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Gottesdienstlehre - Mohr Siebeck Verlag

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§ 35 Liturgische Kunst als gebildete Routine<br />

Bildung und<br />

liturgische<br />

Bildung<br />

faltet wurden, um das Handeln in gebildeter Routine zu ermöglichen. Beim<br />

liturgischen Handeln geht es um eine Kunst, bei der die Regeln von großer<br />

Bedeutung sind; und dennoch enthalten die Regeln noch nicht die Anwendung,<br />

wie das bei den „mechanischen Künsten“ der Fall ist. 4 Wie in der Kunst<br />

der Erziehung besteht die liturgische Kunst in der situativen Anwendung bei<br />

gleichzeitiger Durchbrechung der Regeln.<br />

In diesem Zusammenhang kann man sich den Unterschied zwischen Routine<br />

und bloßer Gewohnheit an anderen künstlerischen Handlungsformen<br />

klar machen: Der Dirigent aus Gewohnheit wird die Partitur so durchgehen<br />

wie schon viele Male vorher, während der routinierte Künstler bei jedem Konzert<br />

den Eindruck entstehen lassen kann, dass das Eigentliche dieser Sinfonie<br />

gerade in diesem Moment ganz neu zu Tage tritt. Das Merkwürdige dabei<br />

ist, dass auch der nur mäßig gebildete musikalische Laie sowohl Fehler und<br />

Unsicherheiten als auch die spannungslose Gewohnheit leicht merkt. In diesem<br />

Falle fällt die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Handelnden, während<br />

bei der gelungenen Darstellung das Kunstwerk selbst die Aufmerksamkeit<br />

auf sich zieht und das Können des Künstlers in den Hintergrund tritt.<br />

Das liturgische Handeln lässt sich aber nicht nur mit dem künstlerischen,<br />

sondern auch mit dem pädagogischen Handeln vergleichen. Auch hier geht<br />

es um den routinierten Regelgebrauch in souveräner Freiheit. Je sicherer man<br />

beim Unterrichten in der Sache ist und je routinierter man die grundlegenden<br />

Techniken des Gespräches und der Zuordnung einzelner Unterrichtsphasen<br />

handhabt, je selbstverständlicher man sich in der „Stundendramaturgie“<br />

bewegt, desto sorgfältiger kann man die Äußerungen und Lernfortschritte<br />

der Gruppe wahrnehmen und darauf reagieren. Auch das Unterrichten ist<br />

eine Kunst, bei deren Ausübung über die Art der Regelverwendung in jedem<br />

Moment neu entschieden werden muss. Künste lernt man nicht durch das<br />

Verstehen und Anwenden von Regeln – dann könnte jeder schnell ein Gedicht<br />

schreiben oder eine Fuge komponieren. Künste benötigen neben dem<br />

Talent die intensive persönliche Durchdringung der Sache, so dass diese zu<br />

einem Teil der eigenen Persönlichkeit wird. Dieser Prozess wird seit der deutschen<br />

Romantik zu Recht mit dem emphatischen Begriff der Bildung beschrieben.<br />

In diesem Sinne sollen sich liturgische Kenntnisse und Interessen<br />

in der eigenen Praxis als liturgische Kunst formieren.<br />

Auch darum ist es sinnvoll, bei der handlungsorientierten Perspektive eines<br />

Lehrbuches vom liturgischen Normalfall auszugehen. Für alles künstlerische<br />

Handeln, sei dieses musikalisch, pädagogisch oder liturgisch, gilt, dass<br />

4 Man kann in diesem Zusammenhang auch auf die Politik verweisen: „so haben die<br />

Künste die auf der Seite der Staatskunst, Erziehungskunst und also des Kirchenregiments<br />

liegen, diesen Charakter mit den schönen Künsten gemein“ (Schleiermacher<br />

37).<br />

392<br />

Leseprobe aus Meyer-Black: <strong>Gottesdienstlehre</strong><br />

(c) 2011 <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> www.mohr.de

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