Berliner anarchistisches Jahrbuch - North-East Antifascists [NEA]
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INTEGRALER ANARCHISMUS<br />
A-Laden/ Ralf Landmesser<br />
Die Situation des Anarchismus<br />
in der ersten Dekade des 21.<br />
Jahrhunderts ist dadurch gekennzeichnet,<br />
dass zwar <strong>anarchistisches</strong><br />
Denken diffus in vielen gesellschaftlichen<br />
Bereichen präsent ist, aber<br />
der Anarchismus als Vision einer komplexen<br />
libertären Gesellschaft eher<br />
ein Schattendasein führt und wenig<br />
bekannt ist. Zwar nehmen in wachsendem<br />
Ausmaß auch bürgerlich-konservative<br />
Medien wie z.B. die FAZ positiv<br />
Bezug auf den zeitgenössischen und<br />
historischen Anarchismus und selbst<br />
ehemals marxistisch-kommunistische<br />
Betonköpfe wachen auf und erblicken<br />
plötzlich im Anarchismus eine wichtige<br />
Ergänzung, aber dieser Trend ist<br />
noch zu schwach ausgebildet.<br />
Insbesondere im deutschsprachigen<br />
Raum sind Anarchismus und<br />
Anarchist*innen für die Menschen<br />
keine alltägliche Realität – und schon<br />
gar keine realistische Alternative zum<br />
Raubkapitalismus. Zwischen allen<br />
Stühlen sitzend haben Anarchist*innen<br />
in den vergangenen Jahrzehnten nicht<br />
verstanden, sich selbst einen Stuhl zu<br />
bauen, mit dem sie sich eigenständig<br />
an den Tisch setzen könnten. Das liegt<br />
nicht an ihrer geringen Anzahl und<br />
auch nicht an den wenigen zur Verfügung<br />
stehenden Mitteln, sondern<br />
im wesentlichen an der offenbaren<br />
Unfähigkeit der Menschen, die sich<br />
anarchistisch deklarieren, sich mittelund<br />
langfristig zu koordinieren. Ihre<br />
Stärken scheinen eher in spontanen<br />
Zusammenschlüssen und kurzfristig<br />
organisierten Einmal-Events zu liegen,<br />
als in einer durchaus notwendigen<br />
nachhaltigen Koordination zum Zwecke<br />
gemeinsamer Lebensgestaltung<br />
und Außenwirkung.<br />
Seine diffuse Präsenz, die sich auch<br />
in der Vielzahl der erschienenen anarchistischen<br />
Nachkriegsliteratur<br />
ausdrückt, ist nicht zu leugnen. Hier<br />
hat <strong>anarchistisches</strong> Engagement auch<br />
seine größten Erfolge zu verzeichnen,<br />
nämlich im Spirit der auf- und ausbrechenden<br />
antiautoritären 68’er Revolte<br />
und Transformation, sowie in seinem<br />
nicht zu verkennenden Einfluss durch<br />
individuelles Engagement auf der<br />
Ebene der Bürgerinitiativen und bei<br />
ähnlichen Bewegungen. Auch in Wissenschaft<br />
und Lehre sind die Einflüsse<br />
unverkennbar, gibt es heute doch eine<br />
Vielzahl libertär orientierter oder beeinflusster<br />
Dozent*innen und wissenschaftlicher<br />
Autor*innen. Selbst in der<br />
dem Anarchismus eigentlich fremden<br />
Parteienlandschaft hat der Anarchismus<br />
Spuren hinterlassen: bei den Grünen,<br />
der Linkspartei, neuerlich den Piraten<br />
oder solch schillernden Gebilden<br />
wie der „Anarchistischen Pogo Partei<br />
Deutschlands“ (APPD).<br />
In einer Vielzahl von Städten und Gemeinden<br />
existieren Projekte wie Jugendzentren,<br />
Infoläden, Kulturhäuser<br />
oder Kultur-Kneipen, Hausprojekte,<br />
Kommunen, usw. usf. … die mehr oder<br />
weniger im Geiste des Anarchismus<br />
handeln und angesiedelt sind. Dennoch<br />
ist der Anarchismus weit davon<br />
entfernt, zu einer sogenannten Leitkultur<br />
zu werden und ist auch heute<br />
eher noch als periphäre Subkultur anzusehen.<br />
Sich als Anarchist*innen bezeichnende<br />
Menschen bewegen sich am<br />
sichtbarsten noch in den Ghettos der<br />
linksradikalen Subkultur oder sind als<br />
anarchophile historisierende Schreibstubengelehrte<br />
mit gelegentlichen öffentlichen<br />
Auftritten bekannt. Persönlichkeiten<br />
des öffentlichen Lebens, die<br />
sich offensiv zum Anarchismus bekennen,<br />
sind eher die Ausnahme als die<br />
Regel, obwohl es von ihnen mehr gibt,<br />
als selbst in anarchistischen Kreisen<br />
bekannt ist. Bezeichnenderweise sind<br />
besonders in Künstler*innen-Kreisen<br />
viele von ihnen zu finden.<br />
Leute wie Julien Assange oder hier<br />
und da auftauchende marginale<br />
Anarchoterrorist*innen oder der sogenannte<br />
Schwarze Block, haben dem<br />
Anarchismus zu einer eher fragwürdigen<br />
Medienpräsenz verholfen, die alte<br />
Klischees wieder aufleben lässt.<br />
Was wäre nun ein „integraler Anarchismus“?<br />
Ein integraler Anarchismus<br />
wäre ein Anarchismus, dessen Theorie<br />
und Praxis nicht vom alltäglichen<br />
Leben abgekoppelt ist, sondern sich<br />
aktiv in es einbringt und seine Lebensvision<br />
positiv und gewaltlos nach<br />
außen trägt. Integraler Anarchismus<br />
meint einen einschließlichen Anarchismus,<br />
der auch die verschiedenen<br />
Realitäten anderer Menschen partiell<br />
mit in sein Überlegen und Handeln<br />
einschließt und mit ihnen in positive<br />
Kommunikation tritt, ohne sie a priori<br />
aus Gründen stereotyper „politischer<br />
Korrektheit“ auszuschließen. Es wäre<br />
ein gesellschaftlich ganzheitlichlicher<br />
Ansatz, der die Ideen des Anarchismus<br />
(das Label ist zweitrangig) wieder in<br />
die Mitte der Gesellschaft bringt, wie<br />
es anarchosyndikalistische Gewerkschaften<br />
in verschiedenen Teilen der<br />
Welt zeitweise geschafft haben.<br />
Dies bedeutet aber, die Mehrheitsgesellschaft<br />
in ihren Vorbehalten und<br />
Einwänden gegen das ihr weitgehend<br />
unbekannte libertäre Lebensmodell<br />
ernstzunehmen und in fruchtbare Auseinandersetzung<br />
mit ihr zu treten. Es<br />
geht also mithin darum, mit Menschen<br />
in Gespräch und Austausch zu kommen,<br />
mit denen mensch im Normalfall<br />
seltener oder gar nicht redet. Das würde<br />
heißen, in weiten Teilen die Selbstbezüglichkeit<br />
aufzugeben, in der sich<br />
als anarchistisch orientierter Mensch<br />
hauptsächlich an tendenziell Gleichgesinnte<br />
gewandt wird oder an vermeintlich<br />
ähnlich Gesinnte in der linksradikal-alternativ<br />
ausgerichteten Szene.<br />
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