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AMOS VOGEL - The Sticking Place

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Kontinente, die es nicht gibt<br />

In seinem letzten Text für „Film Comment“ analysierte Amos Vogel das Kino des<br />

österreichischen Regisseurs Michael Haneke<br />

Wein, Weib und Gesang? Kann man vergessen.<br />

Davon ist das Kino des österreichischen<br />

Regisseurs Michael Haneke Lichtjahre entfernt.<br />

Unvermittelt, wie seine Schockwirkung<br />

ist, steht es im absoluten Gegensatz zu den<br />

artifiziellen, in sich geschlossenen Welten<br />

Hollywoods, in denen letztlich alles erklärbar<br />

ist. Die verhasste kulturelle Übermacht unserer<br />

Filmmetropole macht uns buchstäblich<br />

vergessen, dass auch andere Erzählstrategien<br />

und formal-visuelle Strukturen möglich<br />

sind. Hanekes Kino zeigt indessen eine<br />

bizarre Nähe zu Bressons sonnenlosen Werken:<br />

eine tragische Weltsicht und keine<br />

„Erklärungen“; wir „sehen“ etwas, aber<br />

Erzählung, Dialog und Bilder liefern bestenfalls<br />

Hinweise, niemals Antworten.<br />

Nach dem Studium der Psychologie und<br />

Philosophie an der Universität Wien wird<br />

Haneke, Jahrgang 1942, zunächst Film- und<br />

<strong>The</strong>aterkritiker und dann <strong>The</strong>aterregisseur in<br />

Berlin, München und Wien, inszeniert Strindberg,<br />

Goethe, Bruckner, Kleist. Ab 1974<br />

arbeitet Haneke auch fürs Fernsehen, dem<br />

Kino wendet er sich 1989 mit dem Spielfilm<br />

Der siebente Kontinent zu, der in Cannes vorgestellt<br />

wird (und in New York 1990 in der<br />

Reihe „New Directors/New Films“ des<br />

Museum of Modern Art zu sehen ist). Auf<br />

diesen ersten Teil einer Trilogie folgen 1992<br />

Benny’s Video – der im selben Jahr beim New<br />

York Film Festival läuft – und 1994 71 Fragmente<br />

einer Chronologie des Zufalls, der<br />

ebenfalls in Cannes gezeigt wird.<br />

Die namenlosen österreichischen Städte,<br />

die in der Trilogie zu sehen sind, stehen für<br />

jede beliebige Stadt in den westlichen Industriestaaten:<br />

die ungezügelte Allgegenwart<br />

der Technik, die Übermacht des Konsums,<br />

totale Entfremdung, gestörte Menschen,<br />

unablässig dem schädlichen Auge des Fernsehens<br />

ausgeliefert, existenzielle Kälte.<br />

In der radikalen, düsteren Arbeit Der siebente<br />

Kontinent treffen wir auf eine gut situierte<br />

österreichische Familie, die alles hat –<br />

und nichts: ein teures Auto, die neuesten<br />

technischen Geräte, Großbildfernseher,<br />

Mikrowellengeräte. Wortlos bedienen sie<br />

Automatenkassen, Zapfsäulen, ultramoderne<br />

Möbel, ein elektrisches Garagentor (das wiederholt<br />

beim Öffnen und Schließen gezeigt<br />

wird). Vater, Mutter und Tochter haben fast<br />

völlig aufgehört, miteinander zu sprechen.<br />

Da ist keine Freude, keine Menschlichkeit;<br />

dafür ist alles topmodern. Haneke beschreibt<br />

den Alltag der Familie bis ins kleinste<br />

abstumpfende, fast ausschließlich stumme<br />

Detail. Wir wissen nicht, wo das hinführt,<br />

aber es behagt uns gar nicht.<br />

Schnitt und Kamera sind äußerst unorthodox.<br />

Die Gesichter sind meist gar nicht oder<br />

nur teilweise zu sehen; dafür Close-ups von<br />

Gegenständen, Händen. Szenen brechen verfrüht<br />

ab, werden jäh ausgeblendet. Da gibt<br />

es abrupte, völlig „unlogische“ Übergänge zu<br />

neuen Szenen, unappetitliche Einstellungen.<br />

Establishing Shots fehlen. Die Tochter erklärt<br />

unvermittelt, sie sei erblindet; das stimmt<br />

nicht; die Mutter ohrfeigt sie; Erklärung wird<br />

uns keine geboten; wir müssen selber eine<br />

finden. Das „Unbehagen in der Kultur“ lässt<br />

sich deutlicher nicht zeigen. Sogar Sex wird<br />

stumm verrichtet, stets unter dem gierigen<br />

Auge des Fernsehers. Anonymität, Kälte, Ent-<br />

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