konnte noch etwas sein? Die Pyramide<br />

selbst blieb die einzige Möglichkeit. Sollte ich anfangen, die Steine einzeln<br />

abzutragen? Ich betastete den Sockel und war schon fast ganz herum gelangt, als<br />

ein Stein plötzlich wackelte. Vorsichtig zog ich ihn heraus. Dahinter tat sich eine<br />

Höhlung auf, in der ein mit Bleistift beschriebener Zettel lag. Endlich ... Mein Herz<br />

machte einen Sprung, die folgende Enttäuschung war dafür eine um so<br />

gründlichere. Auf dem Zettel stand lediglich: Diese Sachen sind das Eigentum von<br />

Herrn Doktor Frederick Cook aus Brooklyn.<br />

Ich bückte mich und griff mit bloßer Hand in die enge Öffnung. Nichts. Ich ließ<br />

meine Finger den Raum erkunden, der sich im Innern zu einer kalten Höhlung<br />

weitete. Sie griffen, langsam vorwärtskriechend und seitlich kreisend, unverändert<br />

ins Leere. Es war wie zum Hohn, doch hoffte ich noch immer. Als ich das hintere<br />

Ende des Gelasses ertastete, indem meine Fingerspitzen auf scharfe Steinkanten<br />

stießen, ward jedoch die Vermutung, welche mittlerweile trotz allen Hoffens in mir<br />

aufgekommen, zur schrecklichen Gewißheit. Auch dieses Versteck war leer.<br />

Ich muß mehrere Stunden in völliger Reglosigkeit zugebracht haben. Als ich endlich<br />

aus meiner Benommenheit erwachte, umgab mich goldpurpurnes Licht. Die<br />

Wolken der Morgenstunde, unter denen wir gelandet, waren verschwunden. Die<br />

Sonne war eben am Untergehen. Ihre Strahlenbündel stiegen vom Horizont auf und<br />

verloren sich in der Himmelshöhe. Noch stand der Mond am Himmel - exakt im<br />

Beginn seines letzten Viertels. Kaschadu!, schoß es mir durch den Kopf. Ich durfte<br />

nicht zögern, sie zu rufen, sonst würde es dafür zu spät sein. Sie vermochte mir<br />

nur zu helfen, solange der Mond sein halbes Gesicht hell und die andere Hälfte<br />

dunkel zeigte; so hatte sie bei unserer ersten Begegnung gesagt. War der Halbmond<br />

vorüber, konnte auch Kaschadu mich nicht von hier fortbringen.<br />

Ich reckte mich zu voller Größe und rief ihren Namen. Einmal, zweimal. Ein drittes<br />

Mal. Doch am Himmel geschah nichts außer einem merklichen Blasserwerden der<br />

Sonnenglut.<br />

“Kaschadu!”, versuchte ich es abermals. Und wieder nichts. Panik ergriff mich.<br />

‘Für mich hat die Zeit keine Bedeutung...’ hörte ich ihre Stimme in der Erinnerung.<br />

‘Zeit mißt nicht nur das Vergehen, sondern ebenso die Wiederkehr...’ Allerdings -<br />

auch das hatte sie damals gesagt. Gewiß, sollte die Zeit des halben Mondes einmal<br />

verstreichen, so kam sie in zwei Wochen erneut. Nur hatten diese zwei langen<br />

Wochen für mich Kabluna durchaus eine Bedeutung, und zwar eine erhebliche! Ich<br />

durfte sie nicht einfach hier in Etah im Norden Grönlands absitzen.<br />

“Kaschadu!”<br />

Nein... nein! Es durfte nicht wahr sein...<br />

“Kaschadu, so gib doch ein Zeichen, daß du mich gehört hast. Ich bitte dich!”<br />

Der Glanz des frühen Polarabends verlosch allmählich. Zuletzt erkaltete auch der


goldene Schimmer, der auf dem Eise der Bucht gelegen, zu einem bleiernen Grau.<br />

Mich fröstelte. Wollte ich nicht die Nacht hier draußen zubringen, mußte ich<br />

binnen kurzem die Siedlung aufsuchen. Es war in der Tat zum Verzweifeln. Da<br />

stand ich nun in der weißen Einöde, ein Ritter von der traurigen Gestalt in voller<br />

Winterrüstung. Meine Suche nach dem arktischen Gral war zu Ende, und sie war<br />

erfolglos geblieben. Hinzu kam, daß mich meine Beschützerin im Stiche gelassen<br />

hatte, sich jedenfalls weigerte, mich zurück ins wohlgeheizte Waldorf Astoria zu<br />

bringen - dabei war es mir völlig gleich, ob mich nun die Schamanin Kaschadu<br />

beschützte oder Sedna, die Würdevolle. Sogar der allmächtige Zauberer Merlin,<br />

der gute Geist aller Suchenden aus der Tafelrunde der Artusritter, wäre mir als<br />

Schirmherr recht gewesen. Ich sehnte mich nach den langen, gut geheizten<br />

Hotelkorridoren, die einem wie ein Labyrinth vorkommen mochten, die aber den,<br />

der ihren Verlauf kannte, unweigerlich zur Flügeltür der von Doktor Cook<br />

bewohnten Präsidentensuite führten, hinter der man sich möglicherweise schon<br />

Gedanken um meinen Verbleib machte... Ich sah die mit Blattgold belegten<br />

Schnitzmuster der Türverkleidung vor meinen Augen flimmern - Blumenmotive,<br />

Blätter, Gräser - und hätte nicht zu sagen vermocht, warum mir ausgerechnet diese<br />

Details einfielen.<br />

Nach Lage der Dinge war ich durch das Ausbleiben der Schamanin auf die Hilfe der<br />

Landesbewohner angewiesen, für mich immerhin keine ungewöhnliche Situation.<br />

Ich raffte mich zusammen und ging auf die Siedlung zu. Zu hoffen war nur, daß ich<br />

nicht riskierte, abermals den ganzen Winter in der Arktik zubringen zu müssen,<br />

sondern daß sich vielmehr schon bald ein Weg in die Zivilisation auftat. Wer<br />

beschreibt mein Erstaunen, als eben in dem Augenblicke, da ich mir der Gefahr<br />

einer zweiten Überwinterung bewußt geworden, am Firmament leuchtende Punkte<br />

sichtbar wurden. Zunächst jubelte es in mir: Sie kommen, sie kommen...!, doch<br />

war diese Vorfreude nur von kurzer Dauer. Die Leuchtflecke waren nicht die<br />

erhofften Bullaugen eines Raumvehikels, auch kamen sie nicht näher, sondern<br />

verharrten als eine Art Markierung am Himmel, dort, wo ich sie zuerst bemerkt<br />

hatte: von links nach rechts betrachtet zuerst drei Kreise, darauf - als Schlußpunkt,<br />

wie ich zunächst annahm - ein Dreieck. Doch halt - waren Kreis und Dreieck nicht<br />

die Zahlensymbole jener Außerirdischen? Richtig: jetzt entsann ich mich der<br />

Markierungen auf den Druckknöpfen ihrer seltsamen Speisekarte, von der ich, den<br />

Empfehlungen von Kommandant Null-Eins folgend, meine Schlafsuppe mit<br />

Imunisierungssirup und Kraftextrakt gewählt hatte. Die drei kreisförmigen<br />

Leuchtflecke dort oben am Himmel standen jeweils für eine Eins, das Dreieck hieß<br />

Null. Das Ganze zusammen bedeutete also in ihrer Zahlenschreibweise die<br />

Vierzehn. Die Botschaft hieß ganz offensichtlich: vierzehn sinnipah. Was hätte die<br />

Zahl sonst besagen sollen? Daß ich die leuchtenden Zeichen dort oben am Himmel<br />

mißverstand, war zwar nicht ausgeschlossen, doch war es unwahrscheinlich.<br />

Wenngleich im Augenblick verhindert, würde Kaschadu nach vierzehnmal Schlaf


kommen und mir weiterhelfen: beim nächsten Halbmonde.<br />

Ich hatte meine neue Lage zu akzeptieren. Mit frischer Zuversicht erfüllt, erreichte<br />

ich Etah. Das Hereinbrechen der Dunkelheit hatte die Kinder längst in die<br />

Behausungen getrieben. Ich trat in den erstbesten Eingangsstollen. Wie ich es von<br />

Harry Whitney gelernt, kündigte ich mein Erscheinen an, indem ich laut in den<br />

Gang hineinrief: “Jemand kommt zu Besuch, eben jetzt, macht euch darauf gefaßt!<br />

Und dieser Jemand ist ein Kabluna. Oanga!”, schloß ich selbstbewußt. Ich hatte<br />

diese Wendung wieder und wieder bei Begegnungen im Dunkel der Polarnacht<br />

gehört, ohne daß sich mir die Nützlichkeit ihres Gebrauchs je voll erschlossen<br />

hätte. Oanga bedeutet dem Wortsinne nach Ich bin es!, der Rufer setzt folglich bei<br />

dem, den er in der Dunkelheit anspricht, eine ganze Menge Wissen über die<br />

Identität seiner Person voraus.<br />

Mir ward sogleich die freundlichste Aufnahme - ganz so, als hätte man mich<br />

erwartet. Ich befand mich bei einer Inuitfrau mit drei Söhnen und einer Tochter.<br />

Namen erfuhr ich nie, auch gab mir nie jemand zu verstehen, man habe mich als<br />

den Gefährten von Harry Whitney wiedererkannt - obwohl mein Gesicht ein<br />

solches ist, welches man nicht so rasch und leicht vergißt. Daß sich allerdings<br />

meine Haartracht inzwischen nicht unwesentlich verändert hatte, räume ich gerne<br />

ein. Meine Gastgeberin wies ihren Ältesten an, neben sich auf der Ruhebank Platz<br />

für mich zu machen. Wortreich entschuldigte sie sich für die Abwesenheit ihres<br />

Mannes; er sei mit den anderen auf der Jagd, käme jedoch schon nach wenigen<br />

Malen Schlaf in die Siedlung zurück.<br />

Da es für sie als Gastgeberin sicher nicht passend gewesen wäre, mich nach der<br />

Länge des geplanten Aufenthaltes zu fragen, informierte ich sie von mir aus<br />

darüber. Ich wolle vierzehn sinnipah bleiben und dann meiner Wege gehn, sagte<br />

ich. Mit einem Schulterzucken nahm sie es zur Kenntnis und lud mich zum<br />

Abendbrot ein: es gab Robbentran mit darin schwimmenden Lummeneiern, als<br />

Hauptgang Eisbärenkeule mit Brühe und zum Nachtisch ein erheblich<br />

angeschimmeltes Stück kalter Rentierlende.<br />

In der atemberaubenden Enge einer Inuithütte wird man schneller miteinander<br />

bekannt und vertraut als in den Salons der Großstädte. Schon bald kannte ich den<br />

genauen Tagesablauf der Familie und war ebenso schnell und selbstverständlich ein<br />

fester Bestandteil desselben. Ich faßte beim Herbeischaffen der Nahrung aus den<br />

diversen natürlichen Eisschränken in der Umgebung der Erdhütte mit an und half<br />

beim Schneeschmelzen zur Wasserbereitung. Kamen Nachbarn zu Besuch oder<br />

waren wir selbst in anderen Winteriglus zu Gast auf eine Schale Robbentran, war<br />

ich, als hätte ich schon immer dazugehört, Teil der Gemeinschaft. Mit jedem Tag<br />

verstand ich das Denken und Handeln dieser wackeren Bewohner des Hohen<br />

Nordens besser. So war mir unter anderem bald klar, daß das Schulterzucken<br />

meiner Gastgeberin bei der Ankündigung, ich gedenke zwei Wochen zu bleiben,


nicht ihrer Ratlosigkeit entsprang oder aber etwa ein Sichfügen in die<br />

unvermeidlichen Zwänge der Gastfreundschaft ausdrückte. Vielmehr hatte sie mit<br />

der Zeitspanne “vierzehn sinnipah” nichts anzufangen gewußt. Ein paarmal Schlaf<br />

- ja, das sagte ihr etwas; aber vierzehn? Das war mehr als sie Finger hatte, was<br />

scherte sie das! Mochte sich drum kümmern, wen es etwas anging.<br />

Nach knapp einer Woche kamen die ersten Jäger zurück. Der Mann meiner<br />

Gastgeberin war nicht unter ihnen. Auf Schwemmholzfeuern wurde aus den frisch<br />

gelieferten Robben Tran gekocht. Ich tat mich nützlich, soweit mir dies möglich<br />

war. Bei der Gelegenheit machte ich eine Entdeckung, die mir das Blut in den<br />

Adern erstarren ließ. In der Asche am Rande der Feuerstelle, offensichtlich von<br />

einem früheren Kochfeuer herrührend, fand ich den halb verschmorten Umschlag<br />

eines der Hefte, in denen Doktor Cooks Positionsbestimmungen verzeichnet<br />

gewesen, einschließlich der Meßwerte zur Eichung seines Sextanten und seines<br />

Kompasses. Von den Blättern im Innern des Heftes fehlte allerdings jede Spur.<br />

Nun ist auch die letzte Hoffnung verflogen, dachte ich. Doch es sollte noch<br />

schlimmer kommen.<br />

Mit dem nächsten Schwung Jäger kehrte der Hausherr jenes Anwesens heim, in<br />

dem ich zu Gast war. “Ein Jäger will den Kablunareisenden nachträglich<br />

willkommen heißen”, sagte er, sobald die ganze Familie, endlich glücklich vereint,<br />

im Iglu versammelt war. Da erkannte ich seine Stimme: er hatte zu jener<br />

Eskimogruppe gehört, die auf der “Roosevelt” geblieben war, während ich mit<br />

Pearys Schlittenzug nach Norden aufbrach.<br />

“Der Kablunareisende dankt für die freundliche Aufnahme”, entgegnete ich. “Die<br />

Frau des Jägers hat deinem freundlichen Willkommen schon vorgegriffen. Ich<br />

danke auch ihr und euren Kindern.”<br />

“Du kannst deiner Dankbarkeit freien Lauf lassen - erzähle uns eine neue<br />

Geschichte aus deiner Kablunaheimat. Oder hast du vergessen, wie gerne wir diese<br />

Geschichten hören?” Auch er hatte mich also wiedererkannt. Seine Frage spielte<br />

auf die Besessenheit an, mit der die Inuit während des langen Polarwinters immer<br />

neue Begebenheiten aus der Welt der Kabluna von mir zu hören verlangt hatten.<br />

“Ich habe es nicht vergessen. Doch muß ich gestehen - ich bin noch nicht wieder in<br />

meiner Heimat gewesen.”<br />

“Aber doch bei anderen Kabluna?”<br />

“Ja, aber...”<br />

“Kein Aber, erzähle einfach. Kablunageschichte bleibt Kablunageschichte.”<br />

Sollte ich wirklich, die Zutraulichkeit dieser einfachen, herzensguten und<br />

gleichzeitig doch auch so unberechenbaren Menschen ausnutzend, neue banale<br />

Episoden aus der Welt der Riesenkajaks und der himmelhoch strebenden Iglus im<br />

Land der Kabluna zum besten geben? Nur, um mich ihres naiven Staunens zu<br />

versichern? Und letztendlich damit der Gastfreundschaft meiner Zuhörer?<br />

Ich zögerte. Lohnschreiberei habe ich stets verabscheut, und was hier von mir


verlangt wurde, war etwas durchaus ähnliches. Ich hatte einst als Lohnschreiber<br />

angefangen, als Zeilenschinder bei Münchmeyer, und die Erinnerung an jene Zeit<br />

gehört zu den bedrückendsten aus meinem langen Leben. Für sechshundert Taler<br />

jährlich hatte ich schreiben müssen, was das Zeug hielt. Und da ich nach den<br />

Verfehlungen meiner jungen Jahre endlich auf die Füße kommen wollte, schrieb ich.<br />

Doch haben nicht diese Erfahrungen mich zum Schriftsteller und<br />

Geschichtenerzähler gemacht - das wurde ich erst, als ich schrieb und erzählte, was<br />

mir selbst am Herzen lag. Und davon wollte ich nie wieder lassen, auch unter den<br />

augenblicklich waltenden Umständen nicht.<br />

“Nun, Kabluna - wird ein gastfreundlicher Jäger und werden seine Frau und seine<br />

Kinder bald etwas hören?” unterbrach die ungeduldige Stimme des Hausherrn<br />

meine Gedanken. Ich überhörte die Drohung nicht, welche in den Worten<br />

mitschwang. Zwar würde es nie jemandem auch nur im Traume einfallen, die<br />

Unantastbarkeit des arktischen Gatsrechts in Frage zu stellen, doch schickte es<br />

sich andererseits für den Gast nicht, derart dringend vorgebrachte Wünsche der<br />

Gastgeber einfach zu überhören. In dieser Zwangslage entschloß ich mich zu einer<br />

List.<br />

“Einst lebte im Land der Kabluna ein junger Jäger”, begann ich mit bewegter<br />

Stimme. “Es lockte ihn in die Ferne, er wollte sehen, wie andere Kabluna leben und<br />

jagen und ob es außer den Kabluna noch andere Menschen gibt. Und als er dies<br />

herausgefunden und nicht nur die Inuit besucht, sondern auch zu solchen Stämmen<br />

gelangt war, die wegen der Hitze an ihren Küsten ständig nackt gehen wie wir hier<br />

in eurem Iglu...”<br />

“Auch draußen?” unterbrach eine Kinderstimme meine Erzählung, “ich meine,<br />

auch dann, wenn sich die Sonne für vielemal Schlaf nicht zeigt und der Sturm übers<br />

Eis heult? Auch dann?” Ich erkannte die Stimme des Knaben, dessen Lager ich<br />

teilte, doch sah ich ihn im herrschenden Dämmer nicht.<br />

“In jenem Land kennen die Menschen weder Eis noch Schnee”, entgegnete ich.<br />

“Die Sonne verschwindet nie für länger als ein halbesmal sinnipah unter dem<br />

Horizont. Die Menschen dort sind von schwarzer Hautfarbe...”<br />

“Wie Henson!”<br />

“Ja - genau wie unser Maripaluk!”<br />

“Genau wie er...” Um mich flog plötzlich helles Lachen auf, ich hörte frohes<br />

Händeklatschen. Ja, auf ihren Henson ließen sie nichts kommen; er war, ich hatte<br />

es erlebt, bei ihnen weit beliebter als der gestrenge Pearyoksah und sie nannten ihn<br />

liebevoll Matthew der Fröhliche, Maripaluk. Ich hatte meine Zuhörer unterschätzt<br />

- sie mochten am Ende der Welt leben, doch daß es Menschen schwarzer<br />

Hautfarbe gab, war ihnen nichts Neues.<br />

“Ja, wie Matthew Henson, ganz richtig! Seine Voreltern sind aus jenem heißen<br />

Land in das Land der Kabluna gekommen.”<br />

“In das Land der Peary-Kabluna!” präzisierte jemand. “Maripaluks Voreltern sind


doch auch Kabluna: Leute aus dem Süden. Nur eben aus einem anderen Land.”<br />

Ich stutzte und sagte schließlich nur: “Ja”. Sollte ich ihnen die ganze Wahrheit<br />

auftischen? Daß Hensons Vorfahren nicht freiwillig, sondern als Sklaven<br />

gekommen? Daß sie noch immer nicht den anderen Kabluna gleichgestellt waren?<br />

Daß in jenem Kabluna-Land, das der Zwischenrufer eben zwecks Unterscheidung<br />

von meiner Heimat und anderen Kabluna-Ländern nach Peary benannt hatte, nicht<br />

nur Leute wie Peary lebten, brutal, rauhbeinig und rücksichtslos in ihrem<br />

Sendungsbewußtsein? Daß die Kabluna dieses Land einst denjenigen<br />

weggenommen, die dort seit jeher ansässig gewesen? Sollte ich wirklich? Nach<br />

kurzer, wenngleich reiflicher Überlegung entschied ich: Nein. Ein solcher Exkurs<br />

nutzte meiner Geschichte nichts, die ich ihnen erzählen wollte - und nur um die<br />

ging es mir. War ich doch selbst gespannt, wohin sie mich führen würde. “Es gibt”,<br />

fuhr ich unbeirrt mit dem Erzählen fort, “in jener heißen Gegend unermeßlich weite<br />

Landstriche, wo das, was ihr als Schwemmholz kennt, aus der Erde wächst, nicht<br />

anders als im Lande der Inuit sommers das Moos und die Rentierflechte. Wie<br />

Haare in einem dichten Pelz überzieht das, was später zu Schwemmholz wird und<br />

manchmal an eure Küste gelangt, jenes Land. Der Kabluna nennt diesen Pelz, der<br />

manchmal so dicht ist, daß es unmöglich wird, ihn zu durchdringen, Urwald und<br />

die einzelnen Pelzhaare nennt er Bäume.”<br />

Ich hatte die deutschen Wörter benutzt, weist doch die Sprache der Inuit aus<br />

verständlichen Gründen diese Begriffe nicht auf. Nun hörte ich rings um mich<br />

vorsichtig tastende Lippen nie gehörte Laute formen, die tatsächlich wie “Urwald”<br />

und “Bäume” klangen.<br />

“Nachdem der junge Kablunajäger auch dieses Land des undurchdringlichen<br />

Urwaldes und der darin nackt jagenden schwarzhäutigen Menschen besucht,<br />

dürstete ihn danach, noch mehr Unbekanntes zu sehen. Da kam er bei seinem<br />

Streifzuge durch fremde Gegenden in ein Land, das mit ebenso dichtem Urwald<br />

bewachsen, aber nicht so warm war wie jenes Land, von dem ich soeben sprach.<br />

Man nennt es Sibirien. Dort gibt es Rentiere und die Jäger leben in tupiks und<br />

überhaupt ist vieles so wie im Lande der Inuit - eben bis auf den Urwald und seine<br />

Bäume. Kabluna gibt es dort nur, wenn sie so neugierig sind wie der Jäger, von<br />

dem ich euch erzähle. Oder aber wenn sie von anderen Kabluna mit Gewalt dazu<br />

gezwungen wurden, dort zu leben. Sibirien ist nämlich ein Land, in dem der<br />

Kabluna friert.”<br />

“Meinst du ‘friert’ oder meinst du ‘weint?” fragte der Hausherr plötzlich.<br />

Sekundenlang stutzte ich, um eine Antwort verlegen. Ich hatte qiavoq gesagt,<br />

jedoch wohl nicht prononciert genug. Das Wort bedeutet in derTat “er friert”, wird<br />

das darin vorkommende i als langer, vollklingender Laut und “er weint”, wird es<br />

kurz ausgesprochen. Das q wird in beiden Fällen mit Hilfe des Rachenzäpchens<br />

gebildet und klingt fast wie ein kr.<br />

“Ich meine beides”, beeilte ich mich zu erklären. “Sibirien ist das Land, in dem der


Klabluna friert und weint. Nicht so allerdings jener junge Jäger. Er schritt zügig<br />

voran, und auf einmal kam er an eine Stelle, an der kaum noch Bäume standen.<br />

Vielmehr lagen die meisten, wie von einem gewaltigen Sturm umgeblasen, am<br />

Boden und es hätte nur einer riesigen Flutwelle bedurft und alles hätte als<br />

Schwemmholz fortgetragen und vielleicht gar an eure Küste gespült werden<br />

können. Wäre dies geschehen, so hättet ihr ausgesorgt, jedenfalls was das mühsame<br />

Sammeln von angeschwemmtem Holz an der Küste von Etah betrifft. Es wäre<br />

nämlich so viel Holz zu euch gelangt, daß man es nur aufzuheben und nicht etwa<br />

mühsam nach jedem Stück zu suchen brauchte. Allein - der beschriebene Ort war<br />

vom Meer weit entfernt und an eine Flutwelle somit überhaupt nicht zu denken.<br />

Keine von menschlicher Hand geführte Axt hätte die Bäume in so großer Zahl<br />

umlegen können. Es wachsen dort nämlich so viele Bäume, wie ihr es euch nicht<br />

vorzustellen vermögt. Und in diesen Bäumen leben unzählige Vögel. Sie legen ihre<br />

Eier nicht auf die bloße Erde wie hier bei euch, sondern in Nester auf diesen<br />

unvorstellbar zahlreichen Bäumen. Jetzt aber waren selbst von den wenigen<br />

Bäumen, die stehengeblieben, alle Vögel verschwunden, ihre Nester hingen zerstört<br />

von den Ästen und diese Äste selbst waren geknickt und hingen erdwärts, ganz so,<br />

als hätte eine gewaltige Kraft sie herabgedrückt. Dieselbe Kraft, die die anderen<br />

Bäume in so großer Zahl umgelegt hatte.<br />

Was geschehen war, sah der Kablunajäger bald nach seinem Eintreffen. Neben all<br />

den niedergestreckten und den wenigen stehengebliebenen Bäumen mit den<br />

abwärts geknickten Ästen gewahrte er einen schimmernden Hügel. Er trat näher<br />

und sah, daß dieser Hügel gleichmäßig rund und im Durchmesser größer als der<br />

größte Wal war, den ihr euch vorstellen könnt. An seiner Seite glänzte ein Kranz<br />

hell leuchtender Stellen. Sie alle waren geschlossen, obwohl durch sie der Glanz<br />

aus dem Innern nach draußen drang. Er ging um den Hügel herum und nahm in<br />

einem der Leuchtflecke eine Öffnung wahr, die er über ein Laufbrett erreichen<br />

konnte. Der Jäger nahm all seinen Mut und all seine Neugier zusammen und schritt<br />

in den Hügel hinein. Dort herrschte ein Dunkel, das so undurchdringlich war wie<br />

eine mondlose Nacht zur Wintersmitte im Lande der Inuit. Nichts, aber auch gar<br />

nichts war zu erkennen.<br />

Woher also kam jenes glänzende Leuchten? Während er noch nach einer Antwort<br />

auf diese Frage suchte, jedoch keine fand, verließ der Jäger das stockdunkle Innere<br />

wieder, und sobald er ins Freie getreten war, sah er sich von merkwürdigen Wesen<br />

umringt. Sie trugen keine Pelzkleidung wie Inuitjäger, sondern Parkas aus einem<br />

glänzenden Stoff von der goldgelben Farbe mancher Vogelschnäbel.”<br />

“Du meinst: von der Farbe der untergehenden Sonne im frühen Herbst.” Die<br />

Stimme des Fragestellers kam mir unbekannt vor. Ich blickte auf und sah, daß der<br />

Raum inzwischen zum Bersten voll war. Das Hereinkommen neuer Zuhörer war<br />

mir völlig entgangen. Eben sah ich noch eine Inuitfrau und hinter ihr einen Mann<br />

aus dem Eingangsstollen ins Innere treten. Sie legten ihre Sachen ab und setzten


sich nackt zu den anderen.<br />

“Richtig”, fuhr ich unbeirrt fort, “ihre Parkas waren von der Farbe der<br />

untergehenden Sonne während der frühen Herbstes, im Amiraijaut.” Der von mir<br />

verwendete Monatsname bedeutete wörtlich: die Rentiere verlieren den Bast von<br />

ihren Geweihen. Daß ich einen treffenden Vergleich gewählt, merkte ich am<br />

beifälligen Gemurmel meiner Zuhörer.<br />

“Es mußten Jäger eines fern lebenden Stammes sein, denen dieser Kabluna noch<br />

nie in seinem Leben begegnet war”, fuhr ich mit meiner Erzählung fort. “Ehe er<br />

sich’s versah, wurde er von ihnen angesprochen. Ob er mit ihnen kommen wolle,<br />

fragten sie ihn.”<br />

“Mit ihnen kommen - du meinst, er verstand sie?”<br />

“Obwohl er doch nie zuvor auf Jäger dieses Stammes getroffen war---.”<br />

“Er konnte ihre Sprache also gar nicht sprechen.”<br />

“Du sprichst die Sprache der Inuit doch nur, weil du bei uns gewesen bist.”<br />

“Wie sollen wir das alles auffassen?”<br />

Die Fragerei war eine allgemeine. Doch blieb ich inmitten des lauten<br />

Stimmengewirrs die Ruhe selbst. “In der Tat - er verstand sie. Das war noch das<br />

Geringste am Wunderbaren dieser Begegnung. Wartet nur, bis ich weitererzähle.”<br />

Sie gehorchten und lauschten weiter.<br />

“Mitkommen - wohin? fragte der junge Jäger nun seinerseits. Und: wie seid ihr<br />

überhaupt in das Land Sibirien gekommen? Da wurde ihm eine Antwort, die er<br />

ebenso ungläubig aufnahm wie ihr meine Geschichte. Und doch hat er es so erlebt.<br />

Könnte ich es sonst wohl erzählen?”<br />

“Nein, das könntest du nicht! Du erzählst es, also ist es so gewesen.” Darin waren<br />

sich alle einig. So fuhr ich ohne weiteres Zögern fort: “Wir kommen von einem<br />

fernen Stern, war die Antwort des Fremden. Laß ihn uns einfach den Lebensstern<br />

nennen. Und wir sind hergekommen, weil ein ebensolches Rundkajak wie das<br />

unsrige, welches du hier vor dir siehst, nicht zu jenem Lebensstern zurück gekehrt<br />

ist. Jetzt wissen wir, daß es hier in Sibirien zerschellt sein muß. Dabei wies der<br />

Fremde mit einem Arm in die Runde, auf die niedergelegten Bäume hin. Erst jetzt<br />

sah der junge Jäger, daß die Fremdlinge nicht wie Kabluna und Inuit Finger an ihren<br />

Händen hatten, sondern daß ihre Arme in einfachen Stümpfen endeten.<br />

Und noch etwas sah er: der Kranz hell leuchtender Stellen rings um den Hügel, den<br />

der Fremde soeben als Rundkajak bezeichnet hatte, war auf einmal dunkel. Also,<br />

wie ist es, kam jener auf seine Frage zurück, willst du mit uns zum Lebensstern<br />

kommen?<br />

Der junge Jäger überlegte nicht lange. Wem wird schon mitten im Urwald<br />

Sibiriens ein solches Abenteuer angeboten? Und so sagte er: Ja. Die Fremden<br />

hatten die Suche nach den Insassen jenes zerschellten Rundkajaks bald<br />

abgeschlossen und bestiegen das Gefährt, welches sie zur Erde gebracht. Der junge<br />

Jäger ging mit ihnen. Das Innere war nun hell erleuchtet wie von vielen, vielen


Tranlampen und Speckfackeln. Ein allgemeines lautes Summen war zu vernehmen,<br />

und als die Luken geschlossen waren und sie vom Boden abhoben, wurde dieses<br />

Summen noch lauter.<br />

Dem jungen Jäger war, was er in jenem Raumkajak erblickte, ungewohnt, ja<br />

unverständlich und er begriff sehr schnell, daß nun er der Fremde war, die Herren<br />

des Kajaks aber in dieser Umgebung zu Hause. Hinter der inzwischen<br />

geschlossenen, aber weiterhin durchsichtigen Luke sah er das Land Sibirien unter<br />

dem Kajak verschwinden. Bald schon war die Erde nur noch ein Stern unter<br />

anderen Sternen am dunklen Himmel. Es dauerte nicht lange, so fühlte er sich in<br />

dem Rundkajak zu Hause - wie in einem Iglu. Iglus kannte er ja. Die anderen waren<br />

freundlich zu ihm, erklärten ihm ihre Bräuche, einzelne Handgriffe ihres<br />

alltäglichen Lebens und forderten den jungen Jäger auf, mitzutun. So war auf<br />

einmal aus dem Fremden an Bord ein einfacher - wenngleich noch neuer,<br />

unerfahrener und beständig staunender - Mitreisender geworden.<br />

Einen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab es nicht. Manchmal flogen sie<br />

dicht an einem Gestirn vorbei, dann wurde es heller als sonst. So vergingen viele<br />

sinnipah, ohne daß jene Dinge passierten, von denen in Geschichten gewöhnlich<br />

die Rede ist. Dieser Teil der langen Reise soll deshalb hier unerwähnt bleiben. Der<br />

junge Jäger merkte nicht, wie er während der Reise alterte, und doch war dies so.<br />

Hätte er sich in einem Spiegel betrachtet, so wäre er über die Falten und Runzeln<br />

in seinem Gesicht und das Grauwerden seines Bartes vermutlich nicht wenig<br />

erschrocken. So aber wußte er nichts davon und es focht ihn nicht an. Das<br />

Aussehen seiner Fahrtgenossen jedoch blieb unverändert. Ihre Gesichter waren<br />

von Anbeginn faltig und rissig gewesen.<br />

Es kam der Augenblick, da man sich an Bord des Kajaks auf das Ende des Fluges<br />

vorbereitete. Sie waren immer seltener an hell leuchtenden Himmelskörpern<br />

vorbeigekommen, und so bemerkte der Jäger als allererstes Zeichen ihrer nahen<br />

Ankunft das stetige Größerwerden eines leuchtenden Punktes, auf welchen das<br />

Kajak zu hielt. Als dieser fast so groß wie die Erde kurz nach Fahrtbeginn war,<br />

kam ihnen ein größeres Rundkajak entgegen. Die beiden Fahrzeuge umkreisten<br />

einander mehrer Male, dann öffnete sich in dem größeren eine weite Luke und es<br />

nahm das kleinere, von der Erde heimkehrende auf - so wie eins eurer großen<br />

Lastenboote das Kajak eines von weit herkommenden Jägers aufnimmt, ist dieser<br />

müde geworden.<br />

Die Freude bei der Ankunft auf dem Lebensstern war eine gedämpfte, blieb sie<br />

doch überschattet von dem Schmerz über den Verlust der Besatzung jenes auf der<br />

Erde zerschellten Raumkajaks.<br />

Dem Jäger von der Erde widmete kaum jemand Aufmerksamkeit. Er fand zwar auf<br />

dem Stern nichts zu jagen, brauchte aber deswegen auch nicht etwa zu hungern.<br />

Die ehemaligen Reisegefährten hatten für sein Unterkommen in einer Siedlung<br />

gesorgt. Es war eine nach seinen Begriffen seltsame Siedlung. Sie war zweigeteilt.


In die Hälfte, die er bewohnte, drang ständig der Lärm von frohem Treiben im<br />

anderen Teile; dazu wehten angenehme Gerüche von dort herüber. Es war, als<br />

ginge von diesen Dingen die Verlockung aus, in jene laute und wohlriechende<br />

Hälfte überzuwechseln, obwohl auch dort, wo er sich befand, niemand Hunger<br />

verspürte. Regelmäßig wurden ihnen dampfende Fleischtöpfe vorgesetzt, und<br />

waren sie auch nicht mit Wal- oder Robbenfleisch gefüllt und auch nicht mit dem<br />

Fleisch anderer Tiere, wie er sie zu jagen gewohnt, so mundeten die Speisen dem<br />

Jäger in der ersten Zeit seines Aufenthaltes doch ganz vorzüglich.<br />

Es gab weder Hitze noch Kälte. Der Jäger litt an nichts Not. Allein - die Sehnsucht<br />

zu jagen war in ihm wach geblieben. Und so fragte er seine Mitbewohner eines<br />

Tages nach einer Möglichkeit, zu jagen, doch die lachten nur. Hier sind wir das<br />

gejagte Wild, sagten sie ihm. Wir genau so wie du.<br />

Wie das?, fragte er.<br />

Du weißt es nicht? So höre. Dies ist der Vorhof des Todes. Bist du bereit, den<br />

Wohlgerüchen und schrillen Klängen zu folgen und in den anderen Teil der<br />

Siedlung hinüberzuwechseln, so kehrst du nie wieder in dein früheres Leben<br />

zurück.<br />

Nie?<br />

Nie!<br />

Und wenn ich widerstehe?<br />

Sie lachten. Auf seine Frage antworteten sie zunächst nicht. Erst als er sie<br />

wiederholt hatte, sagte einer: Das hat noch keiner geschafft. Versuche es doch!<br />

Und ein anderer: Du willst ja bloß zur Erde zurück, sag es schon!<br />

Das sagte der junge Jäger: Ja, genau das will ich. Wollt ihr nicht mitkommen?<br />

Worauf alle riefen: Warum sollten wir? Denke doch nur mal an die Hitze im<br />

Urwald. Oder an die Enge der Behausungen dort auf der Erde. Und an den Gestank<br />

und an die Sorge um die Fleischportion für die nächste Mahlzeit. Von den Kriegen<br />

zwischen den einzelnen Erdenstämmen einmal ganz zu schweigen; sie werden<br />

jedesmal härter und mörderischer. Bei einem Stamme, den Inuit, soll es auch ohne<br />

Krieg regelmäßig Mangel und Hungersnot geben. All das hast du nicht, wenn du<br />

hier deine Zeit abwartest und dann in die andere Siedlung hinüberwechselst. Dort<br />

ist alles weitläufig und alles voll Frohsinn und Wohlgeruch.<br />

Der Jäger staunte, wie viel sie alle über die Erde wußten. Ja, aber - unterbrach er<br />

sie. Erstens bin ich kein Inuit, sondern Kabluna. Ich habe auch auf der Erde nie<br />

Mangel gelitten.<br />

Was macht das? Wo ist der Unterschied?<br />

Und zweitens, fuhr er unbeirrt fort, zweitens sehne ich mich nach der Jagd und<br />

will wieder durch die Wälder streifen. Hier aber gibt es nur kahles Gestein.<br />

Dafür kennt man hier weder Hitze noch Kälte. Und deine Mahlzeiten bekommst<br />

du, ohne selbst auf die Jagd gehen zu müssen.<br />

Ist das alles, was ihr vom Leben erwartet? Woher kommt überhaupt das Fleisch,


das uns täglich vorgesetzt wird?<br />

Was sollen wir danach fragen!, rief einer. Und ein anderer sagte etwas von<br />

unterirdischen Ställen, von denen gemunkelt werde.<br />

Ist das wirklich alles, was ihr vom Leben erwartet?, fragte der Jäger von der Erde<br />

noch einmal.<br />

Was sonst! Gefüllte Töpfe, nette Gesellschaft - und die Aussicht, daß auch der<br />

Aufenthalt in der anderen Hälfte unserer Siedlung sorglos und kurzweilig ist. Der<br />

Lärm von der anderen Seite zeigt doch, daß nach dem Tod nichts zu Ende ist.<br />

Vielmehr geht es dann erst richtig los!<br />

Das magt ihr so sehen. Ich nicht. - Mit anderen Worten, der Jäger ließ sich durch<br />

nichts beirren, und eines Tages hatte er erreicht, wonach ihm der Sinn stand. Er<br />

wurde mit dem nächsten Raumkajak zurück zur Erde geschickt.<br />

Wieder dauerte die Fahrt lange, länger noch als der Flug in der anderen Richtung.<br />

Doch wer will diese Spannen messen, nach welchen Regeln?<br />

Als der Kablunajäger zur Erde zurückkam, war er nicht nur nicht weiter gealtert,<br />

sondern war wieder jünger geworden. Er spürte es und landete glücklich. Und<br />

seither jagt er, genau wie er es vor seinem weiten Fluge zum Lebensstern auch<br />

getan.”<br />

Vom Erzählen erschöpft, hielt ich inne. Der Atemlosigkeit, mit der die wachsende<br />

Zuhörerschar meiner Geschichte gelauscht, folgte tiefes gemeinsames Luftholen.<br />

Ich war über mich selbst nicht wenig erstaunt. Die beabsichtigte List war mir<br />

geglückt. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich von einer Reise berichtet, die<br />

ich nicht tatsächlich selbst unternommen. Und man hatte mir jedes einzelne Wort<br />

geglaubt.<br />

Die Sonne kam täglich nur noch für einzelne Stunden zum Vorschein. Zur nächsten<br />

Mittagszeit bat mich mein Gastgeber, ihm beim Entladen seines Schlittens<br />

behilflich zu sein. Ich sah mich unter den Hunden um, die in der Nähe angepflockt<br />

waren und ruhten. Tiere meines alten Gespanns sah ich nicht darunter.<br />

Die Hauptlast des breiten Schlittens bestand aus Robben. Oben auf den gefrorenen<br />

Tierkadavern lag das Kajak des Jägers. Dieses hoben wir als erstes herunter. Wer<br />

beschreibt mein Erstaunen, als ich im Sitzloch des Bootes einen Sextanten<br />

erkannte. Mittels eines aus Darmsaiten geflochtenen Taus war das Instrument<br />

zusammen mit zwei durchlöcherten Steinen am Vordersteven des Kajaks befestigt.<br />

Jeder Zweifel war ausgeschlossen: dies war einmal Cooks Spiegelsextant gewesen.<br />

Er glich nämlich meinem ebenfalls bei Sicard in Paris erworbenen Exemplare bis<br />

aufs Haar. Allerdings fehlten im vorliegenden Fall alle Spiegel ebenso wie die Lupe,<br />

die Blendgläser und natürlich das Fernrohr - jedes Stückchen, das normalerweise<br />

über den Messingrahmen hinausragte, war abgebrochen.<br />

Wie vom Donner gerührt stand ich da. Nach zum Trankochen verheizten<br />

Tagebüchern mit Streckenaufzeichnungen und Eichprotokollen von Doktor Cook


nun sein demolierter Sextant, der als eins der Ankergewichte für ein Inuitkajak<br />

herhalten mußte - fürwahr der Gipfel des Unvorstellbaren! Schlimmer konnte es<br />

nicht mehr kommen.<br />

Meines Bleibens hier war ohne Zweifel nicht länger. Ich hatte gesehen, was es zu<br />

sehen gab. Zwar würde ich, was die gesuchten Sachen betraf, mit leeren Händen<br />

nach Neuyork zurückkehren, doch brachte ich immerhin die Gewißheit mit, daß sie<br />

für immer verloren waren. Ich legte mir in Gedanken die allernächsten Schritte<br />

zurecht. Der Mond war trotz klaren Himmels schon seit Tagen nicht zu sehen,<br />

eine den polnahen Gegenden eigentümliche Erscheinung. In gemäßigteren Breiten<br />

war morgen nach meinen Berechnungen jedenfalls Halbmond: der Erdtrabant stand<br />

im ersten Viertel. Die vierzehn Tage des Wartens waren nach einem weiteren Male<br />

Schlaf um. Dann würde ich es wagen können, Kaschadu herbeizurufen. Wir<br />

verstauten das Kajak neben dem Eingang zum Winter-Iglu. Dort würde mein<br />

Gastgeber es aus dem tiefergewordenen Schnee bergen, trat die Sonne endlich aus<br />

ihrem Winterverstecke hervor.<br />

Die letzte Nacht verbrachte ich schlaflos. Ehe noch jemand anderes sich vor das<br />

Iglu gewagt, trat ich nach draußen. Die Sterne zogen ihre Kreise um Polaris, den<br />

Himmelspol, und ich grüßte den Großen Bären - nanuk, Eisbär, wie der Inuit sagt.<br />

Das Schweigen der Nacht umhüllte mich als schützender Pelz. Ich fühlte mich<br />

einsam, doch bedrückte die Einsamkeit mich nicht. Auch litt ich nicht unter dem<br />

arktischen Morgenfrost. Vielmehr hatte ich nur eine Sorge: ich hoffte, daß meine<br />

Mondberechnungen ohne Fehl und Tadel waren und daß ich Kaschadu wirklich zu<br />

einer Zeit rief, da sie sich für meine Belange bereitzuhalten vermochte. Ohne lange<br />

zu zaudern machte ich sogleich die Probe aufs Exempel und sagte laut ihren<br />

Namen. Ich brauchte nicht lange zu warten, da hob in jener Gegend des Himmels,<br />

wo gestern die Sonne zu ihrer kurzen Tagesbahn aufgegangen war, ein Leuchten an.<br />

Grell schoß daraus eine Funkengarbe auf mich zu, sich erst im Fluge zu einem Bild<br />

formierend, in welchem ich sogleich Kaschadu erkannte. Sie stand, Zügel und<br />

Peitsche in der Hand, auf der hintersten, für den Gespannlenker bestimmten Bohle<br />

eines breiten Eskimoschlittens und dirigierte die Meute der Zugtiere durch die Luft<br />

auf mich zu. Ich sah genauer hin und erkannte mein altes Gespann, allen voran die<br />

Leithündin. Direkt neben dem Eingang zur Erdhütte berührte das wilde Gefährt<br />

den Schnee und kam nach zwei Schlittenlängen neben mir zum Stehen. Die Tiere<br />

hatten unverzüglich Witterung aufgenommen und gaben, sobald sie mir nahe genug<br />

waren, ihrer Freude über das Wiedersehen mit ungestümem Gejaule und Kläffen<br />

Ausdruck. Ich tätschelte der Leithündin den Hals, während sie ausgiebig meine<br />

Kamiker beschnüffelte.<br />

“Danke, daß du gekommen bist”, sagte ich zu Kaschadu und trat auf sie zu.<br />

Sie reichte mir die behandschuhte Rechte und zog mich auf den Schlitten. Kaum<br />

hatte ich mich gesetzt, schwang sie die Peitsche und die Hunde zogen an. “Ich hab<br />

es dir doch versprochen”, sagte sie, während wir über den Schnee hin rasten - und


zwar, wie ich in der Dunkelheit nur vermuten konnte, auf den Eisrand der Bucht<br />

zu. Noch hatten wir das Meereseis nicht erreicht, da hoben wir auch schon ab und<br />

flogen in den pechschwarzen Himmel. Der Fahrtwind nahm mir anfangs den Atem,<br />

doch bald hatte ich mich daran gewöhnt und fragte, mich zu Kaschadu<br />

umwendend: “Was hat dich aufgehalten?”<br />

“Das ist eine lange Geschichte”, entgegnete sie. “Null-Eins und seine Leute haben<br />

an der Tunguska nichts ausrichten können. Von dem vermißten Kajak fand sich<br />

nicht die geringste Spur. Und doch wollten wir nichts unversucht lassen. Ich hatte<br />

schon bei unserem Abschied damit gerechnet - erinnerst du dich?”<br />

“Mich erinnern - an was?”<br />

“Auf dein besorgtes ‘Vergiß mich nicht und komm bald wieder’ entgegnete ich:<br />

‘Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, Karl.’ Weißt du das wirklich nicht<br />

mehr?“<br />

”Ja, aber---”<br />

“Nun hast du die Antwort - es überstieg meine Kräfte. Diese Möglichkeit spürte<br />

ich damals schon.”<br />

“Seid ihr denn auf Spuren eines Unglücks gestoßen?”<br />

“Spuren? Das gesuchte Kajak muß am Boden zerschellt oder aber kurz darüber mit<br />

ungeheurer Kraft auseinandergeborsten sein. Die ganze Gegend dort ist sonst mit<br />

dem bedeckt, was ihr Kabluna Wald nennt. Am Unglücksort aber war kein einziges<br />

Stück Wald mehr vorhanden, dort lag nur noch Schwemmholz, und zwar in<br />

ungeheurer Menge - allerdings nutzloses Schwemmholz, denn keine Meereswelle<br />

erreicht diesen Ort.” Und dann sprach sie doch tatsächlich ein paar Sätze, die zu<br />

hören mich schaudern machte: “Keine von menschlicher Hand geführte Axt hätte<br />

all diesen Wald umlegen können und zu Schwemmholz werden lassen. Es wächst<br />

dort nämlich so viel davon, daß ich es mir nicht vorzustellen vermochte. Nun aber<br />

habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Die Äste waren geknickt, ganz so, als hätte<br />

eine gewaltige Kraft sie herabgedrückt. Dieselbe Kraft, die den ganzen Wald<br />

umgelegt hatte.”<br />

Wer erzählt, vermag sich offenbar zuweilen in erstaunlichem Maß über Entfernung<br />

und Zeit hinwegzusetzen. Da hatte ich mit meiner Geschichte vom Flug des<br />

Kablunajägers zum Lebensstern für die aufs Zuhören versessenen Inuit eine Reise<br />

beschrieben, die ich nicht selbst unternommen, und doch hatte ich ihnen über den<br />

Ausgangspunkt jener Fahrt nichts anderes erzählt, als es mir nun eine<br />

Augenzeugin berichtete.<br />

Schon verloren wir beträchtlich an Höhe. Aus dem grauen Morgendämmer unter<br />

uns schälten sich allmählich die Umrisse der nordamerikanischen Ostküste. Ich<br />

erkannte den Mündungstrichter des Sankt-Lorenzstromes, bald darauf die Buchten<br />

und Inseln der Mainer Küste, den Hafen von Boston, den unverkennbaren Haken<br />

des Kabeljau-Kaps Cape Cod. Der Sund zwischen dem festen Land und Long<br />

Island blieb linkerhand. Irgendwann überflogen wir New Haven, Connecticut, wo


Harry Whitney in seinem wohlausgestatteten Jagdzimmer, umgeben von<br />

Großwildtrophäen, sicherlich keinen einzigen Gedanken mehr an all die Irrungen<br />

und Wirrungen verlor, die er zwar nicht direkt verursacht, an denen er aber auf so<br />

merkwürdige Weise doch teilgehabt hatte.<br />

Wir näherten uns Neuyork von Norden her. Über dem Harlem River erfolgte eine<br />

geringfügige Kurskorrektur. Am Rande des Central Park hatte der Schlitten eine so<br />

geringe Flughöhe erreicht, daß Kaschadu Mühe hatte, über den Häusern zu<br />

navigieren. Sie hielt auf die als North Meadow bekannte große Rasenfläche zu, ein<br />

vor allem als Familienwiese genutztes Areal. Zu so früher Stunde lag es gänzlich<br />

menschenleer. Fast berührte der Schlitten die höchsten Baumspitzen am Rande der<br />

Lichtung. Wir verloren noch immer an Höhe und verlangsamten unsere Fahrt.<br />

Gemächlich schwebten wir über die Nordwiese ein, und als die Schlittenkufen die<br />

längsten Grashalme streiften, rief Kaschadu: “Spring!”<br />

Ich zögerte keinen Augenblick. Meine Füße ertasteten mühelos den Boden. Leicht<br />

in den Knien federnd, fing ich den Sprung auf. Zwei, drei Schritte mußte ich<br />

auslaufen, sodann verfiel ich in eine bequemere Gangart. Als Schweif eine leichte<br />

Nebelspur hinter sich herziehend, verschwand Kaschadus Hundegespann im<br />

fahlen Licht des Morgenhimmels über der großen Stadt.


9. WE, THE PEOPLE<br />

Frohen Mutes brach ich ins Waldorf Astoria auf. Es wird mir immer ein Rätsel<br />

bleiben, warum Kaschadu mich am Nordrand des Zentralparkes absetzte und nicht<br />

auf einer Wiese im Süden der weitläufigen Anlage. Der Umstand, daß sich dadurch<br />

zwangsläufig ein langer Weg ins Hotel ergab, bei dem ich gehörig ins Schwitzen<br />

geriet, tat meiner Genugtuung über das bestandene Abenteuer allerdings keinen<br />

Abbruch. Hatte ich doch mein Ziel erreicht, Gewißheit über den Verbleib von<br />

Cooks Unterlagen zu erlangen. Und wenn diese Gewißheit auch eine<br />

deprimierende schien - entmutigt hatte mich das Ergebnis durchaus nicht.<br />

Am Hoteleingang erregte mein Eskimoaufzug nicht wenig Erstaunen. Ein Portier<br />

mit imponierender Schulterbreite stellte sich, weit die Arme ausstreckend, in<br />

meinen Weg, als sei er der Erzengel Gabriel persönlich. “Nun mal schön langsam,<br />

kapiert?” brüllte er mich an. “Geh am besten sofort dahin zurück, wo du<br />

hingehörst und laß dich hier nie wieder blicken, Dude!” Als ich ihm meine<br />

Zimmernummer nannte, tat er so, als verstünde er nicht. Ich schrieb die Zahl hastig<br />

auf ein Stück Papier und wies ihm das Blatt vor; nun allerdings stellte sich heraus,<br />

daß der Gestrenge wirklich und wahrhaftig nicht lesen konnte. Ich mußte erst<br />

Doktor Cook als Referenz benennen, ehe er mich einließ. Ohne mich des<br />

Pelzkostüms zu entledigen, eilte ich zu Cook. Den versetzte mein Erscheinen in<br />

nicht geringere Überraschung als den Türhüter.<br />

Mich überraschte etwas völlig anderes: die in der Präsidentensuite herrschende<br />

Unordnung. Cook schien sie nicht zu stören. Er fragte ganz aufgebracht: “May -<br />

woher kommen Sie denn so urplötzlich!?”<br />

“Aus Grönland. Genauer gesagt: aus Etah.”<br />

“Und ich habe Sie geschlagene zwei Wochen hier in der Stadt suchen lassen - sogar<br />

das deutsche Konsulat hat sich eingeschaltet.”<br />

“Das deutsche Konsulat? Wie kommt das, wenn ich mir diese Frage erlauben<br />

darf?”<br />

“Immerhin liegt dort am Broadway ein Hilfeersuchen Ihrer werten Gattin vor.”<br />

“Ein Hilfeersuchen? Ja - aus welchem Grunde denn wohl?”<br />

“Es handelt sich, wie man mir sagte, um eine Anfrage nach dem Verbleib von<br />

Herrn Doktor May. Und der sind Sie ja wohl, trotz dieser - nun, wie soll ich sagen<br />

- thematischen Maskerade. Finden Sie das alles nicht ein wenig übertrieben?” Er<br />

wies mit der Rechten auf mich und lächelte nachsichtig. Doch plötzlich nahmen<br />

seine Züge den früheren Ernst an. Er ließ den ausgestreckten Arm sinken und<br />

fragte: “Aber nun sagen Sie schon, was um Himmels willen wollten Sie denn in<br />

Etah? Noch dazu ausgerechnet um diese Jahreszeit!”<br />

In kurzen Worten schilderte ich ihm Beweggründe und Ergebnis meines Ausflugs.<br />

Gewisse Details vom Hergang der Reise behielt ich allerdings für mich.<br />

“So, von den Aufzeichnungen und Meßinstrumenten also nur noch wertlose


Spuren---. Ich hab es befürchtet.” Doch schien ihn die Nachricht vom Verlust des<br />

Unersetzbaren weniger zu erschüttern als seine Worte zunächst vermuten ließen.<br />

Er kam auf mich zu, legte die Rechte auf die Schulter meines Fellanoraks und sagte:<br />

“Na, May - da war ihr Kostüm ja harte Notwendigkeit. Und ich dachte schon, sie<br />

wollten lediglich die Newyorker Öffentlichkeit auf Ihr Engagement für meine Sache<br />

aufmerksam machen.” Er lachte wie jemand, der stattdessen lieber geweint hätte.<br />

Meinem Blick wich er aus. Irritiert tat ich einen Schritt zur Seite und sah mich um.<br />

Welch ein Tohuwabohu! Aus der einst wohlorganiserten Presseablage quollen<br />

verrutschte Zeitungsstapel, Blumensträuße lagen herum, verwelkt, ehe sie jemand<br />

auswickeln und in eine Vase hatte stellen können. Auf Lonsdales Schreibtisch<br />

lagen zwei halboffene Koffer, randvoll mit Anzügen und Handschriftlichem. Und -<br />

warum überhaupt empfing Cook seine Gäste jetzt plötzlich selbst im Vorzimmer?<br />

Was ging hier vor?<br />

“Wo ist Walt?” fragte ich, das Schlimmste befürchtend. “Und wo um alles in der<br />

Welt sind die hilfreichen Geister, die er hier um sich hatte?”<br />

“Das ist eine lange Geschichte. Wollen sie nicht erst einmal ablegen und sich<br />

setzen?” Er hob einen Zettelkasten von einem Sessel und bot mir den Platz an. Ich<br />

schälte mich aus meiner Hülle und ließ den Pelz achtlos zu Boden gleiten.<br />

“Warum eine lange Geschichte? Was wird hier gespielt, Doktor Cook?” forschte<br />

ich abermals, während ich mich setzte.<br />

“Nun, um es kurz zu machen: Walt Lonsdale ist nach Kopenhagen unterwegs. Ich<br />

selbst befinde mich auch im Aufbruch.”<br />

“Nach Kopenhagen?”<br />

“Ich? Nein.”<br />

“Ich meine: was will Lonsdale in Kopenhagen? Ist er vom amerikanischen<br />

Gesandten zurückbeordert worden?”<br />

“Nein. Ich selbst habe ihn geschickt.”<br />

“Ja, aber warum denn---.”<br />

“Die dortige Universität hat ihre Anfrage nach meinen Aufzeichnungen immer<br />

dringlicher wiederholt. Und ich dachte, ich schicke ihn los, ehe Peary---”<br />

“Walt Lonsdale? Mit ihren Aufzeichnungen? Nach Kopenhagen? Aber all ihre<br />

Notizen sind doch, wie ich Ihnen eben erzählt habe, in Etah in Rauch aufgegangen!<br />

Sie sind unwiederbringlich verloren, Herr Doktor Cook!”<br />

“Na ja, immerhin gibt es doch diese rekonstruierten Meßdaten - ich meine die, die<br />

schon im ‘Herald’ veröffentlicht worden sind.”<br />

“Im ‘Herald’, so!” Ich fiel aus allen Wolken, hatte mich aber in der Gewalt und<br />

lehnte mich in meinen Sessel zurück. Da war man mal für zwei Wochen weg und<br />

schon liefen die Dinge aus dem Geleise! Hier war offenbar nichts mehr zu retten.<br />

Die im “Herald” veröffentlichten Daten als wissenschaftliche Beweisstücke für ein<br />

Gremium wie die Kopenhagener Universität! Wenn Cook solch verhängnisvolle<br />

Entscheidungen ohne mich traf, sollte er sie doch auch allein verantworten. Meine


Zuversicht im Augenblicke des Sprunges von Kaschadus Schlitten auf die vom<br />

Morgentau feuchte Wiese im Central Park war in Resignation umgeschlagen.<br />

“Und wohin sind Sie im Aufbruch begriffen, wenn ich mir diese Frage gestatten<br />

darf?”<br />

“Eine Vortragsreise nach Montana und---”<br />

“In den Wilden Westen?!”<br />

“Ja, so kann man wohl immer noch sagen, lieber May. Allerdings - es wird keine<br />

Postkutschenfahrt, auch nicht etwa ein Reitabenteuer. Mein Veranstalter ist dabei,<br />

die letzten Eisenbahnmeilen zu buchen, die Hotels, die Säle, in denen ich vortragen<br />

werde.”<br />

“Wann soll es denn losgehen?”<br />

“Übermorgen.”<br />

“Und was ist Ihre erste Station?”<br />

“Hamilton.”<br />

“Am Bitterroot River? Ravalli County?”<br />

“Sie waren schon einmal dort?”<br />

“Ich kenne mich im amerikanischen Westen besser aus als in manchem Winkel<br />

meines Vaterlandes.”<br />

“Wollen Sie nicht mitkommen? Ich würde Sie jedenfalls sehr gerne weiterhin an<br />

meiner Seite haben. Auch dort.”<br />

Welch verlockendes Angebot! Und ich war noch eben bereit gewesen, den ganzen<br />

Bettel hinzuschmeißen und diesen armseligen Stümper sich selbst und seinem<br />

Schicksal zu überlassen. Warum auch sollte ich nicht! Wie ein Schlafwandler lief er<br />

ins Verderben, während ringsum die Wölfe heulten. Alles, aber auch alles machte er<br />

falsch! Hätte er doch wenigstens exakt frisierte Marschtabellen nach Kopenhagen<br />

geschickt, von 90 Grad Nord für jede Tagesleistung zurückberechnet -<br />

glaubwürdige Tagesmärsche, versteht sich -, dazu meinetwegen Eichprotokolle für<br />

Sextanten, Chronometer und Kompaß mit Angaben bis auf x Stellen hinter dem<br />

Komma. So etwas imponiert Akademikern! Aber nein - stattdessen bot er den<br />

gestrengen Prüfern die im “Herald” veröffentlichten Daten zwecks<br />

wissenschaftlicher Beweisführung an---. Eine Zumutung sondergleichen! Was<br />

hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Die Berichte im “Herald” waren vor allem<br />

als spannende Unterhaltung konzipiert gewesen, als eine Art Feuilleton, das nur<br />

deswegen auf die Titelseite gerutscht war, weil die Aktualität des Ereignisses<br />

auflagenfördernd wirken sollte. Aber so etwas konnte man doch unmöglich<br />

Wissenschaftlern vorlegen!<br />

Ich war derjenenige, der das wissen mußte, immerhin war ich es, der an Bord von<br />

“Oskar II.” den “Herald”-Bericht für die Übermittlung per Funk zurechtgestutzt<br />

hatte - wenn auch freilich nach Cooks groben, auf seiner Erinnerung basierenden<br />

Entwürfen. Und meine Ausarbeitung war zu allem Übel auch noch redaktionell<br />

aufgefrischt worden, aller Wahrscheinlichkeit nach sogar von JGB


höchstpersönlich.<br />

Es war zum Verzweifeln. Der Weg zur Wahrheit war noch weit vertrackter als der<br />

trügerische Gang durch Dundees Ober- und Unterstadt. Cook verhielt sich wie<br />

jemand, der merkt, daß seine Füße im Wasser platschen und der daraufhin anfängt,<br />

sich Schritt für Schritt einen Knüppeldamm zu legen. Mit einemmal aber merkt er:<br />

was es da zu queren gilt, ist gar kein Sumpf, sondern der Ozean. Der Augenblick<br />

des Erwachens würde für Cook furchtbar sein. Auch dann, wäre ich in Montana an<br />

seiner Seite. Verstehen konnte ich ihn - ihm zu helfen vermochte ich nicht. Nun<br />

nicht mehr.<br />

Doch blieb sein Angebot eine Versuchung - denn da war sein Reiseziel, und wer<br />

einmal ein Westmann war, der bleibt immer ein Westmann! Ohne weiteres<br />

Federlesen gab ich mich geschlagen. Die plötzliche Konfrontation mit den<br />

Erinnerungen an meine im Felsengebirge bestandenen Abenteuer vermochte mich<br />

noch immer auf der Stelle zu elektrisieren. Daran hatte sich mit zunehmendem<br />

Alter nicht das Geringste geändert. “Übermorgen?”, fragte ich vorsichtig.<br />

“Ja. Übermorgen nachmittag.”<br />

“Das gibt mir Zeit, auf dem Konsulat meine Angelegenheiten zu regeln.”<br />

“Dann darf ich also für Sie buchen lassen?”<br />

Ich nickte. “Sagen wir mal - zunächst bis nach Hamilton.” Cook verbarg seine<br />

Freude über meinen Entschluß nicht. Er schellte sogleich nach einem Etagendiener.<br />

Ich nahm meinen Pelz und ging ohne ein weiteres Wort auf mein Zimmer.<br />

Im Konsulat wurde ich sogleich von Herrn Branksen empfangen. Er zeigte sich<br />

über mein Kommen höchst erleichtert. “Sie hätten schon eher mal hier erscheinen<br />

sollen, Old Shatterhand - nicht erst, wenn diese --- diese Fahndung läuft. Zigarre?”<br />

Jovial hielt er mir eine Kiste erlesener Habaneros hin. Ich wählte. Wir setzten uns.<br />

Dankbar genoß ich während unserer Unterhaltung Zug um Zug. Auf meine Frage,<br />

was denn die Suche nach mir ausgelöst habe, ließ er eine Mappe kommen.<br />

Blätterte kurz darin, reichte mir einen Bogen. “Hier, lesen Sie selbst.” Es war ein<br />

Vermißtenanzeige/Ausland überschriebenes Formular, ausgefüllt vom Sächsischen<br />

Justizministerium und von Klara als Antragstellerin unterzeichnet. Mein Blick<br />

überflog das Papier. Datum, Aufnehmender Justizbeamter, Pipapo. Doch dann<br />

traf es mich wie ein Keulenschlag. In der Rubrik Zweck der Anzeige stand:<br />

Gesuchter soll im Falle des Nichtauffindens für tot erklärt werden.<br />

Machte sie also Ernst! Ich ließ das Blatt sinken und sah entgeistert zum Fenster<br />

hinaus. Dort tobte der Großstadtverkehr, Menschen strebten ihren Zielen<br />

entgegen, gingen Geschäften, Verbrechen, Liebschaften, Träumen nach. Die Welt<br />

schien im Lot, und meine Klara, mein Herzle tat mir dieses an!<br />

Es mochten ein paar Minuten vergangen sein, als sich der Konsul respektvoll<br />

räusperte. Ich legte das Blatt ab; zog an meiner Zigarre, doch sie war kalt<br />

geworden.


“Solche Entdeckungen sind immer furchtbar”, sagte Branksen. Er beugte sich vor,<br />

um mir Feuer zu geben. Ich setzte die Zigarre wieder in Gang und inhalierte<br />

genußvoll. Stieß den Rauch aus und sagte: “Sie hat es mir angedroht. Es geht um<br />

geschäftliche Dinge, die sie in die Hand bekommen will.”<br />

“Verstehe.” Bedächtig strich er Asche ab.<br />

“Da sind Sie weiter als ich, Herr Konsul. Mir ist das Ganze noch immer ein<br />

Rätsel.”<br />

“--- das Sie zweifellos lösen werden, Old Shatterhand. Davon bin ich felsenfest<br />

überzeugt. Wer schon so vielen Menschen Lebenshilfe und neuen Lebensmut hat<br />

geben können wie Sie mit Ihren Büchern, der wird doch wohl mit derlei Dingen<br />

fertigwerden - auch dann, wenn sie ihn selbst betreffen.”<br />

Das Herzle - oder mußte ich nicht doch besser sagen: das Mausel--- Mit Tinte und<br />

Papier trachtete es mir nach dem Leben. Und Freundin Emma ließ zwischen den<br />

Zeilen grüßen. Dazu das ganze saubere Filmkonsortium von Pauline Münchmeyer<br />

bis hin zu dem noblen Friedrich Ernst Fehsenfeld---. Ein Autor hat immer ganz<br />

falsche Vorstellungen von der Aufgabe des Verlages, hörte ich ihn dozieren.<br />

Vergessen Sie nicht, lieber May - das Wort Verlag ist eigentlich nur ein älteres<br />

Wort für Kapital - nämlich das, was man vorlegt. Manche halten den Verleger für<br />

einen Mäzen, der sein Geld nicht schnell genug loswerden kann. Und - leider -<br />

läuft es häufig genug auf solche Verluste hinaus. Im Grunde aber ist ein Verlag wie<br />

eine Bank, die ein Projekt lediglich vorfinanziert --- . Nun war er offensichtlich<br />

entschlossen, sich das Vorgelegte im großen Stile zurückzuholen.<br />

“Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann, lassen Sie es mich bitte<br />

wissen”, drang Branksens Stimme durch den dichten Zigarrenqualm, der<br />

mittlerweile das Zimmer füllte.<br />

“Ich danke Ihnen verbindlichst”, entgegnete ich. “Am besten, ich überlege mir noch<br />

einmal alle Zusammenhänge und alle Möglichkeiten und fasse dann meine<br />

Entschlüsse.”<br />

“Das scheint auch mir für den Augenblick das beste Verfahren.”<br />

“Dafür wäre es wohl am zweckmäßigsten, weiterhin verschwunden zu bleiben<br />

und---”<br />

“Das wäre es durchaus.”<br />

“Allerdings werden Sie ja wohl unser heutiges Gespräch melden müssen. Und<br />

damit mein Wiederauffinden.”<br />

“Nun, sagen wir mal - das wäre eine der im Dienstgebrauch durchaus üblichen<br />

Vorgehenssweisen. Sogar die vorherrschende, zugegeben.”<br />

“Ist es denn nicht nachgerade Ihre Pflicht als Konsul des Deutschen Reiches?”<br />

“Lieber Old Shatterhand - wenn schon, dann gefälligst als Generalkonsul”, sagte er<br />

lachend und setzte sogleich hinzu: “Aber sagen Sie mal - haben Sie noch nie etwas<br />

von Ermessensspielraum gehört?”<br />

“Ich bitte um Vergebung, Herr Generalkonsul. Es war nicht meine Absicht, Sie---”


“Aber erlauben Sie mal! Erlauben Sie bitte ganz entschieden!” Er legte die Zigarre<br />

am Ascher ab und hielt mir beide Hände hin. Ich gab ihm die freie Linke, die er fest<br />

drückte, wobei er mir in die Augen sah. “Ich spreche hier weder als Konsul noch<br />

als Generalkonsul zu Ihnen, sondern als Ihr Leser und Freund. Der, sagen wir mal,<br />

durch eine Fügung des Schicksals in die ihn höchst beglückende Lage versetzt ist,<br />

Ihnen in einer Bedrängnis behilflich sein zu können. Nicht anders, als dies Old<br />

Shurehand oder Old Firehand auch getan hätten.”<br />

“Oder Winnetou.”<br />

“Oder Winnetou - sicher. Aber zurück zu Ihrer Frage. Natürlich muß ich Sie unter<br />

dem heutigen Datum als Besucher des Generalkonsulats registrieren. Nur - muß<br />

der Betreffende denn unbedingt mit dem in jener Vermißtenanzeige gesuchten<br />

Individuum identisch sein?”<br />

“Allerdings muß er das nicht! Wenn Sie einen anderen Namen ---. Aber nein, das<br />

kann ich doch nicht von Ihnen verlangen.”<br />

“Sollen Sie auch nicht. Ich mache es ganz und gar unverlangt. Sagen Sie mal, haben<br />

Sie denn in Ihrem Leben nicht noch andere Namen benutzt als die, die auch im<br />

Justizministerium in Dresden die Spatzen von den Dächern pfeifen - will sagen:<br />

andere als Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi?”<br />

“Andere Namen?” Ich war sogleich auf meiner Hut. Was sollte die Frage? Ahnte er<br />

etwa, daß ich kürzlich als Eskimo Tulimak die Arktik durchstreift hatte, und<br />

wollte er mir auf den Zahn fühlen? “Wie meinen Sie das?” fragte ich vorsichtig.<br />

“Nun - haben Sie denn nie literarische Pseudonyme benutzt? Les noms de plume<br />

sont les noms d’amour, wie der Franzose sagt.”<br />

Erleichtert stand ich auf. Die Zigarre mit ihrem bedrohlichen Aschezuwachs so<br />

ruhig wie möglich haltend, sagte ich: “In der Tat - Künstlernamen sind<br />

Kosenamen”, und begann volltönend zu deklamieren: “Gestatten Sie - Capitain<br />

Ramon Diaz de la Escosura. Genannt auch Fred Holm, Karl Hohenthal, Wilhelm<br />

Meier, Ernst von Linden---”<br />

“Das reicht, das reicht!” winkte Branksen lachend ab. “Ich sehe, Sie haben<br />

verstanden, was Ermessensspielraum bedeutet. Er mag in meiner Dienststellung<br />

durchaus eingeschränkt sein, zugegeben - doch vorhanden ist er. Vorhanden ist er<br />

eigentlich immer.”<br />

“Welch bemerkenswertes Eingeständnis eines Beamten!” Ich setzte mich lachend,<br />

streifte erleichtert die Asche ab. “Welcher Name gefällt Ihnen am besten?”<br />

“Nun, ich denke, es ist völlig unverfänglich, wenn ich im heutigen Dienstbericht<br />

erwähne, mich habe zwecks Klärung eines Sachverhalts im Zusammenhang mit<br />

einer Vermögensangelegenheit ein gewisser Wilhelm Meier aufgesucht, sächsischer<br />

Staatsangehöriger. Das entspricht vollauf der Wahrheit und diesen Meier---”<br />

“--- den können sie lange suchen. In Dresden weiß damit ganz bestimmt niemand<br />

etwas anzufangen.”<br />

“Wenn es überhaupt von Berlin aus weitergemeldet wird. Auch dort gibt’s ja


schließlich Ermessensspielräume.”<br />

Schweigend rauchten wir die Zigarren zu Ende. Beim Abschied bedankte ich mich.<br />

Mein Gastgeber bat mich um eine Adresse, unter der ich künftig zu erreichen sei;<br />

allerdings wolle er sich ihrer nur bedienen, sollten unvorhergesehenerweise<br />

schwerwiegende Umstände dies erforderlich machen.<br />

“Hamilton, Montana - postlagernd”, sagte ich.<br />

“Das hört sich gut an”, entgegnete er. “Dorthin paßt Old Shatterhand in der Tat.<br />

Allerdings ist es nicht mehr mein Amtsbezirk. Dann also - Gott befohlen, mein<br />

lieber May! Und gute Reise. ” Er brachte mich selbst zur Tür und winkte mir<br />

freundlich nach.<br />

Über Chikago und Minneapolis erreichten wir die Prärien, in denen einst die<br />

Dakota Büffel gejagt. Schließlich folgte die Bahnstrecke über hunderte Meilen dem<br />

Tal des Yellowstoneflusses bis zu dessen Austritt aus dem Felsengebirge. Ich<br />

nutzte die Tage im Zug zu langen Gesprächen mit Cook, bei denen manches klarer<br />

wurde, was mir am Charakter dieses Mannes bislang unverständlich geblieben.<br />

Dabei wurden meine Geduld und meine Verständnisbereitschaft mitunter auf eine<br />

harte Probe gestellt.<br />

Während rechterhand die wildschöne Szenerie der frisch beschneiten Craizy<br />

Mountains vorbeizog, konfrontierte ich den Doktor mit der Aussage eines seiner<br />

Eskimos, sie seien mit ihm nie außerhalb der Sichtweite von festem Lande<br />

gewesen. Allerdings verschwieg ich die Umstände, unter denen ich davon gehört.<br />

Darauf entgegnete er: “Natürlich muß man sie bei dieser Annahme lassen, sonst<br />

gehen sie keinen Schritt weiter. Das hat auch Peary nicht anders gemacht, glauben<br />

Sie mir. Auch er hat seine Eskimos in diesem Punkt hinters Licht geführt!”<br />

“Wirklich?” Ich ließ meiner Frage nicht anmerken, woher meine Zweifel stammten<br />

und wie begründet sie waren. Wenn zutraf, was er da über Peary behauptete,<br />

mußte dieser es äußerst geschickt angestellt haben, “seine” Eskimos hinters Licht<br />

zu führen. Ich jedenfalls hatte nie etwas gemerkt. Hinsichtlich seines Argumentes<br />

blieb ich jedenfalls weiterhin skeptisch. Die Frage blieb: war Cook ein<br />

vorsätzlicher Betrüger? Einerseits hatte er ganz sicher nicht wie Peary dort die<br />

Fahne seines Landes aufgepflanzt, wo das Hundefutter soweit zur Neige gegangen<br />

war, daß ein weiteres Vordringen die Rückkehr gefährdet hätte. Andererseits war<br />

er bei der Nachricht vom Verlust seiner Unterlagen ziemlich gelassen geblieben.<br />

Lag das daran, daß etwa auch ihm am Ende noch hundert oder mehr Meilen gefehlt<br />

hatten? Hatte er sich im Augenblicke der Umkehr wenigstens an seinem Ziele, dem<br />

Nordpol, gewähnt?<br />

Cook schlief des Nachts tief und fest. Mich hingegen plagten auch während der<br />

Dunkelheit all die Fragen, die ich ihm tagsüber nicht hatte stellen können oder die<br />

er mir nur unzureichend beantwortet hatte. Schließlich kam ich mit meinen<br />

Überlegungen zu folgendem Ergebnis: Ein Besessener ja - ein absichtlicher Betrüger


war Cook nicht. Dazu schien er mir zu simplen Gemütes. Diese wohlwollende<br />

Sicht sollte allerdings nicht lange vorhalten. Alles, was für eine raffinierte<br />

Fabrikation falscher Daten zur Rechtfertigung seines Polanspruchs nötig gewesen<br />

wäre, hatte er - dachte ich damals noch - nicht getan. Er war zu wenig Zyniker,<br />

schien mir vielmehr lediglich ein Opfer des Nordpolwahns zu sein, einer<br />

Krankheit, die in jenen Jahren grassierte wie weiland der Glaube der frommen<br />

Geißler an die Möglichkeit, die Schwarze Pest durch Selbstkasteiung besiegen zu<br />

können. Den Pol zu erreichen schien manch einem der Schlüssel zur<br />

Menschheitsbeglückung.<br />

Warum schlug ich mich mit all diesen Dingen herum? Der Zug ratterte durch die<br />

Nacht, und sobald wir uns einem Tunnel näherten, zerschnitt sein schrilles Signal<br />

die Dunkelheit als unüberhörbarer Ruf der Ferne. Ich begann mit mir zu rechten:<br />

Warum läßt du nicht Cook Cook und Peary Peary und den ganzen Nordpol<br />

einfach Nordpol sein? Bei der Station Livingston, wo unsere Bahnlinie das<br />

Yellowstonetal verließ, war ich versucht, auszusteigen und meinen Weg mit der<br />

Stichbahn nach Gardiner fortzusetzen, dem nördlichen Tore zum Yellowstone<br />

Nationalpark. Dort würde ich zwar keine Büffel schießen dürfen, würde aber doch<br />

welche zu Gesicht bekommen, dazu Bergschafe, Elche, Wapitihirsche, Grislybären<br />

und all die anderen alten Bekannten. Und einigen meiner angestammten Jagdgründe<br />

wäre ich um ein gutes Stück näher - den Tetons, den Bergen der Gros-Ventre-<br />

Kette mit Winnetous Grab. Stattdessen--- es war wie verhext. Was nur ließ mich<br />

bei diesem vom Polwahn besessenen Manne mit all seinen Ungereimtheiten<br />

ausharren?<br />

Ich wußte darauf nichts zu erwidern. Und wenn ich schon keine Antwort auf<br />

Fragen fand, die ich mir selbst stellte, was sollte es mich da wundern, blieben auch<br />

die Probleme ungelöst, welche ich Doktor Cook vorlegte? Über derlei konfusen<br />

Gedanken muß ich dann wohl doch eingeschlummert sein. Plötzlich träumte ich<br />

mich in einem weiten Tale mit Wiesen voll üppig wuchernder Bergblumen. Ich ritt<br />

allein längs des Baches, der das Tal durcheilte. Jenseits des Gewässers stand<br />

aufgereiht ein Dutzend Tipis. Vor ihnen grasten angehobbelte Pferde, zwei<br />

Schimmelstuten und ein Fuchs, die meinem Rappen freudig zuwieherten. Hier und<br />

da stieg Rauch zwischen den Zeltstangen ins Freie. Zu sehen war niemand außer<br />

einigen Kindern. Sie winkten, und ich winkte im Davonreiten zurück. Binnen<br />

kurzem befand ich mich weiter talab inmitten einer Kolonie von Präriehunden. Die<br />

putzigen Tierchen gaben, sobald sie meiner ansichtig wurden, alle zur selben Zeit<br />

einen langezogenen, am Ende leicht anschwellenden Pfiff von sich, der sich wie<br />

Piiiiii-ri anhörte, und verschwanden in ihren Erdhaufen.<br />

“Three Forks!”, riß die kräftige Stimme des Kondukteurs mich aus dem Schlafe.<br />

Auf die Ansage folgte ein Signal seiner Trillerpfeife. Zwar war ich hier nie<br />

gewesen, doch hatte ich oft von dem Orte gehört. Als Treffpunkt der<br />

Mountainmen und der Indianer dieser Gegend mit den Pelzaufkäufern hatte er in


den Erzählungen am Lagerfeuer stets eine große Rolle gespielt. Hier nahm der<br />

Missouri durch das Zusammenströmen dreier Gebirgsflüsse seinen Ursprung.<br />

Beim Frühstück im Speisewagen begann ich erneut mit meiner Befragung Cooks.<br />

”Warum haben Sie, während Sie auf dem Weg zum Pole waren, Franke vorzeitig<br />

zurückgeschickt?”, forschte ich.<br />

“Wissen Sie, May, manche Fehler darf man nur einmal machen. Jedes weitere Mal<br />

wäre unverzeihlich.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

“Als ich im September 1906 Nordamerikas höchsten Gipfel bezwang---”<br />

“Den Mount McKinley? Erzählen Sie!” Nie hatte ich von Cook selbst eine<br />

Darstellung seines umstrittenen Bergsteigersieges gehört. Nun war er offensichtlich<br />

zu einer solchen bereit, und ich würde - so jedenfalls hoffte ich - Gelegenheit<br />

haben, seine Angaben mit denen zu vergleichen, die ich vom Hörensagen kannte.<br />

Ein zweites Frühstücksei köpfend, überlegte ich immerhin, was die Mount-<br />

McKinley-Geschichte mit meiner Frage nach Franke und dessen vorzeitiger<br />

Umkehr auf dem Wege zum Nordpol zu tun hatte, doch behielt ich diese Frage für<br />

mich. Sie sollte allerdings schon sehr bald beantwortet werden.<br />

“Da gibt es nicht viel zu erzählen. Jedenfalls nichs Neues. Alles, was es dazu an<br />

Fakten zu sagen gibt, ist von mir der Öffentlichkeit unterbreitet worden. Ich habe<br />

als Erster auf dem höchsten Berg unseres Kontinents gestanden.”<br />

“Und trotzdem ist behauptet worden, Sie seien nie auf dem McKinley-Gipfel<br />

gewesen. Diese Anfeindungen gehören ja hoffentlich der Vergangenheit an.”<br />

“Leider nicht. Meine Gegner werden nicht müde, sie gerade jetzt zu wiederholen,<br />

da es um meine Glaubwürdigkeit als Forschungsreisender und Entdecker geht.”<br />

“Wie meinen Sie: gerade jetzt?”<br />

“Urteilen Sie selbst. Wenige Tage vor Ihrem Wiederauftauchen im Waldorf<br />

erschien im Newyorker ‘Globe’ eine Erklärung meines Bergkameraden am Mount<br />

McKinley, Ed Barrille. Er behauptet darin an Eides Statt, erstens sei ich zu keiner<br />

Zeit dem Gipfel näher als 14 Meilen Luftlinie gekommen, zweitens sei das<br />

Gipfelphoto mit mir und dem Sternenbanner auf einem anderen Gipfel<br />

aufgenommen worden, nur 8000 Fuß hoch und nicht 20300 und im übrigen<br />

zwanzig Meilen vom McKinley-Gipfel entfernt. Und drittens soll ich ihn<br />

angewiesen haben, in seinem Tagebuch ein paar Seiten freizulassen, auf die ich ihm<br />

angeblich später meine Version für den Verlauf des Gipfelsturmes diktiert hätte.<br />

Nun gut, das kann man machen - aber mir so etwas anzulasten! Dicker gehts nun<br />

nicht mehr.” Cook sah mich an, darauf wartend, die eigene Aufgebrachtheit in<br />

meinen Zügen gespiegelt zu finden. Doch behielt ich einen kühlen Kopf. Einerseits<br />

vermochte seine Entrüstung mich nicht zu überzeugen; wer wie Cook einem<br />

gestrengen Untersuchungsausschuß lieber geschönte Daten vorlegte als die<br />

Originalaufzeichnungen, deren Verlust ihn nicht einmal sonderlich getroffen zu<br />

haben schien, ließ sich womöglich auch auf dem falschen Gipfel photographieren.


Andererseits - daß Peary in seinem Tagebuch einige Seiten freigelassen, als er<br />

Henson den Entschluß zur Umkehr erläuterte, hatte ich mit eigenen Augen<br />

gesehen, mir aber damals nichts dabei gedacht. Deutete Pearys Verhalten auf den<br />

Urheber einer ganz gewöhnlichen Zeitungsente? Oder war nicht vielmehr der<br />

Umstand, daß Cook die Beschuldigung entrüstet zurückwies, ein Hinweis darauf,<br />

daß solche Betrugsmanöver unter Entdeckungsreisenden dieser Couleur gang und<br />

gäbe waren? Immerhin schien ihm, ohne daß er doch von Pearys fragwürdigem<br />

Vorgehen gewußt haben konnte, der Gedanke durchaus vertraut, die entscheidende<br />

Etappe einer Reise erst nachträglich in den Bericht einzufügen, anstatt sie sogleich<br />

vor Ort aufzuzeichnen. Erbost hatte ihn lediglich, daß man ihn öffentlich einer<br />

solchen Handlungsweise bezichtigte.<br />

“Sagen Sie - der ‘Globe’ gehört Hubbard, nicht wahr?”, fragte ich.<br />

“Ja. Jedenfalls teilweise. Und er bestimmt dort die Richtung.”<br />

“Kein Wunder, daß Peary so spurlos aus dem Verkehr gezogen wurde. Die<br />

Macher vom Peary Arctic Club wollen das Ding lieber ohne ihn durchziehen.”<br />

“So sehe ich das auch. Ich weiß aus zuverlässigen Quellen, daß Ed Barrille<br />

mehrfach von Hubbards Leuten Geld angeboten bekommen hat. Vierstellige<br />

Beträge. So viel kann Peary gar nicht aus eigener Tasche vorweisen. Das erstemal<br />

hat ihm jemand in Darby, Montana tausend Dollar geboten, damit er mich<br />

diskreditiert.”<br />

“Um Himmels Willen - Darby, das ist ja ganz in der Nähe von Hamilton!”<br />

“Allerdings. Und in Hamilton haben sie sich dann auch zum zweitenmal an ihn<br />

rangemacht. Und fünftausend geboten. Eine Menge Geld für einen armen Teufel<br />

wie Ed. Aber er hat sich weiter gesperrt, wollte noch bei der Wahrheit bleiben. In<br />

Seattle ist er schließlich weich geworden. Dort hat mein Gewährsmann ihn<br />

zweitausend Dollar auf einer Bank einzahlen sehen, in großen Scheinen, aus seinem<br />

Geldgürtel. Und da war noch mehr drin. Ein paar Tage später kam dann die<br />

Erklärung im ‘Globe’. Wäre ich bloß allein auf den McKinley gestiegen - das hätte<br />

mir all diese Probleme erspart.”<br />

Potzblitz! Darauf also lief seine Parallele mit Franke hinaus! Es fiel mir wie<br />

Schuppen von den Augen. Ich ging geradewegs auf den Kern des Problems zu und<br />

klopfte mit einer Frage, wie man so sagt, auf den Busch: “Was, wenn nun Rudolf<br />

Franke aus der Tatsache ein Problem macht, daß Sie ihn nicht bis zum Pol<br />

mitgenommen haben? Sieht das nicht geradezu danach aus, daß Sie Vorfälle wie<br />

diesen mit Barrille für die Zukunft vermeiden wollten?”<br />

“Na, der soll mal versuchen, den Mund aufzumachen. Was Hubbard kann, kann<br />

ich schließlich auch.”<br />

“Und mit welchen finanziellen Mitteln, wenn ich fragen darf?”<br />

“Tja, es mag so aussehen, als sei ich im Augenblick knapp bei Kasse. Aber da<br />

sind in Etah noch diese Felle und Pelze, dazu das Elfenbein. Das alles zusammen<br />

ist eine ganze Menge wert. Und von dem Geld soll Franke durchaus seinen Anteil


haben.”<br />

“Welchen Anteil?”<br />

”Versprochen hab ich ihm nichts. Bei dem einen ist der Ehrlichkeitsbonus höher<br />

als bei einem anderen. Man weiß vorher nie, woran man ist. Ich würde sagen: es<br />

kommt auch auf Franke an. Was er fordert. Und - wie die Umstände sind---. ”<br />

Ich unterbrach ihn mit Bestimmtheit: “Franke ist eine ehrliche Haut.”<br />

“Das mag schon sein, May. Aber auch eine ehrliche Haut läßt sich spicken. Es<br />

kommt nur auf die richtigen Spicknadeln und auf den richtigen Speck an. Ich denke<br />

doch, Franke in der Hand zu haben.”<br />

Ich war erschüttert. Cook war nicht nur zynischer, als ich bislang geglaubt. Er war<br />

offenbar durch und durch unehrlich und zierte sich nicht bei der Wahl seiner<br />

Mittel, um diese Unehrlichkeit zu verschleiern. Mit seiner Erläuterung hatte er die<br />

Sache zwar nicht direkt zugegeben, aber doch auf den Punkt gebracht. Er hatte<br />

Rudolf Franke aus genau dem Grunde zurückgeschickt, aus dem Peary alle weißen<br />

Begleiter bis hin zu Captain Bartlett hatte umkehren lassen: er wollte keinen<br />

glaubwürdigen Mitwisser um die Fragwürdigkeit seiner Behauptungen. Das war<br />

am Gipfel der Erde nicht anders als auf dem höchsten Berge des Kontinents.<br />

Unser Zug schnaufte die Steigung hinan. Wir näherten uns dem Kamm des<br />

Felsengebirges, gleichzeitig Wasserscheide zwischen den Ozeanen. Die Sicht ins<br />

Tal war atemberaubend. Die schroffen Hänge des Abgrundes waren weiter unten<br />

mit dichtem Nadelwald bestanden, und so blieben wie beim Blick in die<br />

menschliche Seele die tiefsten Stellen verborgen. Über allem thronten<br />

schneebedeckt Gipfel und weitschwingende Kammlagen mit drohenden<br />

Überhängen und Wächten. Sekundenlang dachte ich an die Schründe der Arktik<br />

und sehnte mich sogleich dorthin zurück. Es war nicht so sehr die Einsamkeit, die<br />

ich vermißte; selbst in der hautnahen Enge der unterm Schnee begrabenen<br />

Eskimoerdhütte hatte ich mich wohler und mehr am Platze gefühlt als in diesem<br />

luxuriösen Speisewagen mit seinen Damasttischtüchern, seinem Tafelsilber - und<br />

diesem --- ja, Lügner und Scharlatan als Gegenüber. Ich gab mich keinen Illusionen<br />

mehr hin, sah vielmehr die Situation plötzlich so unverbogen und klar wie niemals<br />

zuvor. Nun gut, ich hatte ihm versprochen, bis zu dem Vortrag in Hamilton bei<br />

ihm zu bleiben, und dieses Versprechen würde ich halten. Doch das war es dann<br />

auch - ich würde mich nicht länger an der Seite dieses Mannes für eine Sache<br />

aufreiben, die auf Lug und Trug beruhte. Nicht nach einer solchen Enttäuschung.<br />

Ich war meiner Absicht, in dem aberwitzigen Streit zwischen Peary und Cook das<br />

Schlimmste zu verhindern, bisher mit Erfolg treu geblieben. Doch nun war die<br />

Grenze dessen erreicht, was ich meinem Gewissen zumuten konnte. Mochten die<br />

Dinge jetzt ihren Lauf nehmen. Hatte ich in Cooks Schuld gestanden, weil er mir<br />

vor fünf Jahren bei jenem Anschlag auf die Eisenbahnbrücke über den Ohio das<br />

Leben gerettet, so war diese Schuld jedenfalls inzwischen längst abbezahlt.<br />

Hinter einer leichten Kurve des Schienenstranges war die Einfahrt zu dem Tunnel


auszumachen, der hier die Paßhöhe unterschnitt. Was wartete jenseits des<br />

Kammes an Überraschungen auf mich?<br />

Jeder Tropfen, der über die Rinnsale und die Gebirgsbäche von dieser Seite des<br />

Gebirges abfloß, gelangte über Yellowstone, Missouri und Mississippi in den Golf<br />

von Mexiko und somit letztlich in den Atlantik; von der anderen Seite der Berge<br />

nahm der Columbia River mit seinen Nebenflüssen das Naß der Berge auf und trug<br />

es zum Pazifik hinab. Nicht anders als mit den Wassertropfen war es mit Wahrheit<br />

und Lüge. Auch hier gab es eine feste Trennung, eine innere Haltung, die das eine<br />

vom anderen schied. Und diese innere Haltung hatte jeder mit sich selbst<br />

abzumachen. Was ein Mensch tut und denkt, endet immer entweder im Ozeane<br />

der Wahrheit oder aber im Pfuhl der Lüge; einen Mittelweg gibt es nicht. Da ich<br />

dem Edlen und Guten verbündet, hatte ich nachgerade die Pflicht, Doktor Cook<br />

sofort meine Mißbilligung seiner Machenschaften spüren zu lassen. Ich legte die<br />

Serviette zusammen und sagte, meine Empörung so gut wie möglich verbergend:<br />

“Ihre Pelze und Ihr Elfenbein sind nicht mehr Ihre Pelze und Ihr Elfenbein.<br />

Vermutlich ist die ganze Herrlichkeit auch nicht mehr in Etah. Peary hat das Lager<br />

jedenfalls an sich genommen.”<br />

“Mann Gottes, May - was sagen Sie da!”<br />

“Als Bezahlung dafür, daß er den skorbutkranken Franke mit seinem Hilfsschiff<br />

zurück in die Staaten fahren ließ.”<br />

Er saß für eine Weile wortlos, dann explodierte er. “Skorbut hin, Skorbut her - die<br />

Pelze gehören nicht Franke. Sie sind mein Eigentum. Alle anderen Behauptungen<br />

widersprechen den Tatsachen. Wie kommt Franke dazu, sie Peary -und<br />

überhaupt--- warum erfahre ich jetzt erst davon? Warum hat mir Harry Whitney<br />

in seinem Telegramm davon nichts mitgeteilt ?”<br />

“Whitney haben Sie, soviel ich weiß, lediglich Ihre Aufzeichnungen und Ihre<br />

Geräte anvertraut. Nicht die Pelze. Und nicht die Walroß- und Narwalzähne.”<br />

“Das ist doch Krümelkackerei - entschuldigen Sie bitte den Ausdruck. Er hat<br />

Quartier in dem Haus genommen, das ich zur Aufbewahrung meiner Pelze gebaut<br />

habe. Also ist er mir für sie verantwortlich.”<br />

“Das müssen Sie schon Whitney selbst sagen.”<br />

“Werde ich auch, oh ja, das werde ich auch - worauf Sie sich verlassen können!”<br />

Sobald der Zug im Tunnel war, erhob ich mich. Doch ehe ich ging, stellte ich noch<br />

eine Frage, die mich seit Beginn von Cooks Darlegungen über die jüngsten Tricks<br />

von Hubbard und Co. beschäftigt hatte. “Warum hat man Herrn Barrille<br />

ausgerechnet in Darby, Montana erstmals für den Peary Arctic Club zu - nun,<br />

einzukaufen versucht?”<br />

Der Doktor sah mich geistesabwesend an. Er war wohl immer noch mit den<br />

verlorenen arktischen Reichtümern beschäftigt. Erst nach drei, vier Atemzügen gab<br />

er mir zur Antwort: “Warum in Darby? Dort ist Ed Barrille zu Hause.”<br />

Etwas ähnliches hatte ich während der ganzen Zeit befürchtet. Es bedeutete sicher


nichts Gutes.<br />

Auf der Westseite des Gebirges bot die Landschaft ein grundlegend verändertes<br />

Bild. Sobald wir den Tunnel verließen, nahm der Zug seinen Weg sanfte<br />

Wiesenhänge hinab in ein breites Flußtal. Dies mußte, irrte ich nicht, der Clark<br />

Fork sein, in den irgendwann bald der Bitterroot River münden würde - der Fluß,<br />

an dem Hamilton lag. Wir waren unserem Reiseziele also schon recht nahe<br />

gekommen.<br />

Wasserläufe bieten in unbekannter Umgebung noch immer die sicherste<br />

Orientierung. Ich stand gedankenversunken im Gange und blickte hinaus. Vor dem<br />

Fenster zog der Fluß zu Tale, ruhig zumeist, doch hin und wieder seinen Weg über<br />

schäumende Stromschnellen nehmend. Mit Cook hatte ich, seit auch er ins Abteil<br />

zurückgekehrt war, kein einziges Wort gewechselt. Er spürte wohl, daß ich ihn<br />

durchschaut hatte.<br />

Da tauchten am anderen Ufer, idyllisch auf einer dicht mit Herbstblumen<br />

bewachsenen Wiese gelegen, etwa drei Dutzend Tipis auf. Vor ihnen grasten<br />

angehobbelte Pferde, ohne sich vom Vorüberrattern des Zuges stören zu lassen.<br />

Rauch stieg zwischen den Zeltstangen auf. Zu sehen war niemand außer einigen<br />

Kindern, die am Flußufer den Zug erwartet haben mochten. Nun rannten sie<br />

schreiend und winkend ein Stück mit ihm um die Wette.<br />

Ich wollte das Fenster öffnen, um ihre Rufe zu erwidern. Aber der Rahmen<br />

klemmte und widersetzte sich meinen angestrengten Versuchen. Ich sah mich nach<br />

Hilfe um, doch war weder jemand vom Zugpersonal noch ein Mitreisender auf<br />

dem Gange. Da gab ich es auf und winkte den Kindern durch die Scheibe zurück.<br />

Ich war mir allerdings nicht sicher, ob sie mich sehen konnten.<br />

Abseits der Tipis standen mehrere borkenverschalte, nach oben gleichfalls spitz<br />

zulaufenden Holzhütten. Sie mochten den Rothäuten als Lagerräume und Ställe<br />

dienen. Zwei solide Blockhäuser schlossen sich an. Eines trug weithin sichtbar auf<br />

dem Dache ein Schild: U.S. Bureau of Indian Affairs / Flathead Reservation /<br />

Agency and Trading Post, das andere ein Kreuz. Dann blieb auch das zurück, war<br />

vorbei, verflogen, wie nie gewesen.<br />

Zornesbleich wandte ich mich ab. Das war alles, was dem roten Manne zum Leben<br />

gelassen wurde: ein Reservat von Uncle Sams Gnaden, mit einer Agentur der<br />

Regierung, die jeden Schritt der Indianer überwachte, einem Handelsposten, der<br />

ganz bestimmt nicht im Interesse der Rothäute wirtschaftete, sondern die Stämme<br />

in erdrückende Verschuldung und damit in eine nie endende Abhängigkeit trieb.<br />

Und eine Missionskirche. Welch unheilige Dreifaltigkeit! Ein solches Gefängnis<br />

braucht keine Mauern und keinen Stacheldraht.<br />

Ich war aufgebracht über das Geschaute, aber auch ärgerlich auf mich selbst. Ich<br />

hätte nicht in den amerikanischen Westen fahren sollen! Hätte mit meiner<br />

Erinnerung leben und im übrigen die veränderte Zeit ihren Lauf nehmen lassen


sollen. Das freie Streifen im Felsengebirge, wie ich es an der Seite meiner roten<br />

Freunde gewohnt gewesen, gab es nicht mehr. Die rote Nation lag im Sterben, von<br />

einem unerbittlichen Schicksale niedergeworfen, welches kein Erbarmen kennt.<br />

Und die Reservationen waren die ihr amtlich angewiesenen Totenlager. Auch für<br />

mich gab es keinen Weg zurück in das Leben als Westmann. Zu tief war ich, bei<br />

allem Verwurzeltsein im Kampf für das Gute auf der Welt, inzwischen mit den<br />

Segnungen der sogennanten Zivilisation verstrickt.<br />

Ein Gefühl der Ohnmacht beschlich mich, und mit diesem Gefühle ging eine<br />

gewisse Milderung der bitteren Vorwürfe einher, die ich noch eben gegen Doktor<br />

Cook ins Feld zu führen bereit war. Ich spürte eine plötzliche Regung, ihm für<br />

seine kommenden Auftritte meinen Sextanten zum Hochhalten anzubieten. Warum<br />

eigentlich nicht? Dann könnte er seinen Zuhörern wenigstens etwas vorweisen,<br />

von dem feststand, daß es tatsächlich am Nordpol gewesen.<br />

Ebenso schnell, wie er mir gekommen, ward der Gedanke verworfen. Nein, nein<br />

und nochmals nein! Nur jetzt kein falsches Mitleid und kein falsches<br />

Schulterklopfen! Ich würde mich damit unweigerlich an neuen<br />

Lügenverstrickungen mitschuldig machen, und eine solche Absicht lag mir ferner<br />

als irgend etwas auf der Welt. Ich betrat das Abteil schweigend und setzte mich.<br />

Wenig später rief der Kondukteur die Station Missoula aus. Dort mußten wir in<br />

die Bitter Root Line umsteigen.<br />

Hamilton lag zwölfhundert Meter über dem Meeresspiegel und damit so hoch wie<br />

der Fichtelberg im Erzgebirge. Doch lag es im Tal. Nach Westen schnitt der Kamm<br />

der Bitterrootberge den schweifenden Blick ab, dort verlief auf der Höhe die<br />

Grenze nach Idaho. Und sah man den Fluß aufwärts, dessen Lauf sich bald schon<br />

in den Hängen verlor, so ließ die schale Erkenntnis nicht auf sich warten: Hamilton<br />

war in der Tat das Ende der Welt. Es lag in einer Sackgasse, nicht nur<br />

geographisch. Ich mußte weg von hier. Mein Kampfplatz war die Welt, war<br />

draußen - überall dort, wo man den Streit um den Edelmenschen ausfocht. Nicht<br />

hier, wo ein Ehrgeizling seinen Anspruch, den Nordpol erobert zu haben, an den<br />

Mann bringen wollte. Und das hieß in diesem Falle: ihn einem sensationshungrigen<br />

Provinzpublikum schmackhaft zu machen, der schlimmsten Spielart<br />

schlagzeilengieriger Lemminge.<br />

Die Siedlung war erst vor zwei Jahrzehnten gegründet. Kupferbergbau und<br />

Goldsuche hatten für schnelle Prosperität gesorgt. Und so gab es gar ein örtliches<br />

Opernhaus; dort sollte Doktor Cook am Abend des Tages nach unserer Ankunft<br />

auftreten. Der Vortrag war vom Veranstalter als Bericht über die<br />

Nordpolexpedition angekündigt. Doch entdeckte ich auf einem ersten Gang durch<br />

das Städtchen auch Maueranschläge, die zu etwas ganz anderem einluden. “Leute,<br />

kommt in Scharen ins Opernhaus!”, hieß es da kurz und knapp. “Unser Ed Barrille<br />

aus Darby wird auch mal vorbeischauen.” Keine Unterschrift. Nicht der kleinste


Hinweis auf die Urheber dieser merkwürdigen Einladung.<br />

Und doch lag klar auf der Hand, wer dahintersteckte. Die Zeitungen, die mit dem<br />

Morgenzug kamen, brachten - soweit sie zur Clique um die Neuyorker “Times”<br />

gehörten - in großer Aufmachung die Nachricht: Kritische Prüfung der<br />

Tagebücher, anderer dokumentarischer Unterlagen, der Apparate und<br />

Meßinstrumente von Commander Peary durch einen Ausschuß unabhängiger<br />

Fachleute in der Hauptstadt Washington. Wo bleiben Cooks Unterlagen? Die<br />

Hearst-Massenblätter standen beim Aufbauschen dieser Meldung in nichts hinter<br />

der “Times” zurück. Doch zum Glück war mit demselben Zuge auch die jüngste<br />

Ausgabe des “Herald” eingetroffen, und so ließ sich im Abwägen der<br />

Informationen durchaus eine genauere Vorstellung von der Bedeutung des<br />

Geschehens erlangen.<br />

Es ergab sich etwa folgendes Bild: Die National Geographic Society hatte drei ihrer<br />

Leute ein paar Stunden mit Peary plaudern lassen. Die Herren hatten wohl auch<br />

einen wohlwollenden und eher flüchtigen Blick auf die Sachen geworfen, die er zu<br />

dieser sogenannten Prüfung aus dem fernen Maine nach Washington mitbrachte -<br />

eine Reisetasche voll Aufzeichnungen und eine Kiste mit Instrumenten. Als<br />

Ergebnis war sodann mit gebieterischer Autorität verkündet worden: der Ausschuß<br />

sei einstimmig zu der Erkenntnis gelangt, Commander Peary habe am 6. April<br />

1909 den Nordpol erreicht. Punkt. Bestätigt und unterzeichnet.<br />

Als ich die drei Namen unter der Verlautbarung las, wurde mir sofort klar, was hier<br />

gespielt wurde. Es waren sämtlich nahe Freunde und finanzielle Gönner Pearys;<br />

selbst der Pelzhändler, dem er seine arktischen Schätze verkaufte, gehörte dazu.<br />

Mit anderen Worten: man war ganz unter sich geblieben. Von einer wie auch<br />

immer gearteten “Unabhängigkeit” der Mitglieder dieses Ausschusses konnte<br />

überhaupt keine Rede sein. Man muß nämlich außerdem wissen, daß die<br />

sogenannte National Geographic Society eine private Gesellschaft ist, die zum<br />

Führen des Wortes “National” in ihrem Namen keinerlei Berechtigung hat. Seit<br />

Beginn der Arbeit des Peary Arctic Club hat die National Geographic, wie die<br />

Gesellschaft sich kurz gern selbst nennt, zu dessen aktivsten Förderern und<br />

Unterstützern gehört. Wenn sie sich nun derart exponiert für Pearys Verteidigung<br />

einsetzte, war das vor allem ein Akt der Selbstrechtfertigung und in diesem Sinne<br />

gewiß logisch verständlich, aber es war in keiner Weise - wie der Welt<br />

weiszumachen versucht wurde - Ausdruck einer unparteiischen Handlungsweise.<br />

Für mich lag die Sache klar: war Cook auch ein Lügner, so wurden doch dadurch<br />

Pearys Lügen nicht weniger hanebüchen oder gar zu Wahrheiten. Ich wußte wie<br />

niemand anders sonst auf der Welt, was es mit seinem sogenannten Nordpolsieg<br />

auf sich hatte. Nur zog ich es vor, dazu zu schweigen. Ich würde jedoch - dieses<br />

eine Mal noch - Cook hier in Hamilton, Montana zur Seite stehen und ihm bei der<br />

Abwehr der offensichtlich gegen ihn eingefädelten Verschwörung der Peary-Leute<br />

sowie der damit verbundenen unmittelbar drohenden Gefahr behilflich sein.


Ich beschloß, den Doktor in seinem Zimmer aufzusuchen. Auf dem Wege dorthin<br />

hatte ich auf dem schlecht beleuchteten Korridor meiner Hoteletage eine<br />

Begegnung, durch die ich in meiner Absicht noch bestärkt wurde.<br />

Wenn ich Begegnung sage, so ist dies nicht ganz das richtige Wort, die Situation zu<br />

beschreiben. Es handelte sich vielmehr um das einseitige Wiedererkennen eines<br />

eben frisch eingetroffenen Hotelgastes durch mich; ein Bellhop ging dem Gaste mit<br />

dessen Mantel und leichtem Gepäck voraus. Im Vorübergehen deutete der<br />

Ankömmling, mit Daumen und Mittelfinger der Linken flüchtig an die Hutkrempe<br />

greifend, einen Gruß an. Ich verneigte mich kurz, sagte “Sir!” und wollte schon<br />

weitereilen, als ich stutzte und mich noch einmal umsah. Das war doch - ja! Jeder<br />

Zweifel war ausgeschlossen: es war der “Times”-Reporter Johnnie aus dem<br />

Lightening Bug in Manhattans 70. Straße. Er hatte mich gottlob nicht erkannt.<br />

Wo ein Journalist ist, ist er zumeist nicht allein. Die Nachricht, daß zeitgleich mit<br />

den Neuyorker Blättern auch deren Reporter in Hamilton, Montana -<br />

ausgerechnet! - eingetroffen seien, überraschte Cook nicht. Er war sofort bereit,<br />

sich meiner Verschwörungstheorie anzuschließen und nahm die Tatsache, daß ich<br />

ihm abermals meine Unterstützung anbot, gelassen und wie selbstverständlich hin.<br />

“Wir werden das Ding umfunktionieren”, sagte ich angriffslustig, “und die<br />

Anwesenheit der Presseleute für die eigene Sache nutzen. Wie wär’s mit einer<br />

Pressekonferenz hier im Hotel ‘Ravalli’?” Wie das County, in dem Hamilton lag,<br />

trug das Hotel den Namen dieses einst in der Gegend wirkenden<br />

Jesuitenmissionars.<br />

“Großartige Idee! An welche Zeit hatten Sie gedacht?”<br />

“Sagen wir um drei Uhr nachmittags?”<br />

“Ausgezeichnet! Das läßt mir Zeit, mich danach noch auf die Veranstaltung am<br />

Abend vorzubereiten.”<br />

Gesagt, getan. Ich veranlaßte das Nötige, ließ im Ballsaal Sesselgruppen aufbauen<br />

und, etwas erhöht, einen Tisch für Cook und mich, ordnete das Servieren von<br />

Drinks und Snacks für die Teilnehmer an - kurz: ich tat alles, um diese kleine<br />

Vorveranstaltung zu einem vollen Erfolg zu machen. Und zunächst sah es auch<br />

ganz nach einem solchen aus - denn alle, alle kamen. Die “Times” wie der “Globe”<br />

waren durch jeweils mehrere Reporter vertreten, dazu die Hearst-Blätter,<br />

allerdings ohne meinen speziellen Freund Dabbya entsandt zu haben; daß der<br />

“Herald” in Hamilton durch Abwesenheit seiner Leute glänzte, während die<br />

Konkurrenz sich auf das stille Tal in Montanas Bergen einschoß, hielt ich gelinde<br />

gesagt für eine Fahrlässigkeit Bennetts, gröber ausgedrückt: für einen<br />

entscheidenen strategischen Fehler.<br />

Ich eröffnete und gab sogleich Cook das Wort. Einleitend nahm der Doktor<br />

Gelegenheit, in durchaus versöhnlichem Tone auf die seinerzeit in Kopenhagen<br />

geäußerten grundsätzlichen Gedanken zurückzukommen: daß er sich freue,


gemeinsam mit seinem Landsmann Peary Amerika und der Welt das Geschenk der<br />

Nordpolentdeckung gemacht zu haben; daß der mit dieser Großtat menschlichen<br />

Forschergeistes verbundene Ruhm groß genug sei für zwei; daß er die in den<br />

letzten Monaten eingetretene Mißstimmung zwischen den beiden Lagern bedaure;<br />

daß er bereit sei, seinerseits künftig auf verletzende Polemik zu verzichten und von<br />

Peary eine ähnliche Haltung erwarte; daß er---<br />

An dieser Stelle seiner Ausführungen wurde er durch einen Zwischenruf<br />

unterbrochen, und zwar kam dieser ausgerechnet von Johnnie. “Genug mit der<br />

Kannegießerei!”, rief der “Times”-Mann. “Glauben Sie denn, wir sind hierher an<br />

den Arsch der Welt gekommen, um uns Ihr Friede-Freude-Eierkuchen-Gesülze<br />

anzuhören?!”<br />

Wie er das verstehen solle, fragte Cook, offensichtlich verunsichert, er habe<br />

seinerseits die lautersten Absichten und ---<br />

Gelächter flog auf. Er war am Weiterreden gehindert und blickte ratlos auf mich.<br />

Ich schrieb hastig auf einen Zettel: ‘Sagen Sie, daß Sie bereit sind, heute abend mit<br />

Herrn Barrille zu diskutieren und dabei auf seine jüngsten Anschuldigungen<br />

einzugehen. Angriff ist die beste Verteidigung.’ Was hier gespielt wurde, stand<br />

außer Zweifel.<br />

Er las, zuckte die Schultern und sah mich groß an.<br />

“Aber das ist doch gar nicht mein Vortragsthema!”, schrie er mir durch den Lärm<br />

zu. Ich schüttelte verständnislos den Kopf, schrie dann mit Bestimmtheit zurück:<br />

“Es ist aber IHR Thema--- !” und wies auf die lärmende Meute.<br />

Da endlich schien Cook zu begreifen: ihm blieb keine Wahl.Um Ruhe bittend hob<br />

er den rechten Arm, und tatsächlich verstummten die Zeitungsleute. “Ich will<br />

nicht, daß Sie die weite Reise als Fehlinvestition ansehen”, sagte Cook. “Wir<br />

wollen gemeinsam der wahrhaftigen Berichterstattung einen Dienst erweisen.”<br />

“Der was?” rief einer. Einige lachten, doch konterten andere: “Laßt ihn doch<br />

ausreden.”<br />

“In diesem Sinne bin ich bereit, heute abend meinem alten Bergkameraden Ed<br />

Barille von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, mir anzuhören, was er zu<br />

sagen hat und darauf zu antworten.”<br />

“Na also!”<br />

“Warum nicht gleich so!”<br />

Sie schienen zufrieden. Man trank aus, prostete lachend einander zu. Die ersten<br />

gingen. Ich stand auf, wollte zum Ausgang, kam aber nicht weit. Plötzlich<br />

versperrte mir Johnnie den Weg. “Tja, so sieht man sich wieder”, sagte er lachend.<br />

Mir war nicht entgangen, daß er mich während der Ausführungen Cooks mehrfach<br />

fixiert hatte. Ich tat zunächst so, als sei er Luft und sah mich nach Cook um. Er<br />

stand schon in der Nähe des Saalausganges, auf einen der Journalisten einredend,<br />

wobei er die Arme mehrfach beschwörend hob und senkte.<br />

“Wetten, daß ihr heute abend den Kürzeren zieht?” Johnnie hielt mir völlig


überraschend seine Rechte hin. Ich blickte, mein Befremden nicht verhehlend, auf<br />

die dargebotene Hand und sagte: “Wer soll denn das sein - ihr?”<br />

“Na, du und dein Doktor Cook. Ihr habt keine müde Chance. Also - wie ist es?<br />

Sagen wir: fünf Dollar. Unter Kollegen.” Er bekräftigte sein Angebot, indem er mir<br />

nunmehr den Arm energisch in voller Länge entgegenstreckte.<br />

“Ich wette nie. Außer ums Blaue Band“, sagte ich eingedenk des Anlasses unserer<br />

ersten Begegnung.<br />

“Na, nichts für ungut - war doch nur gut gemeint. Aber wenn du nicht willst.” Er<br />

machte auf dem Absatz eine halbe Kehrtwendung, ging auf einen mir unbekannten<br />

Mann zu, deutete mit dem Zeigefinger schräg hinter sich, etwa in meine Richtung,<br />

schüttelte den Kopf und tippte darauf mit der Spitze des Fingers in einer<br />

unmißverständlichen Geste an seine Stirn.<br />

Diese Attitüde ließ jedenfalls nichts Gutes erahnen.<br />

Der Verlauf des Abends sollte selbst meine schlimmsten Befürchtungen noch in<br />

den Schatten stellen. Das Opernhaus war bis auf den letzten Platz besetzt, und es<br />

ging entsprechend laut her. Hunderte Träger von Bärten und Schnurrbärten aller<br />

Art, schmierigen Jacken und Leggins, bunten Halstüchern, breitkrempigen Hüten<br />

in jeder nur erdenklichen Ausführung und Schattierung riefen einander quer durch<br />

den Saal Grußworte zu, dabei Pfeifen, Zigarren, Zigaretten vor den abenteuerlichen<br />

Gesichtern schwenkend. Dies war offenbar das gesellschaftliche Ereignis der<br />

vorwinterlichen Saison. Man nahm die letzte Gelegenheit wahr, Freunde,<br />

Bekannte, Kumpel vom nächsten Schacht oder Ranchanrainer wiederzusehen und<br />

zu begrüßen, ehe der große Weißmacher sein Tuch über Berg und Tal breitete und<br />

damit jeden nachbarschaftlichen Verkehr erst einmal unterband. Auch die bessere<br />

Gesellschaft war durchaus vertreten, die Herren in Bratenrock und Krawattentuch<br />

- was Stiefel und den breitkrempigen Hut beileibe nicht ausschloß -, die Damen mit<br />

Schirmen und Schleierhütchen. Das Großartige an Amerika ist, daß sich dieser Teil<br />

des Publikums in einer solchen Situation durchaus nicht anders benimmt als die<br />

Träger von Leggins und bunten Halstüchern. So war denn der Tumult in Erwartung<br />

dessen, was kommen würde, ein allgemeiner.<br />

Sobald Doktor Cook auf der Bühne erschien, gekleidet in arktische Pelzjacke,<br />

Kamikerstiefel und Eisbärenfellhose, wurde schallend gelacht. Ich hatte ihn vor der<br />

für seine Vorträge üblichen Kostümierung gewarnt, dies hier war schließlich auch<br />

kein üblicher Auftritt. Hatte stattdessen zum neutralen, Seriosität suggerierenden<br />

Abendanzug geraten, doch er war meinem Rat nicht gefolgt. Nun hatten wir die<br />

Bescherung.<br />

Ich hielt mich hinter der Bühne auf, von einer Kulissenwand den Blicken<br />

verborgen. Cook verschaffte sich schließlich Gehör, indem er beschwörend die<br />

Arme hob. “Meine lieben Freunde”, begann er. Und noch einmal, da noch immer<br />

Lacher aufflogen: “Meine lieben Freunde, Ladies and Gentlemen!”


“Ich höre immer Gentlemen! Wen er damit wohl meint?”, rief jemand von der<br />

Galerie, und sogleich röhrte wieder allgemeines Lachen durch den Zuschauerraum.<br />

Sobald der Lärm abgeklungen, fuhr der Doktor unbeirrt fort: “Ich bin<br />

hergekommen, um Ihnen von einer Reise zu berichten, die mich unlängst in die<br />

Gefilde der Arktik geführt. Dabei habe ich als Erster am Nordpol gestanden---.”<br />

Doch das zu hören war an diesem Abend offenbar niemand in das Opernhaus von<br />

Hamilton, Montana gekommen. Wie auf ein langerwartetes Stichwort riefen in<br />

eben diesem Augenblick die ersten gereizt nach Ed Barrille. Das Schreien steigerte<br />

sich zum Tumult, und schließlich skandierte der ganze Saal: “Ed, Ed, Ed, Ed---”<br />

Der Krach war ein unbeschreiblicher. Dazu wurden drohend Fäuste und Revolver<br />

geschwungen.<br />

Besorgt um Cooks Sicherheit, sah ich mich nach einem Feuerbeil um. Ich erblickte<br />

auch eins, nur wenige Schritt hinter mir an einer Ziegelwand. Schon wollte ich<br />

darauf zueilen, um es für alle Fälle an mich zu nehmen, da ließ mich ein heiserer<br />

Jubelschrei herumfahren. Wenige Meter von Cook entfernt gewahrte ich einen<br />

Mann in Leggins, Hirschlederweste, breitkrempigem Hut und grünem Halstuch.<br />

Den Augenblick, da der Lokalmatador auf der Bühne erschienen war, hatte ich<br />

verpaßt.<br />

Cook stand erstarrt. Ed Barrille winkte in den Zuschauerraum, aus dem er noch<br />

immer durch Rufe angefeuert wurde. Sobald der Lärm sich legte, nahm er das Wort.<br />

“Ich bin nur ein einfacher Bergführer und der Doc ist ein studierter Mann. Aber es<br />

gibt Dinge zwischen uns und unserem Herrgott, die jeder mit sich selbst abmachen<br />

muß, ob er nun irgendwo zur Schule gegangen ist oder nicht. Und so ein Ding ist<br />

zum Beispiel die Frage von Wahrheit und Unwahrheit.”<br />

Neues Gejohle antwortete ihm. Ja, das war der Menge aus dem Herzen<br />

gesprochen, und auch ich kam nicht umhin, diesen Worten im Prinzip<br />

zuzustimmen, wenn ich auch die Umstände ablehnte, unter denen sie vorgebracht<br />

wurden.<br />

“Ja, deshalb bin ich heute abend hier, und ihr wißt, was ich über den Doc und den<br />

Mount McKinley gesagt habe und was die Zeitungen darüber geschrieben haben<br />

und ich sags am besten gleich nochmal: Ganz oben war er nicht, nein.”<br />

Da war wie von Zauberhand plötzlich die Starre von Cook genommen. Er ging auf<br />

Barrille zu, hielt ihm die Rechte hin und sagte: “Schön, dich wiederzusehen, Ed. Es<br />

wird mir gut tun, gemeinsam die alten Zeiten am Berg zu beschwören und---”<br />

Doch offenbar waren Versöhnung und Ausgleich im Ablaufplan dieses Abends<br />

nicht vorgesehen. Jedenfalls wurden sogleich neue Rufe laut: “Genug geschwafelt!”<br />

und “Gibs ihm, Ed! Gibs ihm--- !” Ed Barrille trat einige Schritte zur Seite,<br />

streckte, Ruhe heischend, die Linke vor und sagte: “Ich bin nicht hier, mir alte<br />

Behauptungen neu anzuhören. Ich bin heute hier, Zeugnis zu geben vor Gott und<br />

vor euch allen. Dieser Mann lügt, sobald er das Wort vom Mount McKinley auch<br />

nur in den Mund nimmt. Der Herr im Himmel ist mein Zeuge.”


Cook, verunsichert, trat ebenfalls ein paar Schritte seitwärts. Der Abstand<br />

zwischen den beiden war damit nicht einfach nur größer, er war, das spürte ich,<br />

unüberbrückbar geworden. Da ergriff der Doktor wieder das Wort. “Wenn<br />

niemand hören will, was ich zur Sache zu sagen habe, so will ich mich auf das<br />

berufen, was andere mir über dich berichtet haben, mein lieber Ed. Schlimme<br />

Dinge, ich muß schon so sagen. Du sollst Geld dafür bekommen haben, daß du<br />

neulich im ‘Globe’--- und heute hier---” Aufschreie unterbrachen ihn. Doch Cook,<br />

hochroten Kopfes, sah zu, die Krakeeler zu überschreien: “---heute hier auftrittst.<br />

Und zwar einen ganzen Haufen Geld. Jedenfalls mehr - mehr als dreißig Silberlinge.<br />

Ich werde---” Da ging seine Stimme endgültig in einem allgemeinen Unmutsschrei<br />

unter.<br />

Wenn Cook die Menge weiter so reizte, nahm das hier kein gutes Ende. Froh<br />

darüber, daß es bisher nicht zu Handgreiflichkeiten oder gar zu Blutvergießen<br />

gekommen, war ich augenblicklich zum Eingreifen entschlossen. Ich hielt beide<br />

Hände als Trichter vor meinen Mund und rief, gerade laut genug, daß er es hören<br />

mußte: “Frederick!”<br />

Daß ich ihn mit seinem Vornamen ansprach, war Absicht. Denn da dies zwischen<br />

uns sonst nicht üblich war, verstand er die Dringlichkeit meines Rufes und blickte<br />

sogleich zu mir herüber.<br />

Ohne ein weiteres Wort winkte ich ihn zu mir in die Kulissen. Er gehorchte. Seit<br />

dem Festessen im Kopenhagener Tivoli-Restaurant “Divan” war das nie anders<br />

gewesen. Sobald er neben mir stand, herrschte ich ihn mit gedämpfter Stimme an:<br />

“Was haben Sie sich eigentlich bei Ihren Worten gedacht! Wollen Sie denn<br />

unbedingt, daß eins der Schießeisen losgeht, mit denen die stolzen Herren des<br />

Westens da unten so freigebig herumfuchteln?”<br />

Er sah mich entgeistert an und sagte: “Wer weiß, vielleicht will ich es. Wenn ich als<br />

Märtyrer der Nordpoleroberung sterbe, bleibe ich für die Geschichte immerhin<br />

unwiderlegt.”<br />

“Märtyrer - so ein Unsinn! Nicht, solange ich an Ihrer Seite bin, Cook.”<br />

“Aber hören Sie sich doch bloß an, was dort draußen los ist.” Er wies mit dem<br />

ausgestreckten Arme auf die offene Bühne. Ich konnte zwar in dem schmalen<br />

Stücke davon, welches in meinem Blickwinkel lag, niemanden ausmachen, hörte<br />

aber deutlich die Stimme eines Unbekannten: “Ihr wißt alle, wer ich bin: der Mann<br />

von der Zeitung im Nachbarcounty.” Zustimmende Rufe unterbrachen den<br />

Sprecher kurz, er ging sofort auf sie ein. “Ja, ganz richtig - Ted vom ‘Anaconda<br />

Standard’. Und ihr wißt auch, daß unsere Zeitung immer für das Gemeinwohl---”<br />

“Spar dir den Quatsch mit Soße.”<br />

“Keine Eigenwerbung, Ted!”<br />

Er nahm die Zwischenrufe gelassen hin und kam gleich zur Sache: “Okay. Ich<br />

frage euch: müssen wir uns von diesem hergelaufenen Doktor Crook so ein<br />

Affentheater bieten lassen?” Das amerikanische Englisch liebt derlei Spiele mit


nahezu gleichklingenden Wörtern, und dieses Wortspiel war besonders scharf<br />

gewürzt: ein crook ist soviel wie ein Gauner. Der Erfolg war dem Zeitungsmann<br />

sicher.<br />

“Nein”, schrie es da auch schon aus der Menge. Und: “Müssen wir nicht!”<br />

“Richtig, Boys --- ! Müssen wir nicht.”<br />

“Wenn schon, dann bitte Gentlemen, Ted!” Der Zwischenrufer erntete<br />

stürmisches Lachen.<br />

“Well then --- Boys, Ladies - and Gentlemen! Ihr seid das freie Volk von Montana<br />

und bestimmt selbst, was wahr und was unwahr ist. Wenn einer einen umgelegt<br />

hat, bestimmt auch eine Jury, ob es ein Mord war oder nicht. Warum sollt ihr<br />

nicht in Sachen Mount McKinley und Nordpol die Jury sein?!”<br />

Der Hexenkessel tobte. Wann würde er überkochen? Ich sah Cook an, wollte<br />

etwas sagen, um mich und ihn zu beruhigen. Doch er legte den Zeigefinger auf die<br />

Lippen: Ted sprach schon weiter. “Unserem Ed Barrille glauben wir und diesem<br />

Mann, der sich vor der Wahrheit versteckt---” - dem Schalle nach zu urteilen<br />

drehte er sich dabei in unsere Richtung - “---diesem Mann trauen wir nicht übern<br />

Weg!”<br />

“Richtig.Kein Stück! Bravo, Ted.”<br />

Die Rufer waren nicht mehr einzeln auszumachen. Was würde der wildgewordene<br />

Provinzredakteur von seinen Zuhörern fordern ? Ich sah Cook an. Er war bleich<br />

geworden und flüsterte: “Sie werden mich lynchen!”<br />

“Das möchten Sie wohl! Schlagen Sie sich den Märtyrer ein für allemal aus dem<br />

Kopf!” Ich legte mehr Schärfe in meine Stimme, als ich zunächst beabsichtigt<br />

hatte. Ließ Cook kurzerhand stehen, ging auf der Bühne noch weiter nach hinten<br />

und tappte bei unzureichendem Licht zwischen abgestellten Kulissen und Kästen<br />

für allerlei Musikinstrumente umher. Mein Gott, es mußte doch auch auf dieser<br />

Opernbühne am Ende der Welt irgendwo zur Hinterbühne gehen und von dort<br />

durch eine rettende Tür auf die Straße!<br />

Teds Stimme klang leiser, je weiter ich mich entfernte, doch verstehen konnte ich<br />

ihn noch immer. “Warum solltet ihr nicht, was ihr fühlt, in einer Entschließung<br />

sagen? Glaubt mir, der ‘Anaconda Standard’ wird dafür sorgen, daß es die Welt<br />

erfährt!” Wieder Schreie, erneutes Rufen, das in allgemeine Raserei ausartete.<br />

Ich suchte weiter. Stieß mich an einer riesigen hölzernen Vase, die nach China<br />

aussehen sollte, warf einen Garderobenständer um und stand schließlich vor einem<br />

verstaubten Vorhang mit einer blühenden Landschaft. Als ich ihn lüftete, starrte<br />

mich eine graubraune Bretterwand an. Ungeduldig riß ich an dem Hängeprospekt,<br />

muß dabei wohl etwas grob zugegriffen haben, jedenfalls kam die ganze<br />

Herrlichkeit prasselnd in voller Höhe vom Schnürboden auf mich herabgestürzt.<br />

Wie Laokoon kämpfte ich mit dem Mut der Verzweiflung, stand schließlich -<br />

glücklicher als er - wieder frei auf beiden Beinen und klopfte mich ab. Während die<br />

Staubwolke sich verzog, hörte ich Scharfmacher Ted: “Niemand kann uns


verbieten, das zu tun, was wir zu tun haben. Schon die Gründerväter der<br />

Vereinigten Staaten haben nicht erst in London nachgefragt, ob sie auch tun<br />

durften, was sie zu tun hatten.”<br />

Es war höchste Eile geboten. Kam erst die Politik ins Spiel, half kein sachliches<br />

Argumentieren mehr. Das war in diesem Lande nicht anders als überall auf der<br />

Welt. Ich klopfte die Wand ab, tastete prüfend auf beiden Seiten nach einer<br />

Öffnung - von einer Tür keine Spur. Wir saßen in einer Falle.<br />

Ted sprach noch immer zu der begeisterten Menge. Cook, den ich verängstigt<br />

verlassen, fand ich bei meiner Rückkehr in eine höchst angeregte Unterhaltung mit<br />

einem Unbekannten vertieft, einem älteren Herrn mit Vollglatze, Brille und grauem<br />

Spitzbart. Sobald der Doc mich sah, stellte er mir seinen Gesprächspartner und<br />

mich diesem vor: “Mister May, dies ist Mister Dixon. Mister Dixon, dies ist<br />

Mister May. May, Mister Dixon ist gekommen, um zu vermitteln.”<br />

“Hi, I’am Joseph A. Dixon, Senator Dixon.” Der Mann streckte mir freundlich die<br />

Hand entgegen und fuhr zu erklären fort: “Ich bin Senator des Staates Montana in<br />

Washington. Erfreut, Sie kennenzulernen, Mister---” Mit einer hilflosen Geste<br />

seiner Rechten gab er zu erkennen, daß die gegenseitige Vorstellung durch Doktor<br />

Cook folgenlos an ihm vorbeigerauscht war. Er mochte etwa in meinem Alter sein,<br />

doch roch man seine Senilität drei Meilen gegen den schlimmsten Schneesturm.<br />

“--- May”, half ich ihm umgehend aus. “Die Freude ist ganz meinerseits.” Ich ging<br />

sofort auf Distanz zu dem Mann. Oft haben Menschen mit schlechtem<br />

Gedächtnis unlautere Absichten, weil sie sich an das Gute, das sie einst gewollt,<br />

nicht mehr erinnern.<br />

“Da unser Freund Cook in gewisse --- nun, in gewisse Schwierigkeiten geraten ist,<br />

möchte ich gern meine guten Dienste anbieten, um - sagen wir mal: um es allen<br />

Seiten gerecht zu machen. Mir als Politiker liegt dabei verständlicherweise das<br />

Gemeinwohl mehr denn alles andere am Herzen.”<br />

Sieh an! Ein Faselhans war er auch noch. “Was fordern die Leute denn?”, fragte ich<br />

scharf. “Soll Doktor Cook aufgehängt werden? Oder will man ihn lieber<br />

erschießen?”<br />

“Aber lieber junger Freund! So sind unsere Menschen hier nun einmal. Rauhe<br />

Schale, harter Kern - ich meine, es passiert nicht zum erstenmal, daß man die<br />

Guten falsch versteht und sie für streitsüchtig hält. Oder schlimmer noch - für<br />

gewaltbereit. Neinnein, niemand will unserem Gast von der Ostküste ans Leben.<br />

Was sie wollen, ist die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Die über jeden<br />

vernünftigen Zweifel erhabene Wahrheit. Wer kann ihnen das verzweifeln, äh, ich<br />

meine verübeln - will sagen, jedenfalls --- unter gewissen Umständen?”<br />

“Und diese Umstände scheinen Ihnen jetzt eingetreten zu sein, Senator?”<br />

“Allerdings. Das scheinen sie mir. Ich sehe, wir verstehen einander, Mister---”<br />

“May, Senator. Was wollen die Leute also?” Ich war selbst gespannt, wie lange<br />

meine Geduld mit diesem Tattergreis und selbsternannten Vermittler wohl reichen


würde.<br />

“Was sie wollen, ist, daß Doktor Crook --- äh, Pardon, Doktor Cook zurück an die<br />

Rampe kommt und sich dazu bekennt, daß er die Unwahrheit sagt und unser<br />

Edward Barrille aus Darby die Wahrheit. Ich habe noch seinen Vater gekannt. Hat<br />

auch schon in Darby gewohnt. Ordentlicher Mann.”<br />

“Eine solche Erklärung habe ich abgelehnt”, sagte Cook, an mich gewandt. Er<br />

schien auf einmal wieder nervös. Meine Gegenwart mochte ihn erneut an die<br />

Gefahr erinnert haben, in der er trotz der nun laufenden Vermittlung schwebte.<br />

Dabei hatte ich ihm noch nicht einmal etwas davon gesagt, wie auswegslos im<br />

wahrsten Sinn dieses Wortes unsere Lage hier wirklich war. “Ich habe Senator<br />

Dixon stattdessen vorgeschlagen, daß sich die Versammlung - ganz so, wie der<br />

Herr vom ‘Standard’ es angeregt hat - als Jury konstituiert, daß sie meine sowie Ed<br />

Barrilles Aussagen und Unterlagen vollinhaltlich prüft und danach ein Urteil über<br />

die Glaubwürdigkeit von uns beiden fällt. Ein solches Urteil anzunehmen bin ich<br />

durchaus bereit.”<br />

“Aber das kann sich doch über Wochen hinziehen, lieber Herr Doktor. Sowas kann<br />

man in Washington machen, aber doch hier nicht!”<br />

“Trotzdem. Es ist der einzige Weg.”<br />

“Nun gut, wenn Sie dabei bleiben. Dann gehe ich jetzt raus und sage das denen.”<br />

Dixon nickte in Richtung Zuschauerraum, wandte sich um und machte sich<br />

unsicheren Schritts auf den Weg.<br />

Cook barg sein Gesicht in beiden Händen. Wie er so dastand, noch immer in der<br />

Pelzkleidung, seinen Kopf gebeugt, dauerte er mich. “Wollen Sie nicht endlich<br />

wenigstens diese Vermummung ablegen?” fragte ich. “Es könnte immerhin sein,<br />

daß Sie noch einmal vor diese Leute treten müssen. Warum die zornige Meute<br />

immer wieder an den Nordpol erinnern?”<br />

“Nun - wenn Sie meinen! Ich gehe dann erst einmal zur Garderobe mich<br />

umziehen.” Ich sah ihm mit gemischten Gefühlen nach.<br />

Indes war Dixons getragene Stimme zu hören: “Und so ist es, wie alle Welt weiß,<br />

Amerikas offensichtliche Bestimmung, nicht nur den Pazifik zu erreichen, was ja<br />

gottlob hinter uns liegt, sondern jetzt auch noch den Nordpol zu erobern.”<br />

Er benutzte doch tatsächlich das expansionistische Schlagwort von der manifest<br />

destiny der USA, welches zur Begründung von deren Drang nach Westen hatte<br />

herhalten müssen und das beim Dezimieren der Indianer eine so traurige Rolle<br />

gespielt hatte. “--- den Nordpol zu erobern. Und zwar durch einen Commander<br />

unserer glorreichen Navy. Und wenn dieser Zivilist - dieser Doktor so störrisch<br />

ist--- Ich meine, ich kann schließlich nichts anderes ausrichten als was er gesagt<br />

hat.” Gejohle antwortete. Dann ließ sich wieder Journalist Ted vernehmen.<br />

“Senator - bei allem Respekt. Wir brauchen doch eine sofortige Lösung, kein<br />

Filibuster.”<br />

“Das habe ich auch gesagt. Aber er hat ja nicht hören wollen.”


“Senator, Landsleute”, sprach Ted, plötzlich in feierlichem Tone. “Ich habe da<br />

etwas vorbereitet, was mir der Situation angemessen und der Wahrheitsfindung,<br />

die uns hier zusammengeführt hat, dienlich scheint. Denn was heißt denn das - wir<br />

sollen uns zur Jury erklären und dann wochen-, vielleicht monatelang Papierkram<br />

prüfen?! Mir scheint, wir sind längst eine Jury. Parlamentarische<br />

Verschleppungstaktiken in allen Ehren, wenn sie dem richtigen Zweck dienen.<br />

Aber in diesem Fall brauchen wir kein Dauergerede!”<br />

“Richtig!”<br />

“Keine Advokatentricks!”<br />

“Das denke ich auch. Und da habe ich dieses hier ---” Er schwenkte offenbar ein<br />

Papier, denn nun riefen sie: “Vorlesen, Ted! Ja, lies schon vor - oder gib es<br />

jemandem zum Vorlesen, wenn du nicht lesen kannst!” In das Gelächter hinein war<br />

wieder Ted zu vernehmen: “We, the people---”<br />

“Yeahhhhh---” Ehe er noch den Inhalt seiner Resolution hatte zur Kenntnis geben<br />

können, rollte donnernde Zustimmung durch den Saal. Immerhin begann mit<br />

ebendiesen Worten die Präambel zur Verfassung der Vereinigten Staaten.<br />

In dem Augenblicke kam Cook zurück. Er war noch immer im Pelz. “Die<br />

Garderobe ist abgeschlossen”, sagte er ratlos und zuckte die Achseln. Ich nötigte<br />

ihn auf einen Hocker und hieß ihn horchen, denn sobald wieder Ruhe eingetreten<br />

war, hatte Ted erneut begonnen: “Wir, das Volk von Ravalli County, Montana,<br />

versammelt in Hamilton, haben geduldig Anschuldigungen wie<br />

Gegenanschuldigungen der Parteien in der Streitsache Mount McKinley angehört<br />

und geprüft. Geleitet durch die in der Person unseres Senators, Joe Dixon,<br />

verkörperten Grundsätze von Augenmaß und Anständigkeit erklären wir hiermit<br />

feierlich unseren Glauben an die Wahrhaftigkeit der Aussagen und Darstellungen<br />

von Ed Barrille.” Weiter kam er nicht. Der Lärm der Begeisterung war<br />

unbeschreiblich und ebbte nur langsam ab.<br />

Offenbar leerte der Saal sich allmählich und uns mußte um freien Abzug nicht<br />

bange sein. Cook saß zusammengesunken da. Er war erledigt. Ich empfand kein<br />

Mitleid mit ihm. Durch sein Manövrieren und seine Wortmogeleien hatte er sich<br />

selbst in diese Lage gebracht. Wohl aber konnte ich mit ihm fühlen, wußte, wie ihm<br />

zumute und was die eigentliche Ursache seiner Niederlage war. Sein Getrommel<br />

erreichte diejenigen nicht mehr, für die es gemeint gewesen. Andere, mächtigere<br />

Schamanen hatten den Zauber gebrochen, den er bislang ausgeübt - durch ihre<br />

Zeitungen, diese mit Zeichen bedeckten Blätter aus sogenanntem Papier, dünner<br />

als die allerfeinste Robben- oder gar Fischhaut. Ich mußte an Kaschadu denken.<br />

Wo mochte sie jetzt wohl sein?<br />

“Sie sollten Ihre Pelzkleidung trotzdem ausziehen, für alle Fälle”, sagte ich so<br />

freundschaftlich wie möglich.<br />

“Ja - aber ich habe darunter doch nur meine Unterwäsche an, May - es ist immer<br />

so heiß in diesen Fellklamotten.”


“Ich weiß, ich weiß.” Entschlossen blickte ich mich um und hatte auf der Stelle<br />

etwas passendes erspäht. An einem Kleiderrechen im Hintergrund hing ein mit<br />

einer blaugefärbten Straußenfeder geschmücktes Samtbarett sagenhaften<br />

Durchmessers, darunter ein scharlachrotes Gewand, wohl eine Art Umhang.<br />

Beides mochte von einer Rigoletto-Aufführung übriggeblieben sein.<br />

Cook schaute entsetzt. “Das soll ich anziehen?”<br />

“Machen Sie schon! Es ist immer noch besser als dies hier.” Ich griff beherzt nach<br />

seiner Pelzjacke und half ihm heraus. Er warf sich den Umhang über und setzte<br />

schwunglos das Barett auf. Mit beiden Händen hielt er die merkwürdige Robe<br />

krampfhaft geschlossen. Hilflos stand er vor mir - ob als Herzog von Mantua oder<br />

als Graf Monterone, wagte ich nicht zu entscheiden; und hatte sich eben noch als<br />

Entdecker des Nordpols anzupreisen versucht.<br />

Was für ein Tag! Ich hatte genug - genug gehört und genug erlebt. Ich wollte nur<br />

eines: fort von hier. Fort aus diesem Gruseltheater und fort aus dem erbärmlichen<br />

Hamilton. Das Nötigste mußte sofort geschehen: erst einmal mußten wir ins Hotel.<br />

Am kommenden Morgen würde ich weitersehen.<br />

Ich trat zu Cook. Neben ihm lag auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sein<br />

Eskimokostüm. Entschlossen bückte ich mich und nahm die Pelzhülle auf. Ich<br />

nickte ihm Mut zu. Wir gingen los - drei verschreckte Musketiere: ich im<br />

Kopenhagener Maßanzug, er in knallroter Pelerine mit schief sitzendem<br />

Federdeckel, und über meinem Arm die Hülle des namenlosen Polarforschers, das<br />

einzige, das noch an das arktische Thema des heutigen Abends erinnerte. Am Ende<br />

war ich, als wir unbehelligt in unserer bescheidenen Herberge ankamen, nur froh,<br />

daß uns sowohl im Opernhause als auch auf dem Weg ins “Ravalli” niemand<br />

aufgelauert hatte. Selbst in den Hotelgängen begegneten wir keiner Menschenseele.<br />

Später, im Bett, fielen die Ereignisse der letzten Stunden nur ganz allmählich von<br />

mir ab. Am längsten beschäftigte mich der Gedanke an jenen merkwürdigen<br />

Senator. Vielleicht war dieser Dixon durchtriebener als ich zunächst annahm. Was,<br />

wenn er, von dem Zeitungsmann sekundiert, die ganze Veranstaltung geschickt für<br />

seine Zwecke genutzt hatte? Und sei es nur, indem er sich dem gemeinen Manne<br />

als leutselig und dem gesunden Menschenverstand zugetan anbiederte? Waren<br />

nicht in wenigen Tagen Wahlen in Amerika wie an jedem ersten Dienstag eines<br />

jeden Monats November? Zwar stand in diesem Jahr keine Präsidentenwahl an,<br />

doch ging es landauf landab um eine unglaubliche Anzahl von Positionen in der<br />

Union wie in den Einzelstaaten. In Neuyork kandidierte, wie ich vor unserer<br />

Abreise erfahren hatte, Zeitungskönig William Randolph Hearst für den Posten<br />

des Oberbürgermeisters; und sicher war eine weitere Legislaturperiode als Senator<br />

des Staates Montana in der fernen Bundeshauptstadt Washington nicht weniger<br />

lukrativ. Womöglich war der hilflos und unbedarft auftretende Joe Dixon gar nicht<br />

so senil, wie er mir auf den ersten Blick erschienen war, sondern einfach ein<br />

Schlitzohr. Über derlei Gedanken war ich schließlich eingeschlafen.


10. PASSAGIER RUDOLF FRANKE<br />

Meine Vermutungen, Dixon betreffend, erwiesen sich sehr bald als richtig. Die am<br />

Morgen im Hotel ausliegenden örtlichen Zeitungen priesen unisono den abermals<br />

zur Wahl angetretenen Senator als volksverbunden, vor allem aber als cleveren<br />

Strategen, der es verstanden habe, selbst einen so müden Gaul wie die gestrige<br />

Versammlung, bei der es doch eigentlich um ganz andere Dinge gegangen sei, vor<br />

seinen Wahlkampfkarren zu spannen. Einer Wiederwahl am kommenden Dienstag<br />

stünde nun wohl nichts mehr im Wege.<br />

Die meisten amerikanischen Provinzblätter zeichnen sich nicht gerade durch<br />

Weltoffenheit aus, und doch fand ich im “Anaconda Standard” neben Teds<br />

ausführlicher Reportage über die Vorgänge in Hamiltons Opernhaus zwei<br />

Meldungen auf Seite fünf aus der Welt jenseits der Berge. Die eine signalisierte<br />

erste Beobachtungen des Halleyschen Kometen, der sich mit ungeahnter<br />

Geschwindigkeit unserer Erde näherte, die andere berichtete von einem Besuch des<br />

russischen Zaren beim italienischen König auf dessen Schloß Racconigi in der Nähe<br />

Turins. Zwar ist dem Durchschnittsamerikaner Erdkunde im allgemeinen und die<br />

Lage der Stadt Turin im besonderen völlig egal, doch wurde das Interesse der Leser<br />

mit einer pikanten Einzelheit zu wecken gesucht. Um von seinem Schloß Livadia<br />

auf der Halbinsel Krim mit der Eisenbahn auf kürzestem Weg nach Turin zu<br />

gelangen, hätte der Zar mit seinem Salonzug durch Österreich-Ungarn fahren<br />

müssen; da er aber noch immer über die Annexion Bosniens und der Herzegovina<br />

durch dieses Land im vergangenen Jahr höchst verärgert sei und diese Verärgerung<br />

der Regierung in Wien auch habe verdeutlichen wollen, habe er den viel längeren<br />

Weg über die Schienenstränge des Deutschen Reiches und Frankreichs vorgezogen.<br />

Eine Kartenskizze veranschaulichte den diplomatischen Umweg, und wie ich die<br />

an dynastischen Dingen höchst interessierten Einwohner dieser großen Republik<br />

kenne, wird die Story so manches Kopfschütteln über den unnötigen Aufwand<br />

ausgelöst haben. Denn vor allen anderen Dingen liebt der Amerikaner eines:<br />

efficiency. Und wenn ich hier der Amerikaner sage, weiß ich genau, wovon ich<br />

rede. Yankee und Südstaatler, Großstädter, Farmer, Viehzüchter und Westmann<br />

mögen oft genug gegensätzlicher Meinung sein, in einem aber sind alle sich einig: in<br />

der Anbetung kalt-rationaler Effizienz als letzter Instanz beim Beurteilen<br />

menschlichen Verhaltens.<br />

Mir war die Nachricht aus einem ganz anderen Grund interessant. Ganz so, wie<br />

mir der Abdruck eines Pferdehufes in der Prärie alles über den Reiter verrät, seine<br />

Körperstatur, sein Alter, seine Bewaffnung und sonstige Ausrüstung, seinen<br />

Ermüdungsgrad, dazu, ob es sich um einen Weißen, einen Schwarzen oder aber um<br />

einen Indianer handelt - und gleich auch noch: von welchem Stamm -, ganz so sagte<br />

mir die kurze Zeitungsnotiz über den Zarenbesuch in Italien alles über die<br />

Situation in Europa. Nicht anders als beim Spurenlesen in der Natur machte ich


mir sogleich meinen Reim auf das Ganze, indem ich jedes Detail genauestens<br />

abwog. Die Großmächte waren offensichtlich sowohl auf dem Balkan als auch in<br />

Nordafrika noch immer unschlüssig, wie die dort schwelenden Probleme zu lösen<br />

seien, ohne daß es vorerst zu einem Flächenbrand kam. Zwar rüsteten sie alle für<br />

einen großen Krieg, doch war keine Seite schon jetzt dazu bereit. So zimmerten sie<br />

halt weiter an ihren Bündnissen und gleichzeitig an der Schwächung der<br />

Gegenseite. Die Ententestaaten England, Frankreich und Rußland suchten den<br />

Dreibund aus Italien, Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reiche zu<br />

veruneinen, und Italien als das schwächste Glied dieser Allianz war ein bequemes<br />

Ziel für solche Versuche. Der Zar konnte Italien großsprecherisch das türkische<br />

Tripolis als Belohnung anbieten, dazu Bengasi und die ganze Cyrenaika, direkt vor<br />

der italienischen Haustür, wenn dafür - im Widerstreit mit Österreichs Interessen<br />

- wohlwollendes Stillhalten bei Rußlands Vorgehen auf dem Balkan zu ergattern<br />

war. -Welch widerliches Basargerangel! Seit der jungtürkischen Revolution vor erst<br />

wenig mehr als einem Jahre rechnete alle Welt offenbar mit dem baldigen Zerfall<br />

des Osmanischen Reiches und spekulierte bereits kräftig mit der Erbmasse.<br />

Dadurch taten sich ganz neue Horizonte für eine Neuordnung der Verhältnisse vor<br />

Europas Haustür auf. Nicht nur das unabhängige Marokko stand plötzlich zur<br />

Disposition, um das Frankreichs und Deutschlands Mannesmänner nun schon seit<br />

Jahren fingerhakelten. Zar Nikolaus vermochte Tripolitanien auf den Gabentisch<br />

zu zaubern wie ein Häschen aus dem Zylinderhut.<br />

Ja, so vielsagend sind manchmal die kleinen Hofnachrichten am Rande, offenbaren<br />

sie doch oft Grundsätzliches. Sage mir, zu wem dein Monarch unterwegs ist, und<br />

ich sage dir, was er vorhat. Mich fröstelte. Man war bei der Aufteilung der Welt<br />

an einen Schlußpunkt gelangt. Es gab nichts mehr zu entdecken und folglich nichts<br />

Neues mehr aufzuteilen, es sei denn man griff auf das zurück, was in Europas<br />

Vorfeld den Händen des alten Besitzers entglitt: eben in Nordafrika und auf dem<br />

Balkan. Die Zielstrebigkeit, mit der die Großmächte ihre Ziele verfolgten, war<br />

beängstigend. Die Welt restlos aufgeteilt in Kolonien, Schutzgebiete, Einfluß- und<br />

Interessenssphären---. Erstmals blitzte in mir der Gedanke auf, daß der<br />

Edelmensch, wie er mir vorschwebte, es schwer haben würde, auf der Erde eine<br />

Heimstatt zu finden. Und doch konnte und durfte ich meinen Traum nicht<br />

aufgeben. Ich hatte Wesentliches beizutragen im Streit für die Veredelung des<br />

Menschengeschlechts, und dieser Kampf mußte gewonnen werden bei Strafe des<br />

Unterganges der Menschheit. Auf der Bühne der Welt, nicht als Opernspektakel<br />

vor Hinterwäldlern. Was vertat ich hier meine Zeit? Mitten ins Geschehen gehörte<br />

ich, nicht hierher in diesen Provinzhickhack um Pol oder Nicht-Pol. Mein<br />

Entschluß, Cook nicht über seinen Auftritt in Hamilton hinaus zu begleiten, war<br />

unumstößlicher als er jemals zuvor gewesen war.<br />

Ein Anlaß, den Doktor ins Bild zu setzen, bot sich bei unserem gemeinsamen<br />

Frühstück. Ich hatte gerade die erste Scheibe Toast mit Ziegenkäse genossen, als


ein Bote vom örtlichen Telegraphenbüro der Western Union erschien und mir<br />

folgende dringende Depesche übergab: Urgent Mister Karl May Hamilton<br />

Montana General Delivery Stop Rueckkehr Radebeul umgehend erforderlich Stop<br />

Antragstellerin beschleunigt angedrohtes Verfahren Stop Bitte vor Reiseantritt<br />

Ruecksprache hier Stop Branksen.<br />

Schweigend, wie wir bisher gesessen, reichte ich Cook das Telegramm über den<br />

Tisch. Er überflog es und sagte dann: “Wer ist Branksen?”<br />

“Der deutsche Generalkonsul in Neuyork. Haben Sie ihn nie kennengelernt?”<br />

Er schüttelte den Kopf. “Und warum unterschreibt er mit seinem Namen und<br />

nicht als Generalkonsul? Das gibt der ganzen Sache einen so - nun ja, persönlichen<br />

Anstrich.”<br />

“Das soll es wohl auch. Herr Branksen ist nicht nur mein Konsul - er ist auch ein<br />

Freund.”<br />

“Ich kann Sie nicht hindern, Ihrem eigenen Leben den Vorrang vor meinen<br />

Angelegenheiten zu geben, May. Und wenn ich es könnte - ich will es auch nicht.<br />

Jedenfalls danke ich Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben. Trotz der<br />

Unstimmigkeiten der letzten Tage.”<br />

Ich verneigte mich wortlos und ging auf mein Zimmer die Abreise vorbereiten.<br />

Durch das Hotel ließ ich einen Schlafwagenplatz nach Neuyork buchen. Dank der<br />

guten Dienste der Leute von Western Union hatte ich bereits am Nachmittag die<br />

Bestätigung des Norddeutschen Lloyd für eine Passage auf der “Kronprinzessin<br />

Cecilie”.<br />

Drei Tage drauf bezog ich wieder mein Zimmer im Waldorf Astoria. Ich war guter<br />

Dinge. Da ich nichts zu packen hatte, blieb viel Zeit, der Ruhe zu pflegen. In<br />

einem Hotelbett schläft es sich allemal angenehmer als im Pullmanwagen, wo man<br />

nicht nur vom Schnarchen der Reisegefährten gestört wird - das wird man selbst<br />

am Lagerfeuer bei einer Übernachtung unter freiem Himmel -, sondern auch allerlei<br />

Ausdünstungen der anderen Schläfer und dazu das ewige Rattern der Wagenräder<br />

ertragen muß.<br />

Gestärkt machte ich mich am Tag vor der Abreise nach Europa auf den Weg zu<br />

Generalkonsul Branksen am Broadway. Ich ließ mich als Wilhelm Meier melden<br />

und wurde sofort empfangen. Branksen lachte bei meinem Eintritte noch herzlich,<br />

gab mir die Hand und bot mir eine Zigarre an. Darauf allerdings verfinsterten sich<br />

seine Gesichtszüge.<br />

“Es sieht nicht gut aus, mein lieber May. Ihre Gattin hat offenbar nicht nur über<br />

das Sächsische Justizministerium die Fühler ausgestreckt. Und damit nicht nur<br />

übers Auswärtige Amt und mich. Sie hat irgendwie herausbekommen, daß Sie hier<br />

in den Staaten sind.”<br />

“Das weiß sie von mir. Ich habe ihr bei der Überfahrt von Kopenhagen<br />

funktelegraphisch---”


“Das hätten Sie nicht tun sollen. Nun verlangt sie, daß Sie sich innerhalb dreier<br />

Monate melden oder aber sie wird Sie für tot erklären lassen.”<br />

“Dauert so etwas nicht bedeutend länger?”<br />

“Für gewöhnlich ja. Doch scheint mir diese Person, mit Verlaub, mit allen Wassern<br />

gewaschen und weiß, wo die Schwachstellen des üblichen Dienstweges liegen.<br />

Vielleicht waren Sie wirklich zu lange weg und sie will wieder heiraten?”<br />

“Ausgeschlossen! Da könnte sie sich doch scheiden lassen. Und außerdem ist<br />

unsere Beziehung immer---”<br />

“Bei einem Scheidungsverfahren ist die Lösung der Vermögensfragen stets eine<br />

heikle Sache”, unterbrach er mich. “Und ich erinnere mich doch richtig - es geht<br />

beim Vorgehen der Frau Gemahlin vor allem um Geld?”<br />

“Allerdings geht es das. Sie will gemeinsam mit meiner ersten Frau und den Haien<br />

von Kintopp und Verlagsgeschäft meine Werke auf die Leinwand bringen und<br />

dadurch--- ”<br />

“Gibt es Kinder aus dieser Ehe?”<br />

“Nein. Auch nicht aus meiner ersten Ehe. Jedoch---”<br />

“Hier steht nur die Ehe mit der Antragstellerin zur Debatte.”<br />

“Die ist kinderlos.” Ganz allmählich ging ich auf die Redeweise des Fragestellers<br />

ein. Ich vertraute ihm jetzt vollständig, und als er sagte: “Toterklären macht einen<br />

glatten Schnitt. Sie ist doch Ihre Alleinerbin?”, schrillten in mir alle Alarmglocken.<br />

Ich stammelte hilflos “Ja. Aber---”<br />

Seine Antwort nahm ich wie einen Peitschenschlag hin. “Kein Aber. Da bleibt<br />

Ihnen nur der Weg in die Höhle der Löwin.”<br />

“Kann ich sie nicht entmündigen lassen? Ich habe doch meine erste Frau auch<br />

kleingekriegt und mit einer unbedeutenden Monatsrente zum Schweigen gebracht.”<br />

“Nicht von hier aus, lieber May. Die Reise nach Radebeul kann Ihnen niemand<br />

ersparen.”<br />

Ich nahm entschlossen die Zigarre aus dem Mund. “Ich danke Ihnen, Branksen.<br />

Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.” Den weiterqualmenden Stumpen legte ich in<br />

den Ascher.<br />

Unser Abschied war förmlich, wenn auch nicht ohne beiderseitige Herzlichkeit. Im<br />

Hotel, so hoffte ich, würde ich alles noch einmal überdenken können. Doch ehe ich<br />

dazu kam, klopfte es an meiner Tür.<br />

Wer beschreibt meine Überraschung, als auf mein “Herein!” Doktor Cook ins<br />

Zimmer trat. Aber in welcher Aufmachung! Über seinem dunklen Reiseanzug trug<br />

er den nämlichen Umhang, der uns das ungestörte Verlassen von Hamiltons Oper<br />

ermöglicht hatte. Die Krempe des Federhutes war tief in die Stirn gezogen,<br />

Wangen und Mundpartie sahen blaß aus. Sobald er mir die Rechte zum Gruß<br />

hinhielt, merkte ich, daß die Hand zitterte. Er habe, sagte er, seit meiner Abreise<br />

kein Auge mehr zugetan. Ohne mich sei er verloren. Denn kaum sei ich aus<br />

Hamilton verschwunden, habe eine wahre Hatz auf ihn eingesetzt. Die


Journalisten hätten ihn bedrängt und seien ausfallend geworden, vor dem Hotel<br />

habe eine erregte Menschenmenge getobt, gegen sein Zimmerfenster unter<br />

wütendem Geschrei Fäuste schwingend. Ja, selbst das Hotelpersonal habe eine<br />

drohende Haltung gegen ihn eingenommen. Da habe er keinen anderen Ausweg<br />

mehr gesehen als alle weiteren Veranstaltungen der geplanten Vortragsreise<br />

abzusagen, seine Sachen zu packen und mir in dieser Vermummung ins Waldorf<br />

Astoria nachzureisen.<br />

Seine Erzählung war von unkonzentrierten, fahrigen Körperbewegungen begleitet.<br />

“Warum sollte mir die Verkleidung nicht helfen, wo sie doch schon einmal geholfen<br />

hatte?” sagte er, sanft ein Lächeln andeutend. Zum erstenmal, seit er ins Zimmer<br />

getreten, entspannten sich seine Gesichtszüge.<br />

“Und - hat sie Ihnen genützt?”<br />

“Sie sehen ja - hier bin ich. Unangefochten und in einem Stück.” Mit<br />

triumphierender Geste spreizte er beide Arme weit von sich.<br />

“Sind Sie schon in Ihren Räumen gewesen?”<br />

“Ich werde mich hüten! Da lauern bestimmt schon die nächsten Verfolger. Ich<br />

stelle mich ganz und gar unter Ihren Schutz, lieber May.”<br />

Da saß ich ja schön in der Tinte! Selbst vollauf mit Widrigkeiten des eigenen<br />

Lebens beschäftigt, sollte ich mich nun auch noch um diesen Menschen kümmern<br />

müssen, dessen Probleme ich seit meiner Abfahrt aus Hamilton hinter sieben<br />

Bergen geglaubt. Wer wußte denn, wie sich seine Ängste - ob sie begründet waren,<br />

ließ ich erst einmal dahingestellt - weiterentwickelten. Die Paranoia ist, wie<br />

bekannt, eine dem Größenwahn durchaus verwandte halluzinatorische Störung.<br />

Und wenn einer schon von sich glaubt, er sei der Entdecker des Nordpols, obwohl<br />

er mit seinen Eskimos nie außerhalb der Sichtweite von Land gewesen, so war von<br />

ihm noch einiges an Geistesverwirrtheit zu erwarten. Einiges, das zu lösen selbst<br />

ich nicht in der Lage sein würde, überforderte es doch meine augenblicklichen<br />

Kräfte. Ich konnte aber seinen Hilferuf auch nicht unbeantwortet lassen, hatte er<br />

sich mir doch so vertrauensvoll offenbart. Es gab nur eine Lösung dieses<br />

Dilemmas: ich mußte ihn mir mit dem, was ich für ihn tun würde, vom Halse<br />

schaffen, und zwar sofort und endgültig. Meine Abreise nach Europa duldete<br />

keinen Aufschub.<br />

Ich sah ihn ratlos an und sagte endlich: “So können Sie aber nicht herumlaufen,<br />

lieber Doktor. Nicht einmal in Neuyork. Jedenfalls nicht auf Dauer.”<br />

Wieder versuchte er jenes sanfte Lächeln. “Natürlich nicht. Seien Sie ganz<br />

unbesorgt. Wissen Sie, ich habe diesen Tag ja irgendwie kommen sehen. Und so<br />

habe ich---”. Er trat näher, hielt die Hand seitlich neben den Mund und wisperte<br />

mir kaum hörbar zu: “Ich habe vorgesorgt.”<br />

“So, haben Sie das?”<br />

Er nickte bedeutungsvoll und schloß die Augen. Sobald er mich wieder anblickte,<br />

sagte er, noch immer so leise wie möglich: “Im obersten Schubfach des


Schreibtischs in meinem Arbeitszimmer liegt ein schwarzer Vollbart. Zum<br />

Ankleben. Würden Sie den für mich holen? Hier ist der Schreibtischschlüssel.” Er<br />

griff unter dem roten Überwurf in eine Rocktasche und hielt mir den Schlüssel<br />

entgegen.<br />

“Und wie soll ich unbemerkt in Ihre Gemächer kommen? Wen vermuten Sie denn<br />

dort vor der Tür, um Sie abzupassen?”<br />

“Privatdetektive, Zeitungsleute, bezahlte Schläger, das ganze Pearygesocks! Man<br />

will mich endgültig fertigmachen, das ist es!”<br />

“Wer dort auf sie wartet, wird mir hierher folgen und Sie so aufspüren.”<br />

“Lassen Sie die ruhig warten, bis sie alt und grau werden. Denn Sie werden nicht<br />

vom Korridor aus durch die Flügeltür in die Präsidentensuite gehen, sondern von<br />

hinten, über die Stiege fürs Personal. Von dort aus führt eine Pforte direkt in die<br />

Küche meiner Gemächer, wie Sie so schön sagen. Und dieses Türchen ist nie<br />

abgeschlossen.” Wieder lächelte er.<br />

Unsicher ergriff ich den Schlüssel und steckte ihn ein. “Haben Sie sonst noch<br />

Wünsche?” erkundigte ich mich vorsorglich.<br />

“Oh ja, die habe ich allerdings! Im Schrankfach meines Schlafzimmers liegt ein<br />

Hut, von der Art, die Sie in Europa Melone nennen. Bringen Sie den bitte mit. Ich<br />

brauche unbedingt eine andere Kopfbedeckung, falls mich wider Erwarten doch<br />

schon jemand gesehen hat.”<br />

“Noch etwas?”<br />

“Richtig - fast hätte ich’s doch vergessen: im Schreibtischfach, unter dem falschen<br />

Bart, liegt ein dicker Umschlag mit Geld. Viel Geld. Ich glaube, es sind zwanzig-<br />

oder vielleicht sogar fünfundzwanzigtausend Dollar. Alles in großen Scheinen. Tja,<br />

meine eiserne Reserve. Die muß nun dran glauben. Nehmen sie den Umschlag bitte<br />

an sich.”<br />

“Und ich bringe alles hierher?”<br />

“Nein. Zählen Sie fünfzehntausend Dollar von dem Gelde ab und lassen Sie bei<br />

einer Bank unter meinem Namen einen Kreditbrief über diesen Betrag austellen.<br />

Auf ein europäisches Bankhaus. Sagen wir - in Neapel.”<br />

“Sie wollen nach Italien?”<br />

“Nicht sofort. Ich will eine falsche Fährte legen. Nichts ist in Manhattan so<br />

löcherig wie das Bankgeheimnis. Morgen steht in allen Zeitungen, ich sei nach<br />

Neapel geflohen.”<br />

“Und wohin wollen Sie tatsächlich - fliehen?”<br />

“Ich will überhaupt nicht fliehen. Nur irgendwo mit meiner Frau untertauchen,<br />

vielleicht gar nicht so weit weg. Bis sich die haßgeladene Stimmung beruhigt hat.”<br />

Ich nickte verständnisvoll. Daß ich allerdings sein Untertauchen tatsächlich als eine<br />

Flucht und diese vor allem als ein Davonlaufen vor sich selbst ansah, behielt ich<br />

für mich. Ich gab jedoch zu bedenken: “Man wird mir auf der Bank nicht glauben,<br />

daß ich Sie bin.”


Das war für ihn kein Problem. “Ist Ihnen denn unsere äußere Ähnlichkeit noch nie<br />

aufgefallen?” sagte er. Ich mußte dies einräumen, war mir doch sofort das Bild über<br />

dem Triumphbogen in Brooklyn erinnerlich, das zwar ihn darstellen sollte, mir<br />

aber wesentlich ähnlicher sah. Blieb die Frage der auf der Bank zu leistenden<br />

Unterschrift. Auch die wischte er vom Tisch: “Sie werden doch wohl meinen<br />

Namenszug nachmachen können ?” Als ich bestätigend nickte, sagte er: “Also<br />

bitte, dann tun Sie es.”<br />

“Nun gut.Haben Sie einen besonderen Wunsch hinsichtlich der Bank?”<br />

“Warten Sie - ja! The Carnegie Trust Company. Solide, in Italien bestens<br />

eingeführt - und mit ausgezeichneten Beziehungen zur pearyfreundlichen Presse.”<br />

“Machen Sie es sich bitte inzwischen bei mir bequem. Lassen Sie niemanden<br />

herein. Ich schließe das Zimmer am besten ab und nehme den Schlüssel mit.”<br />

Mit dem Ankleiden fertig, nickte ich Cook noch einmal zu. Er entledigte sich eben<br />

schwungvoll der Pelerine. “Vergessen Sie nicht: es ist im siebenten Stock!” rief er<br />

mir zu, als ich mich zu gehen anschickte. “Und viel Glück auch.”<br />

Auf was hatte ich mich da nur eingelassen! Die Polgeschichte, von der ich<br />

loszukommen gehofft, weil sie so ganz am Rande der wichtigen Menschheitsfragen<br />

wie meiner augenblicklichen persönlichen Nöte lag, klebte an mir wie eine zähe<br />

Plempe. Aber da half nun einmal kein Selbstmitleid - was ich übernommen hatte,<br />

mußte ich ausführen.<br />

Mühelos fand ich die Dienstbotenstiege. Ich begegnete niemandem. Im siebenten<br />

Stock drehte ich zaghaft den Griff an der Tür auf dem Treppenabsatz, und<br />

tatsächlich - der Sesam öffnete sich. Der kleine Küchenraum lag im Halbdämmer.<br />

Er machte einen durchaus aufgeräumten Eindruck - doch siehe da: im Spülbecken<br />

bemerkte ich eine Tasse, halb mit dunkler Flüssigkeit angefüllt - vermutlich Kaffee.<br />

Wann war die Tasse dort abgestellt worden? Und - von wem? Ich hielt den<br />

Zeigefinger vorsichtig in den Tasseninhalt. Der Kaffe war warm! In dem kleinen<br />

Herd war weder Feuer noch glimmende Asche. Ich mußte auf meiner Hut sein.<br />

Jeder Augenblick konnte eine Überraschung bringen.<br />

Im Arbeitszimmer fand ich den Schreibtisch verschlossen. Vom Inhalt des<br />

Schubfaches fehlte nichts. Ich nahm den Bart, Klebstoff und den Geldumschlag an<br />

mich und wollte eben ins Schlafzimmer, als aus dem Vorraum, einst das Reich<br />

Walter Lonsdales, plötzlich laut und deutlich Stimmen zu hören waren. Zwei<br />

Männer begannen aus heiterem Himmel die Frage zu erörtern, ob Cook schon am<br />

kommenden Tag oder erst später aus dem Westen zurückzuerwarten sei. “Hätte<br />

Johnnie-Boy nicht getrieft, wüßten wir, mit welchem Zug der Doc eintrifft. Auf<br />

niemanden kann man sich heutzutage mehr verlassen”, sagte die eine Stimme. Und<br />

die andere entgegnete: “Laß man, wenn wir uns ranhalten, sind wir in ein paar<br />

Stunden mit dem ganzen Plunder fertig. Es wird sich schon was interessantes<br />

darunter finden.” Darauf war intensives Papiergeraschel zu vernehmen.


Ich stand wie vom Blitz getroffen, mit angehaltenem Atem. Da war Doktor Cooks<br />

Verfolgungswahn also gar kein Wahn - er war ein Verfolgter!<br />

Nichts wie weg von hier! war alles, was ich im Augenblick denken konnte. Es<br />

mußte auch ohne den Hut gehen, ich würde ihm meinen geben. Erst einmal weg!<br />

Mit Journalisten auf einer heißen Spur ist nicht gut Kirschen essen.<br />

Ich schlich in die Küche zurück und durch die Pforte zur Stiege hinaus.<br />

Beschleunigten Schritts strebte ich treppab, doch wollte ich nicht zu eilig<br />

erscheinen, falls mich jemand sah. Unbehelligt gelangte ich im Erdgeschoß durch<br />

einen langen Gang ins Hotelfoyer. Ich hätte nicht einmal mit Sicherheit sagen<br />

können, ob ich auf dem Hinweg auch diesen Gang benutzt hatte, so verwirrt war<br />

ich.<br />

Bei meiner Rückkehr lag Cook angezogen auf meinem Bett und schlief. Wenn das<br />

kein Fingerzeig des Schicksals war! Wäre ich Herr über meine Zeit und über meine<br />

Kräfte gewesen, hätte ich ihm auch weiterhin geholfen; doch unter den gegebenen<br />

Umständen hatte ich genug für ihn getan. Daß ich mit wenig Gepäck reiste, erwies<br />

sich nun als höchst vorteilhaft. Ich konnte sofort aufbrechen. Meine Schiffskabine<br />

war sicher schon jetzt zu beziehen. Sollte der Doktor sich seinen sauberen<br />

Kreditbrief doch allein besorgen! Das enthob mich der Verpflichtung zur<br />

Fälschung seiner Unterschrift. Auch wenn diese mit seinem Einverständnis<br />

geschehen wäre, ja sogar auf seine Anordnung hin, blieb so etwas<br />

Urkundenfälschung. Auf Urkundenfälschung aber stand Zuchthaus, und damit war<br />

ich für den Rest meines Erdendaseins bedient. Ich legte das Geld und den falschen<br />

Bart nebst Kleister in Reichweite des Schläfers aufs Bett und richtete meine<br />

Sachen zum Aufbruch, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. In einer kurzen<br />

Notiz erklärte ich Cook mein Verschwinden und wünschte ihm Glück. Die<br />

Botschaft legte ich mit meinem Hut zu den anderen Dingen. Eine Warnung vor<br />

seinen Verfolgern, die sich, während er schlief, in seinen Unterlagen umsahen,<br />

verkniff ich mir allerdings. Und ich denke nicht, daß ich mir deswegen Vorwürfe<br />

machen müßte.<br />

Der Morgen des Ablegens zog neblig über der großen Stadt herauf. Von den vier<br />

goldenen Schornsteinen des Ozeanriesen war nicht viel mehr zu erkennen als ein<br />

grauer Schattenriß. Ich fühlte mich unausgeschlafen und leer. Das diesige Wetter<br />

trug nicht dazu bei, meine Stimmung zu bessern, und so verließ ich denn schon<br />

bald wieder meinen Lugaus an Deck, nachdem ich das Leinen los! und die<br />

Abschiedsszenen an der Pier beobachtet hatte. Ich suchte den Weg zurück in<br />

meine Kabine. Die Schlepperparade bei der Fahrt aus dem Neuyorker Hafen hatte<br />

ich schließlich schon häufig genug miterlebt.<br />

Die Augenblicke der Abfahrt sind große Unruhestifter an Bord eines jeden<br />

Passagierdampfers. Der vollauf mit seemännischen Dingen beschäftigten<br />

Mannschaft bleibt keine Zeit, auf Einhaltung aller Vorschriften an Bord zu


drängen; nicht anders das Kabinenpersonal, hat es doch mit dem Einweisen<br />

einzelner Passagiere, dem Beantworten hunderter Fragen von Neulingen, den vielen<br />

Kleinigkeiten, die es bei Beginn einer Ozeanreise zu regeln gilt, alle Hände voll zu<br />

tun. Und so sind insbesondere während der ersten Fahrtstunde die sonst sehr<br />

streng beachteten Schranken zwischen den einzelnen Decks und vor allem den<br />

Fahrgastklassen noch nicht wirklich existent, weil niemand dazu kommt, sie<br />

durchzusetzen; zumal dann, wenn es sich um einen Liner wie die “Kronprinzessin<br />

Cecilie” handelt, über zweihundert Meter lang und mit fast zweitausend<br />

Fahrgästen an Bord.<br />

Ich strebte unter Deck meinem Ziele zu, in keiner Weise verwundert über das<br />

Menschengequirle um mich herum. Doch stutzte ich plötzlich. Über mir - ich hatte<br />

eben eine kleine Galerie oder, wenn man so will, Empore erreicht - ließ sich eine<br />

Stimme vernehmen, die in scharfem Ton rief: “Passagier Rudolf Franke - wo<br />

bleiben Sie denn? Ins Zwischendeck bitte hier entlang!” Der Ruf war direkt in<br />

meine Richtung gegangen. Ich blieb stehen und blickte mich um.<br />

“Das gibt es doch nicht! Sie hier, Old Shatterhand? Na, da bin ich aber überrascht”,<br />

rief ein Mann mittleren Alters und kräftigen Körperbaus, der direkt neben mir auf<br />

der kleinen Empore zu stehen gekommen war. Von hier aus führte die Treppe - ich<br />

muß ja wohl seemännisch korrekt Niedergang sagen - in den engen Korridor, an<br />

dem meine Kabine lag. Er hingegen war aufwärts, ans matte Tageslicht unterwegs.<br />

Endlich erkannte ich ihn.<br />

“Die Überraschung ist ganz meinerseits, lieber Franke”, beeilte ich mich zu<br />

erklären. “Vor allem freue ich mich, Sie bei so guter Gesundheit zu sehen. Als wir<br />

uns das letztemal in Grönland begegneten, waren sie ein skorbutgeplagter Mann<br />

und fürchteten um Ihr Leben.”<br />

“Dazu gab es auch allen Grund. Wäre es nach Peary gegangen - der hätte mich da<br />

oben in Eis und Schnee vor die Hunde gehen lassen . Daß ich überlebt habe, ist<br />

einzig und allein Ihnen zu danken, Old Shatterhand. Sie haben mir damals---”<br />

“Lassen Sie mal, Franke”, unterbrach ich ihn. “Lassen Sie doch die alten<br />

Geschichten. Vor mir haben Ihnen die Eskimos geholfen. Gibts keine neuen<br />

Geschichten? Wie ist es Ihnen seither ergangen?”<br />

Doch erscholl, ehe er zu berichten ansetzen konnte, wieder die Stimme aus<br />

Himmelshöhen: “Passagier Rudolf Franke! Hier entlang bitte.”<br />

Er zuckte ratlos die Schultern, doch ich blieb hartnäckig. “Gut - wenn es jetzt<br />

nicht geht, dann eben heute abend. Gleich nach dem Dinner werde ich mich hier an<br />

dieser Stelle einfinden. Und Sie werden gleichfalls erscheinen. Ich vertraue auf Ihre<br />

Findigkeit. Das wird sich doch machen lassen?”<br />

“Mal sehen, Old Shatterhand”, sagte er. “Allerdings sind wir hier nicht bei den<br />

Eskimos, wo man bekommt, was man braucht. Und einfach machen kann, was<br />

man will. Aber ich werd’s versuchen.”<br />

“Ich muß unbedingt wissen, was Sie erlebt haben.”


Eine wegwerfende Geste ließ nichts Gutes erahnen. “Sie hören ja - zu mehr als<br />

zum Zwischendeck hat es nicht gereicht. Dieser Peary ist und bleibt ein Teufel in<br />

Menschengestalt.”<br />

“Für mich ist das arktische Abenteuer endlich abgeschlosssen. Und ich bin froh<br />

darüber.”<br />

“Daß es zu Ende ist - oder daß Sie es erlebt haben?”<br />

“Beides.”<br />

“Wenn ich das doch auch sagen könnte. Aber ich gebe nicht auf. Ich werde ganz<br />

sicher nach Grönland zurückgehen. Aber erst muß ich zu meinem Recht kommen.”<br />

“Sie meinen die Pelze?”<br />

“--- und die Walroßzähne und Narwalhörner! Ein Vermögen hat der Kerl sich da<br />

unter den Nagel gerissen. Und schlimmer als alles andere wirkt in mir die<br />

Demütigung nach, auf die Peary es offenbar auch abgesehen hatte. Ich werde ihm<br />

keine Ruhe lassen, glauben Sie mir.”<br />

“Wenn Sie dabei meine Hilfe brauchen, Franke - ich stehe Ihnen jederzeit zur<br />

Verfügung.”<br />

“Danke. Ich melde mich bei Bedarf.” Er nickte bekräftigend und fügte dann noch<br />

hinzu: “Ach, was sagen Sie denn zu den allerjüngsten Entwicklungen?”<br />

“Welchen allerjüngsten Entwicklungen?”<br />

“Die Kopenhagener Gelehrten haben Doktor Cooks Beweise dafür, daß er am Pol<br />

gewesen sein will, unzureichend genannt. Daraufhin hat Rechtsanwalt Hubbard<br />

seinen Schützling Peary zum Sieger am Nordpol erklärt.”<br />

“Franke, Mann Gottes, wo haben Sie denn das aufgeschnappt?”<br />

“Sie wußten es nicht? Aber - es stand doch heute früh überall in den Zeitungen.”<br />

“Das hat man nun davon, wenn man schon am Abend an Bord geht.”<br />

“Machen Sie sich nichts draus, Old Shatterhand. Der dickste Hund kommt ja erst<br />

noch: Doktor Cook ist mit seiner Gattin ins schöne Napoli unterwegs. Dem wird<br />

hier das Pflaster zu heiß.”<br />

“Stand das auch in der Zeitung?”<br />

Er nickte stumm und bedeutungsvoll, griff den schmalen Seesack, den er<br />

neben sich abgesetzt hatte, wandte sich um und verschwand.<br />

Um es schon jetzt zu sagen: Franke erschien nicht zur angegebenen Stunde am<br />

vereinbarten Ort. Auch blieben alle Bemühungen erfolglos, ihn während der<br />

Überfahrt nach Bremerhaven unter den Zwischendeckpassagieren wiederzufinden.<br />

Es sollten mehrere Wochen vergehen, ehe er auf mein Angebot zurückkam und<br />

mich um Hilfe bat - Wochen, die ich heute zu den ernüchterndsten in meinem<br />

langen Leben zähle. Doch war keineswegs Rudolf Franke der Grund dafür.<br />

Ganz gleich, ob ich am Rio de la Plata, im tiefsten Sudan, am Yellowstone, in<br />

Kurdistans Bergen oder aber in den eisigen Gefilden der Arktik unterwegs war,<br />

immer habe ich mir während meiner langen Reisen die Heimkehr an die Elbe in den


leuchtendsten Farben ausgemalt. Die Villa Shatterhand in Radebeul im Königreich<br />

Sachsen war der Ort, nach dem ich mich sehnte, versprach das Haus doch, was<br />

einem in den Fährnissen eines rauhen Wanderlebens am meisten fehlt: Sicherheit<br />

und Geborgenheit. War ich irgendwo in Bedrängnis, dachte ich an das durch die<br />

bunten Scheiben des Treppenhauses einfallende milde Licht, an die in der Diele<br />

allerliebst tollenden Raufbolde Seelchen und Engelchen, an den Geruch der<br />

knusprigen Bäckersemmeln, die mich daheim auf dem Frühstückstische<br />

erwarteten. Aus diesen Gedanken und aus der Gewißheit, zu Hause mit Freuden<br />

erwartet zu werden, schöpfte ich oft genug Kraft, auszuhalten. Selbst in den<br />

seltenen Fällen - vor allem muß hier der letzten Jahre meiner Ehe mit Emma<br />

gedacht werden -, in denen sich diese Vorstellungen von einer harmonischen und<br />

beglückenden Heimkehr dann nicht erfüllten, selbst in diesen Fällen blieben mir,<br />

war ich erst wieder draußen, Frühstückstisch, Arbeitszimmer, Bibliothek und all<br />

die anderen vertrauten Plätze der Villa Shatterhand gedanklich Schutz, Hort und<br />

Refugium, mit anderen Worten eine Herberge, des müden Rückkehrers harrend.<br />

Endlich daheim! Auch bei meiner jetzigen Ankunft in der Heimat (zum erstenmal<br />

aus arktischen Gefilden, die anschließenden Umwege nicht gerechnet), schien<br />

zunächst alles beim alten. Selbst Klaras Bemerkung “Da bist du ja. Wo hast du nur<br />

die ganze Zeit gesteckt!”, mit der sie mich begrüßte, konnte mit etwas gutem<br />

Willen als Zeichen ihres hohen Besorgtheitsgrades über mein langes Ausbleiben<br />

verstanden werden. Und an gutem Willen mangelte es mir wahrhaftig nicht.<br />

Beim Morgenkaffee des folgenden Tages dufteten tatsächlich frische<br />

Bäckerbrötchen auf dem Tische, und ich ließ sie mir ausgiebig munden. Wir hatten<br />

entspannt über Nichtigkeiten geplaudert, und unsere Zweisamkeit schien, um mich<br />

dieses Ausdruckes zu bedienen, im Lot. Doch als Klara, nachdem sie die Teller<br />

zusammengestellt, in die Hände klatschte und rief: “So, und nun aber nichts wie an<br />

die Arbeit! Du wirst ja sicher eine Menge zu schreiben haben nach solch einer<br />

langen Reise!”, entlud sich die Spannung, die die ganze Zeit mit am Tische<br />

gesessen.<br />

Ich fuhr entrüstet auf: “Damit du deiner Verschwörerrunde wieder etwas zum<br />

Fraß vorzuwerfen hast---”, doch sie unterbrach sofort: “Welcher<br />

Verschwörerrunde? Ich weiß nicht, wovon du sprichst.”<br />

Natürlich wußte sie. Denn kaum hatte ich mit Bestimmtheit und, zugegeben, wohl<br />

etwas lautstark entgegnet: “Welcher Verschwörerrunde? Eine Unverschämtheit!<br />

All deinen gewinnsüchtigen Mitstrategen, die meine Werke auf die Leinwand zu<br />

bringen trachten - und das hinter meinem Rücken! Soll ich wirklich die ganze<br />

Namenslatte aufzählen von der Münchmeyer bis Fehsenfeld?” sagte sie: “Schrei<br />

doch nicht! Wer schreit, setzt sich von vornherein ins Unrecht. Übrigens gut, daß<br />

du diese Sache erwähnst. Ein vielversprechendes Vorhaben. Du mußt da einiges<br />

unterschreiben. Und sicherlich interessiert dich auch der neueste Stand der Dinge.”<br />

“Der neueste Stand interessiert mich einen Dreck. Und unterschreiben werde ich


überhaupt nichts!” schrie ich erregt. “Daß ohne mich da nichts läuft, weißt du ja.”<br />

“Komm endlich von deinem hohen Roß runter, Karl!” entgenete sie, nun gleichfalls<br />

die Stimme hebend, “Du hast nur die Wahl zwischen mitmachen und beiseite<br />

gelassen werden. Begreif das doch endlich!”<br />

“Ich begreife nur eins: hier soll mit meinem Werk etwas geschehen, das auf meinen<br />

schärfsten Widerspruch stößt und immer stoßen wird. Ich werde, solange Atem in<br />

mir ist, dagegen vorgehen, und zwar auf die entschiedenste Weise. Nie und nimmer<br />

werde ich---”<br />

“Wogegen wirst du vorgehen?”<br />

“Gegen die sogenannte Verfilmung meiner Prosa. Dies wäre die größte Infamie, die<br />

meinem Werk angetan werden kann. Ich werde kämpfen, solange--- ”<br />

“Solange was? Na, sag es schon: bis zu deinem letzten Atemzuge.”<br />

“Allerdings. Zeit meines Lebens! Und daß ich mich meiner Haut zu wehren<br />

verstehe, hast du ja erlebt in all den Jahren, da man mich von einem Gerichtstermin<br />

zum andern gezerrt hat, von einer Zeugenvernehmung zur nächsten. Warum sollte<br />

ich mich, wenn es um die drohende Verfälschung meines Schaffens geht, um mein<br />

ureigenstes inneres Wesen als Schriftsteller, nicht ebenso wehren wie gegen die an<br />

den Haaren herbeigezogenen Vorwürfe, ich sei ein Jugendverderber und<br />

Sittenstrolch und eine Gefahr für die heranwachsende Gene--- ”<br />

Ängstliches Hundekläffen unterbrach mich an dieser Stelle. Es war unverkennbar<br />

Engelchens Stimme. Die Schreierei hatte das arme Tier aufgeschreckt. Ich beugte<br />

mich von meinem Platz aus zum Hundekörbchen hinab, um sie zu beruhigen. Da<br />

erkannte ich, daß die Hündin allein war. “Wo ist denn Seelchen?” fragte ich arglos,<br />

gewohnt, meine Zuneigung beiden Tieren zu gleichen Teilen zukommen zu lassen.<br />

Ich hatte dabei sogar absichtlich leise gesprochen.<br />

“Ich mußte ihn töten lassen”, gab Klara zu Antwort. “Er hat ständig Leute<br />

gebissen.”<br />

“Töten lassen? Seelchen?” Ich war vor den Kopf geschlagen. “Weil er --- weil er<br />

Leute gebissen hat? Welche Leute denn?”<br />

“Als täte das etwas zur Sache!”<br />

“Allerdings tut es das! Ich bestehe darauf, daß du Namen nennst. Und zwar<br />

unverzüglich. Sonst---” An den Schläfen verspürte ich Blutandrang. Ich setzte<br />

mich wieder gerade und holte tief Luft.<br />

“Karl, was ist denn? Ist dir nicht gut? Du siehst ja puterrot aus!” rief Klara. “Soll<br />

ich dir ein Glas Wasser bringen?” Ihre Stimme drang wie von ganz fern zu mir. Ich<br />

durfte jetzt auf keinen Fall schlapp machen. Dieses hier war doch lediglich ein<br />

erstes Vorpostengeplänkel. Wenn unter den Bedingungen häuslicher Enge in einem<br />

Streite die Fetzen fliegen, wird das Ergebnis schließlich kein anderes sein als bei<br />

einer Schießerei in den Weiten der Pampa. Am Ende setzt sich der Stärkere durch,<br />

zumal dann, wenn er klug vorgeht, das Gelände zu nutzen versteht und zu allem<br />

Überflusse auch noch wie ich das moralische Recht auf seiner Seite weiß.


Es galt, mich für die Entscheidungsschlacht aufzusparen. Und das hieß vor allem:<br />

ich mußte mich sammeln und nach den eben empfangenen Streichen erst einmal<br />

wieder zu Kräften kommen. Zur Klärung der Situation wie zur Markierung der<br />

Fronten war an diesem Morgen das Nötigste geschehen; nunmehr schien ein<br />

taktischer Rückzug durchaus angezeigt.<br />

Ich atmete mehrmals tief durch. Zerknüllte meine Serviette und warf sie zwischen<br />

Geschirr und Brötchenkorb auf den Tisch. Stand sodann auf und ging wortlos zur<br />

Tür. Die Klinke schon in der Hand, drehte ich mich noch einmal um und<br />

wiedeholte in ruhigem Ton meine Frage: “Welche - Leute hat Seelchen gebissen?”<br />

Klara sah mich abschätzend an. Es war wohl ihrem plötzlichen Erschrecken über<br />

den Grad meiner Entrüstung zuzuschreiben, daß sie sich nunmehr zu einer<br />

Antwort bequemte. “Emma”, sagte sie. “Emma und Pauline.”<br />

“Wen noch?”<br />

“Nur die beiden.”<br />

“So. Emma und die Münchmeyer. Die gehen hier also ein und aus, während ich<br />

mich auf Reisen befinde. War etwa auch Lebius hier?”<br />

“Nein.”<br />

“Nun gut. Ich will dir für diesesmal glauben. Aber - wir sprechen uns noch!”<br />

Ich drehte mich um und ging. Hinter mir warf ich krachend die Tür zu. Sobald sie<br />

ins Schloß fiel, hob Engelchen wieder zu kläffen an. Und Klara rief hinter mir her:<br />

“Karl, soll ich dir Baldrian bringen?” Doch ich würdigte sie keiner Antwort.<br />

In einer Dachkammer, die mir in Krisenzeiten schon mehrmals Obdach geboten,<br />

war ich endlich allein. Ruhe jedoch fand ich auch dort nicht. Wie die Böen eines<br />

Gewittersturms peitschten mich die Gedanken. Seelchen, der arme kleine Kerl,<br />

hatte daheim meine Interessen verteidigt, hatte für mich zugebissen, während ich<br />

diesem Cook zur Seite gestanden. Ich war ein verdammungswürdiger<br />

Drückeberger. Doch das würde sich ändern! Ich war nun hier und konnte selbst um<br />

mich beißen---. Andererseits - wußte ich denn, wann sie sich dazu entschlösse,<br />

auch mich töten lassen zu müssen? Warum hatte sie mir eben Baldrian angeboten?<br />

Wer weiß, was sie wirklich gebracht hätte! Seelchen vergiftet, weil er Emma und<br />

die Münchmeyer gebissen! Ob sie auch mich ---?<br />

Diese finstere Gedankenkette schnitt ich allerdings sogleich ab. Nein, dazu war<br />

Klara nicht fähig. Nicht aus kaltem Kalkül. Sie wäre ja nicht einmal in der Lage,<br />

eine Giftleiche spurlos beiseite zu bringen, und die fiel bei so etwas nun einmal an.<br />

Jedenfalls könnte sie es nicht allein.<br />

Es war zum Verzweifeln! Klara nie wieder mein Herzle nennen--- . Mit ihr einen<br />

Kleinkrieg führen, den ich zwischen uns beiden nie und nimmer für möglich<br />

gehalten--- . Sobald es draußen dunkel geworden, fiel durch die Fensterluke helles<br />

Mondlicht auf meine Lagerstatt. Ich blickte nach draußen. Es war Vollmond. Wäre<br />

am Himmel ein Halbmond zu sehen gewesen, hätte ich in diesem Augenblicke nach<br />

Kaschadu gerufen und sie gebeten: Nimm mich fort von hier - irgendwohin! Nur


fort, weit weit fort wollte ich ---!<br />

Mir kam die erwartete Ruhe nicht, und als ich schließlich doch einschlief, plagten<br />

mich wirre Träume. Auf einer der Achterbahnen im Tivoli-Park sah ich mich auf<br />

und ab durch die Dunkelheit hasten, an Stationen meines Lebens vorbei, die an<br />

meinem Wege als grelle Lichtblitze aufleuchteten - Stationen, die ich längst abgetan<br />

geglaubt. Ich sah mich in jungen Jahren auf dem Ernstthaler Markt zwischen den<br />

Buden und Tischen beim Kegelaufstellen, doch waren die Kegel Schachfiguren, die<br />

von Tuchballen und Kiepen durcheinandergewirbelt wurden; im Hintergrunde<br />

schrie zornig der Vater aus dem offenen Fenster des Gasthauses nach mir, er<br />

schwenkte drohend den birkenen Hans, mit dem er uns Kinder zu züchtigen<br />

pflegte - vorbei; schon war ich an der Schmiede meines geliebten Ernstthaler<br />

Patenonkels, der mir oft von seinen Wanderjahren erzählt hatte, doch winkte er ab<br />

und rief, er habe zu tun, dazu schlug er, über den Amboß gebeugt, pinekpanke auf<br />

eine glühende Kette ein, die länger und länger wurde - vorbei auch dies, und ich sah<br />

mich als Häftling 171 im Arbeitshause Schloß Osterstein, in der Schreibstube,<br />

beim Kleben einer Papierkette, an der ich zerrte, bis sie zerriß und ich weiterflog;<br />

da kam Emma ins Bild, sie saß neben Minna Ey auf einer Bank an meinem Wege,<br />

sie schienen mich nicht zu sehen, beide streckten plötzlich die Arme aus, Klara<br />

entgegen, die auf einer Wolke daherkam, auf die Bank am Wegesrand zu, und<br />

Emma und Minna riefen beide laut jubelnd: Da kommst du ja endlich, da kommst<br />

du ja --- . Dann war wieder Dunkelheit um mich.<br />

Was Wunder, daß ich mich am anderen Morgen unausgeschlafen und elend fühlte.<br />

Auch war ich mit mir nicht eins hinsichtlich der Vorgehensweise, die ich zu<br />

verfolgen hatte. Einerseits durfte ich der Auseinandersetzung mit Klara nicht aus<br />

dem Wege gehen, andererseits wollte ich dieses Haus, das mir einst Heim gewesen,<br />

gesund an Körper und Geist wieder verlassen können. Was folgte, waren äußerst<br />

peinvolle Tage, die sich schließlich zu Wochen streckten. Einzelheiten will ich<br />

meinen Lesern ersparen. Selbst die Erinnerung daran schmerzt mich auch heute<br />

noch. Nur soviel darüber: zum Schreiben kam ich damals selbstverständlich keine<br />

einzige Minute.<br />

So nahte, ohne daß ich ihn herbeigesehnt oder gar herbeigeredet hätte,der<br />

Augenblick unseres großen Zusammenpralls. Ich weiß bis heute nicht, was Klara<br />

dazu bewog, die Konfrontation an eben jenem Nachmittag auf die Spitze zu<br />

treiben. Offenbar gab es mir unbekannte äußere Umstände, welche sie dazu<br />

bestimmten.<br />

Es war sonniger Vorfrühling. Ich hatte mir nach dem Mittagessen, das wir seit<br />

Tagen getrennt einnahmen, die Beine vertreten, war am Rande der überfluteten<br />

Elbwiesen entlang gewandert und hatte dankbar die ersten Frühlingsboten<br />

geschaut, knospende Weidenkätzchen und Haselsträucher. Im Eingangsflur war ich<br />

eben dabei, mich meiner Galoschen zu entledigen und den Mantel abzulegen, als


Klara wie von der Tarantel gestochen die Treppe herunter auf mich zugestürzt<br />

kam. Sie fuchtelte mit einem Wust an Papieren vor meiner Nase herum und schrie<br />

dazu: “Du wirst dich nicht länger deiner Verantwortung entziehen! Du<br />

unterschreibst das jetzt, und zwar sofort - sonst müssen wir andere Seiten<br />

aufziehen.”<br />

Ich blieb so ruhig wie eben möglich und fragte: “Warum schreist du so? Wer<br />

schreit, setzt sich von selbst ins Unrecht. Und nun sag mir schon endlich: wer ist<br />

das - wir? Und was soll ich unterschreiben?”<br />

“Tu doch nicht so!” gab sie zurück. “Du weißt genau, wovon die Rede ist. Die<br />

Sache duldet nun keinen Aufschub mehr.”<br />

Sie hatte sich etwas beruhigt, folgte mir aber, als ich - um sie herum zur Treppe<br />

strebend - mich auf den Weg in meine Dachkammer machte, eben dorthin. Ich<br />

versuchte, vor ihr die Türe zu schließen, doch stellte sie ihren Fuß in dieselbe und<br />

ich wollte nicht grob werden. So ließ ich sie ein.<br />

Sie setzte sich sogleich auf den Rand meines Bettes, während ich, mit dem Rücken<br />

zu ihr, an das einzige Fensterchen des Raumes trat und hinab in den Garten<br />

blickte. Ich hörte sie tief Atem holen und gleich darauf sagen: “Karl - so nimm<br />

doch Vernunft an! Ich will - wir alle wollen doch nur dein Bestes! Aber zur<br />

Gründung unserer Filmgesellschaft ist nun einmal dein Einverständnis notwendig.<br />

Du kannst, wenn du willst, auch Gesellschafter werden und damit die Verfilmung<br />

deiner Werke auf wirksame Weise voran---”<br />

“Warum um alles in der Welt sollte ich das wohl wollen?!” unterbrach ich sie. “Du<br />

kennst meine Einstellung. Meine Bücher im Kino? Nimmer!” Ich fuhr herum, legte<br />

die Hände auf dem Rücken ineinander und reckte mich. In mir war plötzlich Ruhe,<br />

und ich fühlte mich stark.<br />

“Was heißt das überhaupt - unsere Filmgesellschaft?!” bohrte ich. Ich mußte<br />

endlich den Popanz, mit dem sie mich zu schrecken suchte, der Anonymität<br />

entreißen.<br />

“Wie meinst du das? Unsere Filmgesellschaft eben.”<br />

“Wer ist denn, wenn man fragen darf, bei dem Unternehmen als - nun, als<br />

Geschäftsführer vorgesehen?”<br />

Wie ein Häufchen Unglück saß Klara da, zusammengesunken unter der Bürde, die<br />

ihr von den Verschwörern aufgeladen worden war. Mich kleinzukriegen - das<br />

hatten schon ganz andere versucht.<br />

“Fehsenfeld”, sagte sie leise.<br />

“So. Fehsenfeld. Reicht ihm nicht mehr, was er an meinen Büchern verdient?”<br />

“Du wirst es erleben, daß dich die Zeit überholt. Die Technik ist in ihrem<br />

Schöpfungsrausche nicht aufzuhalten. Das Kino ist nun einmal zum Unterhalter<br />

der breiten Volksschichten geworden, ihr Lehrer und Erzieher.”<br />

“Soll es doch. Aber bitte ohne mich. Ein paar flimmernde, undeutliche Bilder, ein<br />

herausgeputzter Kinoerzähler, der sie den Leuten erklärt. Man mache sich doch


itteschön nur einmal klar, was die wirkliche Aufgabe dieses Mannes ist: er sagt<br />

ihnen, was sie sehen! Hahaha --- einfach lächerlich. Weil nämlich im Grunde gar<br />

nichts zu sehen ist. Jedenfalls nichts von Gehalt.”<br />

“Der Kinoerzähler könnte deine Worte benutzen, Karl!”<br />

“Ich bin der Erzähler meiner Geschichten und niemand sonst auf der Welt. Meine<br />

Worte stehen in meinen Büchern - und da gehören sie hin und nicht in das vage<br />

Gestammel des zeigestockschwingenden sogenanten Erklärers im Kintopp, der es<br />

vor allem auf die Sensationslüsternheit seiner Zuschauer abgesehen hat. Dazu<br />

möglichst laut plärrend ein Phonograph. Oder Klaviergeklimper! Vollgestopfte<br />

Bazillenbuden, das sind die Kinos, Brutstätten der Tuberkulose und anderer<br />

Seuchen!”<br />

“Der Kinoerzähler ist dabei, zu verschwinden, Karl. Zwischentitel heißt die<br />

Lösung für die allernächste Zukunft. Und wer weiß - bestimmt dauert es noch ein<br />

paar Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte, aber eines Tages wird es den Sprechfilm<br />

geben!”<br />

“Bitte sehr! Das Feldgeschrei der Unkultur auch noch hörbar machen - von mir<br />

aus. Aber nicht mit meinen Dialogen! Die zielen auf die Veredelung meiner Leser,<br />

nicht auf ihre Verdummung und das Wecken der rohesten Triebe.”<br />

“Auch der Film selbst macht als Kunstform augenblicklich eine Phase der<br />

Veredelung durch.”<br />

“Der Film als was? Ich muß doch sehr bitten! Du weißt ja nicht, wovon du da<br />

redest.”<br />

“Man hat schon Dichterabende mit Kinobegleitung organisiert. Poesie oder andere<br />

hochwertige Texte, verlesen vom Schöpfer selbst, mit laufenden Bildern als<br />

Illustration. Selbst in die Kirchen hat der Film Einzug gehalten. Und vaterländische<br />

Filme für unsere Jugend werden schon bald---”<br />

“Tingeltangel das alles”, schnitt ich ihr die Rede ab. “Das mag auf Jahrmärkten<br />

seine Daseinsberechtigung haben, aber doch nicht als Kunstform! Im übrigen soll<br />

sich dazu hergeben, wer Lust darauf hat. Ich nicht. Und nun laß mich bitte allein.”<br />

“Wenn wir es nicht machen, Karl, machen es andere.”<br />

“Unsinn.”<br />

“Ist das dein letztes Wort?”<br />

“Ja.”<br />

Da sie meine Bestimmtheit weder übersehen noch überhören konnte, stand sie auf<br />

und überließ mich mir selbst.<br />

Die nächsten Tage und Wochen waren die Hölle. Schweigend gingen wir<br />

aneinander vorbei, wenn wir uns in dem weitläufigen Hause schon einmal<br />

begegneten. Schweigend brachte sie mir mein Essen, einem Kalfaktor nicht<br />

unähnlich. Ich fühlte mich in höchstem Maße verlassen, vereinsamt. Hinzu kam als<br />

tiefe Irritation die Bedrohlichkeit des am Abendhimmel beständig wachsenden<br />

Kometenschweifes. Und war ich selbst auch ein Mensch mit gefestigtem Weltbild,


so konnte ich doch nachfühlen, wie labilere Naturen das beklemmende<br />

Näherkommen des ungewohnten Himmelskörpers als Schreckensbotschaft<br />

empfanden. Halleys Komet als Anzeichen, wenn nicht gar als Ursache des<br />

nahenden Weltunterganges---. Allenthalben war derlei Unsinn zu hören. Auch<br />

berichteten die Blätter nun immer häufiger von Selbstmorden, die offenbar im<br />

Zusammenhang mit der Kometenangst standen. Eine dunkle, eine bedrückende<br />

Zeit.<br />

So empfand ich, als er denn endlich eintraf, Frankes Brief - er selbst nannte ihn<br />

gleich zu Beginn seiner Zeilen einen Hilferuf - als Befreiung. Er bat um meinen<br />

Beistand in einem Rechtsstreit gegen Peary vor einem deutschen Gericht. In einem<br />

Gespräch mit seinem Anwalt habe dieser ihn in der Absicht bestärkt, mich als, wie<br />

er schrieb, Gutachter zu gewinnen. Geklagt werde auf Schadenersatz für die Hälfte<br />

der Pelze, des Elfenbeins und der anderen Güter, die Peary ihm unter Druck<br />

abgenommen habe; Eigentümer der anderen Hälfte sei Doktor Cook.<br />

“Manchmal hilft das Schicksal trotz allem den richtigen”, schloß er. “In meinem<br />

Fall wird das Ganze dadurch vereinfacht, daß Peary mit seiner Frau und seinen<br />

Kindern zu einer Europatournee aufgebrochen ist, in deren Verlauf auch<br />

Deutschland besucht werden soll. Einzelheiten konnte ich noch nicht erfahren.<br />

Aber nachdem ich in den Staaten vergeblich versucht habe, zu meinem Recht zu<br />

kommen, sehe ich meine Sache nunmehr in einem günstigeren Licht. Bitte, Old<br />

Shatterhand, antworten Sie mir bald. Ich brenne darauf, unser verunglücktes<br />

Wiedersehen endlich nachzuholen.”


11. FINDEN SIE DOKTOR COOK<br />

Sobald feststand, Peary werde in Deutschland lediglich Berlin besuchen, und zwar<br />

bereits in Kürze, verabredete ich mit Franke ein Treffen in der Reichshauptstadt.<br />

Er schrieb mir - selbst schon in Berlin -, er wohne bei einem Onkel in der Nähe des<br />

Halleschen Tores; dorthin erbitte er Rohrpostnachricht, sei auch ich erst an Ort<br />

und Stelle. So reiste ich denn frohgemut eines Morgens los, nicht eigentlich einem<br />

Abenteuer auf der Spur, doch mir sehr wohl der Tatsache bewußt: Abenteuer<br />

sucht man nicht; Abenteuer erlebt man.<br />

In dem Glauben, damit die alten, besseren Zeiten heraufzubeschwören, nahm ich<br />

ein Zimmer im Hotel Central in der Friedrichstraße, dem größten von Berlins<br />

Gasthäusern. Dort hatte ich häufig gemeinsam mit Klara ein Unterkommen<br />

gefunden. Die gewohnte Atmosphäre meines, unseres Domizilis sollte mir helfen,<br />

mit meinen Gedanken über mich und meine Frau ins Reine zu kommen. Warum<br />

bewies sie so wenig Verständnis für meine künstlerische Gesinnung? Was verbarg<br />

sie an wirklichen Absichten hinter der leidigen Filmgeschichte? Daß sie mich einzig<br />

des Geldes wegen hinterging, schien mir schwer zu glauben. Doch wollte ein<br />

anderer Grund mir nicht einfallen.<br />

Am ersten Morgen schlief ich mich erst einmal richtig aus. Anschließend genoß ich<br />

das vorzügliche Gabelfrühstück, für das das Central-Hotel zu Recht so berühmt ist<br />

- mit drei Eiern im Glas, einem ausgezeichneten Kesselgulasch, Räucherlachs nach<br />

Art des Hauses und Kamtschatkakrabben auf Toast. Das Ganze mit einem<br />

Gläschen Wodka. Klara hatte das Gläschen stets abgelehnt und es zu so früher<br />

Tageszeit auch mir auszureden versucht, jedoch meist vergeblich. Nicht einmal<br />

mein Argument, der Alkohol diene einzig und allein der besseren Verdauung, ließ<br />

sie dann gelten.<br />

Auf einem ersten Bummel die Linden entlang genoß ich das weltstädtische<br />

Fluidum, freute mich am Lärm der zahlreichen Automobile, dem Hufgeklapper von<br />

Equipagen und Droschken, an den eleganten Garderoben der Spaziergängerinnen<br />

und dem Duft guter Zigarren. Ich war eben dabei, zu erwägen, mir selbst eine<br />

anzuzünden, als mich ein Herr in hellem Regenmantel ansprach. Ohne den Hut zu<br />

lüften, sagte er: “Herr May, ich hätte Ihnen gern ein paar Fragen gestellt.”<br />

Überrascht sah ich ihn an. Mir wurde sofort klar, mit wem ich es zu tun hatte.<br />

Mein Gegenüber mochte halb so alt wie ich sein, etwa Anfang bis Mitte Dreißig.<br />

“Mit wem habe ich bitteschön die Ehre?” fragte ich, so höflich mir dies trotz<br />

meiner Verblüffung möglich war.<br />

“Ich bin von der Hamburger Polizeibehörde. Abteilung Vier, um präzis zu sein.<br />

Politische Polizei.”<br />

“Hahaha”, lachte es lauthals aus mir heraus. “Das kann ja jeder sagen! Junger<br />

Mann, als ich in Ihrem Alter war, habe ich mal als angeblicher Polizeileutnant von<br />

Wolframsdorf in Wiederau unfern von Mittweida die Kasse beim Krämer Reimann


inspiziert.” Jovial beugte ich mich ihm entgegen und setzte lächelnd hinzu: “Ich<br />

behauptete, Falschgeld auf der Spur zu sein. Und habe bei dieser Gelegenheit einen<br />

Zehntalerschein sowie einige Silbermünzen beschlagnahmt---.”<br />

“--- und dazu eine Taschenuhr, unter dem Vorwande, sie sei Diebensgut.”<br />

“Das wissen Sie?”<br />

“Wir wissen fast alles. Auch über Sie, Herr May. Und den Rest herauszufinden<br />

mühen wir uns Tag und Nacht, flächendeckend.”<br />

“Das ist doch aber wirklich die Höhe! Ich gehe hier friedlich spazieren, und Sie---”<br />

Erregt schluckte ich und war drauf und ran, einfach kehrt zu machen und den Kerl<br />

stehenzulassen, als er erneut das Wort nahm: “Sie sind allerdings im Irrtum<br />

hinsichtlich meines Alters, Herr May. In meinem Alter hatten sie gerade vier Jahre<br />

Zuchthaus in Waldheim hinter sich und standen noch unter Polizeiaufsicht. Als sie<br />

dem Kaufmann Reimann Ihren Besuch abstatteten, waren sie dreiundzwanzig.<br />

Aber das ist Schnee von gestern, der interessiert mich nicht. Ich habe Sie lediglich<br />

um die Beantwortung einiger Fragen gebeten. Fragen, die nicht Sie betreffen, Herr<br />

May. Ist das wirklich zu viel verlangt?”<br />

Ich schluckte abermals und gab schließlich klein bei: “Nun, das klingt schon<br />

bedeutend konzilianter, mein Herr.”<br />

Er nestelte an einem Mantelknopf, griff in die Westentasche und sagte: “Ich kann<br />

mich auch ausweisen”, doch ich winkte ab. “Was interessiert Sie denn?”<br />

“Wir recherchieren die Lebensumstände eines gewissen Franke, gebürtiger<br />

Braunschweiger und polizeilich in Hamburg gemeldet.”<br />

“Rudolf Franke?” vergewisserte ich mich.<br />

“Derselbe! Sie kennen ihn aus Amerika. Was wissen Sie über ihn?”<br />

“Ein tüchtiger Mann.”<br />

“Hat er Schwächen? Laster? Ich meine - man kann auch ein tüchtiger Trinker sein.<br />

Oder ein tüchtiger Aufschneider und Geldscheffler.”<br />

“Wo denken Sie hin! Nein, für Franke lege ich meine Hand ins Feuer.”<br />

“Nun, Herr May, dann muß ich mich wohl für heute damit zufriedengeben.”<br />

Er legte grüßend die Hand an die Hutkrempe und verschwand im Gewimmel. Ich<br />

stand baff. Was hatte das zu bedeuten? Warum interessierte sich Hamburgs Polizei<br />

für Franke - noch dazu die Abteilung Vier? Ich fand keine Antwort.<br />

Schon am nächsten Tag traf ich Franke. Wir hatten uns auf der Terrasse des<br />

Kaffeehauses Josty am Potsdamer Platz verabredet, etwa auf halbem Weg<br />

zwischen Frankes und meinem hauptstädtischen Wohnsitze. Hier konnte ich<br />

endlich in aller Ruhe den Wendungen lauschen, welche seine Schicksal genommen,<br />

seit wir einander im grönländischen Etah aus den Augen verloren. Ich hatte ihm,<br />

dem Todkranken, und zwar anfänglich gegen Pearys Willen - den dieser erst<br />

änderte, als er den Pelzschatz überschrieben bekam - meinen Platz auf dem<br />

Hilfsschiff “Erik” abgetreten. Damit war Franke in die Staaten zurückgekehrt,<br />

während ich selbst bei den Eskimos untertauchte und schließlich mit ihnen


gemeinsam Peary und Henson in Richtung Pol begleitete. Franke hatte, da er völlig<br />

mittellos dastand, sogleich versucht, zu seinem Recht und zu seinem Gelde zu<br />

kommen, hatte sich an Frau Peary gewandt und an die Herren des Peary Arctic<br />

Club, war jedoch überall auf eine Mauer aus Hohn und Feindschaft gestoßen.<br />

“Wer mit Cook in Verbindung gestanden hat, ist in deren Augen ein Outcast”,<br />

sagte er bitter. “Es ging so weit, daß sie von mir die Passage auf der ‘Erik’ noch<br />

einmal bezahlt haben wollten, weil die Felle angeblich verschimmelt und wertlos<br />

gewesen seien.”<br />

“Haben Sie sich denn in Amerika auch an deutsche Stellen gewandt?” fragte ich<br />

eingedenk meiner eigenen guten Erfahrungen mit Generalkonsul Branksen.<br />

“Habe ich, habe ich, lieber Kara Ben Nemsi. Bis hin nach Washington, zum<br />

Botschafter Graf Bernstorff. Aber der hat sich für nicht zuständig erklärt. Naja,<br />

Diplomaten!”<br />

“Nein, nein - die Frage der Zuständigkeit scheint mir wirklich schwierig zu sein.<br />

Peary ist amerikanischer Staatsbürger, Sie sind Deutscher---”<br />

“Staatsbürgerschaft Braunschweig”, unterbrach er mich mit unverhohlenem Stolz<br />

in Blick und Stimme.<br />

“Gut, gut. Und das Unrecht, daß man Ihnen angetan, hatte Nord-Grönland zum<br />

Schauplatz. Nein - juristisch einfach ist das auf keinen Fall. Ich rede hier nicht von<br />

dem moralischen Unrecht, daß Ihnen widerfahren, lieber Franke. Ich rede von<br />

vermögensrechtlichen Ansprüchen.”<br />

“Mein Anwalt sagt, wegen der Zuständigkeit soll ich mir mal keine Sorgen<br />

machen. Er ist sich da seiner Sache ganz sicher.”<br />

“So - ist er das? Wie heißt denn Ihr Rechtsbeistand?”<br />

“Herr Doktor Thiel.”<br />

“Nie gehört. Naja, man kann ja nicht alle Anwälte kennen. Sie schrieben, er wolle<br />

mich als Gutachter haben. Sie meinen sicher: als Sachverständigen.”<br />

“Sowas, ja. Würden Sie das denn für mich machen, Kara Ben Nemsi?”<br />

“Aber selbstverständlich. Zumal ich Gelegenheit hatte, die in Frage stehenden<br />

Pelze und das dazugehörige Elfenbein selbst in Augenschein zu nehmen.”<br />

“In der von Doktor Cook und mir errichteten Hütte?”<br />

“Ja. Allerdings war diese inzwischen an eine andere Stelle versetzt.”<br />

“Erklären Sie das nur alles dem Gericht. Möglichst haarklein.”<br />

“Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung. Aber nun sagen Sie mal - was haben Sie denn<br />

nach dem Prozeß vor?”<br />

“Ich gehe wieder nach Grönland und werde dort---”<br />

“Das deuteten Sie bereits auf dem Schiff an.”<br />

“Ja, aber inzwischen weiß ich ganz genau, wie ich es anstelle. Ich gründe die<br />

Deutsch-Nordische Handelsgesellschaft, habe sogar schon einen Sozius gefunden.<br />

Wir beliefern die Eskimos mit allem, was ihnen bislang Peary in die Iglus gebracht<br />

hat: von der Nähnadel bis zur Winchesterbüchse. Und wie dieser saubere Herr


lassen wir uns mit Pelzen bezahlen. Mit einem Unterschied. Bei uns gibt es faire<br />

Preise. Nun, was sagen Sie dazu, Old Shatterhand?”<br />

Franke war, während er von seinen Plänen sprach, in Hitze geraten. Ich sah die<br />

Dinge etwas gelassener und fragte: “Hat denn Ihr Kompagnon - Geld?”<br />

“Bei uns geht alles fifty fifty. Und wenn die Pelze erst einmal verkauft sind---“<br />

”Welche Pelze?”<br />

“Na - die, die uns die Eskimos für die Nähnadeln und Winchesterbüchsen geben.”<br />

”Schön und gut, Franke, aber womit wollen Sie denn Ihren eigenen Einsatz an dem<br />

Geschäft bestreiten? Erst einmal müssen Sie doch die Gewehre und Nadeln<br />

bezahlen, jedenfalls Ihren Anteil: fifty fifty, wie Sie so schön sagen. Wie wollen<br />

Sie das denn bewerkstelligen, Mann Gottes?”<br />

“Na - mit dem Geld von den Pelzen.”<br />

“Von welchen Pelzen?”<br />

“Warten Sie nur erst den Prozeß ab, Kara Ben Nemsi.”<br />

“Ach so! Und - wenn der nicht nach Ihrem Wunsche ausgeht, was dann? Haben<br />

Sie auch einen Plan B, wie man in Amerika sagt? Sie sind doch jetzt lange genug<br />

drüben gewesen.”<br />

“Klar habe ich den! Alles schon in Tüten und Papier, Old Shatterhand. Ich habe<br />

den Kaiser um finanziellen Zuschuß für die Firmengründung gebeten. Und - nun ja,<br />

um eine Fahne, die über unserer grönländischen Niederlassung flattern wird. Am<br />

besten an dem Landemast für die Zeppelin-Luftschiffe, die den Verkehr mit der<br />

Heimat aufrechterhalten werden. Aber bitte - sprechen Sie noch nicht darüber. Die<br />

Leute sind ja so neidisch. ”<br />

“Ich werde mich hüten, Franke. Hat Ihnen denn der Kaiser schon Zusagen<br />

gemacht?”<br />

“Es ist auf dem besten Wege, glauben Sie mir. In Hamburg hat die Politische<br />

Polizei sich schon unter meinen Bekannten umgehorcht, man will sich halt<br />

absichern. Selbstverständlich alles höchst vertraulich und sehr dezent. Aber davon<br />

Wind bekommen habe ich trotzdem.”<br />

“Auch mich hat man über Sie auszufragen versucht.”<br />

“Sie waren in Hamburg?” Seine Überraschung war nicht gespielt.<br />

“Nein. Hier, in Berlin. Gestern erst.”<br />

“Und was haben Sie denn den - den Ausfragern über mich erzählt?”<br />

“Daß Sie ein tüchtiger Mann sind. Und daß ich für Sie die Hand ins Feuer lege.”<br />

“Sonst nichts?”<br />

“Nein. Jetzt, da ich weiß, was das Ganze soll, denke ich, mein Hinweis war<br />

durchaus zweckdienlich.”<br />

“Das will ich stark hoffen. Jedenfalls danke ich Ihnen. Glauben Sie mir:<br />

Nachteiliges gegen mich liegt nicht vor.”<br />

“Sie Glücklicher! Nun, da drücke ich Ihnen die Daumen. Hört sich nicht schlecht<br />

an: Deutsch-Nordische Handelsgesellschaft. Wann wird es denn losgehen?”


“Schon bald. Wenn hier in Berlin alles vorbei ist, fahre ich allerdings erst einmal<br />

nach Kiel.”<br />

“Soll’s wieder zur See gehen?”<br />

“Das weiß ich noch nicht. Jedenfalls treffen sich zur Kieler Woche Graf Zeppelin<br />

und sein Wetterfrosch, der Professor Hergesell, mit dem Bruder des Kaisers.”<br />

“Dem Prinzen Heinrich?”<br />

“Ebendem. Wie ich sehe, haben Sie noch nichts von der deutsch-arktischen<br />

Zeppelinexpedition gehört.”<br />

“Allerdings nicht.”<br />

“Die Herren wollen zunächst bis Spitzbergen, zu einer Vorausvisite. Ob sie mich<br />

dorthin mitnehmen, weiß ich nicht---”<br />

”Jedenfalls braucht man Ihre Expertenmeinung.”<br />

“Tja -in dieser Angelegenheit bin ich der geeignete Sachverständige. Ich bin<br />

immerhin der nördlichste Deutsche aller Zeiten.”<br />

“Der was, bitteschön?”<br />

“Kein Preuße, kein Bayer, kein Sachse ist jemals dem Nordpol so nahe gekommen<br />

wie ich. Und ein Hamburger auch nicht.”<br />

“Und kein anderer Braunschweiger. Alle Wetter, Franke! Wie aufmerksam, daß Sie<br />

die Sachsen immerhin erwähnt haben. Da wird ja die vom Kaiser erbetene Fahne<br />

bald über Grönland flattern - am Landemast für Ihre Versorgungsluftschiffe!”<br />

Sein Gesicht leuchtete. “Zuerst dort, und dann, so Gott will, überm Nordpol.<br />

Aber darüber reden wir später.”<br />

“Wie die Dinge liegen, brauchen Sie nur noch Ihren Prozeß gegen Peary zu<br />

gewinnen, und die Sache kann losgehen.”<br />

“Das kann sie. Aber mal was ganz anderes - wollen Sie nicht dabei mitmachen,<br />

lieber Kara Ben Nemsi?”<br />

“Mitmachen - bei was? Ich sagte bereits, daß ich durchaus---”<br />

“Ich meine nicht jetzt, vor Gericht. Ich meine als Gesellschafter unserer neuen<br />

Handelsgesellschaft, oben in Grönland. Sie sind doch auch ein wahrer Freund der<br />

Eskimos.”<br />

“Das bin ich allerdings. Vielleicht lehne ich gerade deshalb Ihr Angebot ab.”<br />

“Wie meinen Sie das?”<br />

Was sollte ich ihm zur Erklärung sagen? Ich lachte in mich hinein. Im Grund<br />

meiner Seele war ich jedoch tieftraurig. Noch ein gewissenloser Fahnenaufpflanzer<br />

und Geschäftemacher! Ein Edelmensch, bereit, sich eher um die Belange anderer zu<br />

kümmern denn um seinen eigenen Gewinn und Vorteil, war Franke jedenfalls nicht.<br />

Und was noch schwerer wog - trat er erst mit seiner Beglückungsgesellschaft m. b.<br />

H. bei den Inughuit Nordgrönlands an, folgten bald zahllose andere und die Arktik,<br />

die ich im Stillen schon als mögliche Heimstatt der Edelmenschen aller Länder<br />

gesehen, war auf immer dafür verloren.<br />

Wo aber sollten wir dann siedeln? Die Großmächte teilten untereinander die


ewohnte Welt bis zum letzten Quadratkilometer auf, im alten Indianerland<br />

herrschten Schwachköpfe wie Senator Dixon und seine Cowboys, die Reste der<br />

roten Nation hielten sie eingepfercht. Diese machtbesessenen Kleingeister, die alles<br />

und jeden einzig und allein nach dem Dollarwert taxierten, würden die Existenz<br />

einer Edelmenschensiedlung, wie sie mir mit der Gründung der Stadt Winnetou<br />

einmal vorgeschwebt, nie und nimmer dulden. Wo dann? Selbst die Gegenden,<br />

welche ich einst als Kara Ben Nemsi durchstreift, schieden aus; sie schienen mit<br />

dem Fluch ewiger Unruhe belegt. Es mußte aber doch irgendwo in der Welt Platz<br />

für das geläuterte Menschenpaar Adam und Eva geben - hier, auf unserer Erde,<br />

nicht auf dem Planeten Sedna---<br />

“Ich darf doch Herrn Rechtsanwalt Thiel Ihre Bereitschaft mitteilen, als Gutachter<br />

- ich meine: als Sachverständiger aufzutreten?” Frankes Stimme riß mich aus<br />

meinen Gedanken.<br />

“Als was? Ach so - ja, können Sie, lieber Franke, können Sie. Peary wird sich<br />

jedenfalls wundern! Da kommt er nun nach Europa, will in Triumphatorpose<br />

Medaillen und andere Ehrungen als Nordpolentdecker einheimsen - und Sie<br />

spucken ihm in die Suppe. Nach London, Rom, Venedig, Wien---”<br />

“---und Budapest, Brüssel, Antwerpen, Paris, Dublin, Edinburgh - nun schließlich<br />

Berlin!” Er lachte verbissen und rieb sich die Hände. “In einer Woche schon ist<br />

sein Vortrag im Kasino der Landwehr am Zoologischen Garten. Na, herzlich<br />

willkommen, Commander Peary!”<br />

“Die ganze Europatour macht er doch nur aus Rache, glauben Sie mir. Er will sich<br />

an Doktor Cook rächen für den Empfang, der diesem in den Staaten zuteil wurde -<br />

jedenfalls anfänglich.”<br />

“Ich habe mich drüben absichtlich nicht da hineinziehen lassen. Auch Doktor<br />

Cook ist kein Engel.”<br />

“Gewiß nicht! Aber für Ihren Prozeß gegen Peary brauchen Sie ihn.”<br />

“Fifty fifty, wie immer. Ich will nur meine Hälfte. Peary soll ja sogar eines unserer<br />

Narwalhörner Ex-Präsident Roosevelt als Geschenk überreicht haben.”<br />

“Gut möglich. Aber für Ihren Rechtsstreit ist es ohne Belang. Wo wird Peary denn<br />

in Berlin absteigen?”<br />

“Soweit ich gehört habe, im Hotel Adlon. Unter den Linden 1.”<br />

“Halten Sie mich auf dem laufenden, Franke. Und nun alles Gute!” Ich stand auf<br />

und reichte ihm die Hand.<br />

“Dies ist eine Zeit für große Dinge”, sagte er zum Abschied. “Warum soll sich<br />

unsereins nicht seinen Teil davon nehmen! Vielleicht überlegen Sie sich mein<br />

Angebot noch einmal.”<br />

Eine Zeit für große Dinge--- ! Ich schüttelte den Kopf über so viel Unverstand, der<br />

sich hinter wohltönenden Worten verschanzt. Ich mußte erst einmal allein sein. So<br />

sagte ich: “Das wird nicht nötig sein, Franke. Meine Freundschaft zu den Eskimos<br />

hat nun einmal andere Gründe als die Ihre.” Ich entzog ihm meine Hand und ging.


Im Grunde war Franke ja gar kein schlechter Kerl. Dazu kam - es plauderte sich<br />

mit ihm durchaus angenehm, wenn er nicht gerade sprach, als sei er Peary<br />

persönlich.<br />

Es war bizarr: die Geschäftswelt hatte es sich offenbar partout in den Kopf<br />

gesetzt, sich meiner als Gesellschafter mit beschränkter Haftung zu versichern.<br />

Irgend etwas mußte mich zu einem heißbegehrten Teilhaber machen, die Angebote<br />

purzelten ja nur so. Erst Klara, nun Franke - wer weiß, vielleicht machte ich in der<br />

Tat einen Fehler, wenn ich mich so hartnäckig ihrem Werben verweigerte. Ginge<br />

ich, und sei es auch nur zum Schein, auf Klaras Angebot ein, mich an dem<br />

geplanten Filmzirkus zu beteiligen, könnte ich womöglich das Schlimmste<br />

verhüten. Zumindest aber wäre die schrecklich in mir bohrende Frage, was sie als<br />

nächsten Schritt vorhatte, nun ich Radebeul und der Villa Shatterhand den Rücken<br />

gekehrt, fortan keine Frage mehr, jedenfalls keine ohne mir zugängliche Antwort.<br />

Nur wer mitmacht, ist im Bilde.<br />

Das traf auch auf Frankes Deutsch-Nordische Handelsgesellschaft zu. Am besten<br />

sollte ich vielleicht bei beiden gleichzeitig einsteigen, beim Film und beim<br />

Grönlandhandel. Das könnte Franke helfen, sein Angebot zu erweitern, er wäre in<br />

der Lage, den Eskimos nicht nur Kochtöpfe, Reibeisen und Schießbedarf zu liefern,<br />

sondern auch einen Satz Karl-May-Filme: Der Schatz im Silbersee. Durch das<br />

Land der Skipetaren. In den Schründen der Arktik. Am besten gleich komplett mit<br />

Vorführapparaten und Dynamomaschinen. Was mochte den Inuit wohl glücklicher<br />

stimmen als sich gleichnishaft im Weltgefüge der flimmernden Leinwand<br />

wiederzufinden---.<br />

Aller Sarkasmus schützte mich nicht vor dem Eingeständnis, der Verzweiflung<br />

nahe zu sein. Um überhaupt etwas zu tun, zog ich sofort ins Adlon. Es gab für den<br />

Entschluß zwei Gründe. Erstens wollte ich, wenn Peary ankam, vor Ort sein. Und<br />

zweitens hatte mich mein Aufenthalt im Central bei dem Versuch, Klaras<br />

Verhalten zu verstehen, keinen einzigen Schritt vorangebracht. Vielmehr begann die<br />

abermalige räumliche Trennung von ihr neue Ängste zutage zu fördern und<br />

aktivierte alte, längst vergessen geglaubte. All diese Ängste liefen schließlich immer<br />

wieder auf die eine, auf immer dieselbe Frage hinaus: was würde sie als nächstes<br />

tun? Was nur?<br />

Die Ankunft der Familie Peary im Hotel erlebte ich ganz aus der Nähe. Ich wollte<br />

eben den Gang in die Bibliothek antreten, ein gutes Stück die Linden entlang.<br />

Dieser Weg war mir während der letzten Tage zum lieben Brauch geworden. Da<br />

erregte außerordentliche Geschäftigkeit, von der die Hotelhalle plötzlich ergriffen,<br />

meine Aufmerksamkeit. Ein solcher Trubel war für des Adlon in der Tat<br />

ungewöhnlich, ist doch die Leitung des Unternehmens erklärtermaßen vor allem<br />

um Ruhe und gediegene Behaglichkeit der Hausgäste besorgt. Laut wurden<br />

Anweisungen gerufen, Bedienstete eilten herbei, Pagen stoben in unterschiedlichste


Richtungen. Mehrere turmhoch mit Überseekoffern beladene Gepäckwagen<br />

verbargen zunächst die neuen Gäste.<br />

Doch bald sah ich, wer den Mittelpunkt der ganzen Aufregung bildete; es war<br />

unverkennbar der Mann mit dem Seehundsschnauzbart und den Muskeln aus<br />

Bessemerstahl. Barhäuptig schritt er lächelnd den seinen voraus: Frau Josephine<br />

Peary, im strengen Reisekostüm mit Blaufuchsstola, hielt Söhnchen Robert Junior<br />

bei der Hand, einen allerliebensten blonden Knaben im Matrosenanzug.<br />

Hinterdrein zockelte Töchterchen Marie, genannt Snowbaby; sie trug ein weißes<br />

Jäckchen aus Schneehasenfell. Für einen kurzen Augenblick ergriff die Versuchung<br />

von mir Besitz, Peary anzusprechen. Doch dann dachte ich mir: wer weiß denn, ob<br />

er überhaupt willens sein würde, sich meiner zu erinnern. Sollten die Dinge, die ja<br />

bereits im Fluß waren, doch ungehindert ihren Lauf nehmen. Mit diesem Gedanken<br />

eine stille Schadenfreude verbunden zu haben, will ich nicht leugnen.<br />

Bei meiner Rückkehr aus der Bibliothek drängten sich Schaulustige vor dem<br />

Hotelportal. Peary in Frack und Zylinder stand, begleitet von seiner höchst<br />

elegant, doch durchaus zurückhaltend gekleideten Gattin, in der begeisterten<br />

Menge und gab Autogramme. Wieder lag jenes sieghafte Lächeln, das er schon bei<br />

der Ankuft zur Schau getragen, auf seinen Zügen. Bald schien er der Sache<br />

überdrüssig. Er schüttelte, noch immer lächelnd, den Kopf und bahnte sich, seine<br />

Frau im Gefolge, den Weg zu einem wartenden Automobil.<br />

Es war ein offener Wagen. Sobald das Gefährt durchs Brandenburger Tor<br />

davonknatterte, stellte sich bei mir unwillkürlich die Erinnerung an jene Fahrt nach<br />

Brooklyn ein, bei der ich in Cooks Gesellschaft vierspännig durch die eigens für<br />

diesen Empfang gezimmerte Ruhmespforte kutschiert war. Wohin mochten die<br />

Pearys wohl unterwegs sein? Der Vortrag war erst am kommenden Abend.<br />

Ich hatte mir vorgenommen, nicht hinzugehen. Diesem Vorsatz blieb ich auch treu.<br />

Stattdessen nahm ich angesichts des Dahinschwindens der uns verbleibenden Zeit<br />

noch einmal Kontakt zu Franke auf. Es sei alles bereits dem Gericht übergeben,<br />

beruhigte er mich, nämlich der 14. Zivilkammer beim Berliner Landgericht Eins.<br />

Rechtsanwalt Thiel warte sozusagen stündlich auf die Anberaumung eines<br />

Verhandlungstermins durch den Vorsitzenden, Landgerichtsdirektor Tepfer. Ob<br />

ich denn meine Ladung als Sachverständiger noch nicht erhalten hätte.<br />

Da dies nicht der Fall war, steigerte sich meine Unruhe zur Besorgtheit. Ich konnte<br />

ja nun wahrlich auf eine ansehnliche Bekanntschaft mit deutschen Gerichten<br />

zurückblicken, und eines war mir bei aller Unterschiedlichkeit der Verfahren, an<br />

denen ich beteiligt gewesen, als Quintessenz klar: die Mühlen der Gerechtigkeit<br />

mahlten langsam, oft zu langsam für die gegebenen Umstände. Doch war Franke<br />

nicht zu bewegen, bei seinem Anwalt auf Beschleunigung der Dinge zu drängen.<br />

In der Nacht nach der Veranstaltung im Landwehr-Kasino tat ich kein Auge zu.<br />

Sobald das durch die Vorhänge träufelnde erste Tageslicht mich vermuten ließ, es<br />

werde schon Morgenzeitungen geben, verließ ich mein Zimmer. Und richtig: im


Foyer war ein Page eben dabei, die erste Ausgabe der Vossischen Zeitung<br />

auszuhängen. Das Blatt brachte seinen Bericht über die Veranstaltung im<br />

Kaisersaal des Offizierskasinos groß aufgemacht auf der Titelseite.<br />

Vierzehnhundert Zuhörer seien erschienen, unter den Anwesenden habe man den<br />

Grafen Zeppelin und den Staatssekretär des Kolonialamtes, Dernburg, erkennen<br />

können, offenbar sei der Kaiser verhindert gewesen. Das Publikum habe Pearys<br />

Vortrag über die Erreichung des Nordpols mit viel Beifall bedacht, ebenso die<br />

Verleihung einer Goldmedaille der Gesellschaft für Erdkunde. Kein Wort von<br />

einem Prozeß.<br />

Ein ungutes Gefühl in der Magengegend, legte ich das Blatt neben mich auf ein<br />

Rauchtischchen. Da stimmte doch etwas nicht---. Kein Journalist würde sich solch<br />

eine Riesengranate entgehen lassen. Hatte sich etwa alles in Luft aufgelöst? Oder -<br />

war diese ganze Prozeßgeschichte nur ein Wunschtraum von mir gewesen, und nun<br />

war ich dabei, aufzuwachen? Sobald er zum Frühstück kam, würde ich Peary<br />

ansprechen. Oder am besten noch vorher. Und sei es nur, um herauszubekommen,<br />

wie sein Terminplan aussah.<br />

Ich ging in die Rezeption und bat darum, mir Pearys Zimmernummer zu nennen.<br />

Der verschlafene Nachtdienstler sah mich ungläubig an und sagte: “Tut mir leid,<br />

mein Herr. Herr Konteradmiral Peary ist nicht mehr Gast unseres Hauses. Er ist<br />

noch gestern spätabends abgereist.”<br />

“Da - da muß aber eine Verwechslung vorliegen, mein Herr”, stammelte ich, meine<br />

Verdutztheit nur schlecht überspielend. “Nicht Konteradmiral. Ich meine Herrn<br />

Fregattenkapitän Peary. Commander, wie die Amerikaner sagen.”<br />

Der Rezeptionsangestellte lächelte nachsichtig. “Es handelt sich durchaus um<br />

denselben Gast, verehrter Herr. Das heißt - es handelte sich. Seine Ernennung zum<br />

Admiral der Kriegsmarine bedarf nur noch einiger Formalitäten seitens des<br />

amerikanischen Kongresses. Doch sind wir gehalten, unsere Gäste im Zweifelsfall<br />

mit dem höheren der in Frage stehenden Titel anzusprechen. Oder - wie bei Mister<br />

Peary – mit dem höheren militärischen Rang.”<br />

“Wie aufmerksam”, sagte ich. “Aber abgereist ist er, gleich nach dem Vortrag? Da<br />

sind Sie sich ganz sicher?”<br />

“Das bin ich allerdings.”<br />

Entgeistert dankte ich und ging. Das war ja eine schöne Bescherung! Thiels<br />

Konstruktionen, die Zuständigkeit eines Berliner Gerichts für die Klage seines<br />

Mandanten auf Schadenersatz betreffend - wie auch immer sie im einzelnen<br />

aussehen mochten -, fielen zusammen wie ein Kartenhaus. Damit ihm die Klage<br />

ordnungsgemäß zugestellt werden konnte, mußte sich Peary (und mit ihm sein<br />

umfangreiches Reisegepäck, das im Notfall gepfändet werden konnte) in Berlin<br />

befinden. Er war immerhin eine Person ohne ständigen Wohnsitz im Inland, und<br />

am Paragraphen 23 der Zivilprozeßordnung kam nun einmal niemand vorbei.<br />

Hatte der saubere Herr Konteradmiral in spe etwa Wind davon bekommen, was


ihm in Berlin bevorstand? Ich wäre am liebsten selbst sogleich abgereist. Ja, hätte<br />

ich doch damals nur Franke Franke sein und ihn mit seinem Anwalt allein<br />

weiterwursteln lassen, ohne mich! Ich hatte wahrlich genug damit zu tun, mit<br />

meinen eigenen Dingen ins Reine zu kommen. Unverzüglich nach Radebeul<br />

aufzubrechen, um meine Angelegenheiten zu klären, wäre in diesem Augenblicke<br />

die einzig richtige Entscheidung gewesen. Warum ich es dann doch nicht tat, weiß<br />

ich heute nicht mehr. Daß ich noch einmal in die Bibliothek mußte, um meinen<br />

Arbeitsplatz im geographischen Lesesaal aufzulassen und die Bücher<br />

zurückzugeben, war doch nur ein Vorwand, und dazu ein höchst durchsichtiger.<br />

Auf dem Wege zurück zum Hotel kehrte ich im Café Bauer auf eine Tasse<br />

Melange und einen Cognac ein. Ich war eben beim ersten Schluck, als ich stutzte.<br />

Jemand war neben meinem Tische stehengeblieben. Ich schaute auf und - fast hätte<br />

der Schlag mich getroffen. Der Spitzbart, die Brille, dahinter die Augen: Lebius!<br />

“Was wollen Sie?” fragte ich, so ruhig mir dies möglich war.<br />

“Ihnen etwas mitteilen, das für Sie von Interesse sein dürfte.”<br />

“Wie kommen Sie zu dieser Annahme?”<br />

“Hören Sie doch erst einmal, worum es sich handelt.”<br />

“Da bin ich aber ganz Ohr.”<br />

“Herr Peary wird in drei Wochen noch einmal nach Berlin kommen. Von London<br />

aus, kurz vor Antritt der Rückreise in die Vereinigten Staaten.” Durch seine<br />

Nickelbrille sah er mich mit stechendem Blicke an. Zum Sprechen öffnete er die<br />

zusammengekniffenen Lippen nur leicht. “Und zwar kommt er diesmal allein,<br />

ohne Familie.”<br />

“Woher wollen Sie das alles wissen?”<br />

“Er hat einen weiteren Vortrag vereinbart, im Saal der Philharmonie.”<br />

“Sie beantworten meine Frage nicht.”<br />

“Als täte meine Quelle etwas zur Sache.”<br />

“Niemand darf mir verübeln, daß ich Mitteilungen, die von Ihnen kommen, mit ---<br />

nun, mit gehöriger Skepsis aufnehme. Auch Sie dürfen das nicht, Lebius. Zu viel<br />

ist zwischen uns beiden vorgefallen. Es ist noch nicht lange her, da haben Sie<br />

gedroht, mich mit Ihrer - Atomisierungsbüchse in die kleinsten Materiebausteine<br />

zu zerlegen. Und vorher, in all den Jahren---”<br />

Er nahm mit zitternder Hand seine Brille ab und sagte: “May, lassen wir das<br />

Vergangene vergangen sein. Sollten Sie darauf bestehen, bin ich bereit, Sie in aller<br />

Form um Entschuldigung für mein bisheriges Verhalten zu bitten.” Er legte die<br />

Brille zu meinem Kaffeegedeck auf das Tischchen und sagte: “Darf ich mich zu<br />

Ihnen setzen?”<br />

Ich wies kopfnickend auf den freien Stuhl. “Warum tun Sie das, Lebius?” fragte<br />

ich.<br />

Er hatte auf eine zaghafte Weise, die mir an ihm bislang völlig unbekannt gewesen,<br />

Platz genommen. Steif saß er da, ohne sich anzulehnen. Daß er sich unbehaglich


fühlte, war nicht schwer zu erkennen. “Warum tun Sie das?” wiederholte ich meine<br />

Frage.<br />

“Ach, wissen Sie, May - jahraus jahrein nichts als den Bösewicht spielen , dazu<br />

ist mir das Erdendasein einfach zu kurz.” Mit den Fingerspitzen rieb er sich Augen<br />

und Nasenansatz. Langte sodann nach seiner Brille und setzte sie wieder auf.<br />

“Lassen Sie mich nur noch ein einziges Mal Vergangenes beschwören”, sagte er,<br />

wobei er mich entschlossen anblickte. “Sie haben soeben an unser letztes Treffen<br />

erinnert. Vergessen wir die traurigen Begleitumstände dieser Begegnung! Um<br />

unseres künftigen guten Einvernehmens willen bitte ich herzlich darum. Eines<br />

allerdings werde ich in diesem Zusammenhang nie vergessen: Sie haben mir bei der<br />

erwähnten Gelegenheit das Leben geschenkt. Das Leben und zwanzig Dollar!”<br />

“Das habe ich immer so gehalten, Lebius. Ist der Gegner erst einmal unschädlich,<br />

da außer Gefecht gesetzt, so braucht er doch nicht vernichtet zu werden. Und die<br />

zwanzig Dollar, nun ja---. Ein Spleen von mir, wenn Sie so wollen. Das hätte ich<br />

auch im---”<br />

“Ich weiß, ich weiß. Das hätten Sie auch im Llano Estacado nicht anders gemacht.<br />

Einen überwundenen Gegner ohne den rettenden Trunk Wasser sich selbst<br />

überlassen - niemals.”<br />

“In der Tat. Aber - woher---”<br />

“Woher ich das weiß? Ich weiß es eben. So wie die Sache mit Peary.”<br />

“In drei Wochen, sagten Sie?”<br />

“Ja. Und - er wird wieder im Adlon absteigen.”<br />

“Gut. Vielen Dank, Lebius. Aber Sie sind doch nicht hergekommen, nur um mir<br />

das zu sagen.”<br />

“Allerdings nicht. Wenn Sie so wollen, bin ich hier, bei Ihnen Abbitte zu leisten<br />

und mich dafür zu revanchieren, was Sie am Columbus Circle für mich getan<br />

haben.” Er verbeugte sich knapp gegen mich. “Mache mich anheischig, künftig<br />

selbst Schlechtes mit Gutem zu vergelten. Gutes natürlich sowieso.”<br />

Seine Erklärung traf mich völlig unvorbereitet. Ich verstand die Welt nicht mehr.<br />

Klara, auf die ich mich ganz fest verlassen zu können geglaubt, verriet mich und<br />

machte gemeinsame Sache mit denen, die mich verderben wollten. Und Lebius, der<br />

- fast könnte man meinen, lebenslang - mein schlimmster Widersacher gewesen,<br />

entpuppte sich unversehens als Kandidat für meine Gemeinschaft der<br />

Edelmenschen. Verunsichert war ich allein durch den Umstand, daß er<br />

offensichtlich in meinen Gedanken tiefer Bescheid wußte als mir lieb sein konnte.<br />

“Nun - nehmen Sie meine Entschuldigung an?” Erwartungsvoll lehnte er sich auf<br />

dem Stuhl zurück.<br />

Inzwischen hatte ich mich soweit gefaßt, daß ich sagen konnte: “Darf ich Sie zu<br />

einem Cognac einladen?”<br />

Er nickte. Ich erinnerte kurz an unser erstes Treffen im Café Bauer, vor Jahren.<br />

Damals hatte ich mich ernsthaft um einen Ausgleich zwischen uns bemüht, doch


der war nicht geglückt. Auch die Erinnerung daran wischte er mit dem Hinweis<br />

vom Tisch, wir sollten das Vergangene doch endlich ruhen lassen. Um es kurz zu<br />

machen: es blieb nicht bei dem einen Glas. Doch hatte ich, als ich spätabends die<br />

Linden entlang mit leicht zögerlichen Schritten dem Hotel entgegenstrebte, nicht<br />

vergessen, mit welcher überraschenden Nachricht Lebius hatte aufwarten können.<br />

In drei Wochen kam Peary zurück nach Berlin. Zu einem zweiten Vortrag. Wo,<br />

hatte ich vergessen. Aber daß er wieder im Adlon wohnen würde, war mir<br />

durchaus gegenwärtig. Das hieß, ich mußte noch bleiben. Wie schon oft auf meinen<br />

Reisen kam es auch jetzt wieder so: ich blieb länger von zu Hause fort, als<br />

anfänglich mein Plan gewesen.<br />

Meinen Arbeitsplatz in der Bibliothek zurückzubekommen, gelang ohne größere<br />

Schwierigkeit. Auch hatte ich, dank der Hilfe der Aufsicht im geographischen<br />

Lesesaal, mein Material bald wieder beisammen. Drei Wochen - das war ein gutes<br />

Stück Studienzeit für die Vorbereitung des Buches über meine arktischen<br />

Abenteuer. Wann ich es würde schreiben können, stand allerdings noch in den<br />

Sternen. Dazu ist bei mir für gewöhnlich ein von außen kommender Impuls<br />

notwendig, welcher den Schaffensprozeß schubartig in Gang setzt. Dies kann<br />

sowohl ein Vertragsabschluß über ein künftiges Buch als auch ein mit dem Verleger<br />

vereinbarter Abgabetermin für das laufende Manuskript sein. Oft ist besagter<br />

Schreibanstoß aber auch etwas Geistiges, etwa eine Anerkennung meines Wirkens<br />

zur Lösung der die Menschheit bewegenden Fragen oder auch ein anderes Erlebnis,<br />

das mein Innerstes trifft und das mich fortan, unerbittlich wie die Peitsche eines<br />

sudanesischen Sklavenhändlers, vorwärtstreibt und zum Arbeiten anhält. Ich lege<br />

dann erfahrungsgemäß die Feder nicht aus der Hand, ehe der letzte Punkt gesetzt<br />

worden.<br />

Im Grunde sehnte ich mich danach, daß es erst wieder so wäre, doch genoß ich bis<br />

zu einem gewissen Grad auch die Spannungen, die mich gegenwärtig vom<br />

Schreiben abhielten. Und ich genoß das Maß an Mittundürfen beim Schüren<br />

derselben, das dabei mir zufiel. Franke bringt Peary vor die Schranken des Gerichts<br />

- das hatte etwas von David und Goliath, wenn auch der Goliath ein von seinen<br />

Hintermännern über Gebühr aufgeblasener Popanz war. ‘Matt, ich brauche die<br />

Fahne - ganz unten in deinem Schlittengepäck---!’ Still lachte ich in mich hinein,<br />

sooft ich mir die Szene vergegenwärtigte, wie Peary Henson und vor allem wohl<br />

erst einmal sich selbst und schließlich auch uns Eskimobegleitern und, ja, der<br />

ganzen Welt kundtat (da er doch kurz darauf seine berühmt gewordenen<br />

Lichtbilder machte): dies ist der Nordpol der Erde. Dabei wußte ich, und er wußte<br />

es auch, daß wir vom Pol noch weit entfernt lagerten - doch auch wieder nicht so<br />

weit, daß es von mir, ganz auf mich allein und die Hunde gestellt, nicht zu schaffen<br />

gewesen wäre--- .<br />

Die drei Wochen des Studierens und Recherchierens vergingen im Fluge. Und


ergebnisreich waren sie über alle Maßen. Seit vor mehr als zweitausend Jahren der<br />

kühne Seefahrer Pytheas von seiner Heimat im Mittelmeer aus bis ins sagenhafte<br />

Thule vorstieß, haben Menschen versucht, sowei wie überhaupt möglich nach<br />

Norden zu gelangen: nämlich zum Pol. Unsäglich ist die Anzahl der Opfer bei<br />

diesem Ringen. Und erst mir, dem Sohne blutarmer Webersleute aus Ernstthal in<br />

Sachsen, ist es vergönnt gewesen, die Siegespalme zu holen. Wenn ich es auch<br />

ablehne, mich damit vor aller Welt zu brüsten, wie es Falschspieler vom Schlage<br />

eines Peary und Cook nur allzu gern tun, so erfüllt mich doch eine gewisse stille<br />

Genugtuung, nach meinen Vorstößen in andere Gegenden der Erde auch noch der<br />

Erste am Nordpol gewesen zu sein. Wer sollte mir das wohl verargen wollen.<br />

Ich erfuhr von Pearys Ankunft bei meinem Nachhauseweg durch den Chor der<br />

Zeitungsjungen Unter den Linden. “Komet der Erde in wenigen Tagen am<br />

nächsten. Die Angst wächst. Wissenschaftler beschwichtigen Weltöffentlichkeit.<br />

Amerikanischer Nordpolbezwinger neuerlich Gast in Berlin”, riefen sie, einander<br />

zu überschreien suchend. Doch klang alles wie aus einem Mund: “Astronomen<br />

beruhigen Öffentlichkeit - Die Presse nach wie vor skeptisch - Nordpolsieger<br />

Peary--- Morgiger Vortrag mit Spannung erwartet.” Kein Franke, kein Thiel. Wo<br />

nur waren sie abgeblieben? Ich ging enttäuscht weiter. Auf das Gerede vom<br />

Weltuntergang durch die Erdnähe des Kometen gab ich nichts. Es hatte mich<br />

ohnehin nie tangiert.<br />

“Ihr ganz persönliches Horoskop - Peary kündigt neue Beweise an.” Neue Lügen,<br />

dachte ich bitter. Sollte es wieder nur das sein? Kaum hatte ich jedoch die Höhe<br />

der Friedrichstraße erreicht, kam mir eine neue Welle von Ausrufern entgegen:<br />

“Peary im Zwielicht. Deutscher Grönlandexperte beschuldigt den Forscher der<br />

Hartherzigkeit. Rudolf Franke verlangt sein Recht und sein Eigentum. Peary im<br />

Zwielicht.” Ich beschleunigte meine Schritte. Als ich im Hotel den<br />

Zimmerschlüssel erbat, gab mir der Rezeptionist einen amtlichen Umschlag: “Das<br />

ist heute mittag hier für Sie abgegeben worden, Herr May. Wenn Sie mir bitte den<br />

Empfang bestätigen wollen.” Er wies auf ein Formular. Ich unterschrieb und eilte<br />

aufs Zimmer. Dort erbrach ich sogleich das blaue Trockensiegel, mit dem das<br />

Kouvert verschlossen.<br />

Zum Vorschein kam die Ladung vor das Königlich Preußische Landgericht Eins in<br />

der Grunerstraße am Alexanderplatz. Dort stand es: --- als Sachverständiger für die<br />

Wertfestsetzung des dem Kläger Rudolf Franke, wohnhaft in Hamburg, durch die<br />

Handlungsweise des Robert Edwin Peary, im Inland ohne festen Wohnsitz,<br />

entstandenen Schadens.<br />

Zufrieden ging ich ins Bett, bereit für das Kommende.<br />

Am nächsten Morgen wurde ich auf dem Wege zum Frühstück, ohne daß ich dies<br />

zunächst vorgehabt, zum Mitspieler in der absonderlichen Farce, die Peary bei der<br />

Zustellung der Gerichtspapiere an ihn, den Beklagten, in Szene setzte. Ich sah ihn<br />

in der Hotelhalle mit einem Herrn sprechen (der, wie ich später hörte, der


amerikanische Botschafter war), als der Gerichtsbote sich den beiden näherte, um<br />

Peary Klageschrift und Vorladung zu übergeben. Sobald er den Mann sah, rief<br />

Peary außer sich: “Ich nix sprächen dajtsch”, obwohl er sich in meiner Gegenwart<br />

mehrfach damit gebrüstet hatte, während seiner Zeit auf dem College Faust im<br />

Originale gelesen zu haben. Er hatte sodann stets lange Passagen daraus zitiert.<br />

Als seien die ihm hingehaltenen Papiere mit Pestbazillen behaftet, hielt er sie auf<br />

Distanz, indem er beide Hände abweisend dagegen ausstreckte. Mein Eindruck<br />

war, daß er allerdings sehr wohl wußte, worum es sich handelte.<br />

Ratlos über so viel Unverstand, blicke sich der Gerichtsdiener hilfesuchend um. Er<br />

benötigte offenbar jemanden, der zu bezeugen bereit war, daß er die Dokumente<br />

ordentlich an den Adressaten zu bringen versucht, von diesem allerdings ignoriert<br />

worden war. Und in der Tat, er legte sie auf einem Tisch neben Peary und dem<br />

Botschafter ab und sagte, an die Umstehenden gewandt: “Ich lege hiermit in aller<br />

Öffentlichkeit für diesen Herrn dort bestimmte Gerichtspapiere ab, da er sich<br />

weigert, sie anzunehmen. Es handelt sich um Herrn Robert Edwin Peary aus den<br />

Vereinigten Staaten, zur Zeit als Gast im Hotel Adlon wohnhaft. Ist jemand bereit,<br />

den Vorgang zu bezeugen?”<br />

Da hielt ich meine Stunde für gekommen. Ich trat zu dem Gerichtsvollzieher,<br />

überreichte ihm meine Karte und sagte: “Sie können mich als Zeugen benennen.”<br />

Er las meinen Namen, lächelte, sagte: “Oh, da danke ich Ihnen aber”, und ging. Ich<br />

sah den Botschafter die Dokumente aufnehmen und sich flüsternd mit Peary<br />

besprechen. Es war anzunehmen, daß er ihm zusagte, sich um die Sache zu<br />

kümmern. Verstehen konnte ich allerdings nichts. Peary sah ein paarmal in meine<br />

Richtung, ehe ich weiterging. Er schien mich nicht erkannt zu haben. Jedoch sollte<br />

ich mich mit dieser Annahme getäuscht haben.<br />

Nicht ohne Stolz schritt ich zum Frühstücksraum. Nun war ich sowohl<br />

Sachverständiger als auch Zeuge. Die Tage, da ich vor Gericht entweder als<br />

Angeklagter oder, um mich meiner Haut zu wehren, selbst als Kläger erschienen<br />

war, lagen endgültig hinter mir.<br />

Die Verhandlung begann zwei Tage drauf, früh um zehn Uhr. Ich wurde als Zeuge<br />

aufgerufen, sobald Rechtsanwalt Thiel die Klage begründet und der Gerichtsbote<br />

seine vergeblichen Bemühungen geschildert hatte, diese dem Beklagten ordentlich<br />

zuzustellen.<br />

Peary wurde im Auftrage der amerikanischen Botschaft von einem Anwalt<br />

vertreten, dessen Namen ich nicht behalten habe. Dieser Herr versuchte zunächst,<br />

mich wegen Befangenheit als Zeugen abzulehnen. Ich hätte, so argumentierte er,<br />

schon vor Jahren mit dem Kläger gemeinsame Sache gegen seinen Mandanten<br />

gemacht, in Grönland. Doch kam er damit beim Vorsitzenden schlecht an.<br />

“Was in Grönland geschehen ist, werden wir gleich untersuchen”, unterbrach ihn<br />

Landgerichtsdirektor Tepfer. “Zunächst ist erst einmal die Frage zu klären, was im


Hotel Adlon passiert ist. Und nicht vor Jahren, sondern vor ein paar Tagen.<br />

Antrag abgelehnt.”<br />

Ich war über Pearys Taktik erstaunt, wenngleich nicht sonderlich überrascht, da<br />

sie durchaus zu seinem Gesamtverhalten paßte. Sagt nichts, grüßt nicht einmal -<br />

obwohl er mich also erkannt hat. Läßt mich meine Dienste als Zeuge anbieten, weil<br />

er weiß, daß der Kläger Franke und ich einander nicht fremd sind, und setzt auf<br />

Befangenheit! So eine Durchtriebenheit aber auch! Nur hatte er Pech gehabt.<br />

“Und so frage ich den Zeugen May, ob er bestätigen kann, was wir vom Vertreter<br />

des Gerichts über den Versuch gehört haben, dem Beklagten die Klage<br />

ordnungsgemäß zuzustellen.”<br />

“Das kann ich vollauf, Herr Vorsitzender. Ohne die fraglichen Papiere auch nur<br />

anzufassen, geschweige denn sie, und sei es versuchsweise, einer Prüfung zu<br />

unterziehen, hat der Beklagte sich sogleich hinter Sprachschwierigkeiten<br />

verschanzt und die Entgegennahme abgelehnt.”<br />

“Sie halten diese --- Sprachschwierigkeiten für vorgeschoben?”<br />

“Allerdings.” Ich schilderte, wie Peary sich mir gegenüber mehrfach als König von<br />

Thule bezeichnet und das Lied vom goldenen Becher auf deutsch vorgetragen -<br />

nicht akzentfrei zwar, aber durchaus gut verständlich.<br />

“Sie kennen also auch Herrn Peary seit Jahren - nicht nur den Kläger?”<br />

“Das verhält sich in der Tat so, Herr Vorsitzender.”<br />

“Leider hat er Berlin bereits wieder verlassen und es somit dem Gericht unmöglich<br />

gemacht, sich selbst ein Bild von seiner Persönlichkeit zu machen. Daher meine<br />

Frage an Sie, Zeuge May: Halten Sie ihn für einen aufrichtigen, einen ehrlichen<br />

Menschen? Ist er, um es mal so auszudrücken, der Wahrheit verpflichtet?”<br />

Dies war der zentrale Punkt, nicht nur in Frankes Prozeß. Ich hatte es seit<br />

Anbeginn meines Erdendaseins gespürt. Auch jetzt ging es um höhere Werte als<br />

die infrage stehenden Pelze und den elfenbeinernen Klimbim. So überlegte ich<br />

nicht lange und sagte: “Nein.”<br />

Unter den Zuhörern erhob sich lebhaftes Gemurmel. “Ich bitte um Ruhe!” rief<br />

Landgerichtsdirektor Tepfer in den Saal. An mich gerichtet, sagte er: “Wenn Sie<br />

das dem Gericht bitte etwas erläutern würden.”<br />

Ich tat es. Begann damit, wie Peary mich eingeladen, mit ihm nach Grönland zu<br />

kommen; erzählte, wie er sich dort Franke gegenüber verhalten und berichtete von<br />

meiner Schlittenreise - verkleidet als Eskimo - mit Peary und Henson. Schließlich<br />

sagte ich, was ich bisher noch nie in der Öffentlichkeit gesagt: “Beim Aufpflanzen<br />

der Fahne an dem Ort, den Peary als Nordpol bezeichnete, fehlten noch etwa<br />

hundert Meilen zum Pol. Und trotzdem behauptet er seitdem hartnäckig, am<br />

Nordpol gewesen zu sein.” Daß ich anschließend an Pearys Flaggenhissung mich<br />

selbst aufgemacht und den Pol auch tatsächlich erreicht hatte, behielt ich allerdings<br />

für mich.<br />

Erneut war Unruhe im Saal. Diesmal drohte der Vorsitzende mit Ausschluß der


Öffentlichkeit. Mich fragte er: “Und - worauf stützt sich Ihre Behauptung, es<br />

hätten ihm hundert Meilen gefehlt? Warum hundert und nicht hundertfünfzig?”<br />

“Ich habe heimlich eigene Messungen mit dem Sextanten unternommen. Täglich.<br />

Sehr verläßliche Messungen.”<br />

“Das hätte ich von Ihnen auch nicht anders erwartet, Herr Zeuge. Gestatten Sie<br />

mir trotzdem noch eine Frage. Warum gibt es kein Buch von Ihnen, in dem Sie<br />

dieses arktische Abenteuer für Ihre Leserschaft beschreiben? Das würde auch dem<br />

Gericht die Arbeit erleichtern. Sehen Sie, ginge es hier heute um Old Firehands<br />

Fellvorräte in seiner Festung am Mankizita, auch White River genannt, und nicht<br />

um Rudolf Frankes Pelze in Nordgrönland, wüßte jeder im Saale, wovon die Rede<br />

ist. Aber so---”<br />

“Soll das ein Vorwurf sein, Herr Landgerichtsdirektor?” Ich lächelte.<br />

“Keineswegs. Ich wollte Ihnen nur die Situation verdeutlichen. Ohne Sie tappten<br />

wir hier gänzlich im Dunkeln.”<br />

“Ich bin mitten in den Vorarbeiten für das von Ihnen geforderte Buch. Sobald ich<br />

die nötige Ruhe finde, beginne ich mit dem Schreiben. Ich hoffe jedoch, Ihnen<br />

schon jetzt mit meinen Angaben bei der Wahrheitsfindung behilflich gewesen zu<br />

sein.”<br />

“Das sind sie allerdings, Herr May, und dafür danke ich Ihnen. Wie wird denn Ihr<br />

neues Werk heißen?”<br />

“Nun, nach Lage der Dinge werde ich es wohl ‘Der Streit um den Nordpol’<br />

nennen.” Hier und da wurde gelacht, auf der Pressebank schrieb man eifrig mit.<br />

“Gibt es Fragen an den Zeugen?” Da weder Rechtsanwalt Thiel noch die<br />

Verteidigung das Angebot des Vorsitzenden annahm, entließ er mich. “Allerdings<br />

nur als Zeugen”, wie er sich hinzuzusetzen beeilte. “Später, wenn es um die<br />

Wertfestsetzung geht, wird das Gericht noch den Sachverständigen May hören.<br />

Jetzt hat erst einmal die Verteidigung das Wort.”<br />

Wie ich vor Verlassen des Saales noch mitbekam, konzentrierte sich Pearys<br />

Anwalt auf zwei Dinge. Erstens bestritt er nach wie vor die Zuständigkeit des<br />

Gerichts, da sein Mandant sich nicht mehr in Berlin aufhalte, und zweitens stellte<br />

er Frankes Eigentumsrecht an den von diesem bezeichneten Dingen in Frage . Wie<br />

auch immer das Gericht diese Punkte parieren würde - ich hatte meine Tribüne<br />

gehabt, und wahrlich, ich hatte die Chance genutzt. Ich war in Hochstimmung, und<br />

nichts vermochte diese zu trüben. Wie bei hunderten anderer Prozesse in der<br />

Geschichte der Menschheit ging es auch hier nicht um den vordergründig<br />

verhandelten Gegenstand. Pelze, Narwalhörner, Walroßstoßzähne, Erniedrigung,<br />

erlittenes Unrecht, all das stand zur Debatte, freilich. Doch lag der Streitwert in<br />

Wirklichkeit wesentlich höher. Nicht anders als bei jenem berühmten Prozeß in<br />

Jerusalem vor fast tausendneunhundert Jahren. Auch dort war es nicht eigentlich<br />

um die Frage gegangen, ob der Angeklagte König der Juden sei oder nicht. Pontius<br />

Pilatus hatte in Worte gefaßt, worum es tatsächlich ging: Wahrheit, was ist das?


Und heute hatte sich Landgerichtsdirektor Tepfer vom Berliner Landgericht Eins<br />

nicht gescheut, diese Frage, auf Peary bezogen, zu wiederholen. Ich war froh, ihm<br />

auf dem Wege zu einer Antwort Hilfestellung gegeben zu haben.<br />

Bei der Festsetzung der Höhe von Frankes Anspruch schloß sich das Gericht am<br />

Nachmittag sogleich meinem Schätzwert für die Hälfte der fraglichen Güter an:<br />

achtzehntausend Dollar. Den entsprechenden Mark-Betrag haben die Zeitungen<br />

dann unterschiedlich wiedergegeben; niemand sollte mir dafür die Verantwortung<br />

zuschieben. Nachdem sich das Gericht zu einer längeren Beratung zurückgezogen<br />

hatte, verkündete der Vorsitzende folgendes Urteil: Die Zuständigkeit des<br />

Gerichtes wird eindeutig festgestellt. Da das Land, in dem die fraglichen Vorgänge<br />

stattgehabt, zu keinem Staat gehöre und somit dort das Naturrecht gelte, müsse auf<br />

das Personalstatut zurückgegriffen werden. Da der Kläger Deutscher sei, käme<br />

allein deutsches Recht in Frage. Die Klage sei dem Beklagten, als er in einem<br />

Berliner Hotel abgestiegen war, ordnungsgemäß zugestellt worden. - Da das<br />

Eigentumsrecht des Klägers bestritten werde, habe der Gerichtshof beschlossen,<br />

den Miteigentümer der fraglichen Güter, Herrn Doktor Frederick Cook, eidlich<br />

vernehmen zu lassen.<br />

In der Tat ein Ausgang ganz nach meinem Geschmack. Ich gratulierte Franke<br />

und mußte zu meiner Überraschung feststellen, daß er selbst über das Ergebnis gar<br />

nicht so glücklich war. “Nun muß ich für mein grönländisches Unternehmen alle<br />

Hoffnung auf das Geld des Kaisers setzen”, sagte er. “Wo soll man Cook denn<br />

finden? In Neapel ist er bestimmt nicht mehr.”<br />

“Er hat nie die Absicht gehabt, nach Neapel zu gehen. Jedenfalls nicht sofort.”<br />

“Nicht die Absicht gehabt? Woher wollen Sie das denn wissen, Old Shatterhand?”<br />

“Von ihm selbst. Er hat es mir noch in Neuyork gesagt.”<br />

“Das wird ja immer verworrener. Ohne seine Aussage komme ich nie an mein<br />

Geld. Jedenfalls nicht an das, was Peary mir schuldet. Wollen Sie mir nicht helfen,<br />

Doktor Cook aufzuspüren?”<br />

Mit aller Entschiedenheit schüttelte ich den Kopf. “So leid es mir tut, Franke. Ich<br />

muß erst einmal nach Radebeul zurück, meine eigenen Dinge ordnen. Und dann -<br />

Sie haben es ja gehört: die Welt schreit nach meinem Buch über den Streit um den<br />

Nordpol.”<br />

“Tja, diesen Streit hat auch das Gericht nicht entschieden.”<br />

“Niemand hat es deswegen angerufen.”<br />

“Vielleicht sollte auch ich etwas über die Zankerei zwischen Peary und Doktor<br />

Cook schreiben.”<br />

“Unbedingt, Franke. Jedenfalls soweit Sie diese überschauen können und darin<br />

verwickelt waren. Stocken Sie mit einem Buch Ihre Geldquellen auf. Erlebnisse<br />

eines Deutschen im hohen Norden - den Titel schenke ich Ihnen.”<br />

Er dankte mir überschwenglich. Wir schieden voneinander in beiderseitigem


Wohlwollen. Ich habe Franke seit diesem kurzen Gespräch nie wiedergesehen.<br />

Vom Gericht aus stürmte ich zum Hotel zurück, beglich die nicht unerhebliche<br />

Rechnung und brach unverzüglich auf. Ließ selbst meine<br />

Bibliotheksangelegenheiten ungeordnet zurück, obgleich ein solches Verhalten<br />

nicht meine Art ist. In einer Autodroschke raste ich zum Anhalter Bahnhof. Der<br />

nächste Zug nach Dresden stand schon unter Dampf, und so kam ich noch vor<br />

Mitternacht dieses ereignisreichen Tages in der Villa Shatterhand an. Doch das<br />

Nest war --- leer.<br />

Ich irrte durch das verlassene Haus. In ihrem Zimmer wie im Salon hatte Klara<br />

Sofas und Polstersessel mit Leinwandschonern abgedeckt, dazu waren die<br />

Teppiche eingerollt. Alles ließ auf längere Abwesenheit schließen. Das war mir<br />

einesteils lieb und andernteils unlieb. Unlieb, weil ich nun wieder nicht erfahren<br />

würde, was sie als nächsten Schritt plante, und lieb, weil ich endlich die zum<br />

Schreiben benötigte Ruhe haben würde. Noch spät in derselben Nacht begann ich -<br />

eigentlich war es schon früh am Morgen, im Garten schlugen die ersten gefiederten<br />

Sänger ihr Lied an. Je näher man dem Pole kommt, schrieb ich, um so geringer<br />

werden die Möglichkeiten, Zuflucht zum Wissen des Navigators zu nehmen; am<br />

Pol selbst versagt einiges davon gar völlig. Man könnte also diesen fatalen Punkt<br />

meiden: doch wäre man erst einmal dort angekommen, müßte man seinen Weg<br />

irgendwie auf gut Glück beginnen, bis man eine Entfernung davon gewonnen, die<br />

den Gebrauch navigatorischer Regeln erlaubt. - Das Zitat stammte aus einem<br />

Essay des französischen Naturforschers und Philosophen Moreau de Maupertuis.<br />

Die Worte waren vor anderthalb Jahrhunderten gedacht und niedergeschrieben,<br />

doch schienen sie mir noch immer höchst prägnant auszudrücken, was die<br />

menschliche Gier, den Pol zu erreichen, zu einer so zweischneidigen Angelegenheit<br />

macht. Allerdings hatte, als Maupertuis über den Pol und dessen Erreichbarkeit<br />

nachdachte, die Welt anders ausgesehen als heute. Weite Gebiete im Innern der<br />

Kontinente, die ganze Südsee, Australiens Küsten waren unerforscht, wenn nicht<br />

gar den Europäern noch völlig unbekannt. Seither hatten sie sich darum gegenseitig<br />

die Köpfe blutig geschlagen und, sich einen Dreck um die Belange der jeweiligen<br />

Ureinwohner scherend, die Ländereien der Erde bis auf ein paar schäbige Reste<br />

untereinander aufgeteilt.<br />

Die Pole der Erde, diese, wie schon Maupertuis sagt, schrieb ich, höchst fatalen<br />

Punkte, sind heute als Ziel der Entdeckerneugier allein übriggeblieben und werden<br />

berannt, als gelte es, ein neues Eden zu finden.<br />

Ich stockte. Nun machte sich doch mein langes Wachsein bemerkbar und versuchte<br />

sich an mir rächen. Ein stechender Kopfschmerz, verbunden mit heftigem<br />

Schwindelgefühl, ließ mich pausieren. Aber ich wollte weiterschreiben, koste es<br />

was es wolle, hatte schon vorformuliert, wie die Entdecker überall Menschen<br />

trafen, die sich oft genug nicht damit zufriedengaben, fortan einfach als Entdeckte<br />

oder gar als Kolonialvölker behandelt zu werden und die daraufhin, jedenfalls in


einer Vielzahl von Fällen, dank der Überlegenheit europäischer Feuerwaffen<br />

ausgerottet oder doch mit grausamen Unterdrückungsmitteln niedergehalten<br />

wurden. Ich hatte die Absicht, die mir bis ins Einzelne gut bekannte Geschichte<br />

des roten Mannes in Nordamerika an dieser Stelle als Exempel anzuführen und,<br />

meinen Freund Winnetou ins Spiel bringend, das Hohelied edelsten Menschentums<br />

bei den Naturvölkern anzustimmen. Allein - erst einmal brauchte ich dringend zwei<br />

oder am besten gleich drei von den Kopfschmerzpülverchen, die Klara in ihrem<br />

Arzneischrank aufzubewahren pflegte. Und zwar brauchte ich diese sofort. Sonst<br />

war an ein Weiterschreiben überhaupt nicht zu denken.<br />

Ich nahm ein Glas Wasser mit und ging in ihr Zimmer. Das Schränkchen, auf einer<br />

Konsole stehend, war zu meiner Verwunderung leer. Das heißt, es war leer bis auf<br />

eine braune Flasche mit dem handgeschiebenen Hinweis, sie enthalte Baldrian, und<br />

eine Flasche aus farblosem Glas, allerdings ohne Etikett. In dieser Flasche war eine<br />

wäßrige Flüssigkeit. Ich setzte mein Glas ab, nahm die rätselhafte Flasche zur<br />

Hand und öffnete sie. Sogleich schlug mir starker Bittermandelgeruch entgegen.<br />

Jeder Zweifel war ausgeschlossen.<br />

Herr im Himmel! Ich hatte Klara offenbar unterschätzt. Soll ich dir Baldrian<br />

bringen, Karl---? Bloß weil man mir meine Verärgerung vom Gesicht hatte ablesen<br />

können! Als hätte sie nicht einen vom Leben gestählten Old Shatterhand vor sich<br />

gehabt, zumal einen, der gerade vom Nordpol kam, sondern irgendeinen<br />

Apoplektiker! Meine Ruhe war hin, auch war der Kopfschmerz verflogen. Doch<br />

kein Gedanke an ein Weiterschreiben! Verstört, aufgeschreckt, verunsichert lief ich<br />

ruhelos durch das Haus. Ich hatte Klara nicht für so verschlagen gehalten, wie sie<br />

nach Lage der Dinge in Wirklichkeit war.<br />

Ein hartnäckiges Klingeln an der Haustüre brachte mich zur Besinnung. Es war der<br />

Telegrammbote, der mir mit einem “Wunderschönen guten Morgen, lieber Herr<br />

May!” eine dringende Depesche aushändigte. Sie war unter heutigem Datum vom<br />

Telegrafenamt Paris abgesetzt und mit JGB gezeichnet. Der Herrscher des<br />

“Herald”-Imperiums drahtete mir: “Habe Ihr Auftreten vor Gericht verfolgt Stop<br />

Besorgt ueber Verbleib Doktor Cook Stop Erwarte Sie uebermorgen Freitag<br />

zwanzig Uhr Cafe Les Deux Magots Place Saint Germain des Pres Stop<br />

Uebernehme alle Kosten Stop Bringen Sie Zeit mit Stop.”<br />

Daß James Gordon Bennett Junior in Neuyork zwar ein wichtiges Standbein hatte,<br />

sein Zeitungsreich in der Regel aber von Paris und der französischen Riviera aus<br />

regierte, war mir seit Jahren bekannt. Abgesehen von Cooks triumphaler Landung<br />

in Manhattan, wo ich Bennett allerdings lediglich aus der Ferne gesehen, hatte ich<br />

ihn nur einmal persönlich erlebt. Damals war er mit seiner Privatjacht aus Europa<br />

nach Neuyork gekommen, um bei einem Gerichtstermin zu erscheinen. Ich glaube,<br />

es handelte sich um eine Beleidigunsklage, war mir aber nicht mehr ganz sicher. An<br />

den Ausgang des Verfahrens erinnerte ich mich hingegen überaus deutlich: zu einer


Geldstrafe von dreißigtausend Dollar verurteilt, hatte Herr Bennett die Brieftasche<br />

gezückt und dreißig Tausenddollarscheine auf den Richtertisch geblättert.<br />

Erwarte Sie übermorgen Freitag zwanzig Uhr Paris---. Gewohnt, seine Mitarbeiter<br />

mit Telegrammen dieser Art über den Großen Teich und nötigenfalls um die ganze<br />

Welt zu hetzen, hatte er sich mir gegenüber zweifellos im Tone vergriffen. Doch<br />

war ich nicht in der Stimmung, ihm deswegen gram zu sein. Die Frage war: Was<br />

würde er von mir wollen? Und - zu welchen Bedingungen? Da ich in der Villa<br />

Shatterhand vorerst, so harsch das auch klingen mochte, nichts mehr zu suchen<br />

hatte, überlegte ich nicht erst lange. Der Mensch lebt, solange er reist. Ich packte<br />

ein frisches Hemd, Zahnbürste und Schlafanzug in ein Handköfferchen und ging<br />

zum Bahnhof. Die ersten Seiten meines neuen Buches ließ ich zurück, wo sie<br />

waren: auf dem Schreibtische.<br />

In Leipzig und Mannheim mußte ich umsteigen. Während der Zug sich bereits der<br />

französischen Grenze näherte, zerbrach ich mir noch immer den Kopf darüber,<br />

was JGB wohl von mir wollen mochte. Er hatte, ehe er sich zunächst für Peary<br />

und im Verlauf der Kontroverse zwischen den beiden schließlich für Cook<br />

entschied, bei Entdeckunsgreisen schon mehrfach die Hände im Spiel gehabt. Der<br />

spektakulärste Fall darunter war wohl die Entsendung des jungen Henry Morton<br />

Stanley in den Urwald Zentralafrikas geblieben, wo Doktor Livingstone auf der<br />

Suche nach den Quellen des Nil seit Jahren verschollen war. Dem blutjungen<br />

Korrespondenten, der schon vorher als Kriegsberichterstatter in Nahost für den<br />

“Herald” tätig gewesen, hatte JGB mit dieser Expedition die Chance seines Lebens<br />

geboten. Und obzwar die Dinge bei mir doch gänzlich anders lagen und ich ja noch<br />

nicht einmal wußte, ob er mir wirklich nur sagen wollte: Finden Sie Doktor Cook,<br />

so wie er Stanley befohlen hatte, Livingstone zu finden, machte ich mir meine<br />

Gedanken. Wie würde er mich zu gewinnen suchen? Und - warum verfiel er gerade<br />

auf mich?<br />

Am Freitagnachmittag hatte das Grübeln ein Ende. Um fünf Uhr erreichte ich den<br />

Pariser Ostbahnhof. Ich flanierte geruhsam den nach Süden führenden Boulevard<br />

entlang, querte gutgelaunt, aber zum Umfallen müde die Insel in der Seine, grüßte<br />

im Vorbeiwandern die Türme von Notre Dame, nahm in einem von Studenten<br />

frequentierten Bistro an meinem Wege einen herzhaft mit Kapern gewürzten<br />

Croque Monsieur mit einem Glase Burgunder zu mir und war präzise um acht im<br />

Deux Magots.<br />

Den Tisch, an dem JGB Hof hielt, konnte man weder übersehen noch überhören.<br />

In vertrautem Kreis saß er da, jedermann becherte, speiste und war an der<br />

allgemeinen, recht laut geführten Unterhaltung beteiligt, von der jedoch unter dem<br />

Kläffen der sechs, acht oder gar zehn Schoßhündchen der unterschiedlichsten<br />

Rassen, die Bennett umsprangen, nichts zu verstehen war. Ich trat auf ihn zu und<br />

nannte, indem ich mich kurz verneigte, meinen Namen. Er war begeistert, mich zu<br />

sehen und sagte etwas von deutscher Pünktlichkeit. Sodann wies er einen Kellner


an, mir die Speisekarte zu geben. Ich wählte ein Fischragout, nach bretonischer Art<br />

mit Senfsoße zubereitet, und aß mit gutem Appetit. Sobald ich gesättigt war, kam<br />

der Kaffee, dazu ein ausgezeichneter Armagnac. Der Lärm um mich perlte an<br />

meiner Müdigkeit ab.<br />

Plötzlich setzte sich Bennett zu mir. “Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind”,<br />

sagte er, während er mir eine Zigarre anbot. “Ich mache mir, wie ich bereits<br />

andeutete, Sorgen um Doktor Cook.”<br />

“Nicht nur Sie. Auch ich weiß nicht, wo er ist.”<br />

“Dacht ich’s mir doch. Aber mal etwas ganz anderes, May. Sie haben, wie mir<br />

mein Korrespondent drahtete, dem Richter in Berlin bereits einen Titel für das<br />

Buch über Ihre Reise in die Arktik genannt. Ist ‘Der Streit um den Nordpol’ schon<br />

unter Vertrag?”<br />

Das also war des Pudels Kern! Während ich die Zigarre anschnitt, sie umständlich<br />

weich klopfte, schließlich anzündete und paffend die ersten Züge tat, überlegte ich<br />

blitzschnell. Nach Lage der Dinge würde Fehsenfeld von mir keine Zeile mehr<br />

drucken, wenn ich nicht bei seinen Filmplänen mitmachte. Und ich fühlte mich, da<br />

sich dies so verhielt, nicht mehr an die Abmachung hinsichtlich einer Erstoption<br />

für seinen Verlag gebunden.<br />

“Nein”, sagte ich.<br />

“Finden Sie Doktor Cook, und ich nehme Ihr Manuskript. Zunächst im ‘Herald’,<br />

in Fortsetzungen. Über die Buchausgabe reden wir später. Wieviel Manuskript<br />

haben Sie bereits? Ich möchte gern mal wieder etwas von Ihnen lesen, all Ihre<br />

anderen Bücher kenne ich schon.”<br />

Ich wollte nicht lügen, weil Lügen nicht meine Art ist. Also sagte ich: “Ich habe<br />

erst angefangen zu schreiben.”<br />

“Gut. Sagen wir, Sie finden Doktor Cook und liefern mir drei Monate später die<br />

ersten zweihundert Seiten. Abgemacht?” Er hielt mir lächelnd die Hand hin, doch<br />

ich schlug nicht ein.<br />

“Lassen Sie mich bitte die Sache überschlafen”, sagte ich. “Morgen um diese Zeit<br />

werde ich wieder hier sein und Ihnen meine Antwort geben.”<br />

“Morgen abend? Wo denken Sie hin, May! Da bin ich schon auf dem Wege nach<br />

Cannes. Um acht Uhr früh, wenn ich bitten darf. Ja, morgens um acht, da finden<br />

Sie mich noch hier. Wir können gemeinsam frühstücken. Im übrigen ist im Hotel Le<br />

Régent ein Zimmer für Sie reserviert, ganz hier in der Nähe.” Damit war ich<br />

entlassen.


12. DER KÖNIG IST TOT. ES LEBE DER KÖNIG<br />

In dieser Nacht suchte ich lange vergeblich nach Schlaf. Ich war in höchstem Grade<br />

übermüdet, doch die Gedanken hielten mich wach. Wo mochte Klara sein? Mit<br />

wem? Was heckten sie wieder aus? Was käme in dem unsäglichen Filmkomplott<br />

als nächstes Bubenstück auf mich zu? Angst schüttelte mich. Mich, der sonst<br />

dieses Gefühl wahrlich nicht kannte. Sie kam in Wellen, mal die Sorge um<br />

Fortbestand und Verbreitung meines Werkes betreffend, mal den Grund meines<br />

hiesigen Aufenthalts. Bis zum Morgen mußte ich zu einem Entschluß gelangen;<br />

Herr Bennett erwartete ihn zum Frühstück. Doch wie sehr ich auch um eine<br />

Entscheidung ringen mochte - sie wollte und wollte sich nicht einstellen. Wüst lief<br />

in meinem Kopf alles durcheinander. Hinzu kam, daß hinter der Wand, an welcher<br />

mein Bett stand, ein Liebespaar keuchend zugange war. Als unterm wilden Spiele<br />

der beiden plötzlich ihre Lagerstatt zusammenbrach - ich schloß dies aus dem<br />

lauten Aufknirschen von Brettern, dem ein kurzes, gedämpftes Krachen folgte -,<br />

lachten sie laut und anhaltend. Sie müssen es auf dem Fußboden weitergetrieben<br />

haben, denn das Gelächter verstummte und es war wieder das Keuchen zu hören.<br />

Unerwartet erschollen zwei spitze Schreie sowie ein letztes, grunzendes Stöhnen,<br />

dann war Ruhe.<br />

Sobald ich endlich eingeschlafen, hatte ich einen Schreckenstraum. Durch einen<br />

Wald mit verkohlten Bäumen zog sich in bizarren Linien ein Geflecht von<br />

Schützenstellungen. An die Brustwehr der Laufgräben gelehnt oder verkrampft<br />

über Mitrailleusen und Gewehre hinweg zielend sah ich Soldaten in viel zu engen,<br />

verschmierten, keinem Land zuzuordnenden Uniformen. Alle waren bewegungslos<br />

und, wie sich bei genauerem Hinsehen herausstellte, tot. Blut war jedoch nirgends<br />

zu sehen. Auch auf dem Grund der Gräben und in den Eingängen zu Unterständen<br />

und Verbindungstunneln lagen Tote. Mein Blick strich unruhig über die Szene. Ich<br />

spürte einen stechenden Geruch, ein flaues Gefühl im Magen stellte sich ein.<br />

Dadurch entstand ein ständig wachsender Drang, mich zu übergeben, doch<br />

schluckte ich tapfer. Gespenstisch zogen zwischen den Wipfeln der Baumleichen<br />

gelbe Wolkenschwaden dahin. Ein Donnergrollen, das stärker und immer stärker<br />

wurde, ließ das Nahen des Feindes vermuten - und richtig, da zeigten sich in der<br />

Ferne, hinter den Schanzaufwerfungen, jenseits weitläufiger Verhaue aus<br />

Stacheldraht, übergroße, seltsam hoch auf Raupenketten dahingleitende Fahrzeuge,<br />

die zwar wie Automobile aussahen, statt der bei diesen üblichen, mit Fenstern<br />

versehenen Kabinen für Fahrer und Passagiere jedoch düstere metallische Türme<br />

trugen, wie Panzerschiffe; kurze Geschützläufe lugten daraus hervor. Die<br />

Ungetüme rückten näher und näher, mit einem Getöse, das mir kalten Schweiß auf<br />

die Stirn trieb. Plötzlich erscholl von irgendwoher hell das Trompetensignal Rasch<br />

voran!, und aus Himmelshöhen, das Grollen der Streitwagen noch übertönend, rief<br />

eine Stimme: “Panzerkompanie Winnetou - Visier hundertzwanzig - zum Schuß!”


Die matt glänzenden Geschütztürme schwenkten, bis sie alle auf mich gerichtet<br />

waren, und schon kam der Ruf “Feuer!”<br />

Vom Krachen der Salve fuhr ich hoch und erwachte. Ich setzte mich hin, verließ<br />

jedoch bald das Bett und trat ans Fenster. Mein Zimmer im obersten Stock bot<br />

einen weiten Blick über die Dächer von Paris. Im Silberscheine der Nacht blitzten<br />

hier und da Fensterscheiben auf. In der Ferne war der Eiffelturm zu erkennen und,<br />

wie eine Glucke auf dem Montmartre nistend, die neue Basilika von Sacré Coeur.<br />

Der Traum hatte mich verstört. Was kam da an Unvorstellbarem auf die<br />

Menschheit zu? Auch in der Cook-Sache war ich noch immer völlig ratlos. Und ich<br />

hatte niemanden, mit dem ich mich wie bei früheren Abenteuern hätte besprechen<br />

können. Daraus war mir stets Kraft erwachsen. Doch jetzt? Ich war gänzlich allein<br />

auf der Welt, war ohne Halt. Selbst Klara hatte sich als morscher Ast erwiesen.<br />

Nicht nur, daß ich mich nicht mehr an sie anlehnen konnte oder sie mich gar<br />

stützte - sie war buchstäblich weggebrochen und stob als wildgewordener<br />

Knüppel-aus-dem-Sack durch die Gegend, bereit, mich zu erschlagen, war ich nicht<br />

auf der Hut.<br />

Das Mondlicht setzte ungeahnte Akzente ins nächtliche Dunkel. Die Wipfel der<br />

Platanen in der Straßenschlucht vor dem Hotel warfen gespenstische Schatten.<br />

Das Mondlicht---! Die Idee, nach Frau Luna zu suchen, kam mir als unverhoffter<br />

Gedankenblitz. Ich mußte dazu das Fenster öffnen. Mich weit hinauslehnend, sah<br />

ich: es war Halbmond.<br />

Vielleicht konnte Kaschadu helfen, Cook zu finden --- . Sie hatte schon einmal, bei<br />

unserer allerersten Begegnung, den Kablunadoktor für mich aufgespürt: er war<br />

damals gerade beim dänischen Gouverneur im grönländischen Upernavik zu Gast<br />

gewesen.<br />

Andererseits - wollte ich überhaupt auf Bennetts Angebot eingehen? Der Gedanke,<br />

das Buch, das ich schreiben würde, eines Tages auch ohne Fehsenfeld im Druck<br />

erscheinen zu sehen, war, ich gestand mir das unumwunden, ungeheuer verlockend.<br />

Doch stellte ich mich, wenn ich Cook zur Stelle schaffte, nur weil der “Herald”<br />

stets und ständig news brauchte, nicht auf eine Stufe mit Dabbya Stead und seinem<br />

Krawalljournalismus? Auch JGB war erklärter Anhänger dieser Richtung. Er liebte<br />

Sensationsnachrichten, Neuigkeiten um jeden Preis, um sie in die Welt<br />

hinauszuposaunen. Erst unlängst hatte sein “Herald” traurigen Ruhm erworben,<br />

als das Blatt die geheimgehaltene Mission eines Neuyorker Polizisten<br />

marktschreierisch der Öffentlichkeit zur Kenntnis brachte. Der Beamte war,<br />

Verbindungslinien der Neuyorker Mafia zur sizilianischen Stammorganisation und<br />

der Spur von in der Neuen Welt erpreßten Schutzgeldern folgend, nach Palermo<br />

geschickt worden. Ein “Herald”-Reporter hatte von der Abreise des<br />

Gesetzteshüters Wind bekommen, und dessen Leben war daraufhin keinen<br />

Pfifferling mehr wert. Er war in der Tat bald nach Veröffentlichung des Artikels<br />

kaltblütig ermordet worden. Bennett tat dies - wie Hearst und die anderen - aus


einer Gewinnsucht, nicht etwa zur Erziehung des verbesserungsbedürftigen<br />

Menschengeschlechts. Ja, dieses hatte es offenbar sogar gern, mit derlei<br />

Neuigkeiten gefüttert zu werden. Von woher stammten denn all die<br />

Tausenddollarscheine, mit denen JGB ständig um sich schmiß? Von seinen Lesern!<br />

Trotz meiner Vorbehalte muß ich mich offensichtlich blitzschnell entschieden<br />

haben, den Auftrag doch anzunehmen, denn plötzlich lehnte ich mich, mit beiden<br />

Händen das niedrige Gitter haltend, noch weiter aus dem Fenster und rief<br />

mehrmals “Kaschadu!” in die Nacht. Sodann schloß ich das Fenster, kleidete mich<br />

an und wartete in einem Sessel. Ein plötzliches Tick-tick an der Scheibe ließ mich<br />

auffahren. Auf dem Fensterbrett saß eine Taube. Ich öffnete und ließ sie ins<br />

Zimmer. Sogleich verwandelte sich der Vogel in die Schamanin. Gekleidet war sie<br />

in einen aus vier, vielleicht sogar sechs Seehundfellen gestückelten Umhang.<br />

“Du hast mich gerufen. Wohin wünschst du mit mir---”<br />

“Nein, nein”, beeilte ich mich zu erklären. “Ich brauche deine Spürgabe. Ob ich mit<br />

dir auch noch auf einen Seelenflug gehen werde, weiß ich erst morgen.”<br />

“Morgen ist es zu spät”, entgegnete sie. “Morgen ist nicht mehr Halbmond. Schon<br />

dies war die letzte Möglichkeit.”<br />

“Nun gut, dann findet sich eine andere Lösung. Heute brauche ich deine Hilfe beim<br />

Auffinden eines Mannes, den du schon einmal für mich gefunden hast, Kaschadu.”<br />

“Ach, der Kablunadoktor---” Also war sie im Bilde.<br />

“Ja. Doch bedenke, er hat sich mit Absicht ein anderes Aussehen gegeben, er trägt<br />

möglicherweise einen falschen Bart oder ist anderweitig maskiert. Wirst du ihn<br />

trotzdem finden?”<br />

“Ich will es versuchen”, sagte sie ruhig. “Hast du eine ungefähre Ahnung, wo er<br />

sich aufhalten könnte?”<br />

“Die habe ich. Allerdings mögen meine Vermutungen völlig falsch sein.”<br />

“Dann sag sie mir lieber nicht.” Sie entnahm ihrem weiten Gewand eine flache<br />

Trommel. Tief holte sie Atem, schloß die Augen und begann, mit den Füßen<br />

stampfend, ihre Finger auf dem Trommelfell tanzen zu lassen. Dazu summte sie<br />

laut jene höchst rhythmische Eintonmelodie, die mir noch von Grönland her<br />

erinnerlich war. Im Takt ihres Summens riß sie endlich die Arme hoch und nieder,<br />

ohne dabei das Trommeln zu unterbrechen, und begann mit kurzen, trippelnden<br />

Schritten zwei Kreise abzuschreiten, die sich zu einer Figur in Form einer Acht<br />

ergänzten. Ihr Summen hatte sich bald schon zu lautem Schreien gesteigert, sie<br />

stampfte energisch bei jedem der Schrittchen, und ihre Finger hieben hart auf das<br />

Trommelfell. Das strähnige Haar flog hin und her, und Schweiß rann Kaschadu<br />

über Stirn und Wangen. Da wurde plötzlich neben meinem Bett an die Wand<br />

geklopft. Eine Männerstimme verlangte energisch nach Ruhe. “Eine<br />

Unverschämtheit! Wie soll man denn dabei schlafen können!” rief die Stimme. Und<br />

dann noch einmal, ganz aufgeregt: “Silence---!” Kaschadu ließ sich jedoch nicht<br />

beirren, sie tanzte unentwegt weiter, und als sie geendet, sackte sie, wo sie stand,


zusammen. Die Trommel fiel zu Boden. Der Kopf der Schamanin lag auf ihren<br />

Armen. So ruhte sie drei oder auch vier Minuten.<br />

Im Nachbarzimmer setzte indessen wieder das Keuchen und Stöhnen ein. Es<br />

schien Kaschadu nicht anzufechten, ja, ich war nicht einmal sicher, ob sie es<br />

überhaupt wahrnahm. Sobald sie zu mir aufblickte, sah ich die Erschöpfung in<br />

ihren Augen. Sie sagte: “Der Kablunadokktor sitzt sehr, sehr weit entfernt von<br />

hier an einem breiten Silberstrom. Er ist nicht allein, seine Frau ist mit ihm. Er trägt<br />

in der Tat Haare im Gesicht, die ihr Bart nennt. Auf dem silbernen Strom fahren<br />

viele riesige Kablunakajaks.” Und dann sagte sie noch etwas, was ich zunächst<br />

nicht zu deuten vermochte, was mir aber schon sehr bald zum Schlüssel des<br />

Ganzen wurde: “Gute Winde”, sagte sie nämlich. “Ja: gute Winde umfächeln den<br />

Ort seines Aufenthalts.”<br />

Ich dachte angestrengt nach. Da fiel es mir auf einmal wie Schuppen von den<br />

Augen. Gute Winde - natürlich! Doktor Cook war in Buenos Aires! Der breite<br />

Silberstrom konnte nur der Rio de la Plata sein. Und die riesigen Kablunakajaks<br />

Ozeandampfer im Hafen der argentinischen Hauptstadt.<br />

“Ich danke dir, Kaschadu”, sagte ich mit unverhohlener Rührung in der Stimme.<br />

Augenblickslang war ich versucht, sie auch noch nach Klaras Aufenthalt sowie<br />

nach meiner eigenen Zukunft zu fragen, ließ es dann aber. Zu sehr sah ich ihr die<br />

Erschöpfung an.<br />

Kaschadu raffte die Trommel auf und erhob sich zu voller Größe. Sie schüttelte<br />

sich, das Seehundfell glitzerte. In Sekundenschnelle hatte sie sich in die Taube<br />

zurückverwandelt, als die sie gekommen war. Ich öffnete das Fenster und winkte<br />

ihr nach, als sie in die mondhelle Nacht davonflog. Da war hinter der Zimmerwand<br />

plötzlich lautes Gepolter zu hören, offenbar als Ergebnis eines erfolglosen<br />

Versuches, das Bett aus den Brettern wieder zusammenzusetzen. Die<br />

Männerstimme, die noch vor kurzem so energisch nach Ruhe verlangt, ließ sich<br />

schließlich mit einem verzweifelten “Merde!” vernehmen; laut krachend wurde<br />

etwas zu Boden geschmettert, dann war endlich Ruhe.<br />

Argentinien also--- ! Mit diesem Wissen konnte ich mich, ohne ihm gleich reinen<br />

Wein einschenken zu müssen, auf Bennetts Angebot einlassen.<br />

JGB zeigte sich nicht erstaunt, als ich ihm meine Bereitschaft zur Annahme seines<br />

Auftrags erklärte. Wir besiegelten die Sache mit Handschlag. Er wünschte mir<br />

Glück bei meiner Suche und sagte: “Vergessen Sie darüber das Schreiben nicht.<br />

Mein Angebot steht - drei Wochen nach dem Doktor liefern Sie mir die ersten<br />

zweihundert Seiten. Brauchen Sie Vorschuß auf Ihre Spesen?” Sobald ich genickt<br />

hatte, zog er die Brieftasche und zählte mir einen ansehnlichen Betrag auf die<br />

Hand.<br />

Umgehend suchte ich die Vertretung des Norddeutschen Lloyd am Boulevard<br />

Haussmann auf, in der Nähe des Opernplatzes. Auf dem soeben erfolgreich von


seiner Jungfernfahrt zurückgekehrten Dampfer “Coburg” buchte ich eine Passage<br />

nach Buenos Aires. Das Schiff sollte Le Havre in drei Tagen verlassen. Ich sah<br />

dieser Reise mit großer Spannung entgegen, wollte ich doch nicht nur Doktor Cook<br />

aufspüren, sondern in Buenos Aires auch die Verhandlungen des 17.<br />

Internationalen Amerikanistenkongresses verfolgen. Dieser begann seine Arbeit in<br />

zwei Wochen. Ich meldete sofort telegraphisch meine Teilnahme an. Durch Zufall<br />

hatte ich bei einem kurzen Besuch in der Nationalbibliothek von der Tagung<br />

erfahren. Wie man in Paris solche Dinge eben erfährt.<br />

Die Stadt steht zu Recht in dem Rufe einer wissenschaftliche Metropole von<br />

höchstem Weltrang. Nicht umsonst hat vor hundert Jahren Alexander von<br />

Humboldt das große Werk über seine Südamerikareise hier verfaßt und nicht in<br />

Berlin oder anderswo. Auch meinem Buche vom Streit um den Nordpol hätte es<br />

ganz sicher gut zu Gesicht gestanden, wäre ich hier an der Seine geblieben und<br />

hätte geschrieben. Doch wenn die Pflicht ruft, dann ruft sie. Ich hatte Doktor<br />

Cook herbeizuschaffen, sonst bliebe mein Buch ungedruckt und die Katze hätte<br />

sich am eigenen Schwanz festgebissen. Denn für die Schublade schreibe ich nicht.<br />

Wie soll ich, ohne ein Lesepublikum zu erreichen, die Welt verändern.<br />

Dichter Nebel lag über der Seinebucht, als mein Zug in Le Havre eintraf. Ich wurde<br />

an Dundee in Schottland erinnert - seither hatte ich so dichten Nebel nicht mehr<br />

erlebt. Im Gedränge an der Bahnsteigsperre fühlte ich mich plötzlich am Arm<br />

gegriffen. Ich wandte mich zur Seite - und wer stand neben mir? Rudolf Lebius!<br />

“Ich habe Sie in Paris verpaßt und dachte schon, auch hier würde es nicht<br />

klappen”, sagte er. Es war ihm anzusehen, wie zufrieden er war, mich in der<br />

Menge gefunden zu haben.<br />

“Was wollen Sie?” entgegnete ich, wohl doch etwas unwirsch. Ich hatte meine<br />

Vorbehalte gegen ihn so weit unter Kontrolle, daß ich mich nicht scheute, mit ihm<br />

zu reden. Diese Vorbehalte waren allerdings nie so stark gewesen, daß sie sich, wie<br />

sich gezeigt hatte, nicht durch ein paar gemeinsam im Café Bauer zur Brust<br />

genommene Cognacs kurzzeitig hätten abbauen lassen. Doch will ich nicht<br />

behaupten, daß ich ihm seit seiner Abbitte vollständig über den Weg traute.<br />

“Lieber May”, sagte er und ließ meinen Arm los, “Doktor Cook ist nicht mehr in<br />

Argentinien.” Sein Blick war weniger stechend als ich es gewohnt gewesen, ja,<br />

Rudolf Lebius versuchte sogar ein Lächeln.<br />

“Nicht mehr in Argentinien? Ja, wo um alles in der Welt soll er denn dann sein?”<br />

“Er ist seit gestern auf dem Wege von Buenos Aires nach London. Dort spricht<br />

Peary in ein paar Tagen noch einmal - sein letzter Vortrag auf der Europatournee.<br />

Und den will Cook sich anhören, selbstverständlich incognito.”<br />

Ich war sprachlos. Sprachlos über die Mitteilung und sprachlos hinsichtlich des<br />

Überbringers. Ausgerechnet Lebius! Noch immer glaubte ich ihm sein Motiv nicht.<br />

Der Erzschurke, der sich in seiner Rolle langweilt und deshalb in Anbetracht der<br />

Kürze des Lebens beschließt, künftig nur Gutes zu tun --- das reimte sich mir


nicht zusammen. Allerdings waren meine eigenen Vermutungen zu dem Vorgange<br />

seiner überraschenden Wandlung äußerst vage. Darüber nachzudenken war jetzt<br />

nicht der geeignete Zeitpunkt. Was im Augenblick interessierte, waren handfeste<br />

Tatsachen.<br />

“Wo ist der Vortrag?”<br />

“Albert Hall. Vor der Royal Geographical Society.”<br />

“Und wann?”<br />

“Heute in einer Woche - das heißt, so er denn stattfindet. Denn seit dem Tode des<br />

Königs---”<br />

“Welches Königs?”<br />

“Ja sehen Sie denn nicht, daß selbst hier in Frankreich die Fahnen auf Halbmast<br />

wehen? Der englische König Edward ist tot.”<br />

“Ach!” Der Tod des Monarchen war mir völlig entgangen. Ich erschrak vor dem<br />

Ausmaß an Weltfremdheit, die offensichtlich mit meiner Konzentration auf ein<br />

einziges Ziel einherging. Doch sah ich drauf, daß er mir mein Erschrecken nicht<br />

anmerkte.<br />

“Seit dem Tode von König Edward wirbelt drüben in London sicher einiges an<br />

Terminplanungen durcheinander. Alles, was Rang und Namen hat, wird zum<br />

Leichenbegängnis erwartet. Europas gekrönte Häupter wohl so ziemlich<br />

vollzählig.”<br />

“Wann soll denn die Beisetzung sein?”<br />

“Selbst das steht noch nicht fest. Doch sicher schon in den allernächsten Tagen.”<br />

Lebius drängte sich neben mir voran, als hätten wir beide ein Ziel. In der Menge<br />

eingeklemmt, wurden wir auf den Bahnhofsvorplatz geschwemmt. Draußen<br />

umfing uns dichter Nebel. Die Menge verlief sich. Wir blieben stehen. Ich setzte<br />

meinen Handkoffer ab und reckte mich wohlig. “Sind Sie schon in London<br />

gewesen, Lebius?” fragte ich.<br />

“Oh ja. Es ist eine merkwürdige Stadt. Entweder weiß man nicht, wo einem der<br />

Kopf steht vor lauter Eindrücken, all dem Lärm und all der Weltläufigkeit - oder<br />

aber man langweilt sich zu Tode. Vor allem bei solchem Wetter---” Er bohrte den<br />

Zeigefinger in den Nebel. “Mir hat dann immer ein kleines Alehouse hinterm<br />

Trafalgar Square geholfen, schon drüben im Westend. Der Gerstensaft, den man<br />

dort zapft, ist ganz ausgezeichnet.” Den Namen der Gastwirtschaft, wiewohl er<br />

ihn sicher genannt hat, vergaß ich allerdings sogleich wieder.<br />

“Wissen Sie, Lebius, Sie sorgen sich in so rührender Weise um mein Wohlbefinden.<br />

Dabei muß auch ich Ihnen Abbitte leisten. Auch ich habe --- ” Ich wollte ihm von<br />

meinem Traum erzählen, in dem er mich einst als stinkenden Coyoten vom Stamme<br />

der Schweißfußindianer bezeichnet hatte. Und von der Strafe dafür, die ich ihm im<br />

Traum von einem Richter zudiktieren ließ. Ich sah auf, weil ich Lebius bei meinem<br />

Geständnis ins Gesicht blicken wollte. Da war er plötzlich verschwunden, als<br />

hätte ihn der Nebel geschluckt.


Meine Verdutztheit verging augenblicklich. Eines stand fest: ich mußte meine<br />

Pläne ändern, und zwar sofort. Lebius hatte mir etwas gesagt, was ich wissen<br />

mußte - das allein zählte. Was tat es da, ob er weiterhin an meiner Seite war oder<br />

nicht. Ohne zu zögern nahm ich mein Gepäck auf und fragte mich zum Fährhafen<br />

durch. So kommt es, daß mein Name zwar im Teilnehmerverzeichnis des<br />

Amerikanistenkongresses von Buenos Aires aufgeführt ist, ich jedoch dessen<br />

Veranstaltungen, von denen die eine oder andere mir sicher höchst interessant<br />

gewesen wäre, nicht besucht habe.<br />

Die erste Fähre zur englischen Küste ging nach Southampton. Langes Fackeln<br />

hätte gar nichts genützt. Ich schiffte mich ein und sah den Dingen entgegen, die<br />

meiner harrten.<br />

Wegen der angespannten Quartiersituation fand ich nicht im Londoner Zentrum,<br />

sondern weit draußen in Richmond, ein Stück themseaufwärts, mein<br />

Unterkommen. Pearys Vortrag in Albert Hall wurde, wie Lebius es prophezeit,<br />

verschoben, und zwar um vier Tage. Die Verkehrsanbindung der Vororte Londons<br />

an die Metropole ist allerdings eine ganz vorzügliche. So konnte ich, nachdem ich<br />

Richmonds schöne Lage genossen und mich insbesondere in dem herrlichen Park<br />

umgesehen, meine Tage kreuz und quer in der Innenstadt verwandern.<br />

London in Trauer. Einer Witwe nicht unähnlich, deren reife Schönheit durch das<br />

Anlegen des Flors noch unterstrichen wird, prangte die City in imperialem Glanze.<br />

Brücken, öffentliche Prachtbauten und Denkmäler waren mit Trauerrosetten,<br />

schwarzen Behängen und Draperien in den Landesfarben geschmückt. Des Königs<br />

Residenz in der Stadt, Buckingham Palace, präsentierte sich ganz von schwarzem<br />

Krepp umflossen, der zuweilen in leichten Wellen zum Schwingen kam wie das<br />

Gras der Prärie unterm Winde. Auf der Themse ruhte der Schiffsverkehr bis auf<br />

allernötigste Fahrten.<br />

Inzwischen trafen die Potentaten der Welt ein, die Presse floß von Klatsch und<br />

Hofgeflüster schier über. Als der Höhepunkt der Feierlichkeiten endlich vorbei<br />

war, sah man in den illustrierten Beilagen der Blätter beeindruckende Bilder vom<br />

Trauerzug nach dem Königsschloß Windsor. In einer der ersten Reihen hinter dem<br />

Sarg schritt als naher Verwandter des Dahingegangenen der deutsche Kaiser in<br />

Pickelhaube mit Helmbusch. Ein Mysterium vollzog sich unter den Augen der<br />

Welt. Der König war tot, doch lebte das riesige Reich. Bald würde der Sohn des<br />

Verstorbenen gekrönt, man würde dem neuen Könige huldigen, und das Leben ging<br />

weiter. The King is dead, long live the King---<br />

Am Morgen nach dem Staatsbegräbnis begegnete ich im Stadtteil Chelsea am<br />

Rande der City der Kalesche von Kaiser Wilhelm. Nach überstandenem Trauerakt<br />

trug er die einfache marineblaue Uniform eines Seeoffiziers - ob es nun eine<br />

deutsche war oder, wie er es unterwegs zuweilen gern tat, eine des Gastlandes,<br />

konnte ich beim schnellen Vorüberfahren nicht erkennen. Grüßend zog ich den


Hut, er grüßte lächelnd wieder. Der Kaiser muß mich wohl erkannt haben, denn er<br />

blickte noch einmal zurück, als das Gefährt schon an mir vorbeigerollt war. Wohin<br />

mochte er unterwegs sein?<br />

Bald war ich vom Herumumstreifen müde und auch ein wenig durstig geworden.<br />

So kehrte ich in einen der zahlreichen Pubs ein, die am Wege trockene Kehlen zum<br />

Verweilen laden. Ich bestellte ein Ale und genoß den labenden Trunk. Am<br />

Nebentisch speiste ein Herr, der sich freundlich lächelnd gegen mich verneigte,<br />

sobald ich mein Glas abgesetzt hatte. Er trug den kräftigen Lippenbart hoch<br />

aufgezwirbelt, wie Kaiser Wilhelm, dem ich erst eben begegnet war. Allerdings<br />

schien der Unbekannte jünger als der Kaiser zu sein. Dieser war schon in den<br />

Fünzigern, mein Tischnachbar noch nicht, doch stand er kurz davor. Ich leerte<br />

mein Glas und bestellte ein zweites, da bat er mich, sich kurz erhebend, zu sich an<br />

den Tisch.<br />

Er stellte sich als von Hohenberg vor. Seine Sprechweise war unverfälscht<br />

wienerisch. Er habe mich, sagte er, da er häufig auf Reisen sei, bisher nie an der<br />

Donau erlebt, aber viel Gutes über mich gehört. Im übrigen kenne er alle meine<br />

Bücher und teile mit mir die Liebe zur Jagd. “Sie müssen mich mal besuchen, Herr<br />

May. Ich habe in Böhmens Wäldern ein nettes Domizil, da können wir gemeinsam<br />

unserer Leidenschaft frönen.”<br />

“Und was führt Sie nach London, Herr von Hohenberg?”<br />

“Nun - sagen wir mal: ich bin beruflich hier. Und wozu das alles, frage ich mich!<br />

Ärger, nichts als Ärger, kann ich Ihnen sagen. Die Leute, mit denen man zu tun<br />

hat, sind impertinent und ohne alle Manieren. Dazu ist das englische Essen<br />

unausstehlich, egal mutton, immer nur mutton. Wenn’s mal keinen Hammel gibt,<br />

da gibts Fisch. Ich kann beides nicht leiden. Und dauernd diese lieblos<br />

zubereiteten, völlig zerkochten Salzkartoffeln! Sie verstehn, was ich meine? Dazu<br />

sind die Gespräche bei Tisch öde und fad. Na, zum Glück hat mir ein Bekannter<br />

das Gulasch in diesem Alehouse empfohlen. Übrigens - ein Landsmann von Ihnen,<br />

ein Sachse. Und siehe da - ausgerechnet hier treffe ich auch noch Sie! Sie müssen<br />

das Gulasch probieren, May, Gulasch mit Knödeln - hier regiert nämlich ein<br />

ungarischer Koch. Ganz ausgezeichnet, sage ich Ihnen. Und die sahnige Soße erst!”<br />

All das brachte er wie in einem Stück hervor und unterbrach sich jetzt nur, weil er<br />

vor Wonne die Augen verdrehte und dabei den Mund schloß.<br />

Ich ergriff die Gelegenheit zu einer Frage, denn wann würde sich eine solche wohl<br />

neuerlich bieten? “Sagen Sie, Herr von Hohenberg - in welchen Geschäften sind Sie<br />

denn hier, wenn es kein Geheimnis ist?”<br />

Er sah zunächst starr auf den Tisch und schwieg bedeutungsvoll. Sobald allerdings<br />

die Gläser frisch gefüllt vor uns standen, blickte er mich mit weit offenen Augen an<br />

und sagte: “Lieber May, wenn Sie’s für sich behalten - ich bin heute incognito<br />

unterwegs. Wissen S’ - von Hohenberg ist eigentlich der Name meiner Frau, ich<br />

benutze ihn nur auf Reisen. Nach all den Galaessen verlangte es mich nach etwas


Herzhaftem. Beim Leichenschmaus gestern im Buckinghampalast mit diesen<br />

blasierten Visagen aus allen Himmelsrichtungen saß ich auch noch neben dem<br />

serbischen Kronprinzen, diesem Abklatsch von einem Zigeuner. Na, mit dem<br />

räume ich eines Tages auf! Zum Glück fiel mir heut dieses Alehouse ein. Ach, hätt<br />

ich doch nur mein Sopherl mitbringen dürfen! Aber da herrschen bei uns in Wien<br />

strenge Sitten. Weil sie doch---”<br />

Mein Gott! Ich war wie vom Blitz getroffen. Da saß ich in einem Londoner Lokal<br />

und trank englisches Ale mit dem Thronfolger der Habsburgmonarchie, Erzherzog<br />

Franz Ferdinand. Demselben Franz Ferdinand, den sie bei Hofe in Wien schnitten,<br />

weil er völlig unstandesgemäß eine Frau geheiratet hatte, die er liebte. Zur<br />

Trauerfeier war er offenbar an der Themse, weil sein Onkel, Kaiser Franz Joseph,<br />

zu alt und dem Reisen nicht mehr gewachsen war. “Kaiserliche Hoh---”, stammelte<br />

ich.<br />

“Ach, wissen S’, May”, schnitt er mir das Wort ab. “Sagen Sie einfach Ferdel zu<br />

mir. Und kommen Sie vor allem bald mal nach Konopischt, das ist bei Beneschau,<br />

im Süden von Prag. Es wird Ihnen gefallen. Meine Trophäensammlung kann sich<br />

wirklich sehen lassen. An einem Tag, denken S’ nur, hab ich mal dreiundfünfzig<br />

Damhirsche erlegt, alles nur Schaufler. Aus den Tieren und Kälbern mach ich mir<br />

nichts. Was bleibt einem denn weiter übrig als die Jagd, wenn man schon fünfzehn<br />

Jahre lang Thronfolger ist. Na, warten S’ nur ab, May. Wenn ich erst dran komme,<br />

dann ändert sich einiges. So mancher wird sich da wundern. Die Leute halten mich<br />

alle für einen Magyarenhasser. A’ Schmarrn! Alles erstunken. Auch die werden<br />

sich wundern. Ich kann halt nur schlappe Pazifisten nicht leiden, auch in Ungarn<br />

nicht. Doch geht mir nichts über ein gutes Gulasch - Sie sehen’s ja. Aber nochmal<br />

zu meinen Trophäen. Bei einer Reise um die Welt hab ich sogar ein paar Tiger vor<br />

die Flinte bekommen, in Indien. Da unten wissen Sie besser Bescheid als ich. Doch<br />

was schwafle ich. Die Weltreise hat mir die Gesundheit ruiniert, seitdem bin ich<br />

schwach auf der Lunge und meine Feinde hoffen, daß mich die Krankheit eines<br />

Tages zur Strecke bringt. Ja, Reisen formen den Menschen - aber wem sag ich<br />

das!”<br />

“Ich hatte das Vergnügen, Ihren Reisebericht über die Weltumrundung zu lesen”,<br />

warf ich schnell ein. Sein Erguß nahm ja sonst kein Ende. Es war ihm anzusehen,<br />

wie sehr er es genoß, wenigstens auf ein paar Stunden die Zwänge des höfischen<br />

Zeremoniells hinter sich gelassen und dazu in mir einen willigen Zuhörer gefunden<br />

zu haben. “Höchst interessanter Bericht. Und - sehr flüssig erzählt, sehr flüssig.”<br />

“Sie kennen mein Buch? Was Sie nicht sagen!”<br />

“Ja. Beide Bände.”<br />

“Na, was Sie flüssig nennen, May - mein alter Hauslehrer hat da etwas<br />

nachgeholfen. Ich will schon die Kirche im Dorf lassen. Aber nun bestellen Sie<br />

endlich Ihr Gulasch, May. Ich nehme auch noch eins.” Er winkte den dienstbaren<br />

Geist herbei. “Und noch zweimal von dem ausgezeichneten Gerstensaft!”


Das Wort machte mich hellhörig. Und tatsächlich - das Alehaus, in welchem wir<br />

uns befanden, lag in der von Lebius beschriebenen Gegend. Das war mir vorher<br />

nicht aufgefallen. Mir schwante Unglaubliches. “Ohne indiskret sein zu wollen -<br />

wer war denn der sächsische Bekannte, der Ihnen diese Gaststätte empfohlen<br />

hat?” fragte ich mit aller gebotenen Zurückhaltung.<br />

“Ach, so ein Zeitungsmann. Lebius. Ein ganz windiger Bursche übrigens.”<br />

Zunächst schien es mir die Sprache verschlagen zu wollen.<br />

“Ach nee---! Rudolf Lebius?” fragte ich nach zwei tiefen Atemzügen. Ich wollte<br />

ganz sichergehen.<br />

“Genau der und kein anderer. Ich sehe, Sie kennen ihn.”<br />

“Das kann man wohl sagen. Ein windiger Bursche, in der Tat!” sprudelte es nun<br />

aus mir heraus. “Mir hat er diese Gaststätte nämlich auch empfohlen - allerdings<br />

wegen des Bieres. Und in der Tat - es ist lobenswert! Sie sind aus Böhmen ja<br />

sicher noch besseres gewöhnt, Ferdel. Ich habe gutes Bier überall auf der Welt<br />

getrunken, selbst in Texas, wo man es am allerwenigsten erwarten sollte.”<br />

“Was ich schon immer mal wissen wollte - wie oft waren Sie eigentlich in<br />

Amerika?”<br />

“Bis zum Tod meines Freundes Winnetou vierzehnmal. Danach habe ich das<br />

Zählen aufgegeben.”<br />

“Ja, das Reisen erzeugt in der Tat eine Seelenverwandtschaft, May, finden Sie<br />

nicht auch? Das hatte selbst der verstorbene King mit uns beiden gemeinsam - er<br />

ist viel in der Welt rumgereist.”<br />

Das war aber auch das Einzige, was ich zur Not zwischen ihm und mir als<br />

Sellenverwandtschaft gelten ließ. Abwesend nickte ich. Von der Geweihsammlung<br />

in seinem Jagdschloß Konopischt hatte ich schon gehört, sie zu besichtigen fehlte<br />

mir offengestanden die Lust. Das von ihm praktizierte massenweise Abschlachten<br />

von Wild war nicht das, was ich unter Jagd verstand.Trotzdem - es war gut, sich<br />

einer solchen Bekanntschaft für die Zukunft zu versichern. Auch, wenn er<br />

Friedensfreunde wie mich offenbar nicht ausstehen konnte. Wußte man denn, was<br />

einmal auf uns alle zukommen würde? Es konnten immerhin Umstände eintreten,<br />

unter denen der Edelmensch bei der Wahl von Verbündeten nicht wählerisch sein<br />

durfte. Mächtigen, einflußreichen Verbündeten, die im Ernstfalle etwas fürs<br />

Weltganze zu bewirken vermochten. Sonst konnte es allzuschnell zur Rettung der<br />

Menschheit zu spät sein.<br />

Die dunkle Holzverkleidung der Wände, der spärliche Schein einiger weniger<br />

Lampen, das durch bunte, bleigefaßte Fensterscheiben hereintröpfelnde Tageslicht,<br />

alles trug dazu bei, die Gaststube in ein auf bedrückende Weise gedämpftes Licht<br />

zu tauchen. Unsere Gulaschportionen kamen. Ich drängte die finsteren Gedanken<br />

beiseite und langte sogleich zu. Die Soße war in der Tat köstlich, mit reichlich<br />

saurer Sahne abgeschmeckt.<br />

“Mal eine andere Frage”, nahm der Erzherzog kauend die Unterhaltung wieder auf.


“Wohin gedenken Sie in nächster Zeit zu reisen? Und - wann wird man sie wieder<br />

einmal in Wien begrüßen können? Bei Hofe ist man ja ganz versessen auf Sie als<br />

Plauderer, May.”<br />

“Ich rechne es mir zur Ehre an, in Wien in allen Gesellschaftsschichten eine sehr<br />

zahlreiche Anhängerschaft zu haben. Ich sage bewußt nicht nur: Leser. Eine<br />

herrliche Stadt! Dort versteht man meine Gedanken besser und tiefer als an manch<br />

anderem Ort.” Er nickte bedächtig, und, wie anzunehmen war, das Gesagte<br />

bestätigend. Doch sobald ich den Namen der Baronin Bertha von Suttner<br />

erwähnte, mit der mich so vieles verband, wurde sein Gesicht plötzlich starr und<br />

fast ausdruckslos. Ich sah, wie er schluckte, und plötzlich sagte er: “Ach, sieh mal<br />

einer an! Sie kennen die Friedens-Bertha?”<br />

“Seit Jahren”, entgegnete ich. Ihm hier und jetzt in allen Einzelheiten<br />

auseinanderzusetzen, was Frau von Suttners Arbeit gegen einen drohenden Krieg<br />

für die Welt und speziell für mein eigenes Engagement bei diesem Bemühen<br />

bedeutete, daß ich ihren Ruf Die Waffen nieder! nach wie vor für hochaktuell hielt,<br />

daß ich ihr viele Gedanken zum Wesen des künftigen Edelmenschen verdankte und<br />

daß mich inzwischen viel weiterreichende Gedanken beschäftigten, daß ich nämlich<br />

die klassische Form der Kriegsverhinderung durch den Kampf um die Formung des<br />

Edelmenschen zu ersetzen gedachte, um auf diese Weise Kriege von vornherein<br />

unnötig und unmöglich zu machen - ihm all das auseinanderzusetzen, sah ich keine<br />

Veranlassung.<br />

“Das muß meiner Militärkanzlei wohl entgangen sein. Dabei leisten die Herren<br />

dort sonst sehr gute Arbeit. Gut und zuverlässig.”<br />

Ich hatte erwartet, auch noch flächendeckend zu hören, doch das Wort fiel nicht.<br />

Stattdessen sagte er, sich vertrauensvoll zu mir neigend: “Nur bei einer<br />

mysteriösen Besucherin, die seit Wochen im Hause der eben erwähnten Baronin<br />

weilt, tappen sie völlig im Dunkeln.”<br />

“So? Gibt es denn gar keine Anhaltspunkte?”<br />

“Die Geheimnisvolle soll seinerzeit angeblich mit dem Nachtzug von Prag<br />

angekommen sein. Vermutlich aus Dresden.”<br />

Es überlief mich kalt. Um meine Überraschung, ja tiefe Bestürzung wenigstens<br />

einigermaßen zu kaschieren, versuchte ich es mit einem Witz: “Das hört sich aber<br />

sehr nach einer Verschwörung sächsischer Freimaurer gegen das Haus Habsburg<br />

an, Ferdel. Zuerst die rätselhafte Unbekannte, dann Lebius und nun zu allem Übel<br />

auch noch meine Wenigkeit---”<br />

Er lachte lauthals, fast hätte er sich an einem Stück Semmelknödel verschluckt.<br />

Nein, humorlos war der Erzherzog nicht. Sagen wir mal, ich bin beruflich hier---<br />

Mir selbst war allerdings überhaupt nicht nach Lachen zumute. Die fragliche<br />

Besucherin mußte Klara sein. Jeder Zweifel schien ausgeschlossen. Sie war mir<br />

schon einmal zur Baronin von Suttner davongelaufen, allerdings lag das Jahre<br />

zurück, und wir hatten es - so dachte ich jedenfalls - beide vergessen. Weit gefehlt!


Das kam davon, daß ich so nachsichtig und gutmütig zu ihr gewesen. Meine<br />

Bekannten waren stets auch ihre Bekannten, meine Freunde die ihren. Nun hatte<br />

ich die Bescherung - nur steckte da mehr dahinter als Freundschaft. Was, wagte ich<br />

nicht einmal mir selbst einzugestehen.<br />

“Aber da muß sich doch etwas machen lassen!” warf ich wie nebenher ins<br />

Gespräch. “Eine Vorladung wegen Verletzung der polizeilichen Meldepflicht.<br />

Oder gar - eine Hausdurchsuchung.”<br />

“Wo denken Sie hin, May! Unser Land ist ein Rechtsstaat. Wien ist nicht der<br />

Wilde Westen.”<br />

Klara bei Bertha von Suttner ---! Das mußte ich erst einmal verdauen. Ich prostete<br />

ihm mit der Neige in meinem Glase zu, und er tat mir Bescheid. Darauf bat ich,<br />

mich jetzt empfehlen zu dürfen und stand auf.<br />

“Aber warum denn so plötzlich? Es wird doch erst jetzt so richtig gemütlich”,<br />

versuchte er zu protestieren und forderte laut in den Raum hinein “Noch zwei<br />

Bier!”. Ich blieb jedoch hartnäckig, schützte dringende Verpflichtungen vor und<br />

wandte mich zum Gehen. “Also vergessen Sie nicht, bald wieder nach Wien zu<br />

kommen!”, sagte er zum Abschied. Und dann rief er noch zeigefingerschwingend<br />

hinter mir her: “Wehe, Sie schauen dann nicht auch bei mir vorbei, im Belvedere.<br />

Falls ich nicht da bin, hinterlassen Sie gefälligst eine Nachricht beim Chef meiner<br />

Militärkanzlei.”<br />

Klara in Wien ---! Die Baronin war eine stattliche Erscheinung, zugegeben. Ich<br />

hatte in ihr allerdings nie die Frau gesehen. Sollten diese Dinge für Klara tatsächlich<br />

anders liegen? Wenn mein neuer Freund Ferdel sich nicht traute, die Friedens-<br />

Bertha per Gesetz heimzusuchen, mußte ich es halt selbst tun. Ohne erst das<br />

Gesetz fragen zu müssen. Kraft eigener Notwendigkeit. Und zwar möglichst bald.<br />

Allerdings galt es zunächst, meine Mission in London erfolgreich zum Abschluß<br />

zu bringen. Aber dann würde ich in Wien auftauchen - schneller, als es sich der<br />

Erzherzog träumen ließe.<br />

Der Publikumsandrang bei Pearys Vortrag war ein ganz außerordentlicher. Ich<br />

hatte mir für den Abend einen Frack sowie ein Theaterglas geliehen und sah<br />

sogleich, wie gut beraten ich damit gewesen. Große Garderobe war vorherrschend;<br />

den Operngucker würde ich später brauchen. Ehe es losging, lief mir im<br />

Wandelgange von Albert Hall der frühere amerikanische Präsident Teddy<br />

Roosevelt über den Weg. Er schlug sich, sobald er meiner ansichtig wurde, vor<br />

Freude auf die Schenkel und rief: “Mensch, May, welcher Wind hat Sie denn<br />

hierher geweht?” Sobald ich neben ihm stand, streckte er mir die Rechte entgegen<br />

und sagte mit seiner kräftigen Baßstimme: “Diesem Mann verdanke ich meinen<br />

Friedensnobelpreis!”<br />

Sofort lief eine beträchtliche Zuhörerschar zusammen. Ich versuchte in aller<br />

Bescheidenheit, sein Lob als zu viel der Ehre zurückzuweisen, doch blieb er


hartnäckig: “No no, May, ohne Sie hätte es keinen Frieden zwischen Rußland und<br />

Japan gegeben. Jedenfalls nicht auf dem Verhandlungswege. That’s a fact!”<br />

Ich beließ es dabei. Er kam, wie sich herausstellte, gerade von einer Safari am<br />

Kilimandscharo. Der jetztige Präsident Taft hatte ihn gebeten, zur Beisetzung des<br />

englischen Königs die Vereinigten Staaten zu vertreten. “Man trifft ja ne Menge<br />

neuer Gesichter bei solchen Anlässen. Ihr Kaiser hat mir übrigens schon erzählt,<br />

daß Sie hier sind. Der May ist gekommen, hat er gesagt - endlich mal ein<br />

Kaiserwort, das keine Mißdeutung zuläßt. Und stellen Sie sich vor - er hat mich<br />

gleich zu einem Besuch eingeladen.”<br />

“Nach Potsdam?”<br />

“Yeah. Und noch so ein Nest. Doberitz Hyde Park, kann das sein?”<br />

Ich nickte. “Döberitzer Heide vermutlich. Westlich Berlins.”<br />

“That’s it! Da soll ich mit ihm ins Manöver reiten. Na, bestimmt will er mir nur<br />

zeigen, daß er einigermaßen im Sattel sitzt, hahaha! Gibts in Djoberitz<br />

Auerochsen? Oder den Lindwurm? ”<br />

Beide lachten wir herzlich und ausgelassen, und die Umstehenden stimmten mit<br />

ein. “Wie waren denn Ihre afrikanischen Jagderfolge, Mister President?”<br />

erkundigte ich mich angelegentlich.<br />

“Ganz ordentlich, May. Kann sich sehen lassen. In den Staaten hat die<br />

Republikanische Partei schon protestiert, ich hätte zu viele Elefanten geschossen,<br />

hahaha!” In sein Lachen hinein erklang das Klingelzeichen. Er verabschiedete sich,<br />

wandte sich aber, ehe er an seinen Platz aufbrach, noch einmal zu mir um und<br />

sagte: “May, eins wollte ich Sie schon immer mal fragen - warum haben Sie in<br />

Ihren Büchern eigentlich nie über Bigfoot geschrieben? Sie wissen schon -<br />

Sasquatsch. Das behaarte Monstrum mit sooo großen Pranken.” Er hielt seine<br />

Hände, etwa einen halben Meter voneinander entfernt, in die Höhe.<br />

Ich war stehengeblieben, sah ihn fest an und sagte augenzwinkernd: “So, hab ich<br />

das nicht?”<br />

“Die Roten müssen Ihnen doch jede Menge Storys von dem Burschen erzählt<br />

haben. Und Sie erwähnen ihn nirgends, mit keinem Wort.”<br />

“Weil ich Bigfoot schlicht und einfach für einen Kinderschreck halte. Wie man bei<br />

Ihnen sagt: einen bogyman. Von indianischen Großmüttern erfunden, die im Tipi<br />

Ruhe haben wollen. Mit anderen Worten: ein Hirngespinst. Und Hirngespinste<br />

interessieren mich nun einmal nicht, Mister President.”<br />

“Aber ich habe doch selbst, als ganz junger Jäger, im Dakotaland damals - na,<br />

erzähle ich Ihnen ein andermal, May. Jetzt ist Peary dran.” Damit wandte er sich<br />

winkend ab und verschwand in der Menge.<br />

Von meinem Platz im obersten Rang aus hatte ich einen ausgezeichneten Blick in<br />

das weite Rund der Festhalle. Das eitle Geschwätz der Anwesenden, welches als<br />

leises Gesumm um mich war, die buchstäblich mit Händen zu greifende Ungeduld


der Menge - all das interessierte mich nicht. Ich konnte in Ruhe die Gesichter<br />

studieren, bis weit hinunter ins Parkett. Mein Opernglas leistete dabei ganz<br />

ausgezeichnete Dienste, und die hervorragende Ausleuchtung des in Rot und Gold<br />

schimmernden Zuschauerraums kam mir äußerst zupaß. Ich sah gebräunte<br />

Gesichter von alten wie von jungen Kolonialoffizieren, blickte in die<br />

wettergefurchten Züge von Seemännern, die wohl selbst einmal davon geträumt<br />

haben mochten, jenen Punkt zu erreichen, nach dem es Kapitän Hatteras so<br />

unerbittlich getrieben, sah in die faden, zumeist schlaffen oder aber künstlich<br />

aufgedonnerten Allerweltsvisagen von Leuten der sogenannten besseren<br />

Gesellschaft, mit Tränensäcken unter den Augen und blaulila Trinkernasen vom<br />

vielen Scotch Whisky. Ich ließ auch die Damen nicht aus, denn immerhin hätte es<br />

ja sein können, daß ich Doktor Cook übersah, seine bezaubernde Gattin hingegen<br />

erkannte. Jedoch alles erfolglos.<br />

Schon war ich dabei, mir eine neue Taktik auszudenken, wollte noch einmal, mit<br />

mehr Systematik als bisher, Reihe für Reihe und Sitz für Sitz durchgehen, da<br />

verblaßte das Licht im Saal. Das Gesumm um mich verstummte, aber nur, um<br />

sogleich einem allgemeinen Jubelrufe zu weichen. Auf der Bühne flammte ein<br />

Lichtkreis auf, in ihm erschien Peary: der Mann mit dem unbeugsamen Willen, wie<br />

eine Stimme ihn ankündigte, der Mann - mein Opernglas bewies es, über jeden<br />

Zweifel erhaben - mit dem Kohleklumpen im Hals, dort, wo jeder normale<br />

Sterbliche den Kehlkopf zu sitzen hat. Peary, der Eroberer des Nordpols.<br />

Er bekam zunächst eine Goldmedaille der Royal Geographic Society verliehen und<br />

ergriff anschließend tief bewegt selbst das Wort. Er sprach von der Peary-<br />

Methode des Transports der Versorgungsgüter - ich wußte, was das hieß - und von<br />

den Peary-Eskimos, die als Teil der von ihm erdachten, konstruierten und höchst<br />

sorgsam gepflegten Peary-Maschine mit Peary-Schlitten das schier Unglaubliche<br />

vollbracht: ihn, besagten Peary, an den nördlichsten Punkt der Erde zu befördern.<br />

Er war so offen wie selten sonst. “Ich bin von kleinmütigen Zeitgenossen oft<br />

gefragt worden: Wozu nützen der Welt die Eskimos? Sie sind zu weit entfernt, um<br />

für den Handel von Wert zu sein; außerdem haben sie keinerlei eigenen Ehrgeiz. Sie<br />

haben keine Literatur und genaugenommen auch keine Kunst oder Religion. Sie<br />

bewerten das Leben nur, wie es der Fuchs tut oder der Bär, rein aus Instinkt. Doch<br />

war ich trotzdem stets zuversichtlich und habe diesen Fragern immer geantwortet:<br />

‘Mit Hilfe der Eskimos wird die Welt den Pol entdecken.’ Nun habe ich es<br />

geschafft. Mit Hilfe der Peary-Maschine, deren wichtigste Rädchen Schlittenhunde<br />

und Eskimos sind.” Ungeniert jubilierte er weiter: “Endlich der Pol! Der Preis von<br />

drei Jahrhunderten. Mein Traum und Ziel seit mehr als zwanzig Jahren! Endlich<br />

mein --- . Ich konnte es nicht gleich begreifen. Es schien alles so einfach und<br />

selbstverständlich.” Ich verschloß meine Ohren vor dem, was an Ungeheuerlichem<br />

da in den Saal plätscherte. Sonst wäre ich am Ende doch noch versucht gewesen,<br />

aufzuspringen und dem Publikum zuzurufen: Lüge, alles Lüge! Ich war dabei, als


er Henson die Fahne aus dem Schlittengepäck hervorkramen ließ, weil das<br />

Hundefutter zur Neige ging und Umkehr geboten war. Ich wußte, daß der Pol<br />

damals noch etwa hundert Meilen entfernt lag, wußte es von meinen<br />

unbestechlichen Breitenmessungen mit dem Spiegelsextanten. Und als alles schlief,<br />

habe ich mich allein aufgemacht und diese letzten Meilen heruntergeschrubbt, ein<br />

Kinderspiel für Old Shatterhand. Ich, ich allein bin der Sieger vom Nordpol--- !<br />

Doch bezwang ich mich. Gedachte stattdessen der vielen Entdecker, die wie er ihre<br />

Schimären für die Wahrheit gehalten und schließlich in diesem Glauben gestorben<br />

waren: Christoph Kolumbus, der nicht davon hatte lassen wollen, Indien erreicht<br />

zu haben, führte den Reigen an. Er wenigstens hatte nicht wie Peary gelogen,<br />

sondern im guten Glauben gehandelt. Dann gab es die anderen, die aus dem<br />

Verfehlen des ursprünglichen Zieles kein Hehl machten. Leutnant Shackleton am<br />

Südpol; der schwedische Asienreisende Hedin, der zwar unlängst einen neuen<br />

Gebirgszug entdeckt hatte - den Transhimalaja -, dem die heilige Stadt Lhasa aber<br />

unerreichbar geblieben---<br />

Und dann gab es die Gruppe derer, denen zwar Unglaubliches gelungen war, die<br />

den Erfolg aber für sich behielten und die sich lieber die Welt die Köpfe über die<br />

Scheinerfolge der Großmäuler heißreden ließ. Ich dachte lange darüber nach, wer<br />

wohl noch zu dieser Gruppe gehörte, doch fiel mir kein zweiter ein.<br />

Tosender Beifall schreckte mich hoch. Beifall, der in eine Ovation überging.<br />

Der Saal war erneut in helles Licht getaucht, und ich nahm meine Beobachtung der<br />

Gesichter wieder auf. Doch von Doktor Cook fand sich keine Spur. Langsam<br />

ergriff mich nagender Zweifel, bald schon Kleinmut und schließlich Zorn : was,<br />

wenn der Gesuchte überhaupt nicht anwesend war, wenn Lebius sich geirrt oder --<br />

- oder wenn er mich absichtlich in die Irre geführt hatte? War er etwa noch immer<br />

der üble Falschspieler, den überwunden zu haben er so pathetisch behauptete?<br />

Aber wozu um alles in der Welt hatte er mich dann überhaupt nach London<br />

gelockt?<br />

Die neben mir saßen, erhoben sich. Mir blieb nichts übrig, als mich mit ihnen in der<br />

Menge zur Treppe und im Gewühl dieselbe hinunter zum Ausgang schieben zu<br />

lassen. Die frische Abendluft tat mir gut. Auf der breiten Treppe vor dem<br />

Gebäude verhielt ich, mich gegen den Strom behauptend, für ein paar Atemzüge.<br />

Noch immer sah ich mich um, noch immer ohne Erfolg.<br />

Nach Abschluß der Trauerfeierlichkeiten für König Edward war London erneut<br />

zum alten Glanze erwacht. Straßen und Plätze lagen lichtüberflutet, aus einem hell<br />

in den Abend scheinenden Restaurant drang ein Wiener Walzer. Am Himmel stand<br />

immer noch, wenn auch bedeutend kleiner als zur Zeit seiner größten Erdnähe, der<br />

Komet - längst keine Drohung mehr, höchstens Erinnerung an die Möglichkeit<br />

einer Bedrohung allen Erdenlebens. Doch das war für die meisten kein Grund zur<br />

Unruhe.


Auf dem Wege zur Vorortbahn blieb das Geglitzer der City allmählich hinter mir.<br />

Von der Themse leuchteten über und über mit Lichtgirlanden geschmückte<br />

Vergnügungsdampfer herüber. In einer dunklen Seitenstraße, die ich der Abkürzung<br />

halber gewählt, fühlte ich plötzlich, daß ich verfolgt wurde. Ich blickte ratsuchend<br />

in alle Richtungen. Sämtliche Türen und Hofeingänge waren verschlossen; die<br />

Möglichkeit, mich zu verbergen und den Verfolger vorbeizulassen, schied damit<br />

aus. Also beschleunigte ich meine Schritte, lief schließlich in scharfem Tempo und<br />

erreichte die Station gerade in dem Augenblick, da der Zug in Richtung Richmond<br />

einfuhr. Hastig stieg ich ein, das Coupé war leer. Erschöpft sank ich in eine<br />

Abteilecke.<br />

Ob auch mein Verfolger rechtzeitig zur Stelle gewesen, hatte ich nicht ausmachen<br />

können. Da diese Möglichkeit aber immerhin bestand, mußte ich ihn bei nächster<br />

Gelegenheit loszuwerden versuchen, auch wenn sich dies später als unnötig<br />

herausstellen sollte. Lieber einmal zuviel einen Gegner abgeschüttelt, der einem gar<br />

nicht auf den Fersen ist, als einen tatsächlichen Verfolger einmal zu wenig.<br />

Sobald der Zug die Fahrt verlangsamte, blickte ich aus dem Fenster. Sah den<br />

Signalmast, der die Einfahrt freigab, dahinter im Halbdämmer den Perron, leicht<br />

gekrümmt in einer Gleiskurve liegend. Die Plattform war leer bis auf den<br />

erwartungsvoll dem Zuge entgegenblickenden Stationsvortsteher.<br />

Ich trat an die Tür des Abteils und wartete, den Griff in der Hand. Der Zug hielt.<br />

Niemand stieg aus. Auf das Abfahrtssignal hin setzte sich die Wagenschlange<br />

erneut in Bewegung. Sobald wir etwas an Fahrt gewonnen hatten, öffnete ich die<br />

Tür und sprang ab. Ich hörte den Stationsvortsteher wütend einen Warnruf<br />

ausstoßen. Dieser konnte unmöglich mir gelten, war ich doch infolge der<br />

Krümmung des Bahnsteigs seinem Blicke bereits entzogen. Ich suchte die Wucht<br />

meines Aufsprunges abzubremsen, doch ehe ich noch zum Stillstand gekommen,<br />

wurde ich mit voller Wucht von einer urplötzlich hinter mir aus dem Zwielicht<br />

auftauchenden Person überrannt. Die Gewalt des Zusammenpralls riß uns beide zu<br />

Boden.<br />

Bei der heftigen Kollision war dem Manne die Maske, welche er über dem Kopf<br />

getragen, seitlich verrutscht - eine Art Kautschukstrumpf mit einem spärlichen<br />

Restkranz grauer Stoppeln als Haartracht, bartlos, mit roter Knollennase. Der<br />

Gestürzte griff sich ans Kinn und zog die Maske ganz ab. Und siehe da - es war<br />

Doktor Cook.<br />

“Ich muß unbedingt mit Ihnen sprechen, May. Warum sind Sie denn vor mir<br />

davongelaufen?” fragte er, mit einer gehörigen Portion Vorwurf in der Stimme,<br />

während wir beide aufstanden und unsere Kleider ordneten.<br />

“Hätte ich gewußt, wer mich verfolgt, dazu auch noch - wie sich jetzt herausstellt<br />

- maskiert, wäre ich gleich stehengeblieben. Aber so--- . Es hätte ja schließlich auch<br />

jemand sein können, der mir übel will.” Der Verfolger hätte immerhin auch Lebius<br />

sein können, dachte ich; über dessen Rolle war ich mir jetzt noch stärker im


Unklaren als vorhin, beim Scheitern meiner Suche nach Cook in der Royal Albert<br />

Hall. Doch da ich nicht wußte, ob der Doktor jemals Lebius persönlich begegnet<br />

war, ja, ob er überhaupt von dessen Existenz wußte, belästigte ich ihn nicht damit.<br />

“Was haben Sie denn auf dem Herzen?” fragte ich stattdessen.<br />

Der aufgeregte Bahnbeamte, offenbar froh, daß beim regelwidrigen Verlassen des<br />

bereits fahrenden Zuges niemand zu Schaden gekommen, beließ es dabei und zog<br />

sich in sein Vorsteherhäuschen zurück. Ich wies auf eine Bank. Cook rollte die<br />

Maske zusammen, steckte sie in die Manteltasche und setzte sich neben mich.<br />

“Ach, meine wechselnden Verkleidungen sind mir langsam zur zweiten Natur<br />

geworden. Und doch bin ich es leid, so durch die Welt zu hetzen.” Sein<br />

Gesichtsausdruck unterstrich jedes dieser Worte auf das heftigste.<br />

“Ich hatte vermutet, Sie seien gemeinsam mit Ihrer Gattin unterwegs.”<br />

“War ich auch. Doch wollte Marie schon seit langem aufgeben. Ich habe sie immer<br />

wieder überreden können, bei mir zu bleiben. In Argentinien hatte sie dann genug.<br />

Sie hielt es nicht länger ohne die Kinder aus und fuhr zurück in die Staaten.”<br />

“So waren Sie also tatsächlich in Buenos Aires?”<br />

“Aber ja!”<br />

“Ich hatte Sie in Neapel vermutet. Wegen des Akkreditivs von Carnegie Trust.”<br />

“Sehen Sie, dahin muß ich ja auch noch! Sonst verfällt all das viele Geld.”<br />

”Und - was hat Sie dann nach London getrieben? Doch nicht etwa der Wunsch,<br />

Pearys Triumph zu erleben!”<br />

“Allerdings nicht. Bei seinem Vortrag war ich nur, weil ich wußte, Sie würden auch<br />

dort sein, May.”<br />

“Da machen Sie mich aber neugierig. Woher wußten Sie das denn?”<br />

“Als ich Marie in Buenos Aires zum Schiff brachte, hat mir im Gedränge des<br />

Hafenviertels ein Unbekannter im Vorbeigehen einen Zettel zugesteckt, auf dem<br />

stand: Karl May wird zu Pearys Londoner Vortrag erscheinen.”<br />

“Nur das?”<br />

“Ja, nur das. Kein Wort mehr. Als ich es meiner Frau vorlas, sagte sie sofort: ‘Das<br />

ist vielleicht eine Botschaft von Herrn May selbst. Und wenn auch nicht - fahre<br />

hin und frage ihn, ob er dich für einige Zeit aufnehmen und verstecken kann. Wir<br />

haben ihn doch damals in Brooklyn gesundgepflegt. Möglicherweise erinnert er<br />

sich daran.’ Es fällt mir nicht leicht, lieber May, diese Frage an Sie weiterzugeben.<br />

Allein deswegen bin ich hier.”<br />

Ich saß wie gelähmt. Das wurde ja immer bizarrer! Wer zog hier im Hintergrunde<br />

die Fäden? Und - was waren die Motive der Fädenzieher? Um Zeit zu gewinnen,<br />

fragte ich: “Können Sie mir wenigstens annähernd das Äußere des Unbekannten<br />

beschreiben?”<br />

“Nein. Alles ging viel zu schnell, und ich war durch den bevorstehenden Abschied<br />

von meiner Frau viel zu aufgeregt. Ich kann mich an nichts erinnern. Das einzige,<br />

was ich weiß, ist, daß Pearys Häscher mir überall auflauern.”


“So leid es mir tut, Doktor. Nicht nur die Peary-Leute sind hinter Ihnen her. Auch<br />

Ihr alter Reisegefährte Franke läßt nach Ihnen suchen. Er hat Peary in Berlin<br />

wegen Schadenersatz vor Gericht gebracht.”<br />

“Schadenersatz? Weswegen denn Schadenersatz?” Es zeigte sich, daß er nichts von<br />

der Sache gehört hatte. Ich erläuterte kurz die Umstände, verschwieg aber meine<br />

eigene Involviertheit. Bennetts Auftrag an mich erwähnte ich ebensowenig. Auch<br />

so war die Wirkung der unerwarteten Nachrichten auf Cook höchst verheerend.<br />

“Um Himmels willen! Franke soll doch dem Peary die Pelze lassen! Wenn ich<br />

morgen von einem Richter vernommen werde, ganz egal wo, steht es übermorgen<br />

in allen Zeitungen und ich habe wieder Pearys Spürhunde auf meiner Fährte!”<br />

“Von mir erfährt niemand etwas, Doktor Cook”, versprach ich. Es war allerdings<br />

sofort offensichtlich, daß ihm diese Zusicherung nicht genügte. Er hob<br />

beschwörend die Hände und sagte: “Können Sie mich denn in Gottes Namen nicht<br />

für ein paar Wochen in Ihrem Hause bei Dresden aufnehmen und vor der Welt<br />

verbergen, May? Ich bin völlig am Ende!”<br />

“Lieber Doktor, das ist zu meinem Bedauern unmöglich.” Kurz schilderte ich, wie<br />

ich das Haus bei meiner Rückkehr leer vorgefunden und mich, der verwickelten<br />

Umstände meiner augenblicklichen Beziehung zu Klara eingedenk, sofort auf die<br />

Suche nach ihr begeben hatte. Die Umwege, die ich dabei gemacht, hätten mich<br />

schließlich und endlich auf die richtige Spur gebracht und ich sei auf dem Wege<br />

nach Wien zu ihr. “Ich muß Ihnen das so hart sagen, wie es ist, lieber Cook. Ich<br />

bin momentan selbst ohne Heimat, irre ruhelos durch die Welt, und wenn ich auch<br />

nicht auf der Flucht bin wie Sie, so bin ich doch zu ständigem Suchen verurteilt,<br />

bis ich Klara gefunden habe.” Daß ich mich noch vor einer Stunde auf der Suche<br />

nach ihm befunden, ließ ich unerwähnt.<br />

“So lassen Sie mich doch bitte wenigstens mit Ihnen gemeinsam reisen. Ihre<br />

Gegenwart hat mir immer Glück gebracht, May. Vielleicht kann ich Ihnen - wenn<br />

auch nur im Hintergrund - bei der Suche nach Ihrer Gattin behilflich sein.”<br />

Das wurde ja immer schöner! “Die Sache ist schon ohne Sie kompliziert genug”,<br />

setzte ich an. Doch er unterbrach mich, sich aufs Betteln verlegend: “Ich bin doch<br />

aber nur an Ihrer Seite noch meines Lebens sicher. Ich bitte Sie inständigst!”<br />

Da sagte ich kurz und knapp: “Trotzdem - nein!”<br />

Ihm war anzusehen, daß er das Gesagte als schweren Schicksalsschlag empfand.<br />

Um ihm Mut zu machen, bei anderen Hilfe zu suchen, bei Menschen in einer<br />

weniger prekären Situation als ich, fragte ich ihn: “Und warum sind Sie denn - das<br />

heißt Ihre Frau und Sie - ausgerechnet auf mich gekommen? Es muß doch noch<br />

andere geben, die Ihnen zu helfen bereit und, ja, augenblicklich auch in der Lage<br />

sind.”<br />

Er sah mich groß an und sagte, nachdem er tief Luft geholt: “Nein, May. Diese<br />

anderen gibt es nicht. Tja, und warum ausgerechnet Sie? Wir hielten sie eben für<br />

einen edlen Menschen.” Das allerdings traf mich hart. Sollte ich sagen: das bin ich


auch, sehen Sie nur, was ich für Sie auf mich nehme. Ich werde niemandem sagen,<br />

daß ich Sie hier gesehen, nicht nur Franke nicht. Ich werde morgen an JGB kabeln,<br />

daß ich ihm seinen Auftrag zurückgebe. Selbst die verausgabten Spesen werde ich<br />

ihm zurückerstatten. Ich setze damit sogar die Veröffentlichung meines nächsten<br />

Buches aufs Spiel. Ich habe Ihnen von Kopenhagen bis in dieses unsägliche<br />

Hamilton treu zur Seite gestanden. Ja, auch danach noch, in Neuyork. Wer hat<br />

denn den Weg in Ihre Hotelsuite gewagt, um den Bart und das Geld zu holen? Sie<br />

doch nicht etwa. Aber nun sind neue Umstände eingetreten, verstehen Sie doch<br />

auch einmal mich, so wie ich lange genug versucht habe, Sie zu verstehen. Ich kann<br />

halt auch nicht aus meiner Haut und bin mir trotz allem nun einmal selbst der<br />

Nächste. So versuchen Sie doch endlich einmal, mich zu verstehen. Versetzen Sie<br />

sich doch in meine Lage, Herr Doktor Cook---.<br />

Doch sagte ich nichts. Es hätte ihn nur verunsichert. So saßen wir schweigend. Als<br />

der nächste Zug kam, erhob er sich langsam. “Ich muß stadteinwärts, in die andere<br />

Richtung. Na dann - viel Erfolg bei Ihrer Suche, May.”<br />

“Auch Ihnen viel Erfolg. Bleiben Sie gesund.”<br />

“Sie auch. Und vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben.” Er ging auf die<br />

Treppe der kleinen Brücke zu, die zum anderen Bahnsteig führte. Ich stieg ein. Der<br />

Zug fuhr sogleich an und gewann schnell an Fahrt. Die schmale Gestalt auf der<br />

Fußgängerbrücke über den Gleisen verlor sich im Dunkel.


13. EIN KAFFEEHAUS IN DER HERRENGASSE<br />

In dem Sommer, da Doktor Cook in der Obskurität verschwand und Peary nach<br />

Beendigung seiner triumphalen Vortragsreise den Alten Kontinent wieder verließ,<br />

brachen von Europas Küsten die Expeditionen von Robert Falcon Scott und Roald<br />

Amundsen auf. Scott mit der erklärten Absicht, den Südpol erreichen zu wollen;<br />

Amundsen angeblich auf dem Weg nach Kap Hoorn, um von dort in die<br />

Beringstraße zu gelangen, als Ausgangspunkt für eine Eisdrift zum Nordpol. Nur<br />

Amundsen selbst, sein Bruder und ich wußten damals, daß auch die “Fram” die<br />

Antarktik zum Ziele hatte. Sogar seinem Mentor Nansen schrieb Roald erst von<br />

der Insel Madeira aus einen Brief, in dem er seine wahren Absichten offenlegte.<br />

Die Tragödie, die sich wenig später am Südpol ereignete, hat dazu geführt, daß<br />

nicht viel Zeit verging, bis die Welt Scott und Amundsen meinte und nicht Peary<br />

und Cook, sobald vom Wettlauf zum Pole die Rede war. Denn das hat der Streit<br />

von Fahnenaufpflanzern mit den Schaukämpfen von Gladiatoren gemeinsam: wenn<br />

das Todesgrausen die Menge richtig packt, lebt die Erinnerung daran umso besser<br />

fort.<br />

Auch ich bestieg mein Schiff und fuhr über den Ärmelkanal zurück aufs Festland.<br />

In Ostende gab ich einen Brief an Klara zur Post, den ich für alle Fälle vorbereitet<br />

hatte. Ich bat Sie, doch endlich Vernunft anzunehmen und mit mir die<br />

Filmangelegenheit noch einmal in Ruhe zu besprechen. Falls das Schreiben sie<br />

wider Erwarten in Radebeul antreffen sollte, möge sie sich - bitte - sofort nach<br />

Wien aufmachen. Dorthin sei ich unterwegs. Da ich noch nicht wußte, wo ich<br />

absteigen würde, gab ich die Baronin von Suttner als Treffpunkt an. Das war<br />

natürlich auch von der Hoffnung diktiert, ihr ein Kommen schmackhaft zu machen.<br />

Andererseits glaubte ich immer noch fest daran, in Klara die Unbekannte erblicken<br />

zu dürfen, die schon seit Wochen im Haus der Baronin weilte. Doch wollte ich<br />

ganz sicher gehen.<br />

Ohne mich irgendwo länger aufzuhalten als zum Umsteigen nötig, eilte ich in die<br />

Donaumetropole. Im Hotel Krantz am Neuen Markt gleich an der Kärntnerstraße<br />

fand ich ein Unterkommen. Die Anstrengung der Reise und die seelische Berg-und-<br />

Talfahrt, der ich in den letzten Wochen ausgesetzt gewesen, forderten ihren<br />

Tribut. Ich hatte kaum mein Zimmer bezogen, als mich eine fiebrige Erkältung für<br />

einige Tage aufs Lager warf.<br />

Sobald die kleine Unpäßlichkeit abgewettert war, ließ ich mich bei Baronin von<br />

Suttner melden. Ich wurde aufs freundlichste empfangen. Nein, von Klaras<br />

Verbleib wisse sie nichts, beantwortete sie meine Frage. Allerdings sei gestern ein<br />

Brief von dieser, an mich adressiert, eingegangen. Insofern habe sie, die Baronin,<br />

bereits mit meinem Erscheinen gerechnet.<br />

Sie zeigte sich höchst erfreut über mein Kommen und gab mir den Brief. Ich riß das<br />

Kouvert auf und warf einen Blick auf das darin befindliche Blatt. Doch als ich, rot


unterstrichen, die Worte las Dies ist ein Ultimatum!, stopfte ich die Nachricht so<br />

rasch wie möglich in den Umschlag zurück. Welch unseliges Zusammentreffen! Ich<br />

versuchte, nach meiner Erkrankung wieder zu Kräften zu kommen, und da flatterte<br />

mir dieser Wisch zu!<br />

Trotz allem fiel mir ein Stein vom Herzen, hätte ich doch meine Gastgeberin nicht<br />

gern als Feindin betrachten müssen. Mit meinem Kummer belasten würde ich die<br />

Baronin nicht. Wir sprachen zunächst über Belangloses. Ich erkundigte mich nach<br />

gemeinsamen Bekannten, und als die Rede dabei auf William Dabbya Stead kam,<br />

geriet sie in Begeisterung. “Ein so engagierter Mann! Ach, wie ich ihn bewundere!”<br />

bekannte sie voller Hochachtung. Er sei unermüdlich in Friedensdingen unterwegs,<br />

habe im Vorjahr allein Konstantinopel zweimal besucht, um beim Sultan wie beim<br />

Großwesir die Notwendigkeit von Reformen anzumahnen und bei der Gelegenheit<br />

die absolute Notwendigkeit gepredigt, jede Kollision mit den Balkanstaaten zu<br />

vermeiden. In ein paar Tagen breche er wieder einmal nach Amerika auf, wo er bei<br />

einer Kundgebung in der Neuyorker Carnegie Hall eine seiner zündenden Anti-<br />

Kriegs-Reden halten werde. “Und bei allem, was er tut, ist er so völlig selbstlos -<br />

und so bescheiden. ”<br />

“Soso, nach Amerika”, sagte ich zurückhaltend, meine Skepsis gegenüber der<br />

Selbstlosigkeit von Dabbyas Beweggründen wie hinsichtlich seiner Bescheidenheit<br />

so gut wie möglich verhehlend. “Ich bin ihm doch gerade erst in Neuyork<br />

begegnet!”<br />

“Das muß schon einige Zeit her sein, lieber Herr May. Aber die Welt wird ja<br />

immer kurzatmiger. Kein Wunder, daß man da durcheinanderkommt. Denken Sie<br />

bloß - Stead wird mit diesem neuen Schnelldampfer fahren, der ‘Titanic’. Er ist<br />

schon ein rechter Hansdampf in allen Friedengassen!”<br />

Die Baronin schellte und ließ uns Tee bringen. Ich hatte von dem neuen Schiff<br />

gehört, das alle Rekorde brechen und die “Mauretania”, deren Rekordfahrt mir<br />

einst meinen Wetteinsatz in doppelter Höhe zurückgebracht, als eine lahme Ente<br />

erscheinen lassen würde. Da bekam also der Eisberg, der waghalsigen Kapitänen<br />

auf der Jagd nach dem Blauen Band im Nordatlantik auflauerte, wiedermal eine<br />

Chance; nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit sogar eine ziemlich gute, zumal<br />

um diese Jahreszeit - schließlich schrieben wir erst Mitte März. “Soso, einen<br />

Vortrag”, sagte ich in Gedanken, eigentlich eher aus Verlegenheit, weil ich ihr das,<br />

was mir im Kopfe herumging, nicht unbedingt mitteilen wollte. “Wann soll die<br />

‘Titanic’ denn in See stechen?”<br />

“In einem Monat etwa. Aber - sagen Sie, lieber Herr May, sind Sie eventuell auch<br />

daran interessiert, einen Vortrag zu halten? Hier in Wien? Es wird mir ein<br />

Vergnügen bereiten, eine Veranstaltung mit Ihnen zu arrangieren. Man brennt in<br />

dieser Stadt darauf, angesichts der jüngsten Entwicklungen auf dem Balkan Ihre<br />

Meinung zur Kenntnis zu nehmen. Offenbar ist Steads Mission beim Sultan<br />

erfolglos geblieben, nun spitzt der Hickhack sich zu.”


“Ach, wissen Sie, verehrte gnädige Frau”, entgegnete ich, “im Grunde sind das<br />

doch alles Stammesfehden. Serben, Montenegriner, Bosniaken, Albaner, Kreter,<br />

Mazedonier - alle wollen den Türken raus haben und gönnen einander dann keinen<br />

Fußbreit des verfügbar gewordenen Bodens. Daraufhin schreiten die Großmächte<br />

ein mit ihren eigenen, höchst egoistischen Ansprüchen. Nun wird geteilt, Grenzen<br />

werden verschoben, oft nur um wenige Kilometer. Die Bewohner der strittigen<br />

Streifen fragt niemand. Veilmehr veranstaltet man Konferenzen und, wenn deren<br />

Lösungen nicht befriedigen, neue Kriege. Es steht zu vermuten, daß dies noch eine<br />

Zeitlang so weitergeht. Da ist immer von Balkanisierung die Rede. Mir kommt es<br />

hingegen vor wie ein Streit um Indianerland.”<br />

“Aber ich bitte Sie! Immerhin hat sich das mit Rußland verbündete Serbien mit<br />

Bulgarien und Griechenland gegen die Türkei verständigt! Diese neue<br />

Blocksituation beunruhigt Sie nicht? Ich selbst finde nachts kaum noch Schlaf.<br />

Und Sie sagen: Stammesfehden!”<br />

“Man darf, denke ich, nicht immer nur die Symptome zu heilen suchen, sondern<br />

muß die Ursachen zu derlei Konflikten ein für allemal aus der Welt schaffen.”<br />

“Wie wollen Sie das denn erreichen?”<br />

“Sie, liebe Baronin, haben der Welt die ersten Grundgedanken zur Entwicklung des<br />

Edelmenschen geschenkt. Dort, denke ich, liegt der Ansatz.”<br />

“Aber Herr May! Ganz offensichtlich läuft das eben geschaffene Bündnis auf<br />

einen Krieg um neue Grenzziehungen auf Kosten des jetzigen Besitzstandes der<br />

Türkei hinaus, und---”<br />

“Also doch: Stammesfehden! Und zwar um Jagdgründe und Schürfrechte, ganz<br />

wie gehabt.”<br />

“Unsinn! Ein Krieg auf dem Balkan kann die Weltlage über Nacht aus den Angeln<br />

heben. Wir dürfen nicht nachlassen, dem dummen Waffenhoch!-Rummel hartnäckig<br />

unseren Ruf Die Waffen nieder! entgegenzuhalten.” In diesem Augenblick ging die<br />

Tür auf und eine streng in Schwarz gekleidete Dame betrat das Zimmer. Baronin<br />

von Suttner wandte sich sogleich lächelnd der Fremden zu.<br />

“Die Fürstin Kropotkin”, stellte sie mir die Unbekannte vor. “Eine liebe Freundin.<br />

Sie hat bei mir Schutz gesucht vor den Schergen des Zaren.” Die Damen flüsterten<br />

kurz miteinander, worauf sich die Fürstin wieder empfahl.<br />

”Bei uns in Österreich gibt es Kreise, die Serbien keinen Quadratmeter mehr an<br />

Land zugestehen wollen”, nahm die Baronin erneut unser Gespräch auf. “Ja, die<br />

am liebsten ein für allemal mit Serbien aufräumen möchten. Serbien muß sterbien,<br />

geifern sie unentwegt.”<br />

“Sie meinen den Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Umgebung?”<br />

“Gewiß. Aber auch andere Zirkel. Der Falken sind viele, nicht nur bei uns. Wenn<br />

Rußland sich hinter Serbien stellt - und mit Rußland ist schließlich Frankreich<br />

verbündet -, ist eine Konfrontation der Großmächte unvermeidbar. Denn dann<br />

wird sich Kaiser Wilhelm des großen Wortes von der Nibelungentreue entsinnen


und erklären, daß Deutschland wieder einmal fest hinter Österreich steht. Wie<br />

schon bei der Annexion Bosniens.”<br />

“Wie die Annexionskrise wird auch diese Krise vorübergehen. Allerdings weiß<br />

niemand, wie lange uns bleibt, bis es wirklich einmal zum Großen Knall kommt.<br />

Wir müssen die Zeit nutzen, den Edelmenschen heranzuziehen und ihm die<br />

Möglichkeit geben, den Frieden---”<br />

“Ich mache Ihnen einen Vorschlag, lieber Herr May. Wenn Sie so wollen, ein<br />

Angebot. Ich arrangiere einen Vortragsabend, und Sie sprechen über den<br />

Edelmenschen. Empor ins Reich der Edelmenschen!” rief sie, emphatisch die<br />

ausgestreckten Arme hebend. “Besonders die jungen Leute liegen mir schon seit<br />

Jahren in den Ohren, Sie einmal für einen Auftritt nach Wien zu holen.”<br />

“Junge Leute? Die wollen doch bestimmt etwas anderes von mir hören.”<br />

“Das mag schon sein, doch soll uns das kümmern, wenn das Schicksal der<br />

Zivilisation auf dem Spiele steht? Karl May spricht! Das ist und bleibt ein<br />

zugkräftiger Magnet - zumal Sie bei früheren Wienbesuchen vom Hofe oft völlig<br />

mit Beschlag belegt waren. Aber bitte kein Indianergeheul. Diesmal nur die<br />

Friedenspfeife! Darf ich Ihr Schweigen als Zustimmung werten?”<br />

Ich trank meinen Tee aus und nickte. “Großartig!” triumphierte sie. “Ich werde Sie<br />

auf dem Laufenden halten. Wo sind Sie abgestiegen?”<br />

Kaum hatte ich ihr mein Hotel genannt, rief sie aufgeräumt: “Wie wunderbar! Das<br />

ist ja gleich neben dem Stadtpalais meines lieben Freundes Graf Wilczek!”<br />

“Es ist eigentlich gleich neben allem in Wien”, wagte ich zu bemerken. “Mitten im<br />

Zentrum gelegen---”<br />

“Ja, natürlich! Aber in Hans Nepomuk - ich meine: im Grafen Wilczek - werden<br />

Sie einen interessanten Gesprächspartner finden. Da wird Ihnen wenigstens die<br />

Zeit bis zu Ihrem Vortrag nicht lang. Dem Grafen ist die Idee des Edelmenschen<br />

nicht fremd. Sie werden ihn sicher mögen. Doch nehmen Sie sich in acht: Weil er<br />

vor fast vierzig Jahren mal in der Arktik war, hat er noch immer Entdeckerflausen<br />

im Kopf.”<br />

“So, hat er das?” Mir war bekannt, daß Graf Wilczek als Geldgeber und -<br />

jedenfalls in der Anfangsphase der Expedition - als Mitreisender bei jenem<br />

österreichischen Artikunternehmen die Hand im Spiele gehabt, welches in der<br />

Entdeckung von Franz-Joseph-Land gipfelte. Ich sah keine Veranlassung, ihr<br />

gegenüber meine jüngsten Reisen zu erwähnen, die mich selbst bis ins Herz der<br />

Arktik geführt. Dazu würde sicher noch Gelegenheit sein. Nachdenklich stand ich<br />

auf und empfahl mich.<br />

Zurück im Hotel, unterzog ich Klaras Brief einer genauen Prüfung. Sie habe,<br />

schrieb sie in Beantwortung meiner Zeilen, sich die Dinge noch einmal durch den<br />

Kopf gehen lassen. Eine Aussprache zwischen uns würde an dem, was sie<br />

beschlossen und worin sie sich mit den anderen Gesellschaftern einig wisse, nichts


ändern. Mir könne nur eines helfen, von der Filmfirma nicht völlig ausgeschlossen<br />

zu bleiben und bei der ganzen Geschichte am Ende leer auszugehen: die sofortige<br />

Zustimmung zur Gründung des Unternehmens. Sie nannte ein Datum, bis zu dem<br />

meine diesbezügliche Erklärung bei Fehsenfeld als dem Geschäftsführer vorliegen<br />

müsse; man werde sich anderenfalls zu Schritten entschließen, die ich mir nicht<br />

träumen ließe. Und daneben stand der rot unterstrichene Hinweis, den ich vorhin<br />

schon gelesen.<br />

Zu dem Zeitpunkte, da es zu meiner Kenntnis gelangte, wäre das eigenartige<br />

Ultimatum ohnehin nur noch mit einer Kabelantwort einzuhalten gewesen. Ich sah<br />

allerdings keine Veranlassung, in irgendeiner Weise auf die Drohung zu reagieren.<br />

Die Rechtsgründe waren eindeutig auf meiner Seite, und Hochmut kommt vor dem<br />

Fall. Diese Weisheit hat sich mir immer wieder bestätigt.<br />

Ich genoß noch ein wenig der Ruhe, um mich erquickt zum Grafen Wilczek<br />

aufzumachen. Mein Besuch im Schloß Belvedere beim Erzherzog konnte warten.<br />

Nun ich um die Identität der geheimnsivollen Besucherin bei Baronin von Suttner<br />

wußte und mir die Hintergründe ihres Aufenthaltes einigermaßen zusammenreimen<br />

konnte, war ich mit Vorbedacht auf Distanz aus. Ferdel würde ohnehin staunen,<br />

kündigte ihm seine ominöse Militärkanzlei erst das Thema meines Vortrages an. Er<br />

würde mich fortan sicherlich Friedens-May nennen. Nun, sei’s drum!<br />

Die vom Grafen Wilczek seinerzeit auf den Weg gebrachte Expedition hatte, wie<br />

so viele andere Unternehmungen, den Nordpol zum Ziele gehabt. Nach dem<br />

Verlust des Schiffes im Eis war für die Gestrandeten ein Schreckenswinter daraus<br />

geworden mit Hunger, menschlichem Elend und Tod. Ein Verzweiflungsmarsch<br />

nach Nowaja Semlja hatte die Überlebenden gerettet. Jedoch mußte der Graf all<br />

dieses nicht mitmachen, er war als großer Mäzen und Planer im Hintergrunde<br />

geblieben; lediglich beim Anlegen von Vorratslagern vor Beginn der Expedition war<br />

er vor Ort beteiligt.<br />

Baronin von Suttner hatte recht, all das lag furchtbar lange zurück, die Rettung der<br />

Österreicher war 1874 bekannt geworden - ein Jahr, das ich nie in meinem Leben<br />

vergessen werde. Damals war Winnetou in meinen Armen, in meinem Schoße<br />

gestorben.<br />

So dachte ich, einem Greis zu begegnen. Doch wer beschreibt mein Erstaunen, als<br />

mir mit dem Grafen ein rüstiger Sportsmann gegenübertrat; so jedenfalls war mein<br />

erster Eindruck. Er schien nur wenige Jahre älter als ich. Sein weißer Vollbart, der<br />

offene Blick - ich war sogleich von ihm eingenommen.<br />

“Bertha von Suttner hat Sie mir wärmstens ans Herz gelegt”, sagte er zur<br />

Begrüßung. “Die Baronin hält große Stücke auf Sie.” Leider werde er meinen<br />

Vortrag nicht besuchen könenn, da er sich am nächsten Morgen auf eins seiner<br />

Schlösser begebe. “Ich sitze sozusagen schon auf gepackten Koffern”, erklärte er<br />

jovial. “Es ist recht, daß Sie gleich einmal bei mir vorbeischauen.”<br />

Wir machten es uns in einem Lesezimmer bequem. Zwei Ohrensessel, eine Karaffe


Aprikosengeist und Kaffee mit Baumkuchen - was kann der Mensch mehr<br />

verlangen! Im Kamin züngelte anheimelnd ein Feuer. Das Angebot des Hausherren,<br />

für mich Schlagobers kommen zu lassen, lehnte ich dankend ab. “Ich will gleich mit<br />

der Tür ins Haus fallen”, gestand der Graf, “ich halte nichts von Reiseromanen.”<br />

“Aber ich habe stets nur von Dingen geschrieben, die---”<br />

“Ihre Bücher kenne ich nicht. Also kann ich darüber nicht reden. Was mich an<br />

Ihnen fasziniert, lieber May, ist der Umstand, daß sich endlich jemand gefunden<br />

hat, der sich Berthas Idee vom Edelmenschen in schöpferischer Weise annimmt.”<br />

“Als sei’s ein Stück von mir, Herr Graf”, bekräftigte ich.<br />

“Die Frage ist nur: wohin mit dem Edelmenschen, tritt er erst einmal in größeren<br />

Stückzahlen auf?”<br />

“Sie können Gift drauf nehmen, daß ihn die Mächtigen dieser Erde nicht mögen<br />

werden.”<br />

“Was heißt nicht mögen - anfeinden werden sie ihn nach Strich und Faden, seine<br />

Absichten in ein schiefes Licht setzen.”<br />

“Das sehe ich auch so. Man wird versuchen, das Edelmenschentum mit allen<br />

Mitteln zu diskreditieren und es wieder zu beseitigen. Denn wenn Lug und Trug<br />

aus der Welt geschafft sein werden, wenn es Knechtung und Verfolgung nicht mehr<br />

geben wird, stattdessen die Achtung und Liebe des Nächsten oberstes Gebot ist -<br />

dann funktionieren die alten Herrschaftsmethoden nicht mehr---”<br />

“--- und die Herrschenden werden nichts unversucht lassen, sich diese zu erhalten.<br />

Da bin ich ganz Ihrer Meinung, May.”<br />

“Alle Machtmittel werden sie einsetzen, den Edelmenschen an den Rand der<br />

Gesellschaft oder gar gänzlich aus dieser hinauszudrängen.”<br />

“Also braucht er ein Domizil. Wie einst die in Europa bedrängten Quäker,<br />

Wiedertäufer und Mennoniten. Die konnten wenigstens noch nach Amerika<br />

auswandern und sich dort eine neue Heimat schaffen.”<br />

“Diese Zeiten sind, glauben Sie mir, lieber Graf, ein für allemal vorbei. In Amerika<br />

herrschen Ellenbogen und Mammon wie überall auf der Welt, nur in üblerer<br />

Weise.”<br />

“Das glaube ich Ihnen gerne. Sehen Sie, dazu brauche ich keine Ihrer<br />

Reiseerzählungen gelesen zu haben.” Er lachte bitter auf. “Andererseits ist aber<br />

heute auch nicht mehr die Zeit der von verheerenden Hungersnöte hinweggerafften<br />

Planwagentrecks, dauert der Winter einmal zu lange. Diese Dinge haben Sie ja<br />

offenbar noch aus eigener Erfahrung kennengelernt.”<br />

Ich beeilte mich, zustimmend zu nicken.<br />

“Sehen Sie - all das ist Geschichte. Heute vermögen durch mächtige Motoren<br />

angetriebene dynamoelektrische Maschinen unbegrenzt Licht und Wärme für eine<br />

Siedlung der Edelmenschen in beliebiger Umgebung zu spenden - vorausgesetzt, es<br />

ist für ausreichend flüssige Brennstoffe gesorgt. All das läßt sich organisieren. Na,<br />

wir wär’s noch mit einem Schluck Palinka, lieber May?”


Ich nickte dankend und schob ihm mein Glas hin. “Vieh zur Versorgung der<br />

Kolonisten mit Fleich kann man in unterirdischen Ställen halten. Das Futter wird<br />

von mächtigen Lastenluftschiffen herangebracht.”<br />

“Die Verbindung zur Außenwelt hält eine Marconi-Station.”<br />

“Eine küstennahe Lage scheint wünschenswert, denn das Meer ist der große<br />

Lebensspender, nicht nur mit Fischen. Auch Kleinkrebse, Tang, selbst Algen<br />

lassen sich nutzen---.” Es war sicher nicht ausschließlich der köstliche Obstbrand,<br />

der uns beide befeuerte, sondern vor allem der Gleichklang unserer Ansichten und<br />

Absichten, den zu entdecken und sogleich nach seiner Tiefe auszuloten wir im<br />

Begriff standen. Vielleicht spielte beim Fortgange unserer Unterhaltung tatsächlich<br />

so etwas wie die Seelenverwandtschaft aller Reisenden eine Rolle, von welcher der<br />

Erzherzog in London gesprochen und die ich mit dem Grafen in viel stärkerem<br />

Maße empfand als mit Ferdel. Allein - es ist nie meine Art gewesen, mich<br />

irgendwelchen nutzlosen Träumereien in die Arme zu werfen, und so gab ich zu<br />

bedenken: “Die Frage ist nur: wo soll diese Niederlassung gegründet werden?”<br />

“Geld spielt keine Rolle”, sagte der Graf mit einer weit ausholenden Geste des<br />

rechten Armes. “Ich bin bereit, mein gesamtes Vermögen für das Unternehmen in<br />

die Schanze zu werfen. Und was ich besitze, ist --- “ Er suchte nach dem<br />

passenden Worte, setzte mehrfach zum Sprechen an und sagte schließlich nur: ”Es<br />

ist eine Menge, glauben Sie mir!”<br />

“Daran hege ich keinerlei Zweifel” entgegnete ich. “Nur ist die Sache die: der Kauf<br />

von Land setzt einen bisherigen Besitzer voraus. Und zwar einen, der zu<br />

verkaufen bereit ist.”<br />

“Selbstverständlich! Das unterscheidet uns Edelmenschen von Konquistadoren<br />

unseligen Angedenkens und von anderen Landräubern.”<br />

“Alles gut und schön, lieber Graf - aber selbst wenn sich ein solcher Altbesitzer<br />

finden ließe, legt das vorgeschlagene Verfahren eine Schwäche des Planes bloß.”<br />

“Eine Schwäche?” Er erhob sich bedächtig und legte ein Buchenscheit nach.<br />

“Nennen Sie mir ein einziges Beispiel aus der Geschichte der Menschheit, in dem<br />

die Entdecker den alteingesessenen Anwohnern nicht das Land streitig gemacht<br />

hätten! Selbst wenn dieses Streitigmachen als Kauf getarnt war. Der alte Hudson<br />

hat den Indianern die Insel Manhattan ja auch nicht mit Gewalt abgenommen, dazu<br />

war seine Abteilung zu schwach. Er hat sie ‘gekauft’. Für die sprichwörtliche<br />

Flasche Schnaps. Oder für eine Handvoll Glasperlen, was weiß ich. Vielleicht war<br />

er auch großzügig, hat sie erst betrunken gemacht und ihnen dann den Tand<br />

gegeben.”<br />

“Tja, May, die Zeiten sind vorbei --- . Der Immobilienmarkt sieht heutzutage<br />

anders aus als vor dreihundert Jahren.“<br />

”Allerdings. Aber ich rede nicht von der Höhe des Preises. Ich rede davon, daß es<br />

heute auf der Insel Manhattan Indianer nur noch im Museum gibt.”<br />

“Was hat das mit unserem Plan eines Refugiums für Edelmenschen zu tun?”


“Das sehen Sie nicht? Ich will es einmal die Erbsünde der Entdecker nennen.<br />

Wohin sie auch kamen, immer gab es dort schon Menschen. An jeder Küste, in<br />

jeder Savanne, in jedem Gebirgstal. Sogar Pytheas, der erste Erforscher des Hohen<br />

Nordens, traf in dem von ihm entdeckten Thule schon Menschen an. Und das ist<br />

bis heute nicht anders geworden. Selbst Grönland gehört doch den Eskimos.”<br />

“Haben Sie darüber auch eine - eine Reiseerzählung verfaßt?”<br />

“Ich bin gerade dabei.”<br />

“Ach, May - Sie immer mit Ihren Spinnerberichten! Was wissen Sie denn vom<br />

Hochgefühl, das den wahren Reisenden erfüllt! Seit ich auf meinen ersten<br />

Jagdreisen nach Algerien---”<br />

Ich war in viel zu gehobener Stimmung, als daß mich seine Entgleisung hätte<br />

verletzen können. Sollte er doch seinen Reiseerinnerungen nachhängen. Mich<br />

allerdings interessierten sie nicht. Ich dachte inzwischen vielmehr die Gedanken,<br />

die wir gemeinsam angeschnitten, ein gutes Stück weiter. Grönland mochte den<br />

Inuit gehören, das stimmte schon, trotz dänischer Ansprüche und solcher, die die<br />

Amerikaner künftig anmelden mochten. Aber weiter nördlich, das wußte ich aus<br />

eigener Anschauung - ich meine, am Nordpol selbst lebten noch keine Menschen.<br />

Ich brauchte dem Grafen ja nicht auf die Nase zu binden, daß ich am Pole gewesen.<br />

“--- und das hat sich um keinen Deut verändert”, schwärmte er immer noch von<br />

seinem Reisehochgefühl, “jedesmal empfinde ich dieses Erhobensein wieder als<br />

etwas Neues, Großes. Auch als ich jüngst an der Spitze des österreichischen<br />

Hilfsexpedition nach dem schweren Erdbeben Messina besucht habe. Aber Sie<br />

sagen ja gar nichts mehr, May. Bin ich Ihnen mit irgendetwas zu nahe getreten?”<br />

“Keineswegs. Ich habe nur überdacht, was Sie da eben anschnitten. Nein, der<br />

Edelmensch ist kein Konquistador und Landräuber. Doch wo ihn ansiedeln, wenn<br />

er nicht auf das Land von Ureinwohnern zurückgreifen soll?”<br />

“Am besten in einer unbewohnten Gegend.”<br />

“Und - woran hätten Sie dabei gedacht?”<br />

“Hm. Die Jahrhundertpreisfrage! Sie sagten’s ja schon: selbst in Grönland gibts<br />

Einheimische. Da haben wir gleich wieder den alten Ärger.”<br />

“Richtig. Allerdings leben weiter nördlich, am Nordpol selbst, keine Menschen.<br />

Jedenfalls nicht, soviel mir bekannt ist.” Das, immerhin, konnte ich ihm<br />

anvertrauen.<br />

“Ja, May, wo wollen Sie denn am Nordpol unsere dynamoelektrischen Aggregate<br />

aufstellen? Und denken Sie an die unterirdischen Viehställe!”<br />

“Da haben Sie recht. Und immer nur Robbenfleisch - nee!” Ich schüttelte mich und<br />

brach noch ein Stück von dem köstlichen Baumkuchen ab.<br />

“Warten Sie, warten Sie, ich habe die Lösung!” rief er unvermittelt. “Ein Land<br />

ohne Eingeborene, sagen Sie? Na, das haben wir doch --- . Wissen Sie, May, man<br />

hat eine der Inseln von Franz-Joseph-Land nach mir benannt. Wilczekland, hört<br />

sich gut an, nicht? Bin selbst nie da gewesen.”


“Aber die Besitzverhältnisse da oben sind doch noch völlig ungeklärt”, warf ich<br />

ein. “Eines Tages kommt möglicherweise Rußland und sagt---”<br />

“Hat es aber noch nicht! Also ungeklärt. Besser geht’s doch gar nicht! Solange das<br />

so ist, verfüge ich als der Namenspatron einfach darüber. Was sagen Sie dazu?”<br />

“Und - Eskimos gibts auf Wilczekland wirklich keine?”<br />

“Jedenfalls haben meine Leute keine gesichtet. Ich schätze, sie hätten sonst ihre<br />

Hungerzeit dort besser überstanden - ich meine: mit Hilfe von Eskimos.”<br />

“Ich möchte um Himmels willen vermeiden, daß der Edelmensch eines Tages vor<br />

der Geschichte als schuldig dasteht. Wie in Amerika der weiße Siedler, der weiße<br />

Goldschürfer, der weiße Geschäftemacher. Mit List, Tücke und Gewalt hat er die<br />

Rothaut aus den Prärien verdrängt. Und aus den Black Mountains und aus dem<br />

Felsengebirge. Keine Verträge waren ihm heilig, keine Schwüre, nicht einmal die<br />

Friedenspfeife.”<br />

“Da seien Sie mal ganz unbesorgt. Wo keiner ist, kann keiner verdrängt werden.”<br />

“Richtig! Wilczekland also--- .” Schon war ich dabei, mich an den Gedanken einer<br />

Niederlassung der Edelmenschen auf der Insel hoch oben in der Arktik zu<br />

gewöhnen. Klein zunächst, bewohnt von einem harten Kern Entschlossener, doch<br />

ständig im Wachsen begriffen, im Werden. Ich würde schon bei dem Vortrag, den<br />

die Baronin zu arrangieren sich anschickte, die Trommel rühren und zum<br />

Mitmachen aufrufen. Würde die Besten der Besten dazu bestimmen, sofort beim<br />

Vorbereiten auf das große Unternehmen zuzupacken. Nicht irgendwann. Nein -<br />

jetzt, heute; am Saalausgang, würde ich verkünden, seien Zeichnungslisten für<br />

Freiwillige ausgelegt. Und ich würde trotz der Zusicherung des Grafen, alle Kosten<br />

zu tragen, zu Spenden aufrufen - kein Engagement ist verpflichtender als eines, für<br />

das man sein Geld hinterlegt. Ich war allen politischen Demagogen mit ihrem<br />

Gerede vom kommenden Paradies auf Erden, allen Endzeitpredigern gegenüber<br />

haushoch im Vorteil. Ja, sogar jenen religiösen Schwarmgeistern, die Rezepte für<br />

den unmittelbar bevorstehenden Einzug in den Garten Eden zu besitzen vorgaben.<br />

Konnte ich doch ganz klar und rational, mit verstandesmäßiger Schärfe die<br />

greifbare Nähe der Erfüllung eines uralten Menschheitstraumes in Aussicht stellen:<br />

nicht erst nach dem Tode, im Jenseits; nicht nach einer blutigen Revolution mit<br />

ihrer Vernichtung und der Umkehrung aller Werte - und mit all den Gefahren, die<br />

einem solchen Vorgange eigen -, nicht erst nach Durchschreiten des irdischen<br />

Jammertales war dieses Paradies zu betreten.Nichts von alldem. Die Gleichstellung<br />

aller Gutgesinnten, die Gemeinschaft der Edlen war sofort zu haben.<br />

”Und wer könnte das Projekt wohl fest in die Hand nehmen und dem Ganzen<br />

vorstehen?” fragte ich laut. Ich sah nur eine Lösung. Nein, ein anderer fiel mir auch<br />

bei angestrengtestem Nachdenken nicht ein. Wilczek jedenfalls war trotz seines<br />

blendenden Äußeren zu alt dafür.<br />

Als hätte er meine Gedanken erraten, sagte der Graf: “Ach, wissen S’, May, am<br />

liebsten würd’ ich ja selbst--- . Sie verstehen gewiß, was ich meine.”


Ich nickte bedeutungsvoll.<br />

“Aber in meinem Alter, da machen die Knochen nicht mehr alles mit.”<br />

Da hatten wir’s ja. Ich nickte noch heftiger. Und er ging mit seiner Klage über das<br />

Altwerden gleich noch einen überraschend kräftigen Schritt weiter: “Ach, es ist<br />

schon eine Plage, wenn man in die Jahre kommt. Reisen tu ich eigentlich nur noch<br />

zwischen meinen vielen Schlössern. Kreuzenstein, Moosham, ich behalte nicht<br />

einmal mehr all die Namen. Ja, ich reise nur noch von einem Lehnstuhl zum<br />

andern. Selbst Messina - man hat mich dort vom Schiff in einer Sänfte durch die<br />

zerstörte Stadt tragen müssen. Ja, es ist schon ein Kreuz. Manchmal besuche ich<br />

einen alten Freund in Konopischt. Da sitzen wir dann vor dem Kamin und<br />

ringsherum sind all die Schaufler und Bärenfratzen aufgehängt, mit gefletschten<br />

Zähnen. Und wir reden von früher. Der gute Ferdel möcht ja am liebsten nur an<br />

das Kommende denken, aber glauben Sie mir - der schafft’s nie und nimmermehr<br />

auf den Thron. Unser alter Kaiser ist zäh. Und - na ja, hin und wieder bin ich halt<br />

hier in Wien.” Er machte eine Pause und nahm einen Schluck. “Sie verstehen mich<br />

sicher, May. Sind ja auch so ein armchair traveller, wie der Engländer sagt.” Er<br />

blickte mich mitleidig lächelnd an: “Heute am Rio Grande und morgen in<br />

Kurdistan. Sie sehen, ich weiß mehr über Ihr Gepinsel, als Sie annehmen. Und<br />

jetzt wollen Sie auch noch was über die Arktik schreiben!”<br />

“Der Streit um den Nordpol. So wird das Buch heißen, Herr Graf.”<br />

“Ja, May - wenn Sie vor mich hintreten und mir sagen würden: Sehen S’, das Buch<br />

ist der Niederschlag von Erlebtem, ich selbst bin am Nordpol gewesen - da würde<br />

ich innerlich strammstehen und sofort sagen: Sie sind der richtige Mann für die<br />

Aufgabe, May. Sie und kein anderer. Sie sind berufen, dem Edelmenschenlager auf<br />

Wilczekland vorzustehen. Aber so --- . Nehmen Sie mir’s nicht übel.”<br />

Das nun war eine Versuchung, wie ich sie selten im Leben zu bestehen hatte.<br />

Selbst als ich mich Amundsen offenbarte, lagen die Dinge anders. Die<br />

Entscheidung, mich Roald als Polsieger zu erkennen zu geben, war mein<br />

ureigenster Entschluß gewesen. Hier wäre das nicht der Fall. Der Graf hatte danach<br />

gefragt, allerdings eher rhetorisch, ohne das Geringste zu ahnen. Nicht viel anders<br />

als seinerzeit Whitney mit seiner Preisfrage: ‘Wissen Sie eigentlich, was der Pol<br />

netto wert ist?’<br />

Die Anfechtung war in der Tat eine ungemeine. Sollte ich ihm reinen Wein<br />

einschenken? Der Lohn dafür würde jeden Vorwuf, ich hätte mein mir selbst<br />

gegebenes Wort schnöde gebrochen, zum Verstummen bringen. In absehbarer<br />

Zukunft - was sage ich: sozusagen schon übermorgen - einer freien Gemeinschaft<br />

von Gleichen und Gleichgesinnten vorstehen, das Unmögliche möglich machen.<br />

Anders, besser, als es mir mit der Gründung der Stadt Winnetou im einstigen<br />

Indianerland vorgeschwebt. Nicht nur eine Heimstatt für edelgesinnte Rothäute<br />

würde ich schaffen, sondern für Alle. Die Träume der Vielen in einem, in meinem<br />

Willen gesammelt - um dann der Welt zu zeigen, daß der Eine, auf den Alle


gesetzt, der Versuchung zum Mißbrauch seiner Macht durchaus zu widerstehen<br />

vermochte. Eben weil ICH dieser Eine war --- .<br />

Während ich noch mit mir rang, schwadronierte der Graf munter drauflos. „Tja,<br />

damals, als meine Vorausabteilung zur Barentsinsel und nach Nowaja Semlja<br />

schipperte, als alles schon ziemlich kalt und verwegen war, aber doch nicht so, wie<br />

die Männer um Payer und Weyprecht es später erlebten... Die hat es ja ganz hart<br />

getroffen, ganz hart. Aber was wollte ich sagen? Ach ja, damals, als ich mit den<br />

Proviantleuten unterwegs war, hatte auch ich einen Paß mit dem Reiseziel Nach<br />

dem Nord-Pol. Gültigkeitsdauer ein Jahr. Ausgestellt für die Strecke Wien-<br />

Hamburg-Bergen-Trontheim. Na, diese Federfuchser wissen ja nicht, was sie<br />

schreiben. Vor Ort sehen die Dinge dann allemal anders aus. Was da allein zählt, ist<br />

Erfahrung, Weitsicht, Entschlußkraft. Und eine Unbestechlichkeit, auch gegen sich<br />

selbst, wie sie nur wenigen eignet. Also, wie schaut’s aus, May - sind Sie am<br />

Nordpol gewesen?”<br />

Da er mich zögern sah, schränkte er seine Frage ein: “Na, geben Sie sich einen<br />

Ruck. Sie sind hundert oder auch zweihundert Kilometer vorher umgekehrt,<br />

stimmt’s?” Mit einem hintergründigen Lächeln sah er mich an. “Keine Bange,<br />

May, auch das würde ich gelten lassen und Sie trotzdem zum Chef der Mission<br />

machen. Also --- Hand aufs Herz!”<br />

“Nun warten Sie doch erst einmal mein Buch ab, Erlaucht!” Meine offizielle Art<br />

der Anrede irritierte ihn, allerdings nicht für lange. Er schenkte uns beiden noch<br />

einmal Palinka nach, sah mich durch sein Glas an und sagte: “Jaja, mit dem Finger<br />

auf der Landkarte - wo ich da schon überall gewesen bin.”<br />

“Ich war aber wirklich--- “, setzte ich an, doch unterbrach er mich: “Natürlich<br />

waren Sie. Trotzdem kann ich Sie nicht mit der ins Auge gefaßten Aufgabe<br />

betrauen, lieber May. Ich mache ja auch nicht den guten alten Homer zum<br />

Generalstabschef, bloß weil er über den Trojanischen Krieg geschrieben hat.”<br />

Das nun war stärker, als ich hinzunehmen willens sein konnte. “Da muß ich doch<br />

aber sehr bitten”, sagte ich, und wieder: “Erlaucht.” Ich stellte mein Glas etwas zu<br />

heftig ab, sodaß der köstliche Obstgeist überschwappte. Doch verflog mein<br />

Unmut, sobald ich den Alten in seinem Sessel ansah. Durchs zerstörte Messina in<br />

einer Sänfte getragen --- . Er dauerte mich, war er doch offenbar völlig verbraucht<br />

und vom Leben erschöpft. Dabei machte er äußerlich durchaus den Eindruck, er<br />

könne noch immer Bäume ausreißen. Ich setzte mich gerade und sagte so<br />

versöhnungsbereit wie möglich: “Wollen wir unser Gespräch nicht zu einem<br />

anderen Zeitpunkt fortsetzen, lieber Graf? Es ist spät geworden, und wir sind<br />

beide müde.” Das Kaminfeuer war heruntergebrannt und mich fröstelte. Ich sehnte<br />

mich danach, mich in meinem Hotelbett ausstrecken zu können.<br />

“Ich müde?” begehrte Graf Wilczek auf. “Ich könnte sofort --- . Ach, lassen wir<br />

das. Jedenfalls sind Sie, lieber May, noch immer ein aussichtsreicher Kandidat für<br />

den Posten. Sie bekommen ihn sofort, wenn Sie mir eines Tages glaubhaft


versichern, daß Sie am Nordpol gewesen sind. Na, Sie wissen schon. Nur will ich’s<br />

von Ihnen hören und nicht aus einem Buch. Papier ist geduldig, doch eines Mannes<br />

Wort ist seine schönste Zier.”<br />

Beim Abschied waren unsere kurzzeitigen Verunsicherungen vergessen.<br />

Der Vortrag war auf einen Freitag festgesetzt, abends halb acht im Sofiensaal im<br />

Osten der Stadt. Ich traf mich mit Baronin von Suttner um sieben an einem<br />

Tabaktrafik unweit des Veranstaltungsortes. Sie brachte einige Herren vom<br />

Akademischen Verband für Literatur und Musik mit, unter dessen<br />

Schirmherrschaft der Abend stehen würde. Wir machten uns sogleich auf. Ich<br />

plauderte unterwegs angeregt mit einem jungen Mann namens Robert Müller. Er<br />

sei bis vor wenigen Jahren selbst noch Student gewesen, erzählte er, und<br />

inzwischen ein wenig in der Neuen Welt herumgekommen. “In Mexiko war ich<br />

sogar Cowboy”, sagte er lachend. Erst im Vorjahre sei er nach Wien zurückgekehrt,<br />

um sich fortan ganz dem Leben als Literat hinzugeben. Da er mich beim Publikum<br />

einführen würde, stellte er mir ein paar belanglose Fragen, die ich sogleich<br />

beantwortete.<br />

“Was verstehen Sie unter einem Leben als Literat?”, fragte ich meinerseits, da ich<br />

derlei vagen Plänen junger Leute für gewöhnlich skeptisch gegenüberstehe.<br />

“Nun - ich schreibe. Essays, Erzählungen, Gedichte. Natürlich schlage ich<br />

mich auch mit einem Romananfang herum. Und ich gehe für unser Verbandsleben<br />

auf. Als nächste Veranstaltungen plane ich --- .”<br />

Wir hatten den Bühneneingang des Saalgebäudes erreicht. Beim Eintreten gab mir<br />

die Baronin mit den Worten “Das ist gestern für Sie gekommen!” ein Briefkouvert.<br />

Ich war zu sehr am Fortgange des Gesprächs mit Herrn Müller interessiert, um der<br />

Sendung sogleich die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Ich steckte den<br />

Umschlag achtlos zu mir. Erst als ich, in den Kulissen der kleinen Bühnenempore<br />

stehend, Müllers einführenden Worten lauschte, riß ich ihn auf. Das hätte ich nicht<br />

tun sollen.<br />

Der Umschlag enthielt ein Schreiben von Fehsenfeld - als geschäftliche Mitteilung<br />

aufgesetzt, in Wahrheit jedoch ein Drohbrief allerschlimmster Sorte. “Sie haben die<br />

Ihnen gesetzte Frist unbeachtet verstreichen lassen”, hieß es zunächst. “Erwarten<br />

Sie kein Mitleid von unserer Seite.” Ich überflog den weiteren Text und las<br />

abschließend: “Wir hätten trotz aller bisherigen Differenzen noch zu einer Einigung<br />

kommen können. Nun erfahren Sie unseren nächsten Schritt aus der Presse.”<br />

Ich war vor den Kopf geschlagen. Augenblickslang drehten sich Pfeiler, nackte<br />

Mauersteine und die Falten des Vorhanges um mich, dann hatte ich mich wieder in<br />

der Gewalt. Schon hörte ich Müller dem Publikum zurufen: “So begrüßen wir in<br />

unserer Mitte den Gesinnungsgenossen in Friedenssachen, den wortgewaltigen<br />

Berichterstatter von Abenteuern eines Weitgereisten, unseren lieben Karl May!”<br />

Beifall brandete auf, der sich noch verstärkte, sobald ich die Bühne betrat. Mir war


sehr warm, doch ging ich sicheren Schrittes auf Müller zu. Der junge Mann kam<br />

mir entgegen und wies, sich verbeugend, in Richtung eines Lesetischchens mit<br />

Stuhl auf erhöhter Estrade. Daneben standen die unverzichtbaren Palmenkübel.<br />

Dankbar, mich setzten zu können, griff ich, während der Beifall allmählich<br />

abflaute, mit langsamer Armbewegung in meine Rocktasche nach dem Konzept,<br />

das ich vorbereitet. Doch was ich vor mich auf den Tisch legte, war Fehsenfelds<br />

Brief. Ich erkannte den Fehler und fand im zweiten Anlauf auch sogleich meine<br />

Stichpunkte; benutzt habe ich sie dann allerdings überhaupt nicht. Zu sehr war ich<br />

mit der Drohung beschäftigt, die über mir schwebte. --- Sie erfahren unseren<br />

nächsten Schritt aus der Presse --- . Was hatten sie vor? Welche neue<br />

Hinterhältigkeit erwartete mich?<br />

Das plötzliche Bewußtwerden der über den Saal herabgefallenen Stille brachte<br />

meine Gedanken zurück in die Gegenwart. “Empor ins Reich der Edelmenschen!”,<br />

begann ich und riet sogleich, jeder möge diese Aufforderung vor allem auf sich<br />

selbst beziehen, nicht nur auf die Menschheit als Ganzes; erwähnte - was hätte<br />

wohl näher gelegen - die Erfahrungen meiner eigenen Lebensreise vom tiefsten<br />

Ardistan nach Dschinnistan, das ich noch längst nicht erreicht; dankte der<br />

Großmutter mit der Rezitation eines langen Gedichtes dafür, daß sie mich das<br />

Märchen von Sitara gelehrt. Und warnte vor falschen Propheten, die Ardistan für<br />

Dschinnistan ausgaben - “ein ganz übler Etikettenschwindel!”, wie ich mit allem<br />

mir zu Gebote stehenden Pathos ausrief. Auf die Überlegungen hinzuweisen,<br />

sofort mit einem Großversuch zur Ansiedlung von Edelmenschen auf einer bislang<br />

unbewohnten Insel der Arktik zu beginnen, sah ich keine Veranlassung. Zu sehr<br />

hatte mich Graf Wilczeks Weigerung verunsichert, mir die Leitung dieses<br />

Vorhabens anzuvertrauen.<br />

Ich stand auf und trat hinter den Stuhl. Noch immer war es, wie ein Blatt später zu<br />

berichten wußte, mucksmäschenstill. Beide Hände auf die Stuhllehne gestützt,<br />

deklamierte ich weitere Gedichte, die mir zum Thema zu passen schienen - ganz<br />

so, wie sie mir einfielen. Beschwor den Lebenspfad und das Alpenglühn, dem er<br />

mich entgegenführt; ließ den Sonnenstrahl seinen Weg finden bis ins andächtige Tal<br />

und von dort die Berge Gottes aus stiller Flut aufwärts steigen --- . Das alles<br />

mochte dem unvoreingenommenen Zuhörer recht verworren, ja wirr erschienen<br />

sein, und so ist denn auch in einem der Zeitungsberichte über mein Auftreten im<br />

Sofiensaal die Rede von “ziemlich zusammenhanglosen Erörterungen, die bald<br />

nicht nur peinlich, sondern tödlich langweilig” gewesen seien.<br />

Ach, hätte der Berichterstatter nur in meiner Haut gesteckt! Er wäre vermutlich<br />

von der Bühne gestürmt und hätte sich tränenüberströmt irgendwo mit seinem<br />

Kummer vergraben. Doch einem Westmann ist diese Art Kleinbeigeben nun einmal<br />

verbaut, und so hielt ich durch. Allerdings war mir bald bewußt, daß ich stärker als<br />

beabsichtigt sächselte, ja, stärker auch, als mir lieb war. Ich korrigierte dies<br />

umgehend.


In der ersten Reihe erkannte ich Baronin von Suttner, neben ihr saß Müller. Sein<br />

Anblick rührte mich. Ein Milchbart! In diesem Alter war ich schlimmste Irrwege<br />

gewandelt. Oder erlebte ich damals schon meine ersten Abenteuer in Amerika?<br />

Irrwege mußten nicht sein, vielleicht fand Cowboy Müller für sich eine glattere<br />

Bahn. Ich jedenfalls wünschte ihm Glück bei seinem Leben als Literat. “Auf dem<br />

Pfade der Poesie empor ins Reich der Edelmenschen!” rief ich gefühlvoll, die Linke<br />

weit emporreißend. “Die schönsten Dichterseelen sind Aeroplanen vergleichbar,<br />

die bis außer Sehweite sausen, Wolken und Sterne hinter sich lassend. Durch alle<br />

Dichtung zieht sich seit biblischen Zeiten die Sehnsucht nach Erlösung---.” Schlaff<br />

fiel meine Hand auf die Stuhllehne. Der ganze Körper war plötzlich von bleierner<br />

Müdigkeit erfaßt. Ich mußte zum Schluß kommen, sonst nahm dies hier kein gutes<br />

Ende.<br />

Sie erwarten sicher noch ein paar nette Worte über Wien und die Wiener, dachte<br />

ich mir. Ich ließ die Stuhllehne los und trat an die Rampe. Wie es dazu kam, daß<br />

ich dann etwas ganz anderes sagte, als ich beabsichtigt hatte, weiß ich nicht. All<br />

meine Kraft zusammennehmend, hob ich nämlich beschwörend die Arme und rief<br />

in den Saal: “Ohne den Edelmenschen wird es keinen Frieden geben, weil --- .”<br />

Die Stimme versagte mir. Ein Beifallssturm ohnegleichen brach los. Der Vorhang<br />

fiel. Vertraute Gesichter kamen mir entgegen. “Mehr als zwei Stunden haben Sie<br />

gesprochen, lieber Freund! Und jedes Wort saß --- “, lobte mich die Baronin. Herr<br />

Müller stellte sachlich und nüchtern fest: “Fast dreitausend Zuhörer! Das wird<br />

unserer Vereinsarbeit den Aufschwung geben, den sie so bitter nötig hat. Schon vor<br />

Ihrem Auftritt gab es Stapel frisch ausgefüllter Beitrittserklärungen.”<br />

Alle zeigten sich begeistert, und so war auch ich es zufrieden. Die Baronin rief<br />

emphatisch: “Das müssen wir feiern. Ich werde sofort veranlassen, daß man Sekt<br />

auffährt--- !” Mir begann sich der Kopf zu drehen, und ich winkte besorgt ab:<br />

“Können wir die Feierei nicht auf morgen verschieben? Ich glaube, ich brauche<br />

jetzt erst einmal frische Luft.” Ich wollte vor allem in Ruhe meine Lage genau<br />

überdenken.<br />

Der Vorschlag wurde widerwillig aufgenommen und laut diskutiert. Erst als sich<br />

alle darauf geeinigt hatten, in dem Wunsch nach Verschiebung der Festivität eine<br />

abermalige Bestätigung meiner bekannten Bescheidenheit zu erblicken, wurde er<br />

schließlich gutgeheißen. Eine selbst mir spürbare Gesichtesblässe mag allerdings zu<br />

dieser Entscheidung beigetragen haben.<br />

Im Saale wurde noch immer geklatscht. Müller trat zu mir und bat darum, mich<br />

noch einmal auf die Bühne bemühen zu wollen. Er nahm meinen Arm und half mir<br />

die Öffnung im Vorhang finden. Ein neuer Beifallssturm umtoste mich. Meine<br />

Linke hielt sich an Müller fest, der hinter dem Vorhang geblieben war. Mit der<br />

freien Rechten winkte ich in den Saal. Ich deutete eine Kußhand an und wollte den<br />

letzten Beifallspendern zurufen: “Bleiben Sie mir treu!”, doch wurde eher ein<br />

Wispern daraus. Wie einige Presseleute die Worte trotzdem haben aufschnappen


können, ist mir ein Rätsel geblieben.<br />

Meinem Wunsche entsprechend, den Erfolg erst am nächsten Tage zu feiern,<br />

verabredeten wir uns für abends um sechs bei mir im Hotel. “Ich lasse Krantz alles<br />

Notwendige in die Wege leiten. Und eine Torte bei Sacher bestelle ich selbst”,<br />

erbot sich Baronin von Suttner. Als Müller mir einen Fiaker rufen wollte, lehnte<br />

ich dankend ab. Ich wolle, erklärte ich hartnäckig, zu Fuß ins Hotel, um mir frische<br />

Abendluft um die Nase wehen zu lassen und mir etwas Bewegung zu verschaffen.<br />

“Dann lassen Sie mich wenigstens für ein kurzes Stück Wegs Ihr Begleiter sein”,<br />

beharrte nun Müller. Ich nahm sein Angebot an und bat um meinen Mantel. Der<br />

allgemeine Abschied fiel kurz und formlos aus; man würde sich ja schon am<br />

kommenden Abend wiedersehen. So jedenfalls glaubten wir alle.<br />

Beim Gang durch die schwach erleuteten Gassen schien die Redseligkeit des jungen<br />

Mannes plötzlich verrauscht. Er sei abgespannt, vertraute er mir schließlich an.<br />

Der Wiener Literaturbetrieb sei ermüdend, insbesondere hätten es die<br />

Eifersüchteleien und Zänkereien in sich, welche in allerjüngster Zeit im<br />

Akademischen Verband ausgebrochen seien. “Mich ekelt das alles an und ich bin<br />

froh, daß ich wenigstens Ihren Besuch davon habe frei halten können.” Ich dankte<br />

ihm dafür, und wir liefen schweigend weiter. Tief ein- und ausatmend fühlte ich<br />

mich schon bald wie neugeboren. Die Sorgen des nächsten Tages lagen so weit<br />

entfernt wie Kurdistan oder der Gran Chaco. Etwas aus der Zeitung zu erfahren<br />

war immer noch besser als niemals davon zu hören. Ich würde mich den Dingen<br />

stellen, sobald sie auf mich zukamen.<br />

“Was haben Sie in Amerika noch so getrieben? Doch sicher nicht nur den<br />

vacchiero gespielt --- ?” versuchte ich einen Neuanfang des Gesprächs.<br />

“Wo denken Sie hin! Ich war Lokalreporter in New Orleans, bin in der Karibik als<br />

Decksmann zur See gefahren, habe mich - natürlich - als Tellerwäscher versucht.<br />

Insgesamt war es eine gute Zeit. Wenn es zum Millionär auch nicht gereicht hat.”<br />

Er lachte. “In der Neuen Welt stößt man sich leichter die Hörner ab als<br />

hierzulande. Auch kommt man schneller voran als anderwärts, stellt man sich nicht<br />

zu dumm an.”<br />

“Und - warum sind Sie dann nicht drüben geblieben?<br />

“Das ist eine lange Geschichte. Ich war verliebt und hatte ihr versprochen, nach<br />

Wien zurückzukommen. Jedoch - sie hat mir inzwischen den Laufpaß gegeben und<br />

ist drauf und dran, einen meiner besten Freunde zu heiraten.”<br />

“Das tut mir leid, Müller --- .”<br />

“Mir nicht.”<br />

“Nun, Sie sind jung, da verkraftet sich so etwas allemal leichter als mit - sagen wir<br />

mal mit siebzig.” Er sah mich an, verstand allerdings wohl nicht die Bitterkeit, die<br />

in meinen Worten mitschwang.<br />

An der großen Markthalle verabschiedete sich mein Begleiter, gleich um die Ecke


sei er zu Hause. Er erklärte mir noch einmal meinen Heimweg, und schon war er im<br />

Dunkel der Nacht verschwunden.<br />

Zu kurzem Atemschöpfen verhielt ich auf der Brücke über die Wien. Ich lehnte<br />

mich auf das Geländer und blickte dem nachtschwarzen Wasser des Flusses nach.<br />

So stand ich wohl drei, vielleicht auch vier Minuten. Da spürte ich plötzlich<br />

jemanden neben mich treten. Ich sah auf und erkannte ein schmales<br />

Jünglingsgesicht. Müller, war mein erster Gedanke; besorgt um mein Wohlergehen<br />

beim Weg durch das nächtliche Wien hätte er sich immerhin entschlossen haben<br />

können, mich auch auf dem Rest meines Ganges begleiten zu wollen. Allein, es war<br />

nicht Müller. Der Unbekannte mochte zwar etwa gleichen Alters wie der junge<br />

Literat sein, trug jedoch - anders als dieser - auf der Oberlippe ein schmales,<br />

seitlich gestutztes Bärtchen. Die Kleidung war ärmlich, und der spärliche Schein<br />

der Brückenlaternen ließ sein Äußeres insgesamt in leicht verworrener Unordnung<br />

erscheinen. Wie ich schon bald merken sollte, war diese Verworrenheit Ausdruck<br />

seines ganzen Wesens.<br />

“Sie werden bitte entschuldigen”, richtete er das Wort an mich, “daß ich Ihnen<br />

gefolgt bin. Ich habe Ihren Vortrag gehört. Was Sie sagten, war für mich in<br />

höchstem Maße aufschlußreich.”<br />

“Das freut mich”, entgegnete ich. Allein der Gedanke, daß er womöglich meiner<br />

Unterhaltung mit Müller gelauscht haben könnte, mißfiel mir.<br />

“Warum haben Sie mich nicht gleich am Sofiensaal angesprochen?” fragte ich,<br />

meine Mißbilligung nicht verhehlend.<br />

“Ich muß Sie allein sprechen. Sie aber schienen in ein sehr angeregtes Gespräch<br />

vertieft, das ich nicht stören wollte.”<br />

“Nun gut - jetzt sind wir allein”, sagte ich, kurz nach beiden Seiten blickend. “Was<br />

haben Sie auf dem Herzen?”<br />

“Zwischen dem, was Sie vorgetragen, und - nun, gewissen Ideen, die hier in Wien<br />

sehr lebendig sind, sehe ich höchst interessante Zusammenhänge. Ich habe mich<br />

eingehend mit dem Gedanken der Züchtung des arischen Edelmenschen<br />

beschäftigt.”<br />

“Der bitte was?”<br />

“Der Züchtung des Edelmenschen. Bekanntlich haben die arischen Auserwählten,<br />

von der Eiszeit gezwungen, ihre Stammlande am Nordpol zu verlassen, der Welt<br />

die Kultur gebracht und --- “<br />

Ich wußte sogleich, woher der Wind wehte. Hatte sich also das Gift der<br />

Hakenkreuz-Leute inzwischen in solch jungen Köpfen eingenistet! Allen voran der<br />

Quark, den ein gewisser Guido List verzapfte, ein Mann, der die Tinte nicht halten<br />

konnte und verantwortungslos drauflosschrieb, was das Zeug hielt - nicht des<br />

Schadens gedenkend, den seine Schriften anzurichten vermochten.<br />

“Hier liegt ein grundlegendes Mißverständnis vor”, unterbrach ich ihn. “Ich<br />

spreche vom Edelmenschen als Ziel der Entwicklung für Menschen aller Stämme


und Rassen, nicht nur für sogenannte Auserwählte. Wie wollen Sie denn Ihre -<br />

Züchtung des Edelmenschen bewerkstelligen, wenn man fragen darf?”<br />

“Durch Zuchtwahl von Herrenmenschen sowie Versklavung und - wenn nötig -<br />

Vernichtung der Herdenmenschen. Überhaupt aller Feinde der arischen Rasse. Vor<br />

allem der landfahrenden Habenichtse - Juden, Zigeuner, Freimaurer und anderer<br />

vaterlandsloser Gesellen ---”<br />

Es verschlug mir die Sprache, doch hatte ich kein Recht, jetzt zu schweigen. Ich<br />

mußte für meine Worte einstehen, auch wenn ich mich unter dem Zwange<br />

bedrückender Umstände nicht in allen Einzelheiten an den Verlauf meines Vortrags<br />

erinnern konnte. Das, was er in höchst interessante Zusammenhänge mit seiner<br />

Arierzüchtung zu bringen versuchte, hatte ich jedenfalls nicht gesagt. Nun war<br />

zwar ein nächtliches Gespräch auf einer Brücke über die Wien sicher nicht in der<br />

Lage, in einem Ritt abzubauen, was sich in diesem jungen Kopfe an Haß und<br />

Bildungsmüll angesammelt. Doch sollte er nicht denken, ich ließe seine<br />

Auslassungen unwidersprochen gelten. “Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß die<br />

von Ihnen skizzierten Züchtungsabsichten mit meinem Ruf nach dem Aufbruch<br />

ins Reich der Edelmenschen nicht das Geringste gemein haben. Aber auch nicht das<br />

Allergeringste. Ich strebe eine moralische Veredelung der Menschen an,<br />

wohlgemerkt der Menschen aller Stämme und Rassen und Völker.”<br />

“Dann sind Sie also auch so ein Internationaler, ein - Judenknecht!”<br />

“Nun, ich will Ihre Worte zu so später Stunde nicht auf die Goldwaage legen.<br />

Doch - kennen Sie meinen Winnetou?”<br />

“Allerdings! Ich habe all Ihre Bücher gelesen und lese sie immer wieder.”<br />

“Sehen Sie! Winnetou ist der Edelmensch, wie ich ihn mir vorstelle.”<br />

“Und ich habe ihn immer für die Idealgestalt eines Kompanieführers gehalten.”<br />

Ich verstummte wie vom Donner gerührt. Das waren ja schreckenerregende<br />

Ausblicke! Die Panzerkompanie Winnetou meines Traums in Paris fiel mir ein.<br />

“Was machen Sie denn beruflich?” fragte ich schließlich, um kein Schweigen<br />

aufkommen zu lassen.<br />

“Ich bin Kunstmaler.”<br />

“Sie studieren?”<br />

“Vielleicht später einmal. Die Malerschule der Akademie ist noch immer mein<br />

Ziel, nachdem sie mich einmal abgewiesen hat.”<br />

“Was malen Sie denn?”<br />

“Was Wien-Besucher so kaufen. Stadtansichten zumeist. Ich hasse Wien, also<br />

male ich es.”<br />

“Und davon können Sie leben?”<br />

“Mehr schlecht als recht. Ich wohne in einem Männerheim. Diese Schuhe” - er hob<br />

mir den rechten Fuß entgegen - “habe ich von einem Heimkameraden geborgt, um<br />

in Ihren Vortrag kommen zu können.”<br />

“Haben Sie nie daran gedacht, Ihre Lage grundlegend zu verändern? Wenn nötig mit


einem Ruck? Sagen wir, indem Sie nach Amerika auswandern --- .” Ich war<br />

plötzlich entschlossen, mit großer Geste den gordischen Knoten zu lösen, zu dem<br />

mir das Schicksal das Leben dieses jungen Mannes geschürzt zu haben schien. “Ich<br />

bin bereit, Ihnen die Schiffspassage in die Neue Welt zu bezahlen --- “<br />

”Ich wandere höchstens in ein Land aus: nach Deutschland”, unterbrach er mich.<br />

“Weg aus Klösterreich! Nach München, ja, dorthin ginge ich jederzeit!”<br />

“Denken Sie, da gibt es keine Klöster? Und außerdem ist Deutschland bekanntlich<br />

kein Einwanderungsland.”<br />

“München ist die deutscheste aller deutschen Städte. Dort wird man mich nicht<br />

zurückweisen, glauben Sie mir.” Er stellte sich so, daß sein Gesicht in dem wenigen<br />

verfügbaren Lichte lag und versuchte, mich mit stechendem Blick zu fixieren.<br />

Von dem Humbug unbeeindruckt, entgegnete ich: “Vielleicht überlegen Sie sich<br />

meinen Vorschlag noch einmal.”<br />

“Dabei wird nichts anderes herauskommen.”<br />

“In drei Wochen fährt ein ganz neues Schiff nach Neuyork, die ‘Titanic’. Ich<br />

werde Sie einem Freund anvertrauen, der die Reise mitmacht.”<br />

“In drei Wochen?”<br />

Er schien nachzudenken, und ich schöpfte Hoffnung. Stead würde mir den<br />

Freundesdienst jedenfalls nicht abschlagen und während der Überfahrt ein Auge<br />

auf den Wirrkopf haben. Welche Gefahr in dessen Ansichten steckte! Sollte er sich<br />

doch in Amerika erst einmal die Hörner abstoßen. Müllers Sicht auf diese Dinge<br />

gefiel mir; ich selbst hatte, war ich ehrlich, drüben ganz ähnliche Erfahrungen<br />

gemacht.<br />

Da er schwieg, hakte ich nach: “Also - wie ist es? Sie überschlafen die Sache noch<br />

einmal und ich lade Sie für morgen zum Frühstück ein. Sagen wir um zehn Uhr.<br />

Anschließend gehen wir gleich Ihre Passage buchen.”<br />

“Und wo wollen wir - frühstücken?”<br />

“Schlagen Sie etwas vor. Ich bin in Wien nur Besucher.”<br />

“Ich gehe nicht viel in Lokale.”<br />

“Sie werden doch aber eines für unser morgiges Treffen benennen können.”<br />

“Es gibt da ein Kaffeehaus in der Herrengasse. Ein - Künstlerlokal. Café Central.”<br />

Der Name schien mir ein gutes Omen. Hatte ich auch in Berlin dadurch, daß ich im<br />

Hotel Central mein Quartier genommen, die besseren Zeiten mit Klara nicht wieder<br />

heraufzubeschwören vermocht, so war doch noch immer ein Wunder möglich. Und<br />

nichts Geringeres als ein Wunder konnte jetzt noch helfen. Dies alles bedenkend,<br />

sagte ich: “Gut. Also morgen früh um zehn im Café Central.”<br />

Er nickte stumm. Schweigend gingen wir los. Die Brücke blieb hinter uns, und<br />

schon am Ring trennten sich unsere Wege.<br />

Ich war vorzeitig am Ort der Verabredung. Das Café war gut besucht, doch fand<br />

sich noch ein Tisch, von dem aus ich den Eingang genau überblicken konnte.


Solcherart Platzwahl ist eine alte Gewohnheit von mir, ich habe mir auf diese<br />

Weise schon manche unliebsame Überraschung erspart.<br />

Am Nachbartische spielten zwei Männer Schach. Bei einer ersten Tasse Kaffee<br />

studierte ich die neuesten Zeitungen. Der Balkan war das alles beherrschende<br />

Thema. Worte wie Pulverfaß und Lösung durch das Schwert beherrschten die<br />

Schlagzeilen. Ich blieb schließlich beim “Deutschen Volksblatt” hängen und las in<br />

einem Bericht über den gestrigen Vortrag zu meinem nicht geringen Befremden:<br />

“Leider machte May dem Judentum, das im Sofiensaal sehr stark vertreten war,<br />

ein Kompliment, indem er darauf hinwies, daß dem Judentum die größte Sehnsucht<br />

nach Erlösung innewohne. Dann stellte er seinen Standpunkt gegenüber dem<br />

Christentum fest, um die Hochgedanken der Menschheit zu preisen, die eine in<br />

Wien lebende Frau in ihrem Buche so ausgezeichnet vertreten hätte.”<br />

Diese antisemitischen Schmierfinken! Und den Namen der in Wien lebenden Frau<br />

hielten sie keiner Erwähnung für würdig. Nicht einmal Friedens-Bertha sagten sie.<br />

Jenseits des Lokalen waren die Finanzwelt und höfisches Treiben in Berlin, Sankt<br />

Petersburg und London wichtigste Themen. Plötzlich sprang mir eine Meldung<br />

ganz anderer Art ins Auge, zunächst lediglich aus kollegialem Mitgefühl. Ich<br />

überflog sie, und sogleich stockte mir der Atem --- nein, das gab es doch nicht:<br />

“Berühmter Schriftsteller wird zur letzten Ruhe gebettet”, hieß es, und dann: “Der<br />

weit über die Grenzen seiner Heimat bekannt gewordene deutsche Autor Karl<br />

May, der sogleich nach seinem gestrigen Auftritt im Wiener Sofiensaal die<br />

Heimreise antrat, ist während der Zugfahrt einem Herzschlag erlegen. Seine<br />

sterbliche Hülle wird nach Mitteilung der Witwe übermorgen, Montag, am letzten<br />

Wohnort des Schriftstellers in Radebeul bei Dresden beigesetzt. Die Trauerfeier<br />

findet auf Wunsch der Hinterbliebenen in aller Stille statt. Es wird darum gebeten,<br />

von Beileidsbekundungen und Blumenspenden abzusehen.”<br />

Mir ward schwarz vor Augen. Vom Nebentisch erscholl das Setzen der Figuren als<br />

überlautes Gepolter. Eine Stimme rief gebieterisch: “Schach! Und Matt!”, dann<br />

war Stille und ich hörte nur noch meinen eigenen Puls hämmern. Mir war, als<br />

wollte mein Blut kochen.<br />

Herzschlag --- ! Das war ja unglaublich, und doch - da stand es! Ich überflog,<br />

sobald ich mich wieder gefangen, andere Blätter und fand, teils im Kultur-, teils im<br />

Gesellschaftsteil überall fast gleichlautende Meldungen. Allerdings sprachen einige<br />

von Erkältung statt Herzschlag.<br />

Ich bestellte einen Cognac. Nur jetzt nicht schlapp machen!<br />

Im Stapel der Zeitungen entdeckte ich durch Zufall die jüngste Ausgabe vom<br />

“Börsenblatt” der deutschen Buchhändler. Als ich auch dort meinen Namen las,<br />

wurde mir vieles klar. “Old Shatterhand ist tot”, hieß es in einer von Fehsenfeld<br />

eingerückten Anzeige. “Durch seinen Tod dürfte wieder eine große Nachfrage nach<br />

seinen Werken sein. Ich bitte deshalb, Ihr Lager zu komplettieren und ersuche die<br />

Herren Sortimenter um ihre tätige Verwendung. Roter Bestellzettel anbei--- .”


Deutlicher gings nimmer. Angewidert faltete ich die Seiten zusammen und legte sie<br />

zurück zu den anderen Blättern. Fehsenfeld wollte offenbar nicht nur mit Karl-<br />

May-Filmen Geld machen, er setzte auch immer noch in ganz herkömmlicher<br />

Weise auf das gute alte Buchgeschäft. Ohne mir Honorar zahlen zu müssen. Roter<br />

Bestellzettel anbei !!! Also mußte ich im Zug von Wien nach Dresden mein Leben<br />

aushauchen und übermorgen begraben werden, damit er --- . Und Klara als<br />

lachende Witwe ---.<br />

Eine Gänsehaut überlief mich. Sie rochen das große Geschäft. Aber sollten sie nur!<br />

Sollte Fehsenfeld ruhig rote Bestellzettel versenden soviel er mochte. Und wenn er<br />

die Herren Sortimenter tausendmal um ihre tätige Verwendung für seinen Gewinn<br />

an meinem Werk bat - der Sieger blieb ich. Ich wurde sie alle auf die kürzeste und<br />

für mich schmerzloseste Art und Weise los: ich ließ mich von ihnen beerdigen.<br />

Allein, ich mußte auf der Hut sein. Möglicherweise würden Sie sich meine Leiche<br />

noch nachträglich zu verschaffen suchen. In Wien war ich auch als Überlebender<br />

meiner Haut nicht sicher.<br />

Auf ein Wunder in letzter Minute hatte ich gehofft, und nun geschah mir so etwas!<br />

In mir erwachte Panik, ein Gefühl, das mir in jüngeren Jahren gänzlich fremd<br />

gewesen. Plötzlich wußte ich: hier konnte ich nicht länger bleiben; vielmehr mußte<br />

ich sofort etwas tun. Ich mußte Wien umgehend verlassen. Ohne erst nach dem<br />

Oberkellner zu rufen, ließ ich meine bescheidene Zeche auf dem Tischchen zurück<br />

und floh das Lokal. Der ursprüngliche Zweck meines Kommens war unwichtig<br />

geworden. Was ging mich jetzt der junge Wirrkopf noch an!<br />

Ich war inzwischen soweit beruhigt, daß ich klare Gedanken hinsichtlich eines<br />

Fluchtzieles fassen konnte. Ins Hotel zurück mochte ich nicht. Ein neues Leben<br />

begann sich leichter ohne Gepäck. Auf der Gasse winkte ich einen Fiaker herbei.<br />

Da hörte ich irgendwo Kirchenglocken die zehnte Stunde schlagen.<br />

“Zum Nordbahnhof!” rief ich dem Kutscher zu. Dort angekommen, wechselte ich<br />

das Gefährt und ließ mich zum Südbahnhof bringen.


14. VON DER BOSNA NACH KNOSSOS<br />

Auf dem Bahnhof von Triest fühlte ich mich endlich vor Verfolgern sicher. Der<br />

lang gehegte Wunsch, die Ausgrabungen des Palastes von Knossos in Augenschein<br />

zu nehmen, hatte mich nach dem Süden gehen lassen. Doch wollte ich, ehe ich nach<br />

Kreta aufbrach, das Buch über den Nordpolstreit und meine damit verbundenen<br />

Abenteuer schreiben. An dem Tage, da man im fernen Radebeul einen Sarg<br />

beerdigte, der angeblich meine sterblichen Überreste enthielt, mietete ich mich in<br />

einer kleinen Pension am Triester Hafen ein.<br />

Vier Wochen blieb ich in der schönen, lebensprallen Stadt. In dieser Zeit gelang mir<br />

noch keine einzige Zeile. Vielmehr brachte ich all meine Zeit damit hin, mich des<br />

Gedankens zu freuen: Karl May, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi, Tulimak -<br />

wie auch immer dein Name: Du bist noch am Leben! Der geschäftige Hafenbetrieb<br />

trug viel dazu bei, daß mir dies so gut gelang. Doch waren keineswegs alle Tage<br />

meines dortigen Aufenthalts unbeschwert. In Triest erfuhr ich die schreckliche<br />

Nachricht vom Untergang der “Titanic”. Stead gehörte nicht zu den Glücklichen,<br />

die gerettet wurden. Durch das eiskalte Wasser des Nordatlantik war er nun ins<br />

Reich der Toten gelangt, von dem er schon zu Lebzeiten einiges zu wissen meinte.<br />

Ich verließ Triest, sobald der Wunsch, irgendwo in der Einsamkeit endlich meine<br />

arktischen Erlebnisse zu Papier zu bringen, zum alles bestimmenden Drang<br />

angewachsen. Auf einem Lastensegler, der die Häfen an Dalmatiens schöner Küste<br />

zum Ziel hatte, brach ich weiter nach Süden auf. Die felsigen Ufer der Insel<br />

Curzola mit ihren Zypressenhainen und den kleinen, über die Hänge verstreuten<br />

Anwesen hatten es mir schließlich angetan. In dem Augenblick, da das Schiff auf<br />

der windgeschützten Reede unter Kettengerassel vor Anker ging, wußte ich: Hier<br />

wirst du schreiben können. Ich blieb, bezog eine Fischerhütte und saß tagaus tagein<br />

am Tisch vor dem Fenster mit einem Blick aufs Meer in Richtung des<br />

Sonnenuntergangs.<br />

In der Tat - es dauerte nicht lange, so begann ich zu schreiben: Das Leben des<br />

einzelnen ist das Menschheitsleben im kleinen. So soll es niemanden wundern, daß<br />

mein Erdendasein für einige Jahre eng mit jenem merkwürdigen Taumel verbunden<br />

war, der die Welt zu Beginn des Jahrhunderts erfaßt hatte. Die Rede ist von dem<br />

Bestreben, ja, von der Besessenheit, die Pole der Erde in Nord wie in Süd zu<br />

erreichen - koste es, was es wolle --- . Das Buch soll, wird es erst einmal fertig<br />

sein, gleichnishaft vieles von dem wiedergeben, was dem einzelnen wie der<br />

Menschheit insgesamt den Weg ins Reich der Edelmenschen so schwer macht.<br />

Wie anfangs keinesfalls abzusehen gewesen, wurde das Schreiben mir wieder zur<br />

geliebten Hauptbeschäftigung. Doch hetzte mich nun kein Verleger mehr, keine<br />

Frist für die Manuskriptabgabe saß mir im Nacken, kein Rückgabetermin für<br />

Korrekturfahnen, keine Sorge um Ausstattung, Auflagenhöhe etc. Auch beschlich


mich kein Angsttraum mehr, jemand könne eines Tages meine arktische<br />

Reiseerzählung als Film unters Volk bringen wollen - mit zwölf Schäferhunden als<br />

Schlittengespann und dem Erfolgsmimen der Saison als Eskimo Tulimak: Wie er<br />

unter gewaltiger Kraftanstrengung einen mit blutbesudeltem Fell bespannten<br />

Pappeimer, aus dem zwei abgesägte Kuhhörner ragen, der kläffenden Meute<br />

zuwirft - den Kopf des soeben erlegten Moschusochsen. Und wie plötzlich über<br />

der tiefschwarzen Lache aus Ochsenblut eine ausgestopfte Lumme an einem<br />

schlecht kaschierten Bande vom Himmel herabgelassen wird (man würde wohl in<br />

Wahrheit auf einen ausgestopften Buntspecht zurückgreifen müssen, da der<br />

Drehtermin drängt und so schnell keine Lumme zu beschaffen ist). Tulimak nimmt<br />

den Vogel ohnehin nur als Spiegelung in der eben im Froste erstarrten Lache aus<br />

dem dunklen Lebenssaft wahr, obwohl er sich mehrfach suchend nach dem<br />

Ursprung des Trugbildes umblickt. Wie er sich dabei hilflos mit der vom<br />

Kopfabtrennen blutigen Rechten über die Augen fährt ---.<br />

Nein, nichts von alledem belastete mich, und so ging es mit dem Schreiben zügig<br />

voran. Mein neuer Aufenthaltsort strahlte ein Fluidum aus, von dem jeder, der eine<br />

Reiseerzählung schreibt, nur träumen kann. Die Weite des Meeres vor mir, als<br />

strenge Akzente die dunkel flammend am Ufer aufragenden Zypressen --- . Hinzu<br />

kam Historisches. Auf Curzola erzählt man nämlich, Marco Polo sei auf dieser<br />

Insel geboren und nicht, wie die Welt für gewöhnlich annimmt, in Venedig. Andere<br />

wiederum sagen, das Geschlecht der Polo, zwar zweifelsfrei dalmatinischer<br />

Herkunft, sei schon viele Generationen vor Geburt des großen Reisenden, der den<br />

Familiennamen unsterblich machte, nach Venedig gegangen.<br />

Wie auch immer es sich damit verhielt - es war dem Fortgange meiner Arbeit an der<br />

Geschichte vom Streit um den Nordpol und meiner eigenen Rolle dabei in keiner<br />

Weise abträglich, daß ich sie an einem Orte begann, an dem der Name dieses<br />

Großen der Reiseschriftstellerei auf so wunderbare Weise lebendig geblieben.<br />

Schließlich fragt man sich - nicht anders als bei Peary, Cook und dem Nordpol -<br />

bis heute die nur allzu berechtigte Frage: Ist Marco Polo jemals in China gewesen<br />

oder ist er es nicht? Hat er womöglich sein berühmtes Buch allein aus den<br />

Berichten anderer zusammengestückelt, ohne selbst je über die venezianischen<br />

Handelsposten auf der Krim hinausgelangt zu sein, geschweige denn auf die Basare<br />

Turkestans, auf das Hochland von Pamir, in die Wüste Gobi und endlich über die<br />

Seidenstraße an den Hof Kublai Khans? Ist er als Plagiator gar so gewissenlos<br />

gewesen, daß er venezianische Handelskontakte systematisch dazu genutzt hat,<br />

Nachschlagewerke aus der ganzen damals bekannten Welt zu beschaffen?<br />

Handbücher für persische, arabische, indische Fernhändler zu Wasser wie zu<br />

Lande, Preislisten für Tuche, Waffen, Töpferwaren und Spezereien,<br />

Segelvorschriften für den Verkehr zwischen Hormus und Malakka, ja, bis ins<br />

Chinesische Reich, Aufstellungen der in Händlerkreisen beliebtesten Märkte,<br />

Karawansereien und Trinkwasserstellen mit Hinweisen auf Orte, die der Reisende


esser zu meiden habe ---. Eine schier unüberschaubare Menge an Literatur, das<br />

Weltwissen jener Zeit über die Mongolei und China enthaltend, über Sumatra,<br />

Ceylon, Indien und Persien und was sonst noch alles an seinem angeblichen<br />

Reiseweg lag. Literatur, die er dann in seinem Arbeitszimmer, mit Blick auf einen<br />

der stillen Seitenkanäle des Canale Grande, in aller Ruhe nach Nutzbarem sichtete<br />

und gewissenlos ausschlachtete.<br />

Doch selbst wenn sich dies alles so verhalten haben sollte, hat Marco Polos Buch<br />

von den Wundern der Ferne sein ureigenes Trittsiegel in der Welt hinterlassen,<br />

wenn ich mich einmal so jägerisch ausdrücken darf. Selbst Kolumbus hatte es bei<br />

der Entdeckung der Neuen Welt im Gepäck. Es wird immer gesagt, Kolumbus habe<br />

den westlichen Seeweg nach Indien gesucht und gefunden, doch wollte er vor allem<br />

eines: die von Marco Polo als märchenhaft reich beschriebenen Länder im Osten<br />

Asiens aufsuchen - bei Polo heißt alles, was östlich von Persien liegt, Indien. Als<br />

Kolumbus auf Kuba seine Leute ausschickte, den Hof des Großkhans zu finden,<br />

gab er ihnen als Hinweis zur örtlichen Geographie die Namen chinesischer Städte<br />

mit auf den Weg, die er bei Polo gelesen ---.<br />

Bekanntlich gibt es nur zwei Gattungen von Entdeckungsreisenden: einmal die<br />

Tollkühnen, die alles wagen und dabei auf der Strecke bleiben; und zum anderen<br />

diejenigen, die ihre Abenteuer überleben und der Welt ihre Erlebisse berichten<br />

können. Die Kategorie der Schreibtischabenteurer, deren Vertreter in Wahrheit nie<br />

Kopf und Kragen riskiert haben, ist eine Untergruppe der zweiten Gattung.<br />

Niemand kann Polo den Ruhm absprechen, ein großer Horizonterweiterer gewesen<br />

zu sein. Dazu ist es nicht nötig, daß er sein Leben gewagt - weder im Sandsturm<br />

auf dem Kamele noch an Bord taifunumbrandeter Dschunken. Sein Geist<br />

umschwebte mich, während ich schrieb: Whitney öffnete mit großem Pomp das<br />

Vorhängeschloß und klappte den Deckel der Kiste auf. Ganz oben gewahrte ich,<br />

von unsicherer Hand ausgeführt, eine Kartenskizze mit zwei dicken Kreuzen: dort,<br />

wo der Nordpol sein sollte und dort, wo Cook mit seinen beiden Eskimos nach<br />

dem Polsturm das Winterlager bezogen haben will. Mit Genugtuung las ich die<br />

Randbemerkung des Kartenautors To be revised ---.<br />

Allerdings währte die Schreibidylle auf der Insel Curzola, Gott sei es geklagt, nicht<br />

lange. Als im Herbst jenes Jahres der Balkankrieg ausbrach, stellte ich mich<br />

sogleich dem Roten Kreuz zur Verfügung. Nun mußte das Schreiben warten,<br />

andere Dinge waren vordringlicher.<br />

Gänzlich davon in Anspruch genommen, auf den Schlachtfeldern das Leiden zu<br />

mildern, kannte ich kein Verschnaufen. Unvorstellbar, was ich an Grausamkeiten<br />

erleben mußte, im Felde ebenso wie bei Massakern an der Zivilbevölkerung. Allen<br />

kriegführenden Mächten ging es bei diesen Stammesfehden - und ich bleibe dabei,<br />

um solche handelte es sich - vorrangig darum, im Interesse neuer Grenzziehungen<br />

Minderheiten, die bislang mit anderen Bevölkerungsteilen mehr oder weniger<br />

friedlich zusammengelebt, auszulöschen. Ein Major der Infanterie hat mir


gegenüber einmal sehr freimütig die dabei möglichen Vorgehensweisen abgewogen:<br />

“Es gibt im Grunde drei Wege, kurzfristig den zahlenmäßigen Anteil einer<br />

Bevölkerungsgruppe zu verringern oder ihn gar gänzlich zum Verschwinden zu<br />

bringen. Erstens: man läßt sie über die Klinge springen, und zwar möglichst alle:<br />

Männer, Frauen, Kinder, Greise. Zweitens: man vertreibt die Minderheit aus<br />

ihrem angestammten Siedlungsgebiet. Und drittens: man bringt die Minderheit<br />

dazu, sich urplötzlich selbst der Mehrheit zuzurechnen; das Ergebnis hängt allein<br />

von der Rigorosität der zur Anwendung gelangenden Einschüchterungsmaßnahmen<br />

sowie von Findigkeit und Hartnäckigkeit der Einschüchterer ab. Da die Menschen<br />

in diesen Gegenden ohnehin mehrsprachig aufwachsen, ist der Erfolg oft ein<br />

bleibender, und zwar über Generationen. In allen drei Fällen kann man das<br />

Territorium künftig in Gänze für die nun allein dort siedelnde Volksgruppe<br />

beanspruchen. Der Einfachheit halber haben wir allerdings meist den ersten Weg<br />

gewählt.”<br />

Es tut nichts zur Sache, welcher Fahne der Mann diente; in dieser Beziehung<br />

nahmen sich alle nichts. Der Edelmensch kann vor der Unverfrorenheit des Kalküls<br />

erschauern, doch ist er, sieht man den Dingen auf den Grund, dagegen machtlos.<br />

Notizen, die ich mir während der Kriegsmonate hin und wieder machte und die ich<br />

zuweilen sogar erzählerisch auszugestalten vermochte, sind mir in den Schluchten<br />

des Balkan abhandengekommen - irgendwo zwischen dem Amselfeld (das die<br />

Slawen Kossovo nennen und die Albaner Dardania) und der heiß umkämpften<br />

thrakischen Festung Adrianopel (dem Odrin der Bulgaren und Edirne der Türken).<br />

Ich muß diesen Teil meiner Lebensbeichte nach Lage der Dinge wohl für immer<br />

verloren geben.<br />

Umso froher stimmt es mich, daß ich nun, da das gräßliche Schlachten beendet,<br />

meinen Lesern für die allernächste Zukunft die Fertigstellung des Berichtes vom<br />

Streit um den Nordpol in Aussicht stellen kann. Ich glaube jetzt daran, auch mit<br />

diesem Werk Leser erreichen zu können. Es hat allerdings Zeiten gegeben, da ich<br />

dies nicht nur bezweifelt, sondern es schlichtweg für ausgeschlossen gehalten habe.<br />

Ich ließ mir, als ich nach dem Kriege unweit des bosnischen Stadt Sarajevo<br />

Quartier genommen, aus Curzola mein Manuskript nachschicken.<br />

Inzwischen sind seit meiner Flucht aus Wien zwei Jahre vergangen. Über einem<br />

der kristallklaren Seen, aus welchen der Fluß Bosna seinen Ursprung nimmt,<br />

besitze ich ein bescheidenes Haus; dort führe ich ein äußerst zurückgezogenes<br />

Leben. Meine Mittel, wieweil längst nicht mehr unbegrenzt wie in früheren Zeiten,<br />

gestatten mir ein ehrliches Auskommen. Ich hatte zunächst daran gedacht, hier<br />

unter dem Namen Kara Ben Nemsi zu leben, doch schien mir bei genauerem<br />

Überlegen der darin enthaltene Hinweis auf meine deutsche Herkunft nicht<br />

wünschenswert - jedenfalls nicht unter dem Zwange der Umstände, unter denen<br />

ich mein jetziges, mein zweites Leben begonnen. So nenne ich mich Kara<br />

Tulimakow.


Es kommt vor, daß mich der eine oder der andere für einen Russen hält. Mir sind<br />

daraus bisher keine Nachteile erwachsen, ganz im Gegenteil: die neue Identität<br />

verschafft mir im gegebenen Umfeld Respekt und Vertrauen. Auch hat sie jede<br />

Spur zurück in mein früheres Leben verwischt. Irritiert war ich allerdings, als vor<br />

wenigen Wochen auf dem Basar in Sarajevo, den ich gelegentlich besuche, eine<br />

Kinderschar hinter mir herlief und aus vollen Kehlen der Ruf “Nemsi, Nemsi”<br />

erscholl.<br />

Unlängst lernte ich einen jungen Serben kennen, Gavrilo Princip mit Namen, der in<br />

der Nähe bei seinen Eltern die Sommerferien verbringt. Im Herbst geht er nach<br />

Belgrad zurück, wo er studiert. Ich habe ihm, da er mir sehr wissensdurstig zu sein<br />

scheint, gelegentlich von Reisen erzählt, allerdings nur von solchen, die ich nie<br />

unternommen; zu groß ist die Gefahr, daß er meine Bücher gelesen hat und auf<br />

diese Weise dahinterkommt, wer ich wirklich bin. Ich erzählte von Besuchen am<br />

Zarenhofe und bei den Kosaken. Als Zeichen seines rückhaltlosen Vertrauens in<br />

Rußland und wohl auch aus Bewunderung für meine Person zeigte er mir darauf<br />

ein Waffenversteck unterm Stroh eines Schobers, das von einer Organisation<br />

angelegt worden sei, der auch er angehöre und die sich - nach seinen Angaben -<br />

Schwarze Hand nennt. Dieser Geheimbund verfüge in Belgrad über hohe und<br />

höchste Gönner, von denen angeblich auch die Pistolen und Handbomben in dem<br />

Verstecke stammten. Ziele und Zwecke des Bundes erläuterte er mir nicht, und ich<br />

drang nicht weiter ihn ihn. Zu oft sind mir in letzter Zeit Wirrgeister über den Weg<br />

gelaufen, und warum sollte es nur in Klösterreich junge Feuerköpfe geben und<br />

ausgerechnet in dem von diesem annektierten Bosnien nicht?<br />

Ich führe ein arbeitsreiches Leben, in dem äußere Ereignisse, die des Berichtens<br />

wert wären, selten sind. Mit Interesse verfolge ich alle verfügbaren Nachrichten<br />

von der Insel Kreta, wo bei den Ausgrabungsarbeiten am Palaste von Knossos<br />

ständig neue, ungeahnte Wunder einer friedvollen Menschheitskultur zutage<br />

gefördert werden. Ich brenne darauf, Herrn Evans kennenzulernen, der<br />

unermüdlich am Werke ist und offenbar keinen Stein auf dem anderen läßt. Dem<br />

Vernehmen nach soll Evans aus den Bruchstücken von Kunstwerken und<br />

Baulichkeiten, die er bei den Grabungen findet, das Leben in Knossos höchst<br />

anschaulich zu rekonstruieren suchen. Sobald die Arbeit an meinem gegenwärtigen<br />

Buche beendet sein wird, breche ich zu ihm auf. An diesem geschichtsträchtigen<br />

und für das Schicksal einer friedvollen Entwicklung der Menschheit so<br />

beispielhaften Orte hat schon der große Schliemann graben wollen, widrige<br />

Umstände hielten ihn jedoch davon ab.<br />

Ich bin bei der Niederschrift meiner Arktik-Erzählung inzwischen bis zu dem<br />

ereignisreichen Besuche in Wien gekommen. Daneben notiere ich hin und wieder<br />

auch dies und jenes, was sich in meinem Alltag ereignet. Das habe ich schon in<br />

Radebeul so gehalten.


Der gestrige Tag war einer der bewegtesten meines bisherigen Hierseins. Ich hatte<br />

mich eben zu kurzer Mittagsruhe niedergelegt, als an meine Türe geklopft wurde.<br />

Ich öffnete. Vor mir stand einer der Dorfjungen; er war mir zuweilen in<br />

Gesellschaft anderer Halbwüchsiger vor der örtlichen Moschee aufgefallen. Mit<br />

den Worten “Onkel Tulimakow, das soll ich dir geben!” hielt er mir einen Brief hin<br />

und war, kaum hatte ich das Papier in Händen, schon wieder auf und davon.<br />

Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich das Kouvert öffnete! Es enthielt eine<br />

Botschaft des Grafen Wilczek, die mit den Worten begann: “Lieber Herr May, von<br />

einem sich auf der Durchreise kurz in Wien aufhaltenden deutschen Journalisten<br />

habe ich Ihren jetzigen Aufenthaltsort erfahren.” Da hört sich doch alles auf! War<br />

das schon wieder ---? Ich fiel aus allen Wolken, fing mich dann aber und sagte mir:<br />

Nein, nein und nochmals nein! Es durfte einfach nicht sein! Nicht schon wieder<br />

Lebius! Schließlich war er nicht der einzige deutsche Journalist, immerhin gab es<br />

tausende. Aber davon abgesehen, von wem der Graf den Hinweis bekommen<br />

haben mochte - die Tatsache allein, daß mein jetziger Aufenthaltsort als Nachricht<br />

gehandelt wurde wie letzte Börsentips, die sich die Leute zuriefen, verschlug mir<br />

den Atem.<br />

Leicht benommen setzte ich mich. Was hatte ich falsch gemacht? Und - war mein<br />

Leben etwa in akuter Gefahr? Fest stand: Ich mußte, nötigenfalls ohne mein<br />

Manuskript abzuschließen, das Haus an der Bosnaquelle verlassen und sogleich<br />

nach Kreta aufbrechen. Dort konnte ich, und sei es als Handlanger, bei den<br />

Grabungsarbeiten höchst wirkungsvoll untertauchen. Zwar wurde dadurch der<br />

Zweck meiner Knossosreise geringfügig abgeändert, doch was tat das. Not kennt<br />

kein Gebot. Das friedvolle Leben der Bewohner jener alten Palastsiedlung würde<br />

sich mir auch erschließen, war ich nicht Gast des Hern Evans, sondern agierte als<br />

einer seiner archäologischen Hilfsarbeiter mit Schaufel und Handfeger. Ja, selbst<br />

dann, schwitzte ich in der sengenden Sonne unter der Last von mit Abraum<br />

beladenen Kiepen. Es gab keine andere Lösung. War erst mein jetziger<br />

Aufenthaltsort nicht mehr mein Aufenthaltsort, konnte man mich lange suchen.<br />

Und in einem kretischen Arbeitscamp unter Olivenbäumen blieb ich gar gänzlich<br />

unauffindbar.<br />

Meine schlimmsten Ängste legten sich, sobald ich las, was der Graf mir<br />

mitzuteilen hatte. “In der Ihnen bekannten Angelegenheit zeichnet sich eine<br />

interessante Entwicklung ab. Ich werde in absehbarer Zeit eine österreichische<br />

Expedition in die Antarktik entsenden. Sind Sie daran interessiert, die Leitung des<br />

Vorhabens zu übernehmen? Meines Wissens hat niemand, der die Südpolarländer<br />

besuchte, bisher von dort ansässigen Antarktikern berichtet. Für unsere Pläne<br />

hätten wir also freies Feld. Sie kennen meine Bedingung, sie ist unverändert: sagen<br />

Sie mir, daß Sie über die Eiserfahrung verfügen, die für den Expeditionsleiter<br />

unbedingt notwendig ist, und Sie sind auf der Stelle mein Mann. Sie wissen,<br />

wovon ich rede.”


Natürlich wußte ich es. Eiserfahrung ---! Ahnte er denn etwa, daß ich am Nordpol<br />

gewesen? Unmöglich! Andererseits - warum war er so hartnäckig? Ich las weiter:<br />

“Ihre moralische Pflicht als Edelmensch gebietet Ihnen, mit der Wahrheit nicht<br />

hinterm Berge zu halten. Sollten Sie Bedenken haben, selbst nach Wien zu<br />

kommen, so würde ich das nur allzu gut verstehen. Ihre von Ihnen selbst<br />

arrangierte ‘Beerdigung’ in Radebeul ist hier generell auf Unglauben gestoßen. Alle<br />

Welt - auch im Auslande - hält die Nachricht noch immer für einen Geniestreich<br />

Old Shatterhands. Lassen Sie es nicht den letzten sein!” ---<br />

Ich ließ das Blatt sinken. Ich - ich selbst sollte meine eigene Beerdigung fingiert<br />

haben! Ja, mit welcher Absicht denn? Um ungestört mein Buch schreiben zu<br />

können? Um incognito Kreta zu besuchen? Um ---. Ich fand keine Antwort auf<br />

meine Fragen und gab die Suche bald auf. “Sollten Sie also gegen ein persönliches<br />

Erscheinen in Wien irgendwelche Bedenken hegen”, schrieb der Graf weiter, “so<br />

bietet sich bald eine andere Möglichkeit. Wie Sie sich erinnern werden, bin ich mit<br />

Erzherzog Franz Ferdinand gut befreundet. Ferdel wird in wenigen Wochen<br />

Sarajevo einen Besuch abstatten, um dort unsere Truppen zu inspizieren. Seine<br />

Gemahlin begleitet ihn. Er hat mir erzählt, daß er mit Ihnen bekannt ist. Lieber<br />

May! Was Sie ihm für mich sagen, ist mir so glaubwürdig, als hörte ich es von<br />

Ihnen selbst.”<br />

Wie käme ich denn dazu, Ferdel - dem Erzherzog - zu sagen, daß ich am Nordpol<br />

gewesen ---! Undenkbar! Kein Mensch hatte es je erfahren sollen, mit Amundsen<br />

hatte ich aus verständlichen Gründen eine Ausnahme gemacht. Aber dem<br />

Erzherzog!? Wußte ich denn, was seine famose Militärkanzlei aus der Mitteilung<br />

machen würde? Diesen Burschen traute ich nicht übern Weg. Andererseits - wenn<br />

ich schwieg und dadurch die mir als Einzigem zustehende Rolle in den<br />

Antarktikplänen des Grafen verscherzte, aus purer Zurückhaltung und falscher<br />

Bescheidenheit ---? Nicht auszumalen, was für Folgen das hätte!<br />

Die Wechselbäder meiner Empfindung rissen nicht ab. Nun, wenigstens brauchte<br />

ich nichts zu überstürzen. In wenigen Wochen erst würde Ferdel in Sarajevo sein.<br />

Auch startete die Expedition nicht schon übermorgen, sondern in absehbarer Zeit.<br />

Allerdings - hatte ich wirklich die Absicht zu diesem neuen Geniestreich Old<br />

Shatterhands (auf den der Graf offensichtlich im innersten Herzen hoffte), so<br />

mußte ich mich entscheiden, und zwar bald. Irgendwann wird die Absicht zum<br />

Totfeinde des Beabsichtigten. Man muß sie aufgeben und aus der Absicht die Tat<br />

formen.<br />

Spät im Juni wurde es drückend heiß. Ich fand Abkühlung im Quellsee vor dem<br />

Hause. Gelegentlich brachte ich vom Bade eine mit den Händen gefangene Forelle<br />

heim. Meine Entscheidung war inzwischen gefallen. Nach Wien fahren mochte ich<br />

nicht. Doch würde ich, sobald ich den Erzherzog hatte sprechen können, meinen<br />

Kretabesuch antreten. Dazu mußte Zeit bleiben. Das Buch war so gut wie


abgeschlossen, und wenn meine Eiserfahrung nun noch eine unerwartete<br />

Fortsetzung erleben sollte, so konnte mir das nur recht sein - zumal unter den<br />

gänzlich veränderten Umstäden. Die Hinwendung nach Süden grenzte unser Sache<br />

klar gegen die nordischen Faseleien aller “völkischen” Edelmenschenzüchter ab.<br />

Auch hatten wir für unser Projekt nun einen ganzen bisher menschenleeren<br />

Kontinent zum Versuchsfeld, nicht nur die einsame Eisinsel Wilczekland ---.<br />

Die Nachricht vom bevorstehenden Besuch des Erzherzogs sprach sich wie ein<br />

Lauffeuer herum. Der Termin der Inspektionsreise rief Unzufriedenheit auf den<br />

Plan: ausgerechnet am Vitustag wollte er kommen! Man muß wissen, daß an dem<br />

St. Veit gewidmeten Kalendertage des Jahres 1389 das mittelalterliche Serbenreich<br />

mit der Schlacht auf dem Amselfelde seine Unabgängigkeit verlor und unter<br />

türkische Oberhoheit geriet. Mit Säbelgerassel das Serbien von heute einschüchtern<br />

zu wollen und es durch das Auffahren von Kanonen an seine Schmach zu erinnern<br />

- das sah ganz nach dem dummen, höchst gefährlichen Waffenhoch!-Rummel aus,<br />

wie ihn Baronin von Suttner so treffend an die Wand gemalt. Ferdel jedenfalls<br />

stand für die ganze Richtung.<br />

Mich durfte all das jetzt nicht anfechten, für die gesamte Menschheit stand mit<br />

meiner Mission Großes und Größtes auf dem Spiele. Am Vortag der<br />

Truppenschau machte ich mich auf den Weg nach Sarajevo.<br />

Der Erzherzog sollte am nächsten Morgen gemeinsam mit seiner Gemahlin Einzug<br />

in die Stadt halten, und zwar von der Bahnstation aus im Automobil. Mein Plan<br />

war, inmitten anderer Zuschauer das hochherrschaftliche Gefährt zu erwarten und<br />

mich ihm dann, sobald es meine Höhe erreicht, auf wenige Schritte zu nähern. Ich<br />

mußte es so anstellen, daß ich ungestört die entscheidenen Worte zu Franz<br />

Ferdinand sagen konnte. War er von Wilczek über die Möglichkeit unterrichtet,<br />

daß ich ihn ansprechen würde, dürfte einem glücklichen Gelingen eigentlich nichts<br />

im Wege stehen. Ich war jetzt fest entschlossen, ihm zu sagen, was Graf Wilczek<br />

zu hören erwartete: Ich habe den Nordpol erreicht! Das mußte genügen zur<br />

Legitimation meiner Eiserfahrung ---.<br />

In einer Herberge am Stadtrand - halb orientalischer Han, halb europäisches<br />

Gasthaus - nahm ich Quartier für die Nacht. Ich schlief gut und traumlos, erwachte<br />

jedoch vor der Zeit. Durch eine Ritze zwischen den Fensterläden sah ich über<br />

einem Walnußbaume den Halbmond am Himmel stehen, und wie es so ist - wenn<br />

man früh erwacht und schlaflos im Bett liegt, kommen einem mancherlei<br />

Gedanken. So auch mir am Morgen dieses höchst wichtigen Tages. Wie wäre es,<br />

dachte ich, wenn du Kaschadu rufst und sie bittest, nach Rudolf Lebius Ausschau<br />

zu halten? Zu vieles kam mir, gelinde gesagt, spanisch vor, seit er mir im Café<br />

Bauer Unter den Linden Pearys abermaliges Kommen angekündigt und bei dieser<br />

Gelegenheit seinen Reueschwur schlankweg aufgezwungen. Unser unverhofftes<br />

Wiesersehen in Le Havre, wo er mich dazu bestimmte, nicht nach Buenos Aires,<br />

sondern nach London zu gehen; dort das Wiedersehen mit Cook, den jemand - ja,


wer war dieser Jemand? Cook selbst konnte sich an die Person nicht erinnern -<br />

geheißen, mich in London zu treffen ---. Und dann das kleine Alehouse hinterm<br />

Trafalgar Square, schon drüben im Westend! Welch Zufall - dort war ich dem<br />

Erzherzog begegnet, dem Lebius - abermals Zufall? - ebendieses Lokal gleichfalls<br />

empfohlen hatte, wo man in der Tat ausgezeichneten Gerstensaft zapfte ---. Ferdel<br />

und ich hatten Gemeinsamkeiten gefunden, ich hatte auch Trennendes konstatiert,<br />

war aber jedenfalls, nachdem mir der Erzherzog eine Spur aufgezeigt, die mich zu<br />

Klara zu führen schien, nach Wien aufgebrochen und von dort auf Grund einer<br />

Zeitungsnachricht, die Graf Wilczek, wie sich jetzt herausstellte, für eine bewußte<br />

Irreführung des Publikums hielt (meine Irreführung, um die Sache auf die Spitze zu<br />

treiben!) nach dem Süden geflohen. Und dort hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als<br />

nach zwei Jahren Versteckspielen, die offenbar meine Spur nicht hatten<br />

verwischen können, besagtem Erzherzog mitzuteilen, was ich ganz tief in meinem<br />

Innersten verschlossen gehalten und nur in einem einzigen Falle jemandem<br />

anvertraut: Ich habe den Nordpol erreicht ---. Trotz allem war ich unbeirrt. Was<br />

getan werden mußte, mußte getan werden. Nur wollte ich sicher gehen, daß Lebius<br />

sich nicht irgendwo hier in der Nähe herumtrieb und mir Fallstricke legte. Also<br />

stand ich auf und rief, wie ich seit jenem Tag auf der Parkbank in Kopenhagens<br />

Botanischem Garten vor fast fünf Jahren immer wieder gerufen hatte: “Kaschadu!”<br />

Ich öffnete die Läden vor dem Fenster einen Spalt weit und schickte mich an, zu<br />

warten.<br />

Nur Minuten vergingen, da erbebte das Geäst des Nußbaumes vor dem Gasthaus<br />

in einem heraufziehenden Sturm. Das Laub raschelte bedrohlich, und als ich<br />

hinausblickte, sah ich im fahlen Lichte des frühen Morgens ein leuchtendes<br />

Vogelgerippe flügelschlagend nach einem Platz im Geäst suchen, auf dem es landen<br />

konnte. Die Absicht gelang schließlich nach mehreren vergeblichen Anflügen. Der<br />

Wind flaute ab, das Skelettt blockte auf und schüttelte sich laut rattelnd. Es war<br />

etwa tauben- bis krähengroß. Was mochte die Erscheinung bedeuten? Ich zog die<br />

Fensterläden dicht und schaute durch die Ritze. Da war der knöcherne Vögel im<br />

Walnußbaum auf einmal verschwunden.<br />

Doch keine Minute verging - ich war noch nicht wieder zurück in mein Bett<br />

gelangt -, da stand ein Fremder im Zimmer. Ich sah genauer hin und erkannte Stead.<br />

Dabbya Stead---!<br />

“Was tust du hier?” fragte ich.<br />

“Du hast mich gerufen.”<br />

“Ich habe die Schamanin Kaschadu gerufen, nicht dich.”<br />

“Kaschadu kann nicht kommen. Sie wird nie mehr kommen.”<br />

“Wie das?”<br />

“Sie ist erst vor einigen Wochen ins Reich des Todes hinübergewechselt und dort<br />

noch Novizin. Du mußt schon mit mir Vorlieb nehmen.”<br />

Ich hatte so viele Fragen und fragte ihn schließlich nur: “So kommst du von dort?”


“Ja, von dort. Weshalb hast du nach Kaschadu gerufen?”<br />

Ich wußte nicht, ob ich ihn wirklich nach Lebius fragen sollte. Im Grunde<br />

genommen waren das doch Dinge, die niemanden etwas angingen. Und ganz sicher<br />

Dabbya nicht. So antwortete ich ausweichend: “Ich wollte sie wiedersehen.”<br />

“Das kannst du vergessen”, entgegnete er. “Jedenfalls erst einmal. Und was liegt<br />

wirklich an?”<br />

“Ich stehe vor dieser echt schwierigen Entscheidung.”<br />

“Du meinst - Sein oder Nichtsein?”<br />

“Darum geht es doch immer. Du bist nicht gekommen, mir das zu eröffnen!” Da<br />

er schwieg, nahm ich alle Kraft zusammen und sagte: “Es handelt sich um - um ein<br />

Problem, das ich mit jemandem besprechen muß; allein kann ich es nicht<br />

bewältigen. Ich will den Erzherzog sprechen. Gleich am Morgen.”<br />

“Zu welchem Zweck?”<br />

“Er ist mir als Bote für eine Nachricht benannt worden.”<br />

“Boten sind wir doch alle - so oder so. Wie soll deine Nachricht lauten?”<br />

“Ich bin als einziger Mensch am Nordpol gewesen.”<br />

“So, bist du das?”<br />

“Ja.”<br />

“Warum hast du das bisher nie erwähnt?”<br />

“Solange du Hearst-Reporter warst, brauchtest du das nicht zu wissen. Doch jetzt<br />

---!“<br />

”Dann sage es ihm.”<br />

”Er wird heute zu früher Stunde in die Stadt einfahren und ich, ich ---”<br />

”Du stellst dich mit der Menge am Straßenrand auf und wartest.”<br />

“Das hatte ich vor. Genau so. Woher weißt du das?”<br />

“Sobald sein Kraftwagen neben dir angelangt ist, machst du dich ihm bemerkbar<br />

und sagst ---“<br />

”Ferdel, ich habe ---<br />

”Ihr duzt euch?”<br />

“Nicht ganz. Aber er hat mir unter Umgehung der Titel seinen Kurznamen<br />

angeboten.”<br />

“Ausgezeichnet! Also, du sagst ihm, du hättest den Nordpol entdeckt. Und dann -<br />

--”<br />

“Dann wird sich zeigen, was er mit der Nachricht anfängt. Ob er sie einfach dem<br />

Empfänger übermittelt, für den sie bestimmt ist, oder aber---”<br />

“Welchem Empfänger?”<br />

Ich erklärte ihm, wer auf die Nachricht warte und warum. Darauf Dabbya: “Es gibt<br />

tausende Gründe, daß das schiefgehen kann. Aber nehmen wir einmal an, es geht<br />

gut --- jedenfalls was deinen Part betrifft.”<br />

“Wie meinst du das?”<br />

“Wie ich es sage. Weißt du überhaupt, wie du das alles anstellen wirst?”


“Ich gehe, sobald ich gefrühstückt habe, zur Uferstraße.”<br />

“An der Lateinerbrücke scheint mir der günstigste Platz zu sein, in der Menge auf<br />

das Auto zu warten.”<br />

“Sobald es nur noch wenige Schritte von mir entfernt ist, rufe ich Franz Ferdinand<br />

zu, was ich ihm zu sagen habe.”<br />

“Nehmen wir nun einmal an, es klappt nicht wie geplant.”<br />

“Wie meinst du das?”<br />

“Vielleicht erkennt er dich nicht sofort. Oder er versteht nicht, was du ihm sagst.<br />

Oder - selbst das ist eine Möglichkeit - irgendjemand könnte daran interessiert<br />

sein, dich zu hindern, mit dem Erzherzog zu sprechen.”<br />

Ich dachte nach und sagte: “Höchstens Gavrilo.” Von Lebius schwieg ich lieber.<br />

“Wer ist Gavrilo?” fragte er scharf.<br />

“Eine Gelegenheitsbekanntschaft.” Ich berichtete, wie ich den jungen Mann<br />

kennengelernt, was ich von ihm und was er von mir wußte und daß er mir das<br />

Waffenlager der Schwarzen Hand unter jenem Strohschober gezeigt.<br />

“Er wird in dem Augenblick, da du das Wort an Franz Ferdinand richtest, die<br />

Pistole ziehen und auf dich schießen.”<br />

“Warum?”<br />

“Aus Angst, du verrätst dem Erzherzog das Waffenversteck.”<br />

“Aber das ist doch Unsinn!” rief ich entsetzt.<br />

“So, ist es das? Was dann kommt, ist noch viel unsinniger.”<br />

“Bedenke doch nur, was passiert, wenn er durch Zufall nicht nur mich trifft,<br />

sondern auch den Erzherzog. Womöglich noch dessen Gattin!”<br />

“Sorglosigkeit und Frohsinn und Wohlgerüche ”, rief Stead ganz außer sich.<br />

“Denke doch mal an deine Reise zum sogenannten Lebensstern ---.” Dazu prustete<br />

er aus voller Lunge los, als blase er ein halbes Dutzend Fanfaren auf einmal.<br />

Allerdings - ich erinnerte mich des frohen Treibens, das im Vorhof des Todes aus<br />

dem anderen Teile der Siedlung vernehmbar war. Erkannte nun auch sein<br />

Trompeten als die schrillen Sphärenklänge wieder, welche damals zu hören<br />

gewesen. Ich hatte mich trotzdem geweigert, hinüberzuwechseln und war<br />

stattdessen zur Erde zurückgekehrt.<br />

“Nun ist es soweit, May! Jetzt gibt es kein Ausweichen mehr, kein Zurück in das<br />

alte Jägerleben.”<br />

“Aber Stead ---. Das ist ja entsetzlich!”<br />

“Fürchtest du dich?”<br />

“Nein! Aber bedenke doch nur ---! Niemand wird glauben, daß der Anschlag mir<br />

galt. Und daß der Erzherzog und seine Sophie nur höchst bedauerliche<br />

Kolateralschäden waren ---. Die Spur der von Gavrilo benutzten Waffe führt aber<br />

unweigerlich nach Belgrad. Es wird die phantastischsten Vorwürfe und<br />

absurdesten Schuldzuweisungen hageln. Nicht auszumalen! In wenigen Wochen<br />

haben wir ganz ohne Zweifel den großen europäischen Krieg. Und schließlich den


Weltkrieg ---.”<br />

“Ganz unausweichlich!” rief er. “Eine neue Zeit für noch größere Dinge! Der Streit<br />

um den Nordpol wird schon bald vergessen sein.” Ehe ich ihn fragen konnte, wie er<br />

das meinte, war er verschwunden.<br />

Ich legte mich aufs Bett und versuchte nachzudenken. Es gelang mir nicht. Eine<br />

Zeit für noch größere Dinge... Äußerst beunruhigt stand ich auf. Setzte mich an das<br />

Tischchen vorm Fenster, stieß die Läden auf und ließ Tageslicht ein. Sodann<br />

versuchte ich, schreibend Ordnung in meine Gedanken zu bringen. Nach wie vor,<br />

schrieb ich, bin ich entschlossen, zu tun, was zu tun meine Pflicht. Das habe ich<br />

mein Leben lang nicht anders gehalten. Zunächst aber gehe ich frühstücken. In<br />

einer Kaffeestube gleich nebenan gibt es saftigen Baklava, mit viel Honig. Und mit<br />

Walnüssen, vermutlich vom Baum vor dem Fenster. Dazu würzigen Kaffee in<br />

einem kupfernen Stielkännchen. Frisch gestärkt mache ich mich dann auf den Weg<br />

zur Lateinerbrücke.<br />

E N D E

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!