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Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit

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Kapitel 4<br />

Neuschnee <strong>und</strong> die Grenze war auf der italienischen Seite scharf bewacht. «Hätte es sich nur<br />

um erwachsene Personen gehandelt», ist im Polizeirapport weiter zu lesen, «so wäre ein<br />

Abschub nach Italien vielleicht noch möglich gewesen, da aber 8 zum Teil noch ganz kleine<br />

Kinder dabei waren, konnte an einen direkten Rückschub nicht gedacht werden.» Deshalb<br />

wurde die Gruppe einige Tage später bei Viano nach Italien abgeschoben.<br />

«Die Italiener waren nicht auf ihrem Posten <strong>und</strong> so konnte man annehmen, dass der Abschub<br />

gelungen sei. Gegen 7 Uhr morgens kamen dann aber ca. 40 Fascisten <strong>und</strong> jagten die Zigeuner mit<br />

Schreckschüssen wieder <strong>zur</strong>ück.» 243<br />

Gleichentags kam es freilich zu weiteren Zwischenfällen, wie dem Bericht des<br />

Oberzolldirektors zu entnehmen ist:<br />

«Or, il y a lieu de faire remarquer qu’au moment où nos agents voulurent refouler ces tsiganes pour la<br />

seconde fois sur territoire italien, le caporal Lorez constata qu’un milicien fasciste et un douanier<br />

italien se tenaient sur un bloc de pierre situé à 16 mètres environ sur notre territoire, d’où ils<br />

surveillaient les mouvements de notre personnel. Ces militaires étaient en uniforme, avec fusil et<br />

baïonnette, et n’ignoraient certainement pas qu’ils étaient sur territoire suisse.» 244<br />

Zwei Tag später schliesslich fand sich die nirgends geduldete <strong>Sinti</strong>-Familie in Frankreich<br />

wieder, nachdem sie wiederum heimlich nachts bei Oberwil (BL) aus der Schweiz<br />

ausgeschafft worden war. 245<br />

Das Beispiel der Familie C. ist kein Einzelfall. Vielmehr ist das Vorgehen symptomatisch für<br />

die in den 1930er Jahren gegenüber verschiedenen Gruppen von «unerwünschten» Ausländern<br />

befolgte Praxis – neben den «Zigeunern» mussten Staaten- <strong>und</strong> Schriftenlose, mittellose<br />

Arbeitssuchende <strong>und</strong> Flüchtlinge gleichermassen damit rechnen, von einem Staat in den<br />

andern abgeschoben <strong>und</strong> nirgends geduldet zu werden. Zu Beginn der 1930er Jahre hatten<br />

verschiedene Entwicklungen zudem eine kumulative Wirkung: die Radikalisierung der<br />

«<strong>Zigeunerpolitik</strong>» im faschistischen Italien, in Bayern ab 1926 <strong>und</strong> in Deutschland nach der<br />

nationalsozialistischen Machtübernahme hatte <strong>zur</strong> Folge, dass ausländische <strong>Roma</strong> <strong>und</strong> <strong>Sinti</strong><br />

selbst dort, wo sie bislang noch geduldet gewesen waren, vertrieben wurden. Zugleich wurden<br />

die Probleme der Schriften- <strong>und</strong> Staatenlosen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme<br />

massiv verschärft, als Tausende von Oppositionellen <strong>und</strong> Juden das Deutsche<br />

Reich fluchtartig verlassen mussten <strong>und</strong> infolgedessen oft ihre Staatsbürgerschaft verloren. 246<br />

Aus naheliegenden Gründen waren der von der Schweiz <strong>und</strong> ihren Nachbarstaaten<br />

praktizierten Vertreibungspolitik längerfristig keine Erfolge beschieden, trug sie doch nur<br />

dazu bei, das Heer der nirgends geduldeten Menschen stetig anwachsen zu lassen. Zudem<br />

belasteten Grenzkonflikte die zwischenstaatlichen Beziehungen. Im Zusammenhang mit der<br />

––––––––––––––––––––––––<br />

243 Kantonales Landjägerkommando Graubünden an die Polizeiabteilung des EJPD, 17.9.1930. BAR E 4264 (-) 1988/ 2,<br />

Bd. 314.<br />

244 Oberzolldirektor Arnold Gassmann an die Aussenpolitische Abteilung des EPD, 3. September 1930, BAR E 4264 (-)<br />

1988/2, Bd. 314.<br />

245 Akten in BAR E 4264 (-) 1988/2, Bd. 314.<br />

246 UEK, Flüchtlinge, 1999, S. 138ff.

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