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Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit

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4 <strong>Roma</strong>, <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> <strong>Jenische</strong> als Flüchtlinge 69<br />

wurden, die wegen Gefahren für Leib <strong>und</strong> Leben nicht mehr weggewiesen werden sollten. 294<br />

Das folgende Fallbeispiel dokumentiert ein besonders tragisches Einzelschicksal aus der<br />

letzten Kriegsphase, welches bezeugt, dass offensichtlich gefährdete <strong>Sinti</strong> auch zu einem<br />

<strong>Zeit</strong>punkt, als die restriktiven asylpolitischen Bestimmungen gelockert worden waren, noch<br />

weggewiesen wurden.<br />

4.3.1 Flucht, Wegweisung <strong>und</strong> Tod des Anton Reinhardt<br />

Am 25. August 1944 schwamm der siebzehnjährige Sinto Anton Reinhardt bei anbrechender<br />

Dunkelheit von Waldshut über den Rhein in die Schweiz, wo er wegen illegalen<br />

Grenzübertritts aufgegriffen <strong>und</strong> ins Bezirksgefängnis Zurzach verbracht wurde. 295<br />

Anton<br />

Reinhardt, der sich in der ersten Einvernahme Bü. nannte, beantragte Asyl als<br />

Militärdienstverweigerer. Ausserdem befürchtete er, bei einer Wegweisung in Deutschland<br />

bestraft zu werden, da er wegen defätistischer Äusserungen <strong>und</strong> Fernbleibens von der Arbeit<br />

von der Gestapo bereits verhaftet worden sei <strong>und</strong> nur durch List aus der Haft habe entkommen<br />

können. 296 Der Asylsuchende erhoffte sich, als Militärflüchtling Aufnahme zu finden. Trotz<br />

seiner Beteuerung, im Verhör die Wahrheit gesagt zu haben, schenkten ihm die<br />

Polizeibeamten keinen Glauben, insbesondere nicht, nachdem sie seine wahre Identität eruiert<br />

<strong>und</strong> von seiner Herkunft aus einer nicht sesshaften Familie erfahren hatten. Vielmehr hielt ein<br />

Rapport fest,<br />

«dass der angebliche Bü. Anton in Wirklichkeit Reinhardt Anton heisst <strong>und</strong> somit einen falschen<br />

Namen angegeben hat. Derselbe wird als ein dubioser Mensch geschildert <strong>und</strong> seine Eltern zählten<br />

vor dem Krieg zum ‹Fahrenden Volk›, d.h. zu Schirmflickern. Die eigentlichen Beweggründe die den<br />

Genannten <strong>zur</strong> Flucht nach der Schweiz veranlasst haben, sind unbekannt, d.h. konnten nicht<br />

festgestellt werden, dagegen steht fest, dass er vor wenigen Wochen in der Maschinenfabrik Mann in<br />

Waldshut, als Gelegenheitsarbeiter (Hilfsarbeiter) tätig war.» 297<br />

Anton Reinhardt sollte tatsächlich zum Wehrdienst eingezogen werden, wie aus deutschen<br />

Akten hervorgeht. 298<br />

Zudem drohte ihm als «Zigeunermischling» die Zwangssterilisation.<br />

Diese Tatsache hat er den Schweizer Beamten entweder verschwiegen, oder diese erachteten<br />

den Umstand nicht als relevant – jedenfalls fehlt im Protokoll ein entsprechender Hinweis.<br />

––––––––––––––––––––––––<br />

294 Die Weisungen vom 12. Juli 1944 anerkannten erstmals die tödliche Bedrohung von jüdischen Flüchtlingen <strong>und</strong> hoben<br />

die Grenzschliessung für Juden auf. Siehe dazu: Ludwig, Flüchtlingspolitik, 1957, S. 293ff.; Koller, Entscheidungen,<br />

1996, S. 37f.; <strong>zur</strong> Praxis: UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 154f.<br />

295 Zur Geschichte von Anton R. hat Samuel Plattner einen Dokumentarfilm gedreht, zudem ist ihr ein Teil der Ausstellung<br />

des Dokumentations- <strong>und</strong> Kulturzentrums Deutscher <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> <strong>Roma</strong> in Heidelberg gewidmet: Rose, Rauch, 1999,<br />

S. 331–335. Im <strong>Schweizerische</strong>n B<strong>und</strong>esarchiv liegt ein Dossier der Polizeiabteilung vor. Im Staatsarchiv Freiburg<br />

werden zudem umfangreiche Gerichtsakten gegen die Mörder von Anton Reinhardt verwahrt. (Staatsarchiv Freiburg i.<br />

B., Bestand F 179/6 «Staatsanwaltschaft Offenburg», Pakete 10–16/Nr. 119–123).<br />

296 Er gab an, im Gefängnis eine Blinddarmentzündung vorgetäuscht zu haben, worauf ihn die Gestapo ins Spital von<br />

Waldshut einlieferte. Von dort sei ihm die Flucht gelungen. Rapport der Station Koblenz an das kantonale<br />

Polizeikommando Aarau, 25. August 1944; Abhörungsprotokoll, 28. August 1944, BAR E 4264 (-)1985/196, Bd. 1072.<br />

297 Rapport der Station Koblenz an das kantonale Polizeikommando Aarau, 29. August 1944, BAR E 4264 (-) 1985/196,<br />

Bd. 1072.<br />

298 Staatsarchiv Freiburg i. B., F 179/6, Paket Nr. 10–16, lfd. Nrn. 119–123, 119, Staatsanwaltschaft Offenburg, Heft 5:<br />

Abschriften diverser amtlicher Dokumente, Voruntersuchung 1957.

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