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die Kunst des Sammelns - Julian Klein

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Claudia K. Friedrich<br />

WIR SEHEN, WAS WIR GESEHEN HABEN<br />

Unterschiede und Kontinua<br />

KOGNITIVE ABSTRAKTION ERMÖGLICHT UNS VORHERSAGEN ÜBER DIESE WELT<br />

Unsere Gehirne sammeln Erfahrungen und Eindrücke und organisieren sie<br />

in Form hierarchischer Kategorien. Wir erstellen gewissermaßen »kognitive<br />

Taxonomien« von Erlebtem. Zustände und Eigenschaften <strong>die</strong>ser Welt, <strong>die</strong> uns als<br />

gleichwertig erscheinen, fassen wir zusammen, versehen sie mit einem gemeinsamen<br />

Etikett und grenzen sie gegen unähnliche Erscheinungen ab. Der Vorteil:<br />

Wir müssen nicht jede Erscheinung <strong>die</strong>ser Welt in allen Einzelheiten wahrnehmen<br />

oder speichern, sondern nur <strong>die</strong> Tatsache, dass sie einer bestimmten Klasse<br />

angehört. Da <strong>die</strong> Eigenschaften <strong>die</strong>ser Klasse gespeichert sind, müssen wir eine<br />

Erscheinung nur einer Kategorie zuordnen, dann können wir über das Gegebene<br />

hinausgehen und Vorhersagen über <strong>die</strong> Eigenschaften <strong>die</strong>ser Erscheinung machen.<br />

Wenn wir beispielsweise ein Objekt als eine Gurke klassifizieren, können wir unser<br />

gespeichertes Wissen über Eigenschaften von Gurken und über übergeordnete<br />

Kategorien wie »Gemüse« oder »Essbares« abrufen. Forschung in den kognitiven<br />

Neurowissenschaften bestätigt, dass wir im Bruchteil einer Sekunde <strong>die</strong> zu einer<br />

Kategorie abgespeicherte Information aktivieren. Damit bestimmen kognitive Kategorien<br />

<strong>die</strong> Vorhersagen, <strong>die</strong> wir ständig über <strong>die</strong> uns umgebende Welt machen,<br />

sie beeinflussen unsere Wahrnehmung, unser Gedächtnis und unser Denken.<br />

Experimenteller Forschung fällt es schwer, zu bestimmen, nach welchen expliziten<br />

Regeln kognitive Kategorien gebildet werden. Definierende Merkmale, nach<br />

denen eine Kategorie aus einer Menge von Merkmalen (Gurke = grün, essbar, länglich)<br />

besteht, und ein Objekt dann zu einer Kategorie gehört, wenn es alle Merkmale<br />

besitzt, schieden aus. Mitglieder einer Kategorie müssen nicht alle Merkmale<br />

aufweisen (eine Gurke kann auch gelb und rundlich sein) und sie sind mehr oder<br />

weniger typisch für eine Kategorie (eine Gurke ist für <strong>die</strong> meisten ein typischeres<br />

Gemüse als eine Süßkartoffel). Ein alternatives Konzept stellen Prototypen dar, <strong>die</strong><br />

über eine Menge charakteristischer, aber nicht unbedingt notwendiger Merkmale<br />

definiert sind. Andere Theorien postulieren, dass alle je erlebten Erscheinungen gespeichert,<br />

immer wieder aktiviert und mit der jeweils in Frage stehenden Erscheinung<br />

verglichen werden. Eine Gurke ist für uns demnach <strong>des</strong>halb das typischere<br />

Gemüse, weil sie in unseren Breiten häufiger vorkommt als eine Süßkartoffel. Insgesamt<br />

konnte <strong>die</strong> Bildung kognitiver Kategorien also bisher nicht eindeutig auf<br />

bestimmte Korrelate der realen Welt zurückgeführt werden.<br />

Kognitive Kategorisierung beginnt mit den ersten sensorischen Erfahrungen.<br />

Unsere Gehirne extrahieren wiederkehrende Muster aus ihrer Umgebung und abstrahieren<br />

davon. Dies kann dazu führen, dass wir bestimmte Details nicht mehr<br />

verarbeiten. Beispielweise fällt es erwachsenen Sprechern <strong>des</strong> Chinesischen schwer,<br />

<strong>die</strong> Sprachlaute »l« und »r« <strong>des</strong> Deutschen zu unterscheiden. Für sie hören sich<br />

<strong>die</strong> Wörter »Stuhl« und »stur« gleich an. Für Säuglinge chinesisch sprechender<br />

Eltern klingen »l« und »r« innerhalb der ersten Lebensmonate sehr wohl unterschiedlich.<br />

Da <strong>die</strong> beiden Sprachlaute aber keine Wörter <strong>des</strong> Chinesischen unterscheiden,<br />

hat ihre Differenzierbarkeit keinen Vorhersagewert und geht innerhalb<br />

<strong>des</strong> ersten Lebensjahres verloren. Zusammengefasst <strong>die</strong>nen kognitive Kategorien<br />

also nicht der möglichst differenzierten Abbildung aller möglichen Zustände der<br />

realen Welt, sondern unserer Orientierung auf <strong>die</strong> für uns wichtigen Eigenschaften<br />

und deren Vorhersage.<br />

Die Arten kann man<br />

auseinander halten<br />

anhand kleiner Unterschiede.<br />

So sagt der<br />

traditionelle Syste-<br />

Charles Oliver matiker, der sich <strong>die</strong><br />

Coleman<br />

einzelnen Arten anguckt<br />

oder <strong>die</strong> einzelnen – sagen wir<br />

mal – Populationen anguckt und dann<br />

feststellt, dass es Muster gibt, <strong>die</strong> in<br />

einer Population immer wieder auftreten<br />

und <strong>die</strong> in anderen Populationen<br />

nicht auftreten, also irgendwelche Strukturen,<br />

<strong>die</strong> charakteristisch sind für einen<br />

Ausschnitt aus dem, was man draußen<br />

beobachtet.<br />

Unser Gehirn sucht <strong>die</strong>se Muster von<br />

ganz allein. Wir sehen eigentlich alle<br />

möglichen Kontinua, <strong>die</strong> wir aber nicht<br />

unbedingt nutzen können, etwa, wenn<br />

irgendwelche Strukturen vorliegen, <strong>die</strong><br />

in unterschiedlicher Ausprägung bei<br />

allen möglichen Arten vorkommen. Was<br />

wir brauchen, ist das Diskontinuierliche.<br />

Ein plötzlicher Sprung. Wir sehen also<br />

Merkmale, <strong>die</strong> in einer Population<br />

vorkommen und in der anderen nicht.<br />

Diese Dinge fallen uns sofort auf. Und<br />

<strong>die</strong>se Merkmale, <strong>die</strong> nutzt unser Gehirn.<br />

Und wir probieren manchmal erst im<br />

Nachhinein, <strong>die</strong>sen Eindruck zu begründen.<br />

Das ist eigentlich absolut tödlich.<br />

Jeder Wissenschaftler würde sagen: »Wie<br />

kannst du so vorgehen! Das ist unmöglich!<br />

Das ist nicht lauter! Man muss eine<br />

Hypothese haben und <strong>die</strong> Hypothese<br />

muss man begründen oder falsifizieren!«<br />

Im Grunde genommen wird <strong>die</strong>se Hypothese<br />

von unserem Gehirn aufgestellt,<br />

ohne dass wir denken, wie man es auch<br />

an den Eingeborenen im Amazonasgebiet<br />

sieht: Die erkennen eine Vogelart auch<br />

als Vogelart, ohne dass sie je etwas von<br />

Hypothesen von Falsifikationen oder von<br />

irgendwelchen wissenschaftstheoretischen<br />

Dingen gehört haben. Die können <strong>die</strong><br />

Arten ansprechen. Und wir Systematiker<br />

können das auch, weil wir sehr genau<br />

hingucken und weil wir eine große Erfahrung<br />

aufbauen, indem wir immer<br />

wieder <strong>die</strong> gleichen Tiere angucken und<br />

dann tatsächlich ein Gefühl bekommen<br />

für Merkmale, <strong>die</strong> relevant sind. Und<br />

das stellt sich erst nach einer langen Zeit<br />

ein. Also wenn man als Systematiker alt<br />

ist, ist das ein Vorteil. Für viele andere<br />

Wissenschaftler ist das ein Nachteil,<br />

wenn man alt ist. Da funktioniert das<br />

Gehirn plötzlich nicht mehr. Man kann<br />

nicht mehr <strong>die</strong>se logischen Schlüsse<br />

schließen. Man kann mit den Methoden<br />

nicht mehr klar kommen. Die Jungen<br />

überholen einen ständig. Und <strong>die</strong> Systematik<br />

ist eine <strong>die</strong>ser wenigen Disziplinen,<br />

wo es gut ist, alt zu sein. Das<br />

find ich auch faszinierend. Das find ich<br />

richtig gut, ja?!<br />

t a x o p h i l i a<br />

Art und Klassifikation<br />

(SCHNECKEN) BIVALVIA (MUSCHELN) COLEOIDEA (TINTENFISCHE) CRUSTACEA (KREBSE) Tridacna (RIESENMUSCHEL) Dosidicus gigas (HUMBOLDT-KALMAR) Architeuthis (RIESENTINTENFISCHE) LEPIDOPTERA (SCHMETTERLINGE) ELEPHANTIDAE (ELEFANTEN) GEOSPIZINAE (DARWINFINKEN) FRITZ UND PAUL SARASIN Raphus cucullatus (DODO) FRAU MAKOTO LUKAS SCHMIDT HARIBOIDAE (HARIBOS) STYLOMMATOPHORA (LANDLUNGENSCHNECKEN) GOETHE HUMBOLDT DARWIN SHERLOCK HOLMES AGATHA CHRISTIE

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