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Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit

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48<br />

Kapitel 3<br />

Waren es bis um die Mitte der 1930er Jahre eine Vielzahl von lokalen Vorschriften <strong>und</strong><br />

Bestimmungen, die den Handlungsspielraum von <strong>Roma</strong> <strong>und</strong> <strong>Sinti</strong> einengten <strong>und</strong> sie der<br />

Willkür der Bürokratie auslieferten, so erreichte die Verfolgung 1935/36 einen ersten<br />

Höhepunkt mit dem Ausschluss der «Zigeuner» aus dem Verband der Stimmberechtigten <strong>und</strong><br />

mit dem forcierten Ausbau kommunaler «Zigeunerlager» in zahlreichen grösseren deutschen<br />

Städten. 182 Die Errichtung solcher Lager erfolgte überall ohne rechtliche Gr<strong>und</strong>lage. Sowohl<br />

fahrende als auch sesshaft lebende <strong>Sinti</strong> <strong>und</strong> <strong>Roma</strong> wurden gezwungen, in die oft an<br />

Stadträndern, unmittelbar neben Abfalldeponien oder bei Friedhöfen angelegten<br />

«Zigeunerlager» umzusiedeln. Die Lager waren umzäunt, von Polizeibeamten oder SS-<br />

Männern bewacht <strong>und</strong> von der Aussenwelt abgeschlossen. Die Eingesperrten lebten auf<br />

engstem Raum <strong>und</strong> unter miserablen hygienischen Verhältnissen. 183<br />

Die meisten der in den 1930er Jahren gegen <strong>Roma</strong> <strong>und</strong> <strong>Sinti</strong> gerichteten<br />

Verfolgungsmassnahmen fielen in den Bereich der nationalsozialistischen «Verbrechensprävention»,<br />

die eine verbrechensfreie «Volksgemeinschaft» anstrebte <strong>und</strong> sich auf die<br />

kriminalbiologischen Theorien abstützte, die «Gemeinschädlichkeit» als genetisch<br />

vererbbaren Wesenszug definierten. 184 Fahrende als soziale Gruppe <strong>und</strong> <strong>Roma</strong> <strong>und</strong> <strong>Sinti</strong> als<br />

«Rasse» wurden unter den Stigmata «asozial» <strong>und</strong> «minderwertig» erfasst, selbst wenn sie nie<br />

eines Delikts überführt worden waren. Die Koordination der nationalsozialistischen<br />

Kriminalpolitik lag in der Kompetenz des 1937 gegründeten Reichskriminalpolizeiamtes<br />

(RKPA), unter dessen Führung auch die Zigeunerverfolgung auf Reichsebene koordiniert<br />

wurde. Das RKPA hatte einen eigenen kriminalbiologischen Dienst eingerichtet, der eng mit<br />

der «Rassenhygienischen Forschungsstelle» beim Reichges<strong>und</strong>heitsamt zusammenarbeitete.<br />

Im Herbst 1938 wurde die Münchner Zigeunerpolizeistelle, welche bisher reichsweit als<br />

Zentrale für die Erfassung <strong>und</strong> Registration von «Zigeunern» fungiert hatte, nach Berlin<br />

verlegt <strong>und</strong> dem RKPA einverleibt. In den folgenden Monaten <strong>zur</strong> «Reichszentrale <strong>zur</strong><br />

Bekämpfung des Zigeunerunwesens» ausgebaut, die in der Vernichtungspolitik gegen <strong>Roma</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Sinti</strong> eine analoge Bedeutung erhielt wie das Reichssicherheitshauptamt bei der<br />

Judenvernichtung, pflegte diese Amtsstelle auch den Kontakt zu ausländischen Stellen <strong>und</strong><br />

konnte auf die gesamte Datensammlung der früheren Münchner Zentralstelle <strong>zur</strong>ückgreifen. 185<br />

––––––––––––––––––––––––<br />

vom 15. September 1935 verbot sexuelle Beziehungen zwischen «Deutschblütigen» <strong>und</strong> «Angehörigen artfremder<br />

Rassen». Gemäss Kommentaren zu den Nürnberger-Gesetzen wurden letzteren neben den Juden stets die «Zigeuner»<br />

zugerechnet. Siehe Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 89f.<br />

182 Das Gesetz über das Reichstagswahlrecht entzog Juden <strong>und</strong> Zigeunern die politischen Bürgerrechte: Milton,<br />

Zigeunerlager, 1995, S. 119; Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1998, S. 888f.<br />

183 Milton, Zigeunerlager, 1995, S. 121f. zum «Zigeunerlager» in Marzahn (Berlin); Sparing, Zigeunerlager, 1996.<br />

184 Ayass, «Asoziale», 1995; Ayass, Asoziale, 1998; Wagner, Vernichtung, 1998; auch: Sack, Kriminalität, 1999; Simon,<br />

Kriminalbiologie, 1999; Winter, Kontinuitäten, 1988.<br />

185 Zimmermann, Zigeunerverfolgung, 1996, S. 106–117. Das RKPA wurde im September 1939 zum Amt V des<br />

Reichssicherheitshauptamtes. Leiter des RKPA war Arthur Nebe, der dem Reichsführer SS Heinrich Himmler, seit 1936<br />

Chef der deutschen Polizei, unterstellt war. Siehe Milton, Weg, S. 39.

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