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10. Die Darstellung extremer Gewalt und<br />
von Mord im Kino ist heutzutage genauso<br />
zulässig, wie mittelalterlicher Aberglaube und<br />
Angriffe auf die moderne Wissenschaft gebilligt<br />
werden. Ebenso kann man mit einem<br />
Kruzifix masturbieren, literweise hellgrünes<br />
Erbrochenes und dunkelrotes Blut ins rechte<br />
Licht rücken und die sexuell unanständigen<br />
Angebote eines vorpubertären Mädchens an<br />
einen Priester festhalten (mit gespreizten<br />
Schenkeln). Nicht zulässig ist die Darstellung<br />
menschlicher Körper bei der Liebe oder gar<br />
beim Sex, beziehungsweise von Geschlechtsorganen<br />
überhaupt. Aus diesem Grund hat<br />
<strong>The</strong> Exorcist von der Motion Picture Association<br />
of America ein „R“-Rating bekommen<br />
(was Kindern den Besuch des Films in Begleitung<br />
Erwachsener erlaubt), während jede<br />
Form von Nacktheit mit einem „X“-Rating<br />
geahndet wird. Handlungen, die mit Tod<br />
(Mord und Gewalt) zusammenhängen, sind<br />
also zulässig; jene, die auf das Leben verweisen<br />
(Sex und Lust), sind es nicht.<br />
11. Das Durchlaufen von wissenschaftlichen<br />
und medizinischen Untersuchungen<br />
(etwa einer Lumbalpunktion) oder gar einer<br />
Operation ist, wie der Film hervorhebt, überaus<br />
Angst einflößend, schmerzhaft, widerlich<br />
und aufs Äußerste schockierend – und abgesehen<br />
davon ohnehin meist zwecklos. Eine<br />
schnelle Schnittfolge, die sachliche Konzentration<br />
auf chirurgische Abläufe, unerwartete<br />
Kamerabewegungen, schockierende Großaufnahmen<br />
und entsetzliche Geräusche<br />
schaffen eine dokumentarische Atmosphäre<br />
von echtem Ekel. Wie der Film beweist, ist<br />
die Humanmedizin fehlbar, weshalb es also<br />
töricht wäre, sich solchen Diagnosen oder<br />
chirurgischen Eingriffen auszusetzen.<br />
12. Die „Wahrhaftigkeit“ des Films stützt<br />
sich sowohl auf seine einleitende Szene, die<br />
eine unheilvolle archäologische Ausgrabung<br />
in einer „realen“ Gegend (Irak) zeigt, als<br />
auch auf seine Endtitel, die als Berater drei<br />
echte Priester und einen Radiologen der Universität<br />
von New York anführen. Deshalb ist<br />
auch alles „wahr“, was zwischen diesen beiden<br />
narrativen Knotenpunkten geschieht.<br />
13. Die fachkundige Verwendung filmischer<br />
Elemente und Techniken – Montage,<br />
Kamerabewegung und -positionierung,<br />
Rhythmus des Handlungsablaufs, Bildaufbau,<br />
gezielte Lichtsetzung, plötzliche Schocks<br />
durch abrupte visuelle und sprachliche Brüche<br />
– steigert die überwältigende Macht, die<br />
der Film auf sein Publikum ausübt, und lässt<br />
ihn dadurch noch effektiver werden. Die Gültigkeit<br />
der zentralen <strong>The</strong>se des Films ist hingegen<br />
irrelevant, ausgenommen sie transportiert<br />
reale – wenngleich verdrängte –<br />
Ängste des Publikums. Eine faszinierende<br />
Analogie zu Leni Riefenstahls Nazi-Meisterwerk<br />
Triumph des Willens.<br />
14. Die Tatsache, dass die Behauptung<br />
oder die <strong>The</strong>se eines bestimmten Films wissenschaftlich<br />
unhaltbar und moralisch unvertretbar<br />
ist und dass vermutlich nicht einmal<br />
die Filmemacher selbst daran glauben,<br />
braucht sie nicht davon abzuhalten, einen<br />
solchen Film zu drehen und die Finanzierung<br />
mit seinem Potenzial als Box-Office-Erfolg zu<br />
gewährleisten.<br />
15. Die gängige Reduktion von schöpferischen<br />
Leistungen zu Handelsware umfasst<br />
sogar jene Kritik, die sich gegen solche<br />
Arbeiten richtet, indem sie diese selbst noch<br />
zur kommerziellen Werbung macht und die<br />
Kritiker zu Kartenverkäufern degradiert.<br />
16. <strong>The</strong> Exorcist ist der erste originäre<br />
Post-Vietnam-Film des amerikanischen Kinos<br />
und der Versuch, der Nation ihr schlechtes<br />
Gewissen auszutreiben. Während er uns das<br />
Böse in uns zeigt, entlässt er uns zugleich<br />
aus einer persönlichen Verantwortung,<br />
spricht einer beherrschenden Moral das<br />
Wort und proklamiert die Notwendigkeit der<br />
Anrufung einer wohlwollenden, höheren<br />
Macht, um uns vor uns selbst zu schützen.<br />
Eindeutiger noch als jene jüngsten Filme, die<br />
faschistische Polizisten und heroische (oder<br />
charmante) Gangster – mit zunehmender<br />
Brutalität – hochjubeln, reflektiert <strong>The</strong> Exorcist<br />
sehr genau die Realität einer gewalttätigen<br />
Gesellschaft, die sich auf ein neues, dun-<br />
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