Pressespiegel Der Ignorant und der Wahnsinnige - Thomas Bernhard
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Die Zeit 03.01.2013<br />
Erscheinungsland: Deutschland | Auflage: 504.072 | Reichweite: Reichweite: 1.696.000 (3,1%) | Artikelumfang: 70.539 mm²<br />
Seite: 47 1/3<br />
Thema: Burgtheater<br />
Autor:<br />
ANDREA HEINZ<br />
Ein Sekt auf<br />
die Todesangst<br />
Anfragen für weitere Nutzungsrechte an den Verlag<br />
Jan Bosse inszeniert <strong>Thomas</strong> <strong>Bernhard</strong>s »<strong>Der</strong> <strong>Ignorant</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Wahnsinnige</strong>« am Wiener Burgtheater<br />
als unerbittliche Desillusionskunst<br />
Presseclipping erstellt am 03.01.2013 für Burgtheater Wien zum eigenen Gebrauch nach §42a UrhG.<br />
VON ANDREA HEINZ<br />
vierzig Jahren wurde <strong>Thomas</strong><br />
<strong>Bernhard</strong>s <strong>Der</strong> <strong>Ignorant</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Wahnsinnige</strong> bei den Salzburger<br />
Festspielen uraufgefiihrt, <strong>und</strong><br />
Vor<br />
wer Claus Peymanns Inszenierung<br />
in Salzburg o<strong>der</strong> als Aufzeichnung<br />
gesehen hat, erinnert<br />
sich an Bruno Ganz: Blasiert dozierte er als<br />
Doktor vor sich hin, mephistophelisch lächelnd<br />
eine Leichensektion erörternd. Dieser Doktor<br />
war über jeden Zweifel erhaben, er war ganz bei<br />
sich. Ulrich Wildgruber, <strong>der</strong> Vater, daneben: ein<br />
sabbeln<strong>der</strong>, schwitzen<strong>der</strong>, saufen<strong>der</strong> Fleischberg,<br />
ihm alles nachplappernd. <strong>Der</strong> Doktor war<br />
hier die Respektsperson. Immerhin ist es in seinem<br />
ständigen Monologisieren vor allem er, <strong>der</strong><br />
die großen Fragen des Dramas aufwirft: Wie<br />
hält man ein Leben durch, das doch am Ende<br />
vergeblich scheint? Was tut man, wenn die Perfektion<br />
erreicht ist <strong>und</strong> eigentlich nur noch <strong>der</strong><br />
Tod folgen kann? Wenn die Kunst auch nicht<br />
mehr helfen kann, vielmehr <strong>der</strong> Kunstbetrieb<br />
selbst schon »ein Misthaufen« o<strong>der</strong> gleich »die<br />
Hölle« ist?<br />
Vierzig Jähre später, in Jan Bosses Inszenierung<br />
für die Silvesterpremiere am Wiener Burgtheater,<br />
ist Joachim Meyerhoff <strong>der</strong> Doktor. Wenn<br />
er während seines Vortrags mit den Händen dirigiert,<br />
sich zwischendurch manieriert über die ergrauten<br />
Haare streicht, dann fühlt man sich kurzzeitig<br />
an Jan Josef Liefers als Professor Boerne<br />
erinnert, den Gerichtsmediziner aus dem Münsteraner<br />
Tatort: ein selbstverliebter, größenwahnsinniger<br />
Feingeist. Meyerhoff aber bricht jede<br />
solche Eindeutigkeit, die Autorität seines Doktors<br />
ist fragwürdig. Das Warten auf die Königin<br />
<strong>der</strong> Nacht macht ihn hibbelig, er tigert nervös<br />
durch die Gar<strong>der</strong>obe, stöhnt gekünstelt auf. Ungelenkt<br />
drapiert er seinen Körper in die Szenerie<br />
<strong>und</strong> scheint doch nie so recht zu wissen, wohin<br />
mit ihm. Dieser Doktor sitzt nicht im Sessel er<br />
balanciert auf <strong>der</strong> Lehne, mit überkreuzten Beinen<br />
<strong>und</strong> am liebsten auch noch verdrehten Armen.<br />
Er spricht von <strong>der</strong> Kunst, einer »ungeheuren<br />
Nervenanspannung«, von <strong>der</strong> Koloratursängerin,<br />
einem »vollkommen künstlerischen Geschöpf«,<br />
<strong>und</strong> meint doch immer auch sich selbst.<br />
Nur einmal kommt er zu sich <strong>und</strong> wird völlig<br />
klar, dann nämlich, wenn er die Wahrheit des<br />
Stückes ausspricht: »Einmal glauben wir, die Literatur,<br />
einmal glauben wir, die Musik, einmal<br />
glauben wir, Menschen, aber es gibt kein Mittel.«<br />
Sonst aber ist dieser Doktor in seinem manierierten<br />
Gehabe, dem nie enden wollenden<br />
t Gerede von <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Künstler, von toten<br />
2r.Körpern, »Zerglie<strong>der</strong>ung des Gehirns« <strong>und</strong><br />
»subkutanen Fettpolstern« vor allem eines: ein<br />
Kunstgeschöpf, weit entfernt von allem, was<br />
e, man als Natürlichkeit o<strong>der</strong> Lebendigkeit be-<br />
3zeichnen könnte.<br />
Diesen Part übernimmt, trotzdem o<strong>der</strong> gerade<br />
weil er säuft, Peter Simonischek als Vater. Er<br />
.2 ist raumgreifend, <strong>und</strong> das nicht nur wegen seiner<br />
imposanten Wampe. Für ihn ist <strong>der</strong> Doktor<br />
keine ernst zu nehmende Instanz mehr, er lacht<br />
ihn unverhohlen aus, äfft ihn nach. Neben dem<br />
immer etwas verklemmt agierenden Doktor ist<br />
Sirnonischeks Vater ein reiner Kraftmensch,<br />
spontan <strong>und</strong> unverbildet. Wenn ihm danach ist,<br />
drischt er mit seinem Blindenstock auf dem<br />
Boden o<strong>der</strong> auf dem Frisiertisch herum, erhebt<br />
die Stimme, betatscht seine Tochter.<br />
Sunnyi Melles behauptet ihre Koloratursängerin<br />
neben den beiden Männern, sie schwankt<br />
zwischen konzentrierter Abwesenheit, Gekreisch<br />
<strong>und</strong> hysterischem Gelächter. Ein panischer<br />
Schrei entfährt ihr, als ihre Robe unter<br />
dem Arm zerreißt. Es ist <strong>der</strong> völlige Zusammenbruch:<br />
Die Bühne färbt sich in ein an<strong>der</strong>es<br />
Licht, <strong>der</strong> blinde Vater stürzt, <strong>der</strong> brüllende<br />
Doktor <strong>und</strong> Frau Vargo (Stefan Wieland, <strong>der</strong><br />
auch den Kellner Winter spielt) stürmen herbei,<br />
als gälte es, eine Notoperation durchzuführen.<br />
Es herrscht Todesangst denn freilich geht<br />
es hier nicht um ein zerrissenes Kostüm, son-<br />
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