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© <strong>Prof</strong>. G. <strong>Szagun</strong><br />

Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Normalität und Variabilität im frühen<br />

Spracherwerb<br />

Gisela <strong>Szagun</strong><br />

University College London<br />

Developmental Science Research Department<br />

University of London, GB<br />

Institut für Psychologie<br />

Abteilung Kognition<br />

Universität Ol<strong>de</strong>nburg, D<br />

Klima <strong>de</strong>r Verunsicherung<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


© <strong>Prof</strong>. G. <strong>Szagun</strong><br />

Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

• in Deutschland sind aufschrecken<strong>de</strong> Meldungen aktuell:<br />

• "In Deutschland wächst eine Generation Sprachloser<br />

heran"<br />

• "Ein Drittel aller nordrhein-westfälischen Vierjährigen<br />

haben eine Sprachentwicklungsstörung"<br />

Zitate: Kin<strong>de</strong>r-und Jugendarzt, 39, 2008, S. 6<br />

<br />

• Folgen solcher Meldungen sind:<br />

For<strong>de</strong>rung nach Sprachscreening für alle Zweijährigen<br />

Sprachtherapie für einen hohen Prozentsatz <strong>de</strong>r<br />

Zweijährigen<br />

- <strong>de</strong>nn:<br />

→ angeblich sind frühe Rückstän<strong>de</strong> nicht aufholbar<br />

(Penner, 2006)<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


© <strong>Prof</strong>. G. <strong>Szagun</strong><br />

Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was ist da los?<br />

• weltweit ist <strong>de</strong>r Prozentsatz spracherwerbsgestörter<br />

Kin<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Sprachen jeweils zwischen<br />

5 % und 7 %<br />

• Sind <strong>de</strong>utschsprachige Kin<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs?<br />

- das wäre ein höchst untersuchenswertes Phänomen<br />

- fast würdig einer Genmutation<br />

Aber:<br />

Sind die Kin<strong>de</strong>r wirklich spracherwerbsgestört?<br />

Sind sie spracherwerbsverzögert?<br />

O<strong>de</strong>r sprechen sie schlechtes Deutsch?<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was hat zu diesen Schreckensmeldungen und<br />

Panikreaktionen geführt?<br />

‣ Verwirrung <strong>de</strong>r Termini<br />

‣ Einsatz fragwürdiger Tests<br />

‣ Angst und Vorliebe für gestörte Entwicklung<br />

Verwirrung <strong>de</strong>r Termini<br />

Synonym gebraucht wer<strong>de</strong>n:<br />

"später Sprecher" ("late talker")<br />

(englische Bezeichnung – nach <strong>de</strong>m Motto "englisch ist wissenschaftlicher"?)<br />

"Risikokind für eine Spracherwerbsstörung"<br />

"spracherwerbsgestört"<br />

"spracherwerbsverzögert"<br />

(Grimm & Doil, 2000; Penner, 2004, 2006; von Suchodoletz, 2007)<br />

Ist das alles gleich zu setzen?<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

• Einsatz fragwürdiger Test<br />

• beliebt für Zweijährige:<br />

Elternfragebogen ELFRA (Grimm & Doil, 2000, 2006)<br />

produziert 20 % Risikokin<strong>de</strong>r für eine<br />

Spracherwerbsstörung<br />

• im Bun<strong>de</strong>sland Nordrhein-Westfalen verpflichtend für<br />

Vierjährige:<br />

DELFIN (<strong>Fr</strong>ied, 2007)<br />

produziert 33 % bis 50 % Kin<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>r<br />

Sprachför<strong>de</strong>rung bedürfen<br />

Angst und Vorliebe für gestörte Entwicklung<br />

• <strong>de</strong>rartige Tests mit ihren Ergebnissen wer<strong>de</strong>n offenbar in<br />

großen Teilen <strong>de</strong>r Bevölkerung willig angenommen<br />

• für Therapeuten sind ihre Folgen eine dankbare<br />

Geldquelle<br />

• bei Kin<strong>de</strong>rärzten mehren sich jedoch Zweifel:<br />

→ hoher Prozentsatz spracherwerbsgestörter Kin<strong>de</strong>r gegen je<strong>de</strong> Erfahrung<br />

→ laufen lernen beim Physiotherapeuten, Sprechen lernen beim Logopä<strong>de</strong>n?<br />

→ wie verhalten?<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


© <strong>Prof</strong>. G. <strong>Szagun</strong><br />

Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Normalität und Variabilität<br />

Man kann nicht bestimmen,<br />

was nicht normal ist,<br />

ohne zu wissen, was normal ist<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

• bedauerlicherweise ist jedoch das geschehen:<br />

• Trennlinien zwischen "normal" und "nicht normal"<br />

entbehren <strong>de</strong>r Bevölkerungsnormen<br />

• basieren auf einem fiktiven Durchschnittskind<br />

(Grimm & Weinert, 2002; Jahn, 2005)<br />

• Kennzeichen von normaler Entwicklung ist jedoch Vielfalt<br />

und Variabilität – nicht Gleichheit<br />

In <strong>de</strong>r Praxis ist die entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> <strong>Fr</strong>age:<br />

‣ Wann ist die Variabilität so groß, dass eine verzögerte o<strong>de</strong>r<br />

gestörte Entwicklung festzustellen ist?<br />

‣ Voraussetzung dafür ist Kenntnis <strong>de</strong>r Spanne <strong>de</strong>r normalen<br />

Variabilität<br />

‣ diese wird empirisch hergeleitet<br />

‣ basiert auf Spracherwerbsverläufen, die die Bevölkerung<br />

<strong>de</strong>utschsprachiger Kin<strong>de</strong>r repräsentieren<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Variabilität im Spracherwerb<br />

Erwerb pluralisierter Nomen durch LIS und EME<br />

(nach <strong>Szagun</strong>, 2001)<br />

‣ Ist LIS besser als EME?<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Verlauf <strong>de</strong>s Grammatikerwerbs (MLU) bei zwei Kin<strong>de</strong>rn<br />

- im vierten Lebensjahr wird aufgeholt -<br />

6<br />

5<br />

MLU in Morphemen<br />

4<br />

3<br />

FAL<br />

EME<br />

2<br />

1<br />

1;4 1;8 2;0 2;4 2;8 3;0 3;4 3;8<br />

Alter in Jahren und Monaten<br />

Ist FAL besser als EME?<br />

‣ Wer von <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn ist "normal"?<br />

‣ Was ist "normal"?<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Um das zu wissen, muss man:<br />

‣ Spracherwerb bei einer großen Stichprobe von Kin<strong>de</strong>rn<br />

untersuchen, die repräsentativ für die Bevölkerung ist<br />

‣ dann sehen, was die Spannbreite <strong>de</strong>r individuellen<br />

Unterschie<strong>de</strong>, o<strong>de</strong>r Variabilität, ist<br />

• wie weit Kin<strong>de</strong>r mit schnellem und langsamem Spracherwerb<br />

auseinan<strong>de</strong>r liegen<br />

‣ Kriterium für <strong>de</strong>n Norm(al)bereich festlegen<br />

• Elternfragebögen ermöglichen, große Stichproben zu<br />

erfassen<br />

• im frühen Spracherwerb einsetzbar<br />

• sprachliche Material in <strong>de</strong>n <strong>Fr</strong>agebögen muss für Kin<strong>de</strong>r<br />

in <strong>de</strong>r angesprochenen Altersspanne repräsentativ sein<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Normierungsstudie zur Erfassung <strong>de</strong>s frühen<br />

Spracherwerbs mit Elternfragebogen<br />

FRAKIS<br />

(FRAgebogen zur frühKIndlichen Sprachentwicklung)<br />

Mitarbeiter/innen:<br />

Barbara Stumper, Satyam Schramm<br />

Melanie <strong>Fr</strong>anik, Mohsen Haj Bagherie, Nina Sondag, Sarah Deutscher<br />

(DFG Projekt Sz 41/11-1 und Sz 41/11-2)<br />

• Elternfragebogen FRAKIS orientiert sich am CDI<br />

(MacArthur-Bates Communicative Development Inventory<br />

(Fenson et al., 1994; 2007))<br />

• besteht aus:<br />

- Wortschatzliste<br />

- Grammatikteil: Flexionen und Satzkomplexität<br />

- <strong>Fr</strong>agen zum persönlichen Hintergrund<br />

• sprachliche Material repräsentativ für die Altersspanne<br />

1;6 bis 2;6<br />

- Auswahl basiert auf 170 zweistündigen Stichproben <strong>de</strong>r Spontansprache<br />

von Kin<strong>de</strong>rn zwischen 1;4 und 2;10<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Beschreibung <strong>de</strong>s <strong>Fr</strong>agebogens<br />

Teil 1: Wortschatz<br />

- Wortschatzliste mit 600 Wörtern in 22 semantischen Fel<strong>de</strong>rn<br />

Teil 2: Grammatik und Sätze<br />

A: Wortendungen und Wortformen<br />

1. Plural<br />

2. Artikel<br />

a) Grundform (Genus), b) <strong>de</strong>klinierte Formen (Kasus)<br />

3. Adjektiv (Genus)<br />

4. Verben<br />

a) Präsensformen, b) Partizip Perfekt<br />

5. Hilfswörter (Modalverben und sein)<br />

B: Wortkombinationen – Satzbildung<br />

Teil 3: <strong>Fr</strong>agen zum persönlichen Hintergrund<br />

• <strong>de</strong>n Eltern wer<strong>de</strong>n Checklisten vorgegeben<br />

• Bei <strong>de</strong>rartiger Präsentation können Eltern über <strong>de</strong>n Spracherwerb<br />

ihrer Kin<strong>de</strong>r Auskunft geben<br />

• sie sollen ankreuzen, ob ihr Kind über das entsprechen<strong>de</strong><br />

Wort, die entsprechen<strong>de</strong> grammatische Struktur o<strong>de</strong>r<br />

Satzbildung verfügt o<strong>de</strong>r nicht<br />

• Für je<strong>de</strong> Checkliste wer<strong>de</strong>n die Ja-Antworten<br />

aufsummiert → führt zu einem Wert pro Skala<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

Beschreibung <strong>de</strong>r Stichprobe<br />

1240 Kin<strong>de</strong>r zwischen 1;6 und 2;6<br />

• 13 Altersgruppen<br />

- zwischen 80 und 109 Kin<strong>de</strong>r pro Altersgruppe<br />

- annähernd gleich viel Mädchen und Jungen<br />

Ausschlusskriterien:<br />

- <strong>Fr</strong>ühgeburt<br />

- Zwilling<br />

- ernsthafte medizinische Probleme<br />

- Deutsch als Zweitsprache<br />

Demographische Beschreibung (Bildungsstand <strong>de</strong>r Mutter):<br />

10 % Hauptschulabschluss<br />

35 % Realschulabschluss<br />

55 % Hochschulreife (21 % Hochschulreife, 34 % Hochschulabschluss)<br />

8 % zweisprachig mit Deutsch als Erstsprache<br />

Beschreibung <strong>de</strong>r Stichprobe<br />

Eltern/Kin<strong>de</strong>r über 15 Kin<strong>de</strong>rarztpraxen in <strong>de</strong>n Städten in <strong>de</strong>r Grafik<br />

und Krippeneinrichtungen in Ol<strong>de</strong>nburg, "Verein für Kin<strong>de</strong>r e.V."<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Ergebnisse<br />

Altersabhängige sprachliche Fortschritte<br />

Anzahl <strong>de</strong>r Wörter aus <strong>de</strong>r Wortschatzliste von 600 <strong>de</strong>s FRAKIS<br />

pro Altersgruppe - Median und Streubreite<br />

Oberstes Zehntel<br />

unterstes Zehntel<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Anzahl <strong>de</strong>r Flexionen (Maximum=42) pro Altersgruppe – Median und<br />

Streubreite<br />

oberstes Zehntel<br />

unterstes Zehntel<br />

Flexionswert = zeigt an, wie weit Kin<strong>de</strong>r mit Plural, Genus, Kasus, Verbmorphologie und<br />

Modalverben sind<br />

Satzkomplexität (Maximum = 32) pro Altersgruppe –<br />

Median und Streubreite<br />

oberstes Zehntel<br />

unterstes Zehntel<br />

Satzkomplexitätswert zeigt an, in welchem Maße, die Kin<strong>de</strong>r einfache Komplexitäten in<br />

ihren Sätzen haben<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was zeigen diese Grafiken?<br />

‣ Es gibt enorme individuelle Unterschie<strong>de</strong> im frühen<br />

Spracherwerb<br />

- das betrifft Wortschatz und Grammatik<br />

‣ Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Schnelligkeit <strong>de</strong>s frühen Spracherwerbs<br />

haben folgen<strong>de</strong>s Ausmaß:<br />

- trennt man das oberste und das unterste Zehntel ab, so<br />

trifft auf die 80 % dazwischen zu:<br />

‣ Der Altersunterschied zwischen Kin<strong>de</strong>rn, die auf <strong>de</strong>m<br />

gleichen Sprachstand sind, kann bis zu 12 Monate betragen<br />

• in Übereinstimmung mit gängiger Praxis haben wir <strong>de</strong>n<br />

Normalbereich bestimmt als:<br />

‣ 80 % <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>m 11. und 90. Perzentil<br />

- das unterste und oberste Zehntel wer<strong>de</strong>n abgetrennt<br />

‣ das oberste Zehntel liegt überhalb <strong>de</strong>s Normbereichs<br />

- diese Kin<strong>de</strong>r haben eine außergewöhnlich schnelle<br />

Sprachentwicklung → schnelle Sprecher<br />

‣ Das unterste Zehntel liegt unterhalb <strong>de</strong>s Normbereichs<br />

- diese Kin<strong>de</strong>r haben eine außergewöhnlich langsame<br />

Sprachentwicklung → späte Sprecher<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

• Normal ist nicht ein Durchschnittswert, und nicht dass alle<br />

Kin<strong>de</strong>r im gleichen Alter das Gleiche können<br />

‣ Normal sind Unterschiedlichkeit und Vielfalt<br />

Zusammenhänge und Einflüsse<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Gibt es Zusammenhänge zwischen <strong>de</strong>n Sprachmaßen?<br />

• Analysen mit korrelationsstatistischen Verfahren zeigen:<br />

‣ sehr starke Zusammenhänge zwischen Wortschatz- und<br />

Grammatikerwerb<br />

- wer schnell Wörter erwirbt, erwirbt auch schnell Grammatik – und<br />

umgekehrt<br />

• Erst ab einer gewissen Wortschatzgröße kommt <strong>de</strong>r<br />

Grammatikerwerb in Gang<br />

- ab ca. 300 Wörter aus <strong>de</strong>r vorgegebenen Liste von 600<br />

Was hat Einfluss auf die Sprachentwicklung?<br />

• Analysen mit varianzanalytischen Verfahren zeigen:<br />

‣ Geschlecht<br />

- Mädchen haben eine schnellere Sprachentwicklung als Jungen<br />

‣ Bildungsstand <strong>de</strong>r Eltern<br />

- je höher <strong>de</strong>r Bildungsstand <strong>de</strong>r Mutter, <strong>de</strong>sto schneller verläuft <strong>de</strong>r<br />

Spracherwerb<br />

‣ Geschwisterrang<br />

- Erstgeborene schneller als an<strong>de</strong>re Geschwisterränge<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was hat Einfluss auf die Sprachentwicklung?<br />

• Absolut gesehen ist <strong>de</strong>r Einfluss <strong>de</strong>r <strong>de</strong>mografischen<br />

Variablen nicht groß<br />

- alle Variablen zusammen erklären um die 8 % <strong>de</strong>r Variabilität<br />

Geschlecht: ~ 4 %<br />

soziale Schicht: ~ 2 %<br />

Geschwisterrang: ~ 2 %<br />

• verglichen mit an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn (USA, Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>, Großbritannen,<br />

Schwe<strong>de</strong>n, Israel) Effekt <strong>de</strong>mografischer Faktoren <strong>de</strong>utlich<br />

stärker in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Stichprobe<br />

Erklärung <strong>de</strong>r Effekte<br />

Geschlecht<br />

schnellere neurologische Reifung von Mädchen<br />

soziale Faktoren: Geschlechtsrollenkonformität<br />

Bildungsstand<br />

Sprachangebot <strong>de</strong>r Eltern<br />

Umwelt insgesamt ärmer an kognitiv stimulieren<strong>de</strong>n Ereignissen<br />

eventuell auch im sozial interaktiven Bereich weniger anrengend<br />

Geschwisterrang<br />

Erstgeborene re<strong>de</strong>n mehr mit Erwachsenen<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Validität und Reliabilität<br />

(Gültigkeit und Verlässlichkeit)<br />

von FRAKIS<br />

Übereinstimmungsvalidität<br />

• Stimmen die Angaben <strong>de</strong>r Eltern?<br />

- nur wenn wir nachweisen können, dass die Angaben <strong>de</strong>r Eltern mit <strong>de</strong>m<br />

übereinstimmen, was Kin<strong>de</strong>r tatsächlich an Sprache produzieren, hat<br />

<strong>de</strong>r <strong>Fr</strong>agebogen Gültigkeit<br />

→ Übereinstimmungsvalidität:<br />

– Gemessen wird, wie gut die Ergebnisse <strong>de</strong>s <strong>Fr</strong>agebogens mit einem<br />

an<strong>de</strong>ren Maß <strong>de</strong>s Spracherwerbs (Außenkriterium) übereinstimmen<br />

– hier: Spontansprache<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

• spontanen 2-stündigen Spontansprachstichproben von 60<br />

Kin<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Stichprobe:<br />

- Anzahl <strong>de</strong>r Wörter (Vokabeln) in <strong>de</strong>r Sprachstichprobe<br />

korreliert hoch mit Anzahl <strong>de</strong>r Wörter im <strong>Fr</strong>agebogen<br />

- MLU, Äußerungslänge in <strong>de</strong>r Sprachstichprobe<br />

korreliert hoch mit Werten auf Grammatikskalen<br />

• sehr hoher Grad <strong>de</strong>r Übereinstimmung zwischen Maßen <strong>de</strong>s<br />

Elternfragebogens und <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>s spontanen Sprechens<br />

‣ FRAKIS hat sehr gute Validität und ist <strong>de</strong>r einzige<br />

Elternfragebogen, <strong>de</strong>ssen Gültigkeit an Spontansprache<br />

überprüft ist<br />

Validität auch bestätigt durch:<br />

• In <strong>de</strong>n einzelnen Flexionsparadigmen zeigen die Ergebnisse <strong>de</strong>s<br />

<strong>Fr</strong>agebogens die gleiche Erwerbsreihenfolge wie Ergebnisse auf <strong>de</strong>r<br />

Basis spontaner Sprechdaten<br />

• Kin<strong>de</strong>r sind am weitesten bei:<br />

‣ Plural und Genus am Artikel und Adjektiv<br />

• gefolgt von:<br />

‣ Verbformen und Kasus am Artikel<br />

• gefolgt von:<br />

‣ Modalverben und Formen von sein<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Reliabilität<br />

• Sind die Angaben <strong>de</strong>r Eltern verlässlich?<br />

→ Test-Retest Reliabilität<br />

• Eltern von 60 Kin<strong>de</strong>rn haben <strong>Fr</strong>agebogen nach 8-10 Tagen<br />

noch einmal ausgefüllt<br />

• sehr hoher Grad <strong>de</strong>r Übereinstimmung<br />

‣ sehr gute Reliabilität<br />

Fazit <strong>de</strong>r Validitäts- und Reliabilitätsüberprüfungen:<br />

‣ Eltern können verlässlich über <strong>de</strong>n Spracherwerb ihrer<br />

kleinen Kin<strong>de</strong>r Auskunft geben<br />

‣ ihre Auskünfte entsprechen <strong>de</strong>m, was die Kin<strong>de</strong>r tatsächlich<br />

an Sprache produzieren<br />

‣ FRAKIS erfasst <strong>de</strong>n Sprachstand von Kin<strong>de</strong>rn gültig und<br />

verlässlich<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was bringt FRAKIS?<br />

‣ erstmals Auskunft über das Ausmaß <strong>de</strong>r normalen<br />

Variabilität im frühen Spracherwerbs <strong>de</strong>utschsprachiger<br />

Kin<strong>de</strong>rn<br />

‣ damit ein Bezugssystem zur Einordnung individueller<br />

Kin<strong>de</strong>r hinsichtlich ihrer Normalität o<strong>de</strong>r Abweichung von<br />

<strong>de</strong>r Norm<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was kann man damit machen?<br />

‣ Beurteilung <strong>de</strong>s Sprachstan<strong>de</strong>s eines Kin<strong>de</strong>s im Vergleich<br />

zur Bevölkerungsnorm<br />

‣ Altersnormen pro monatlicher Altersgruppe von 1;6 bis 2;6<br />

- erlaubt eine enge Alterseinteilung<br />

‣ <strong>de</strong>tailliertes <strong>Prof</strong>il <strong>de</strong>s Sprachstan<strong>de</strong>s möglich<br />

‣ bei langsamer Sprachentwicklung auch bis 3 Jahre<br />

einsetzbar<br />

‣ und bei Kin<strong>de</strong>rn mit Beeinträchtigung auch bei Älteren<br />

Konsequenzen für eine <strong>Fr</strong>ühdiagnose<br />

und <strong>Fr</strong>ühintervention<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Wenn Sprachstandserhebung bei Zweijährigen<br />

erwünscht:<br />

→ Wie soll man vorgehen?<br />

• <strong>de</strong>n Sprachstand mit einem Instrument erheben, dass ein<br />

individuelles Kind mit <strong>de</strong>r Bevölkerungsnorm vergleicht:<br />

• im Moment im <strong>de</strong>utschsprachigen Raum nur FRAKIS<br />

• FRAKIS für Durchführung in Arztpraxis nicht geeignet<br />

-zu lang<br />

- linguistisch zu <strong>de</strong>tailliert<br />

• geeignet für Beratungseinrichtungen, logopädische<br />

Praxen – zu lang für Einsatz in Kin<strong>de</strong>rarztpraxis<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

☺ Aber:<br />

Rettung für die Kin<strong>de</strong>rarztpraxis:<br />

→ wir haben eine Kurzform entwickelt, die in 5 – 10<br />

Minuten in <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>rarztpraxis durchführbar ist<br />

• sie enthält auch Bevölkerungsnormen per Altersgruppe<br />

zwischen 1;6 und 2;6<br />

FRAKIS-K<br />

Kurzform von FRAKIS<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

FRAKIS-K<br />

• Kurzversion von FRAKIS wur<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r<br />

Ergebnisse mit <strong>de</strong>r langen Version erarbeitet<br />

→ Ziel:<br />

• Instrument so einfach und kurz, dass in knapper Zeit in<br />

Kin<strong>de</strong>rarztpraxen einsetzbar<br />

kurze Liste von Wörtern, die maximal zwischen <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn, die<br />

schnell sind und <strong>de</strong>nen, die langsam sind, unterschei<strong>de</strong>t<br />

einige einfache <strong>Fr</strong>agen zur Grammatik<br />

Beschreibung von FRAKIS-K<br />

• Wortschatzliste von 102 Wörtern<br />

- diese enthalten mit ähnlichem Anteil wie im langen FRAKIS:<br />

Nomen, Verben, Adjektive, "kleine Wörter"<br />

• drei <strong>Fr</strong>agen zu Grammatik und Sätzen<br />

- Pluralbildung, Artikel<br />

- <strong>Fr</strong>age nach Wortkombinationen<br />

• allgemeine Angaben und persönlicher Hintergrund<br />

- Bildungsstand Eltern<br />

- Zweisprachigkeit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, evtl. medizinische Probleme<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


© <strong>Prof</strong>. G. <strong>Szagun</strong><br />

Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Wie wur<strong>de</strong>n die 102 Wörter ausgewählt?<br />

• wenn so wenig Items zur Sprachstandserfassung, dann<br />

essentiell, dass es die richtigen sind<br />

• - d.h. die, die optimal zwischen langsamen und schnellen Kin<strong>de</strong>rn<br />

unterschei<strong>de</strong>n<br />

• muss geprüft wer<strong>de</strong>n auf <strong>de</strong>r Basis von mehr Information<br />

(langer FRAKIS), dass die Auswahl das gleiche misst wie<br />

das ausführliche Messinstrument<br />

Wie wur<strong>de</strong>n die 102 Wörter ausgewählt?<br />

• nach Kriterien <strong>de</strong>r statistischen Verfahren:<br />

‣ Schwierigkeit <strong>de</strong>r Items<br />

- ist Prozentsatz <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r einer Altersgruppe, die das Wort haben<br />

‣ Trennschärfe <strong>de</strong>r Items<br />

- Korrelation <strong>de</strong>s Items mit Gesamtsumme <strong>de</strong>r Items (Wörter)<br />

‣ Selektionskennwert<br />

- berechnet sich aus Kombination von Schwierigkeits- und<br />

Trennschärfein<strong>de</strong>x<br />

‣ gleicher Anteil von Nomen, Verben, Adjektiven, "kleinen Wörtern"<br />

wie im langen FRAKIS<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

• FRAKIS-K wur<strong>de</strong> erneut empirisch überprüft<br />

• zusätzlich:<br />

- gleiche Personen mit FRAKIS und FRAKIS-K getestet, in<br />

wechseln<strong>de</strong>r Reihenfolge<br />

- Reihenfolgeneffekt <strong>de</strong>r Items bei FRAKIS-K überprüft – bei kurzem<br />

Instrument ist Reihenfolgeneffekt möglich<br />

• FRAKIS-K zeigt eine hervorragen<strong>de</strong> Übereinstimmung mit<br />

FRAKIS<br />

- Korrelationen von .99 zwischen <strong>de</strong>n Werten pro Altersgruppe<br />

• Normen per Altersgruppe vorhan<strong>de</strong>n<br />

Übereinstimmung von FRAKIS-K mit FRAKIS<br />

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6. November 2008


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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Anzahl <strong>de</strong>r Wörter aus <strong>de</strong>r Wortschatzliste von 102 <strong>de</strong>s FRAKIS-K<br />

Pro Altersgruppe – Median und Streubreite<br />

oberstes Zehntel<br />

unterstes Zehntel<br />

Konsequenzen für eine <strong>Fr</strong>ühdiagnose<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

Welche Be<strong>de</strong>utung haben die Normdaten bei <strong>de</strong>r Feststellung<br />

von möglichen Spracherwerbsverzögerungen?<br />

• in <strong>de</strong>r letzten Zeit viel Wirbel um sog. "späte Sprecher"<br />

("late talker")<br />

• han<strong>de</strong>lt sich um Kin<strong>de</strong>r mit einem langsamen frühen<br />

Spracherwerb<br />

• Statt dieser neutralen Definition wur<strong>de</strong>n "späte Sprecher"<br />

gleich gesetzt mit<br />

"Risikokin<strong>de</strong>rn" (Grimm & Doil, 2000, 2006)<br />

"spracherwerbsverzögert" (von Suchodoletz, 2007)<br />

"spracherwerbsgestört" (Penner, 2004, 2006)<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

• zur I<strong>de</strong>ntifikation von "Risikokin<strong>de</strong>rn" wird gerne <strong>de</strong>r<br />

Elternfragebogen ELFRA (Grimm & Doil, 2000) benutzt<br />

• Kriterium eines Risikokin<strong>de</strong>s gemäß ELFRA:<br />

- weniger als 50 Wörter aus <strong>de</strong>r Wortschatzliste <strong>de</strong>s ELFRA<br />

• dieses Kriterium produziert 20 % Risikokin<strong>de</strong>r mit 2;0<br />

• ein Jahr später, mit 3;0, hat die Hälfte <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r ihr<br />

"sprachliches Defizit" (Grimm & Doil, 2000) aufgeholt<br />

→ War das nun ein Defizit, o<strong>de</strong>r ist das Kriterium <strong>de</strong>r<br />

50 Wörter falsch gesetzt?<br />

• vermutlich letzteres<br />

• Kriterium aus <strong>de</strong>m Amerikanischen übernommen<br />

(Rescorla, 1989)<br />

• Wortschatzentwicklung aber unterschiedlich schnell in<br />

verschie<strong>de</strong>nen Sprachen – selbst so ähnlichen wie<br />

amerikanisches und britisches Englisch<br />

♦ sprachspezifisches Vorgehen erfor<strong>de</strong>rlich<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

• Entscheidungskriterium unabhängig von Länge <strong>de</strong>r<br />

Wortschatzliste ein Problem:<br />

- 50 Wörter aus 260 ca. 19 %<br />

- 50 Wörter aus 600 ca. 8 %<br />

• 50 Wörter aus einer kurzen Wortschatzliste schwer zu<br />

erreichen<br />

- Kin<strong>de</strong>r kennen unterschiedliche Wörter<br />

- bei langer Liste größere Chance, dass "ihre" Wörter dabei<br />

- keine Angaben über Auswahl <strong>de</strong>r Wörter bei ELFRA<br />

• 20 % Risikokin<strong>de</strong>r Produkt <strong>de</strong>s ELFRA?<br />

• sinnvolleres Vorgehen:<br />

‣ Einordnung eines Kin<strong>de</strong>s in die in <strong>de</strong>r Bevölkerung<br />

beobachteten Spanne <strong>de</strong>r Variabilität <strong>de</strong>s<br />

Spracherwerbs<br />

‣ Bestimmung <strong>de</strong>s Normbereichs<br />

‣ Entscheidung über Trennlinie für langsame<br />

Sprachentwicklung<br />

‣ Bewertung einer langsamen Entwicklung<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

‣ dieses Vorgehen wird mit FRAKIS vorgeschlagen<br />

• Normalbereich:<br />

80 % <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r zwischen <strong>de</strong>m 11. und 90. Perzentil<br />

"späte Sprecher":<br />

untersten 10 % <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r<br />

‣ Bezeichnung "später Sprecher" ist bewertungsneutral<br />

- d.h. keine Aussage darüber, ob "spät" = "zu spät"<br />

• Unterschiedliche Grün<strong>de</strong>, warum ein Kind ein "später<br />

Sprecher" sein kann<br />

‣ umweltbedingt<br />

- geringes und qualitativ schlechtes Sprachangebot<br />

- insgesamt wenig anregen<strong>de</strong> kognitive Umwelt<br />

‣ Persönlichkeit <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s<br />

- wenig Wunsch nach sozialer Interaktion<br />

‣ frühes Zeichen einer späteren Spracherwerbsstörung<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

Derzeitige Messinstrumente erlauben nicht, bei Zweijährigen<br />

zweifelsfrei zwischen diesen Möglichkeiten zu unterschei<strong>de</strong>n<br />

‣ Langzeitstudien belegen nicht ein<strong>de</strong>utig, dass "späte Sprecher" später<br />

eine Spracherwerbsstörung entwickeln<br />

(U.S. Preventive Services Task Force, 2006, Law et al., 1998)<br />

‣ ca. 50 % "späte Sprecher" haben spätere Sprachprobleme<br />

- dabei unklar, welcher Art diese Sprachprobleme sind, ob SSES (wirkliche<br />

Spracherwerbsstörung) o<strong>de</strong>r Probleme <strong>de</strong>s sprachlichen Ausdrucks<br />

‣ Prozentsatz <strong>de</strong>r Zweijährigen, die keine späten Sprecher sind, aber<br />

später <strong>de</strong>nnoch Spracherwerbsstörung entwickeln, unbekannt<br />

‣ Gleichsetzung von "späten Sprechern" mit<br />

"Risikokin<strong>de</strong>rn" o<strong>de</strong>r sogar "spracherwerbsgestört"<br />

daher nicht berechtigt<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

Argument, dass nur <strong>Fr</strong>ühintervention spätere sprachliche<br />

Defizite verhin<strong>de</strong>rn könne, hält näherer Prüfung nicht stand<br />

‣ keine überzeugen<strong>de</strong> Evi<strong>de</strong>nz für Langzeiteffekte von <strong>Fr</strong>ühintervention<br />

(U.S. Preventive Services Task Force, 2006)<br />

‣ keine überzeugen<strong>de</strong> Evi<strong>de</strong>nz, dass <strong>Fr</strong>ühintervention einer späteren<br />

Intervention überlegen ist (U.S. Preventive Services Task Force, 2006, Law et al.,<br />

1998; Tigges-Zuzok et al., 2007)<br />

‣ Rechtfertigung von <strong>Fr</strong>ühintervention mit <strong>de</strong>m frühen En<strong>de</strong> einer<br />

"sensiblen Phase" nicht nur unbegrün<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn unethisch → Ängste<br />

ethische Be<strong>de</strong>nken gegen Klassifikation von "späten<br />

Sprechern" als "Risikokin<strong>de</strong>r":<br />

‣ Eltern möglicherweise unnötig beunruhigt<br />

(ELFRA produziert 50 % falsch Positive, bei 20 % "Risikokin<strong>de</strong>rn"<br />

wer<strong>de</strong>n 10 % <strong>de</strong>r Eltern von Zweijährigen unnötig beunruhigt)<br />

‣ unnötiges Durchführen weiterer Tests<br />

‣ negative Wirkung auf gesamte Familienleben<br />

‣ frühe Etikettierung von Kin<strong>de</strong>rn und Familien<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

Einschränkung von Elternfragebögen:<br />

• Elternfragebögen sind ein Hinweis<br />

• keine Diagnose<br />

• wenn FRAKIS auch an Spontansprache von Kin<strong>de</strong>rn validiert wur<strong>de</strong>,<br />

so sind zur Abklärung einer Diagnose über mögliche Verzögerung<br />

o<strong>de</strong>r Störung <strong>de</strong>s Spracherwerbs weitere Verfahren heranzuziehen<br />

‣ Sprachproduktion <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s selbst<br />

- in Testverfahren<br />

- möglichst auch Stichprobe spontanen Sprechens<br />

Persönliche Meinung:<br />

‣ <strong>de</strong>rzeitiger Fokus auf <strong>Fr</strong>ühdiagnose fehlgeleitet<br />

‣ mit <strong>de</strong>n uns zur Verfügung stehen<strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n ist eine<br />

<strong>Fr</strong>ühdiagnose bei Zweijährigen – und vermutlich selbst bei<br />

Dreijährigen - nicht möglich<br />

• wegen <strong>de</strong>r enormen Variabilität <strong>de</strong>s frühen Spracherwerbs<br />

• wegen <strong>de</strong>r unklaren Beziehung zwischen spätem Sprechen und<br />

späterer Spracherwerbsstörung<br />

• wegen <strong>de</strong>r Schwierigkeit, Zwei- und Dreijährige in einer Testsituation<br />

angemessen zu beurteilen und Verfügbarkeit von Tests<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

‣ Anstrengungen sollten dahin gehen, bei Kin<strong>de</strong>rgartenkin<strong>de</strong>rn<br />

zwischen solchen mit einer wirklichen<br />

Spracherwerbsstörung und lediglich "schlechtem Deutsch"<br />

zu trennen – hier Diagnose möglich<br />

‣ entsprechend: För<strong>de</strong>rung o<strong>de</strong>r Therapie<br />

• momentane Panik über angeblich hohen Prozentsatz<br />

spracherwerbsgestörter Kin<strong>de</strong>r macht Phänomene zu<br />

Gleichem, die durchaus unterschiedlich sind :<br />

(hilft we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m klaren Denken noch <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn)<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

‣ langsamer früher Spracherwerb<br />

‣ "schlechtes Deutsch" im Sinne eines Sprechens, das<br />

<strong>de</strong>n Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Bildungssystems nicht genügt,<br />

aber funktional für <strong>de</strong>n Sprecher ist<br />

‣ sprachliche Probleme von Migrantenkin<strong>de</strong>rn<br />

‣ eine wirkliche Spracherwerbsstörung im Sinne einer<br />

Spezifischen Spracherwerbsstörung (SSES o<strong>de</strong>r<br />

Dysgrammatismus<br />

• "Späte Sprecher" sind schon charakterisiert wor<strong>de</strong>n<br />

→ "schlechtes Deutsch"<br />

- möchte ich einleiten mit einer Darstellung <strong>de</strong>r Sprache<br />

von Menschen, die in Deutschland im Bergischen Land<br />

aufwachsen und "Bergisch" sprechen<br />

(aus meinem Lehrbuch (<strong>Szagun</strong>, 2006))<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Wat et nich alles jüt! (Was es nicht alles gibt!)<br />

Dem seine Schere<br />

Im Bergischen Land, in <strong>de</strong>m ich meinen Spracherwerb vollzog, kann man sich auf<br />

vielfältige nicht-hoch<strong>de</strong>utsche Art und Weise ausdrücken und dabei sehr gut<br />

verständigen. So kann man die hoch<strong>de</strong>utsche Äußerung Annas Schere vielfältig<br />

abwan<strong>de</strong>ln in Anna seine Schere, <strong>de</strong>m Anna seine Schere, <strong>de</strong>m seine Schere, et seine<br />

Schere o<strong>de</strong>r dat seine Schere. Solche, <strong>de</strong>ren Muttersprache nicht das Bergische ist,<br />

wer<strong>de</strong>n Schwierigkeiten haben, <strong>de</strong>n Gebrauch <strong>de</strong>r Pronomen sein, et und dat zu<br />

verstehen. Für Muttersprachler ist das kein Problem. Feminina – wie Anna und<br />

feminine Nomen – können im Pronomen durch et ersetzt wer<strong>de</strong>n. Et seinerseits ist<br />

Neutrum. Dadurch folgt logisch <strong>de</strong>r Gebrauch von dat und sein, die neutrale<br />

Paradigmen darstellen.<br />

Aus Sicht <strong>de</strong>r Hochsprache ist das nicht einfach, aus Sicht <strong>de</strong>r bergischen<br />

Muttersprachler ist es völlig natürlich. Das Beispiel zeigt, dass es ein Fehler wäre<br />

anzunehmen, die Hochsprache sei grammatikalisch komplexer. Konstruktionen wie<br />

<strong>de</strong>m Anna seine Schere o<strong>de</strong>r et seine Schere erfor<strong>de</strong>rn ein beachtliches<br />

grammatikalisches Wissen, das sich min<strong>de</strong>stens mit Annas Schere messen kann.<br />

Aber die Muttersprachler wissen noch mehr. Sie wissen, in welchem sozialem<br />

Kontext sie welchen Sprachco<strong>de</strong> benutzen dürfen. Im Klassenzimmer spricht man<br />

von Annas Schere, aber schon auf <strong>de</strong>m Schulhof und im Kreis vertrauter<br />

muttersprachlicher Personen kann man davon ablassen und <strong>de</strong>m Anna seine Schere<br />

o<strong>de</strong>r die an<strong>de</strong>ren Varianten benutzen.<br />

• Ist das nun "schlechtes Deutsch"?<br />

"Ja" für <strong>de</strong>n Deutschlehrer<br />

<strong>Fr</strong>age ist irrelevant für <strong>de</strong>n bergischen Muttersprachler<br />

- dieser kann prächtig kommunizieren<br />

grammatikalisiert ist das Bergische auch<br />

- die bergische Grammatik ist so komplex, dass Nord<strong>de</strong>utsche in Ol<strong>de</strong>nburg<br />

größte Mühe haben, die Varianten von Annas Schere zu verstehen. Sie<br />

haben die Grammatikregeln <strong>de</strong>s Bergischen nicht internalisiert.<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

• "schlechtes Deutsch" – wie im Beispiel – eine Art Dialekt<br />

• wird benutzt in sozialen Situationen, in <strong>de</strong>nen eine gewisse<br />

Familiarität, Intimität besteht<br />

• die Hochsprache ist eher ein "offizieller" Sprachco<strong>de</strong><br />

Wichtig:<br />

‣ <strong>de</strong>r familiäre Co<strong>de</strong> ist kein Problem an sich -<br />

und wenn Sprecher zwischen familiärem und offiziellem<br />

Co<strong>de</strong> situationsangemessen wechseln können<br />

- im Gegenteil: dient <strong>de</strong>r Gemütlichkeit, <strong>de</strong>m Zusammenhalt <strong>de</strong>r<br />

sozialen Gruppe (Familie, <strong>Fr</strong>eun<strong>de</strong>, Kumpel)<br />

‣ Der familiäre Co<strong>de</strong> hat eine Grammatik, d.h. eine<br />

Systematik wie die Hochsprache<br />

- diese ist keineswegs weniger komplex<br />

- sie ist bloß an<strong>de</strong>rs<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

‣ <strong>de</strong>r familiäre Co<strong>de</strong> ist ein Problem vom Gesichtspunkt <strong>de</strong>s<br />

Bildungssystems<br />

wenn:<br />

→ Sprecher nicht zwischen familiärem Co<strong>de</strong> und<br />

offiziellem Co<strong>de</strong> (Hochsprache) situationsangemessen<br />

wechseln können<br />

und:<br />

→ zusätzlich persistieren<strong>de</strong> Grammatikfehler und geringes<br />

Vokabular auftreten<br />

→ dann ist:<br />

• "schlechtes Deutsch" nicht nur Dialektvariante<br />

son<strong>de</strong>rn mangeln<strong>de</strong> Sprachbeherrschung<br />

• gekennzeichnet durch:<br />

‣ persistieren<strong>de</strong> Kasusfehler über das 4. Lebensjahr<br />

hinaus (bis dahin bis zu 50 % Fehler normal)<br />

- beson<strong>de</strong>rs im Dativ<br />

das verrat ich die Oma, von die Seite, mit'n Auto, aus'n Automaten<br />

‣ geringes Vokabular<br />

‣ schlechte Aussprache<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

• Mangeln<strong>de</strong> Sprachbeherrschung ist ein Problem nicht<br />

nur aus Sicht <strong>de</strong>s Bildungssystems<br />

‣ Problem für Person, da Konsequenzen:<br />

→ schlechter Bildungsabschluss, wenn überhaupt einer<br />

→ schlechte Berufsaussichten<br />

Sprachliche Probleme von Migrantenkin<strong>de</strong>rn<br />

• Schwierig zu unterschei<strong>de</strong>n von "schlechtem Deutsch"<br />

• ähnliche Fehler, aber einige markante Unterschie<strong>de</strong>:<br />

‣ Fehler beim grammatischen Geschlecht<br />

das Hund, <strong>de</strong>r Buch<br />

- Spezifikum von Zweitspracherwerb<br />

(bei Erstspracherwerb weg ab ca. 3 Jahren)<br />

‣ Auslassungen<br />

- von Artikeln, Fehler bei Präpositionen<br />

Wir gehen nach Schwimmbad Der geht auf Straße Wir fahren in Türkei<br />

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Vortrag 6.11.2008<br />

• einsprachig aufwachsen<strong>de</strong> Kin<strong>de</strong>r und Migrantenkin<strong>de</strong>r<br />

mit "schlechtem Deutsch" haben das gleiche Problem<br />

‣ mangeln<strong>de</strong> Sprachbeherrschung<br />

‣ und ihre Konsequenzen im Bildungssystem<br />

und bei Berufsaussichten<br />

• Das Problem liegt nicht im Migrationshintergrund an sich,<br />

son<strong>de</strong>rn im Sozialstatus bzw. <strong>de</strong>r Bildung <strong>de</strong>r Eltern<br />

Mangeln<strong>de</strong> Sprachbeherrschung<br />

bei einsprachig aufwachsen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn:<br />

• die Konsequenz von anregungsarmen Entwicklungsbedingungen<br />

in <strong>de</strong>r Umwelt<br />

• Sprachlich, kognitiv, sozial-interaktiv verarmte<br />

menschliche Umwelt<br />

bei mehrsprachigen Migrantenkin<strong>de</strong>rn:<br />

• Produkt von unzureichen<strong>de</strong>m Zugang zu Deutsch<br />

und/o<strong>de</strong>r ungünstigen Umwelt-bedingungen<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Mangeln<strong>de</strong> Sprachbeherrschung ist<br />

ein soziales, kein medizinisches Problem -<br />

und keine Spracherwerbsstörung!<br />

Spezifische SprachErwerbsStörung (SSES)<br />

Merkmale:<br />

• Störung berührt vorwiegend die Sprache<br />

• Grammatik ist immer betroffen<br />

• Wortschatz ist mehr o<strong>de</strong>r weniger betroffen<br />

• Artikulation ist oft betroffen<br />

• situatives Sprachverständnis kann unterschiedlich stark<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

‣ stark fehlerhaft sind:<br />

• Wortendungen (Flexionen an Verben, Artikeln und Nomen)<br />

• Syntax: Wortstellung<br />

• Funktionswörter: Präpositionen, Artikel,<br />

Konjunktionen, Modalverben<br />

‣ Art und Häufigkeit <strong>de</strong>r Fehler geht weit über das hinaus, was<br />

Kin<strong>de</strong>r mit normaler Sprachentwicklung produzieren<br />

‣ Fehler verschwin<strong>de</strong>n nicht von alleine bis zum Schulalter<br />

Beispiele von Äußerungen von SSES Kin<strong>de</strong>rn im Alter von 4<br />

bis 9 Jahren:<br />

Flexionsfehler:<br />

Mein Baume fall.<br />

Das is Puppen.<br />

Du dann runterfällt.<br />

Wortstellung:<br />

Is (= ich) Haus mach jetz.<br />

Mama auch Kin<strong>de</strong>rgarten is.<br />

Ich <strong>de</strong>s guck an will.<br />

Artikel:<br />

Die Tind (= Kind) auch ein Bauch.<br />

Un <strong>de</strong>n gosse (= grosse) Tomme (= Trommel).<br />

ber ich <strong>de</strong>r Hund spiel.<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Relative Isoliertheit <strong>de</strong>r Sprachstörung<br />

‣ Kin<strong>de</strong>r mit SSES haben:<br />

• keine hirnorganischen Schä<strong>de</strong>n<br />

• keine Hörstörungen<br />

• keine massiven emotionalen Störungen<br />

• Intelligenz (I.Q.) im Normalbereich<br />

Was geht einher mit SSES?<br />

‣ Jungen häufiger betroffen als Mädchen<br />

‣ kaum Einfluss von elterlichem Bildungsniveau<br />

‣ oft beobachtbar:<br />

• schlechte motorische Koordination<br />

• Schwierigkeiten bei räumlicher Anordnung<br />

• Schwierigkeiten beim Unterschei<strong>de</strong>n ähnlicher Formen<br />

• Schwierigkeiten beim Erkennen und Erinnern von Rhythmen<br />

• Aufmerksamkeitsschwäche<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was sind mögliche Ursachen von SSES?<br />

1) Schwäche in <strong>de</strong>r Verarbeitung von auditiver Information<br />

‣ Schwierigkeiten bei <strong>de</strong>r Verarbeitung von Sprachlauten, die<br />

nur kurze Dauer haben [p, b, t, d, k, g]<br />

‣ je schneller diese aufeinan<strong>de</strong>r folgen, <strong>de</strong>sto schwieriger wird<br />

es für die Kin<strong>de</strong>r, sie zu unterschei<strong>de</strong>n<br />

• Schwäche ist im auditiven, nicht im visuellen Bereich<br />

• Schwäche beim schnellen Erkennen von Reihenfolgen von<br />

Lauten führt zum schlechteren Erkennen<br />

von Wörtern<br />

und grammatischen Markierungen<br />

→ und so zur Spracherwerbsstörung<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was sind mögliche Ursachen von SSES?<br />

2) Schwäche <strong>de</strong>s Kurzzeitgedächtnisses<br />

- Kurzzeitgedächtnis vorübergehen<strong>de</strong>r Speicher, begrenzt auf 7 ± 2 Items<br />

- bei SSES Kin<strong>de</strong>rn Speicher geringer als bei Kin<strong>de</strong>rn mit<br />

typischer Sprachentwicklung<br />

- beim Nachsprechen von Kunstwörtern – kufa, dogepi, neribalu –<br />

SSES Kin<strong>de</strong>r umso schlechter, je länger Wörter wer<strong>de</strong>n<br />

‣ SSES Kin<strong>de</strong>r können weniger Items im Kurzzeitgedächtnis<br />

speichern<br />

• Experiment mit Nachsprechen von Kunstwörtern ähnelt<br />

Situation beim Erwerb neuer Wörter<br />

• unbekannte Lautfolge muss im Kurzzeitgedächtnis behalten<br />

wer<strong>de</strong>n, bis sie be<strong>de</strong>utungsvoll im Langzeitgedächtnis<br />

gespeichert wird<br />

• wenn weniger Kapazität, Aufnehmen von neuen Wörtern<br />

schwieriger<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

Was sind mögliche Ursachen von SSES?<br />

3) Genetische Bedingtheit<br />

• ist oft vorhan<strong>de</strong>n<br />

• SSES in Familien nach Vererbungsmustern<br />

• Eineiige Zwillinge mit SSES ähnlicher in Experimenten zur<br />

Informationsverarbeitung als zweieiige<br />

• Schwäche <strong>de</strong>r auditiven Informationsverarbeitung – ob<br />

Reihenfolgeninformation o<strong>de</strong>r Kurzzeitspeicher - vereinbar<br />

mit genetischer Ursache (wie, wissen wir z.Zt. (noch) nicht)<br />

• die drei möglichen Ursachen von SSES sind vereinbar<br />

• auch sind bei unterschiedlichen Kin<strong>de</strong>rn unterschiedliche<br />

Ursachen möglich<br />

• Alle Schwächen liegen in grundlegen<strong>de</strong>n Mechanismen <strong>de</strong>r<br />

menschlichen Informationsverarbeitung<br />

• SSES ist eine pathologische Bedingung und ist zu<br />

unterschei<strong>de</strong>n von mangeln<strong>de</strong>r Sprachbeherrschung<br />

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Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

• die horren<strong>de</strong>n Prozentsätze <strong>de</strong>r angeblich spracherwerbsgestörten<br />

Kin<strong>de</strong>r legen nahe, dass das nicht geschieht<br />

• es ist oft nicht einfach, weil einige <strong>de</strong>r Fehler sich <strong>de</strong>cken<br />

→ gibt Tests, die sich eignen<br />

→ ab ca. 4 Jahren einsetzbar<br />

HASE<br />

Hei<strong>de</strong>lberger Auditives Screening in <strong>de</strong>r Einschulungsdiagnostik<br />

(Brunner & Schöler, 2001/02)<br />

• einsetzbar bei Vorschulkin<strong>de</strong>rn von 5 bis 6 Jahren<br />

• prüft im sprachlichen Bereich:<br />

1) Nachsprechen von Sätzen<br />

2) Erkennen von Wortfamilien<br />

• prüft im kognitiven Bereich:<br />

3) Kurzzeitgedächtnis für Zahlenfolgen<br />

4) Kurzzeitgedächtnis für Kunstwörter<br />

• Prozentränge für 4 Altersgruppen in Halbjahresschritten<br />

• ca. 10 Minuten Bearbeitungszeit<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


© <strong>Prof</strong>. G. <strong>Szagun</strong><br />

Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

HASE ergibt drei <strong>Prof</strong>ile:<br />

I. Kin<strong>de</strong>r, die alle 4 Aufgaben problemlos lösen – lassen keine<br />

Störung erwarten<br />

II. Kin<strong>de</strong>r, die in allen 4 Aufgaben geringe Leistungen erbringen –<br />

somit sicher als Risikokin<strong>de</strong>r für eine Spracherwerbsstörung<br />

eingestuft wer<strong>de</strong>n<br />

(→ <strong>de</strong>taillierteres Testen, IDIS, ist anzuraten)<br />

III. Kin<strong>de</strong>r, die in <strong>de</strong>n 2 Sprachaufgaben geringe Leistungen erbringen,<br />

in <strong>de</strong>n 2 kognitiven Aufgaben <strong>de</strong>r Merkfähigkeit jedoch gute<br />

Leistungen<br />

→ mangeln<strong>de</strong> Sprachbeherrschung<br />

• Kin<strong>de</strong>r, die sprachliche und informationsverarbeiten<strong>de</strong><br />

Schwäche nach HASE haben<br />

→ Spracherwerbsstörung möglich<br />

‣ weitere Tests zur Abklärung erfor<strong>de</strong>rlich<br />

‣ falls Verdacht bestätigt → Therapie erfor<strong>de</strong>rlich<br />

‣ SSES hat Ursachen in Schwächen <strong>de</strong>s informationsverarbeiten<strong>de</strong>n<br />

Systems<br />

‣ SSES ist eine pathologische Bedingung und bedarf <strong>de</strong>r<br />

Therapie<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


© <strong>Prof</strong>. G. <strong>Szagun</strong><br />

Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

• Kin<strong>de</strong>r mit mangeln<strong>de</strong>r Sprachbeherrschung<br />

bedürfen <strong>de</strong>r För<strong>de</strong>rung, nicht <strong>de</strong>r Therapie<br />

• kein Grund, diese Kin<strong>de</strong>r zu pathologisieren<br />

• mangeln<strong>de</strong> Sprachbeherrschung hat oft ihre Ursache in<br />

wenig entwicklungför<strong>de</strong>rlichen Umwelten:<br />

- kognitiv, sprachlich, sozial verarmte familiäre<br />

Umwelten (s. auch Kany & Schöler, 2007)<br />

‣ dies ist als gesellschaftliches, nicht medizinisches Problem zu<br />

betrachten<br />

‣ gilt, entwicklungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Umweltbedingungen zu schaffen<br />

- I<strong>de</strong>e nicht neu (s. Kin<strong>de</strong>rgartenbewegung <strong>de</strong>r 20er)<br />

‣ Betreuungseinrichtungen für Kleinkin<strong>de</strong>r (unter 3 Jahren)<br />

sowie Kin<strong>de</strong>rgärten mit qualifiziertem Personal<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008


© <strong>Prof</strong>. G. <strong>Szagun</strong><br />

Normalität und Variabilität im frühen Spracherwerb<br />

Vortrag 6.11.2008<br />

‣ Interesse für Sprachentwicklung bei Kin<strong>de</strong>rn ist in <strong>de</strong>r<br />

allgemeinen Öffentlichkeit geweckt<br />

- in Deutschland ungefähr 40 Jahre nach Beginn <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen<br />

Sprachentwicklungsforschung (für die Schweiz kann ich nicht<br />

sprechen)<br />

- lei<strong>de</strong>r auch nur im negativen Sinne<br />

‣ Statt in Angst und Pathologisierung zu erstarren,<br />

sollten wir das Beste daraus machen und für Kin<strong>de</strong>r<br />

entwicklungsför<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Umwelten schaffen<br />

5. SPZ-Symposium Winterthur<br />

6. November 2008

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