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Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit

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Einleitung 19<br />

«Zigeuner <strong>und</strong> Zigeunermischlinge» ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen dürften, ab<br />

1943 wurden die Zwangssterilisationen an «Zigeunermischlingen», die von der Deportation<br />

nach Auschwitz ausgenommen worden waren, forciert fortgesetzt. 59<br />

Anhand der widersprüchlichen Aussagen von Karl W. ist nicht klar zu bestimmen, ob dieser<br />

als jüdischer «Mischling» oder als «Zigeunermischling» verfolgt war. Weitere Quellen<br />

bestärken die Zweifel an seiner jüdischen Herkunft: Für die Heirat in der Schweiz legte Karl<br />

W. verschiedene Tauf- <strong>und</strong> Geburtsurk<strong>und</strong>en vor. Aus diesen geht hervor, dass sein Vater<br />

Katholik war, seine Mutter dagegen Protestantin. Beide Grosseltern väterlicherseits waren<br />

ebenfalls katholisch getauft, die Grossmutter mütterlicherseits Protestantin. Ungewiss ist<br />

lediglich die Religionszugehörigkeit des Grossvaters mütterlicherseits, dessen Vater – der<br />

Urgrossvater von Karl W. – jedoch ebenfalls Katholik war. Somit hätte allenfalls die Mutter<br />

des Grossvaters mütterlicherseits Jüdin sein können – <strong>und</strong> somit auch sein Grossvater, dessen<br />

Konfession nicht bekannt ist. Karl W. hätte unter diesen Umständen im Dritten Reich als ein<br />

privilegierter «Mischling 2. Grades» gegolten <strong>und</strong> die Ehe mit seiner «arischen» Verlobten<br />

eingehen können. 60 Plausibler erscheint unter diesen Voraussetzungen jedoch die Erklärung,<br />

dass W. als «Zigeunermischling» verfolgt war, zumal den Tauf- <strong>und</strong> Geburtsurk<strong>und</strong>en weiter<br />

zu entnehmen ist, dass einige seiner Verwandten Familiennamen hatten, die bei <strong>Sinti</strong>-<br />

Geschlechtern sehr verbreitet sind. Aus weiteren Angaben geht schliesslich hervor, dass<br />

Vorfahren von Karl W. vermutlich ein nicht sesshaftes Leben geführt <strong>und</strong> die unter Fahrenden<br />

verbreiteten Berufe Musiker <strong>und</strong> Schauspieler ausgeübt hatten. 61<br />

Hatte Karl W. tatsächlich <strong>Sinti</strong> unter seinen Vorfahren, so versuchte er dies vor den Schweizer<br />

Behörden mit allen Mitteln geheim zu halten – mit gutem Gr<strong>und</strong> vermutlich, denn eine<br />

Identifikation als «Zigeuner» hätte seine Asylchancen geschmälert, <strong>und</strong> mit Erfolg, denn als<br />

Sesshafter mit einer soliden Berufsausbildung erfüllte er alle Kriterien einer bürgerlichen<br />

Biographie <strong>und</strong> entsprach nicht dem Stereotyp des «Zigeuners». Gleichwohl wirft die<br />

Interpretation der Fallgeschichte von Karl W. eine ganze Reihe von Fragen auf, die aufgr<strong>und</strong><br />

der vorhandenen Quellen nicht schlüssig beantwortet werden können: Warum verwies Karl<br />

W. erst 1947 auf seine (angeblich) jüdische Abstammung <strong>und</strong> somit auf den Tatbestand der<br />

Rassenverfolgung? Wollte er – falls er tatsächlich jüdische Vorfahren hatte – durch die<br />

Verheimlichung der Fluchtgründe die Ausschaffung verhindern? Oder versuchte er vielmehr –<br />

weil er als «Zigeunermischling» verfolgt war –, der Tatsache Rassenverfolgung mehr<br />

Plausibilität zu verleihen, indem er die «jüdische Abstammung» als Chiffre benutzte, zumal<br />

«zigeunerische Abstammung» auch nach 1945 Anlass zu Diskriminierungen blieb?<br />

––––––––––––––––––––––––<br />

59<br />

Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 167ff, 359ff.<br />

60<br />

Rethmeier, Rassegesetze, 1995, S. 183–192.<br />

61<br />

Abschriften von Familien-Dokumenten, 23.8.1943, BAR E 4264 (-) 1985/196, Bd. 1006.

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