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Gottesdienstlehre - Mohr Siebeck Verlag

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3. Schwelle und Unterbrechung: Der liturgische Ort und die liturgische Zeit<br />

die Sicherheit, die in modellhaften Handlungsmustern erworben wurde, vermehrte<br />

Gestaltungsmöglichkeiten auch in anderen Formen eröffnet. In diesem<br />

Sinne hilft der Sonntagsgottesdienst als Grundmodell den liturgisch Tätigen<br />

zu Stilsicherheit und zu einer gebildeten, im Bewusstsein für die eigenen<br />

Handlungsmöglichkeiten ausgeübten Routine. Gerade am Sonntagsgottesdienst<br />

als dem Normalfall lässt sich die Dialektik von Regelwerk und<br />

regelrechter Regelverletzung 5 lernen, die für das künstlerische Handeln charakteristisch<br />

ist.<br />

Zu dieser ästhetischen Perspektive des liturgischen Handelns sei schließlich<br />

noch einmal wiederholt, dass dabei nicht an den genialischen Künstler gedacht<br />

werden soll, der die Aufmerksamkeit auf sich selbst und sein Können<br />

lenkt. Es geht vielmehr gerade um eine Art der Darstellung, die den Gottesdienstbesuchern<br />

eigene Eindrücke erschließt und sie zum eigenen Ausdrücken<br />

glaubender Erfahrung ermutigt. Im Sinne der in den letzten vier Paragraphen<br />

beschriebenen ästhetischen Perspektive sollen bei der liturgischen<br />

Kunst nicht die Protagonisten bewundert werden, sondern die Wahrnehmungen<br />

und glaubenden Erfahrungen in eine „lebendige Circulation“ geraten<br />

(Schleiermacher 49f. 65).<br />

3. Schwelle und Unterbrechung: Der liturgische Ort<br />

und die liturgische Zeit<br />

Das liturgische Handeln ist nicht nur deswegen künstlerisch, weil es mit<br />

verschiedenen Künsten (Rede, Musik, Darstellung im Raum) einhergeht,<br />

sondern weil es grundsätzlich darin besteht, etwas darzustellen, was sich<br />

gleichzeitig eng auf die Realität bezieht und sich doch von ihr unterscheidet,<br />

wie das in der ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos ausführlich beschrieben<br />

wurde (→ § 31.3.4). Der evangelische Gottesdienst ist insofern ein<br />

Kunstwerk, als er keine Sonderwelt inszeniert, sondern die vorhandene Welt<br />

als eine andere darstellt und erkennen lässt. Die Realität des Alltags wird<br />

nicht negiert, aber unter einem anderen Vorzeichen dargestellt. Die empirische,<br />

politische und psychologische Wahrnehmung wird nicht außer Kraft<br />

gesetzt, sondern in einen anderen Interpretationskontext gestellt.<br />

Das eigene Lebensglück wird liturgisch als Segen dargestellt und verstehbar, das Leiden<br />

wird mit der Passion Jesu verbunden, die Ungerechtigkeit mit der Weisung zum Leben<br />

und mit dem prophetischen Protest. Das Unveränderliche bleibt wenigstens nicht unaussprechlich,<br />

weil es im Gebet vor Gott gebracht wird. Das Unzulängliche des eigenen<br />

5 Für die Kunst der Predigtsprache kann so das Finden kreativer Metaphern unter der<br />

Maxime „Regelrecht gegen die Regeln“ beschrieben werden, dazu s. Wilfried Engemann:<br />

Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konsequenzen, Tübingen 1993,<br />

187–192.<br />

Leseprobe aus Meyer-Black: <strong>Gottesdienstlehre</strong><br />

(c) 2011 <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> www.mohr.de<br />

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