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Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit

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26<br />

Kapitel 2<br />

gemeinsamen Voraussetzungen: Der Mensch wurde als Teil der organischen Welt, als<br />

Produkt der biologischen Evolution betrachtet <strong>und</strong> deshalb als biologisch determiniertes<br />

Wesen begriffen. Die Evolution wurde dabei gemeinhin teleologisch, als positiv konnotierter<br />

Fortschritt verstanden, der in Richtung einer steten Perfektionierung aller Lebensformen<br />

tendiere. Gemäss sozialdarwinistischer Lehren geriet die biologische Entwicklung indessen in<br />

Konflikt mit sozialen Einrichtungen, welche die evolutionären Prinzipien der Auslese ausser<br />

Kraft setzten, was zu einer als unnatürlich verstandenen Vermehrung «minderwertig»<br />

veranlagter Individuen führe <strong>und</strong> damit den Fortschritt hemme. Schliesslich stützten sich die<br />

meisten Evolutionstheorien auf Erblehren, die postulierten, dass essentialistisch definierte<br />

Eigenschaften durch biologische Reproduktion von einer Generation an die nächste<br />

weitergegeben würden <strong>und</strong> die dem Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung der Individuen<br />

eine geringe Bedeutung beimassen. 78<br />

Die Übernahme dieser biologischen Paradigmen in der Anthropologie führte <strong>zur</strong><br />

Klassifikation von Menschentypen entlang von Kategorien der sozialen Ordnung <strong>und</strong><br />

Stratifikation: entlang von Geschlecht, Rasse, Klasse, entlang der Dichotomie Normal/<br />

Abnorm (kriminell, pathologisch). 79 Diese Klassifikationen schufen Werthierarchien zwischen<br />

«biologisch höherwertigen» <strong>und</strong> «biologisch minderwertigen» Menschen. Damit lieferten sie<br />

– absichtlich oder nicht – naturwissenschaftlich verbürgte Legitimationsgr<strong>und</strong>lagen für<br />

politische Ausgrenzung <strong>und</strong> Diskriminierung, für Internierung <strong>und</strong> Massnahmenvollzug, für<br />

die Bekämpfung von abweichenden Lebensformen. Der Essentialismus biologisch<br />

begründeter Klassifikationen hatte zudem einen potentiell eliminatorischen Zug, insbesondere<br />

in Verbindung mit Degenerationstheorien, wie sie in der um 1900 aufkommenden<br />

Rassenhygiene verbreitet waren.<br />

Soziale Relevanz erhielten biologisch begründete Gesellschaftstheorien im Rahmen des<br />

Sozialdarwinismus. Als Anwendungswissen konzipiert wurden sie unter anderem in der<br />

Kriminalanthropologie der italienischen positiven Schule. Deren Begründer Cesare Lombroso<br />

entwickelte das Konstrukt des «geborenen Verbrechers», der den Typus des «atavistischen<br />

Menschen» verkörpere, dessen persönliche Entwicklung in einem frühen Evolutionsstadium<br />

stehen geblieben sei. 80 Analog unterschieden Rassentheorien zwischen «wertvollen» <strong>und</strong><br />

«minderwertigen» Rassen, wobei sich letztere laut verschiedenen Theorien ebenfalls durch<br />

atavistische Merkmale auszeichneten – etwa die «Zigeuner» durch einen «angeborenen<br />

Wandertrieb». Im Konstrukt des Atavismus verschmolzen Rassenlehre <strong>und</strong><br />

Kriminalanthropologie zu einem Dispositiv der «gemeingefährlichen Minderwertigkeit» <strong>und</strong><br />

des «unnützen» Menschen, das schon um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende für viele einen hohen Grad an<br />

––––––––––––––––––––––––<br />

78<br />

Hawkins, Social Darwinism, 1997, <strong>zur</strong> Etablierung der Rassenforschung an schweizerischen Universitäten: Zürcher,<br />

Tradition, 1995, S. 207–237.<br />

79<br />

Honegger, Ordnung, 1991; Gilman, Rasse, 1992; Mosse, Geschichte, 1990.<br />

80<br />

Strasser, Verbrechermenschen, 1984; Gould, Mensch, 1988; Beirne, Criminology, 1993.

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