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AMOS VOGEL - The Sticking Place

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einer einzigen Masse „verschmolzen“ sind.<br />

Ein Gesicht, in Nahaufnahme, ohne Mund<br />

oder Lippen. Taumelnde Menschen auf dem<br />

Weg zurück in die Stadt, von Radioaktivität<br />

wissen sie nichts. Tausende verkohlte Leichen,<br />

die im Fluss schwimmen, zu dem sie<br />

sich retten wollten – mit brennenden Haaren,<br />

Kleidern und Körpern, auf der Flucht vor<br />

dem Inferno. Die Schatten von Menschen<br />

und Pflanzen, in Stein gebrannt – sie selbst<br />

sind für immer verschwunden. In den Trümmern<br />

einer großen Schule lernten Lehrer und<br />

Schüler gemeinsam die allerletzte Lektion.<br />

Da sind die Tränen, 35 Jahre später, als<br />

sich ein ansonsten gefasstes Opfer plötzlich<br />

an das traumatische Erlebnis erinnert – und<br />

damit jedes rassistische Stereotyp von asiatischer<br />

Unergründlichkeit Lügen straft.<br />

Wir sehen, wie Maden aus verbrannter<br />

Haut und Organen entfernt werden. Zwei<br />

Stunden nach dem Angriff aufgenommene<br />

Fotografien zeigen Hunderte benommene,<br />

verstümmelte, blutende menschliche Wesen,<br />

sitzend, liegend, stehend, schreiend oder<br />

ziellos umherwandernd – Visionen einer<br />

Hölle auf Erden. Nur Wochen später versuchen<br />

redliche Wissenschaftler akribisch,<br />

Stadtpläne zu rekonstruieren, es gelingt<br />

ihnen nicht, Straßen zu finden oder festzustellen,<br />

wer wo gewohnt hat. Sie bitten Passanten,<br />

ihnen zu helfen, auch nur eine Ecke<br />

einer ausgelöschten Straße auszumachen,<br />

probieren mithilfe der Kartografie, inmitten<br />

des Unfassbaren den Boden unter den Füßen<br />

wiederzuerlangen. Wir sehen Berge von Knochen,<br />

die nach drei Monaten noch nicht weggebracht<br />

wurden.<br />

Wir sehen Schalen mit nicht aufgegessenem<br />

Reis, Kinderleichen, denen die Eingeweide<br />

herausquellen, Menschen mit gespaltenem<br />

Schädel. Schmerzmittel gab es erst<br />

viele Tage später. Wir sehen ein Mädchen,<br />

das viele Jahre danach in ihrem Spitalsbett<br />

lächelnd von der Zunahme der Leukämiekrebszellen<br />

in ihrem Körper erzählt. Ein alter<br />

Mann erinnert sich an ein Baby, das an der<br />

Brust seiner toten Mutter nuckelte. Dann<br />

Alfred Hitchcock und Amos Vogel im Central Needle Trades<br />

Auditorium, 1956<br />

bricht er in Tränen aus. Ein anderer spricht<br />

vom „Morgen, an dem die Orkanstürme die<br />

Stadt schwarz werden ließen wie die Nacht“.<br />

Langsam fährt die Kamera eine endlose<br />

Reihe identer Gläser mit grotesk missgebildeten<br />

Föten ab. Als die Bombe explodierte,<br />

waren sie noch im Mutterleib.<br />

Nach der Detonation gab es kein Geschrei,<br />

nur Stille. Einen Moment lang hatte jeder<br />

seine eigene Sonne, sein eigenes Universum,<br />

das ihn zur Gänze ausfüllte. Wir sehen Opfer,<br />

die unaufhörlich, unkontrollierbar zittern. Wir<br />

hören von fortwährenden Albträumen, von<br />

der Schuld der Überlebenden. Man meidet<br />

sie. Schickt ihnen hasserfüllte Briefe. In den<br />

USA erhalten Überlebende – zum großen Teil<br />

amerikanische Staatsbürger – keine Krankenversicherung,<br />

Ärzte weigern sich, sie in<br />

Behandlung zu nehmen, die Regierung weist<br />

jede rechtliche Verantwortung von sich,<br />

hätte aber gerne, dass sie sich an medizinischen<br />

Studien zur Erforschung der Strahlenkrankheit<br />

beteiligen. Einmal im Jahr, am 6.<br />

August, sind sie wieder in den Schlagzeilen<br />

und werden von begierigen jungen Journalisten<br />

belagert.<br />

Die Anwesenheit von Filmemachern und<br />

Überlebenden trägt zu der surrealen Atmosphäre<br />

im Japan House noch bei. Ein leichenblasser,<br />

aus Tokio eingeflogener Überleben-<br />

Archiv Egon Humer<br />

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