Die beseelte Welt archaischer Religionen - Ina Mahlstedt
Die beseelte Welt archaischer Religionen - Ina Mahlstedt
Die beseelte Welt archaischer Religionen - Ina Mahlstedt
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
38<br />
DER HEILIGE BERG VON GÖBEKLI TEPE<br />
nern geschmückte Steinsäule als Manifestation der Gottheit Marilaha gestanden<br />
haben. Nach vielen Jahrtausenden hatte sich das Phänomen des Schöpferischen<br />
zu einer Gottheit verkörpert, deren Zeugungskraft sowohl in der Gestalt der<br />
stehenden Säule als auch im Symbolbild eines Stiers zum Ausdruck kam. Denn<br />
der Stier »als Symbol des Fruchtbarkeit bringenden Gewitterregens« steht mit<br />
seiner gewaltigen Kraft für größtmögliche Zeugungsenergie (Cooper, Stier). In<br />
diesem Sinne wurden Jahrtausende später auch die Herrscher vorderasiatischer<br />
Hochkulturen noch als »Stier« tituliert, denn sie garantierten mit ihrer Kraft,<br />
Potenz und Macht das Wohlergehen und die Fruchtbarkeit des Landes.<br />
»Eine Säule symbolisiert den Ursprung im Mittelpunkt des Himmels und der<br />
Erde, in dem alle Geistwesen und das ganze Universum geboren werden«, formulierte<br />
der Japaner Obyashi (1981,44). Er bestätigt die Symbolik der Steinsäule<br />
auch für Japan, wenn er sagt, dass das ganze Universum durch die Vereinigung<br />
von Säule und Scheibe, dem männlichen und dem weiblichen Prinzip, Gestalt<br />
gewinnt. In Indien wird noch heute der Schöpfergott Shiva in einem Lingam,<br />
einer den Phallus verbildlichenden Steinsäule dargestellt, der in der rund geöffneten<br />
Vulva von Yonis, dem Prinzip des Weiblichen, steht.<br />
Bei diesen wenigen Beispielen vereinigen sich das Stehende und das Runde.<br />
Sollte dieser Gedanke auch schon im Wasserheiligtum mit den zwei Säulen in<br />
den runden Scheiben der Basis Gestalt angenommen haben und mit der Steinsäule<br />
im runden Wasserbecken? Wäre hier schon das erschaffende Prinzip der<br />
Natur in Symbolen von Männlichem und Weiblichem zum Ausdruck gekommen?<br />
Das wäre so erstaunlich wie die enormen handwerklichen Fähigkeiten der Menschen,<br />
die Göbekli Tepe bezeugt.<br />
<strong>Die</strong> glänzende Scheibe des Wasserspiegels in den großen Becken formte ein<br />
Symbolbild, das sich auf dem Göbekli Tepe in vielen aus der Verschüttung geborgenen<br />
Steinscheiben wiederholt (Abb. 6). <strong>Die</strong> Steinsäule im Wasserbecken durchbrach<br />
die runde Wasseroberfläche – ähnlich wie der Lingam die Yonis – und ließ<br />
in dessen Mitte ebenso wie in der Mitte der Steinscheiben ein Kreisloch entstehen<br />
(Abb. 6). <strong>Die</strong> Archäologen können keine Erklärung für diese runden Scheiben<br />
mit den unterschiedlich großen Mittellöchern geben – aus religionswissenschaftlicher<br />
Sicht ist der Kreis ein altes Ursprungssymbol: »Das Runde ist als die natürlichste<br />
aller Formen heilig«, weil es Vollkommenheit und das In-Sich-Geschlossene<br />
darstellt, so dass »der Kreis zum Sinnbild des Kosmos« werden kann und den<br />
Nabel der <strong>Welt</strong> als den Ursprungsort des Seins anzeigt (Cooper, Kreis).<br />
Das Bild des ganzen Universums, der Erde, des Weiblichen, der Ursprung<br />
allen Seins manifestiert sich in der Form einer Kugel, einer Scheibe, eines Kreises.<br />
In einem Loch, das von einem Ring gebildet wird, oder in einer Scheibe mit einem<br />
kleinen Loch – die Proportionen sind bei einem Symbol nicht wesentlich – ver-