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Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit

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36<br />

Kapitel 2<br />

daktyloskopische Daten für die «Zigeunerregistratur» erhoben, wurden die Familien<br />

zusammengeführt <strong>und</strong> über die Grenze gestellt. Bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurden<br />

auf diese Weise insgesamt 144 Personen ausgeschafft. 126 Auch die ab 1914 vor Krieg <strong>und</strong><br />

Vertreibung in die Schweiz fliehenden «Zigeuner» wurden interniert <strong>und</strong> abgeschoben. 127<br />

Mit dem Verfahren Leupolds <strong>zur</strong> Internierung, erkennungsdienstlichen Erfassung <strong>und</strong><br />

Ausschaffung der ausländischen «Zigeuner» hatten B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Kantone ein Abwehrdispositiv<br />

entwickelt, das auch in den folgenden Jahren <strong>zur</strong> Anwendung kam. Der während des Ersten<br />

Weltkrieges eingeführte Visumszwang sowie eine verstärkte Grenzkontrolle erschwerten<br />

fahrenden <strong>Roma</strong> <strong>und</strong> <strong>Sinti</strong>, unbemerkt in die Schweiz ein<strong>zur</strong>eisen. Das polizeiliche<br />

Kontrollsystem funktionierte rasch <strong>und</strong> reibungslos, so dass selbst jene, welche die Grenze<br />

schwarz zu überqueren vermochten, bald verhaftet <strong>und</strong> wieder ausgeschafft wurden. 128 So<br />

organisierten die Polizeibehörden der Kantone Fribourg <strong>und</strong> Vaud im Sommer 1919 eine<br />

gemeinsame Fahndung nach «bandes de vanniers et romanichels qui pouvaient [sic] se trouver<br />

dans les cantons de Vaud et Fribourg» <strong>und</strong> tauschten mit der bayrischen «Zigeunerzentrale» in<br />

München erkennungsdienstliche Informationen über die bei der Razzia aufgegriffenen<br />

Fahrenden aus. 129<br />

Das vor dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz entwickelte <strong>und</strong> praktizierte Verfahren hatte in<br />

verschiedener Hinsicht Modellcharakter: Die B<strong>und</strong>esbehörden stützten ihre Massnahmen auf<br />

wissenschaftliche Gutachten von internen <strong>und</strong> externen Experten. Sie konzedierten damit,<br />

dass der Begriff «Zigeuner» nicht selbstverständlich war, <strong>und</strong> attestierten der Wissenschaft<br />

einen massgeblichen Einfluss auf die Entwicklung von Polizeimassnahmen <strong>zur</strong><br />

«Zigeunerbekämpfung». 130 Das schweizerische Verfahren übte sodann auch eine Ausstrahlung<br />

auf andere Staaten aus, die ebenfalls Einreiseverbote erliessen. 131 Die gegen «Zigeuner»<br />

gerichteten Sonderbestimmungen von 1913 erlangten schliesslich Vorbildcharakter für die<br />

spätere Praxis gegenüber «unerwünschten» Ausländern <strong>und</strong> reihten sich seit dem Ersten<br />

Weltkrieg in den Katalog der allgemeinen fremdenpolizeilichen Massnahmen des B<strong>und</strong>es ein,<br />

wie sie insbesondere gegen staaten- <strong>und</strong> schriftenlose Ausländer sowie gegen «unerwünschte»<br />

Flüchtlinge <strong>zur</strong> Anwendung kamen.<br />

––––––––––––––––––––––––<br />

126 Waltisbühl, Bekämpfung, 1944, S. 3.<br />

127 Jahresbericht der Strafanstalt Witzwil 1915, StAB BB 4.2.213; Waltisbühl, Bekämpfung, 1944, S. 3. Frauen <strong>und</strong> Kinder<br />

gelangten vielerorts in die Obhut der Heilsarmee, siehe dazu: Une main tendue, Genf [1916]; von Tavel, Friedenswerk,<br />

o.J <strong>und</strong> 50 Jahre Heilsarmee, o.J. (Hinweise von Patrick Vogt). Zur Ausschaffung von «Zigeunern» während des Ersten<br />

Weltkrieges auch: Rapport à la préfecture de la Gruyère, Bulle, 14. August 1914, ArFR, DP d 2629.<br />

128 Gast, Kontrolle, 1997.<br />

129 Grivel an die Zentralpolizeidirektion Fribourg, 9. Juli 1919. Auf vorgedruckten Formularen erk<strong>und</strong>igte sich die<br />

Münchner «Zigeunerpolizeistelle» bei der Zentralpolizeidirektion Fribourg nach Personalien von «Zigeunern», die<br />

Lebensstationen in Fribourg geltend machten. ArFR DP d 2630.<br />

130 Zur selben <strong>Zeit</strong> gewannen die Medizin <strong>und</strong> Psychiatrie wachsenden Einfluss auf die Gesetzgebung, die Strafjustiz, den<br />

Strafvollzug <strong>und</strong> den Fürsorgebereich. Siehe Germann, Psychiatrie, 1998; Germann, Hilfswerk, 2000.<br />

131 So etwa Schweden 1914, siehe Djuric, Heim, 1996, S. 251.

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