Berliner anarchistisches Jahrbuch - North-East Antifascists [NEA]
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OKTOBER<br />
Als ich das Editorial des diesjährigen<br />
<strong>Berliner</strong> anarchistischen<br />
<strong>Jahrbuch</strong>s gelesen hatte wunderte<br />
ich mich etwas über die doch<br />
recht euphorische Sichtweise der Redaktion.<br />
Selbstüberschätzung? Nicht<br />
unbedingt. Seit Monaten sind auch die<br />
bürgerlichen Zeitungen von Süddeutscher<br />
Zeitung oder FAZ bis zum Neuen<br />
Deutschland auf einmal mit den unterschiedlichsten<br />
libertären Themen<br />
bestückt: „Der unsichtbare Aufstand“,<br />
Stirner, Graeber, Occupy usw. Was ist<br />
da bloß los? Das Interesse an „horizontalen<br />
Hierarchien“, mehr Transparenz<br />
in Politik und Ökonomie ist spürbar<br />
auch im bürgerlichen Lager vermehrt<br />
angekommen (siehe auch „Stuttgart<br />
21“). Alles Themen, die in den Diskussionen<br />
unter Anarchist*innen längst<br />
zur Tagesordnung gehören, bzw. ihnen<br />
inhärent sind.<br />
Und so, wie die libertären Gedanken<br />
von einer hierarchielosen Gesellschaft<br />
bereits in den 1970er Jahren in die<br />
Bewegung der Bürgerinitiativen und<br />
BERLINER ANARCHISTISCHES<br />
JAHRBUCH 2011<br />
Jochen Knoblauch<br />
Stadtteilgruppen getragen worden ist,<br />
begleiten heute wieder anarchistische<br />
Prinzipien die unterschiedlichsten Protestbewegungen,<br />
ohne explizit von der<br />
anarchistischen Bewegung initiiert<br />
worden zu sein. Die anarchistische<br />
Idee als Selbstläufer, als Grundbedürfnis.<br />
Das <strong>Jahrbuch</strong> hat wieder die übliche<br />
Mischung unterschiedlichster Beiträge<br />
von Einzelpersonen und Gruppen.<br />
Die Themen und die Präsentation der<br />
Beiträge geht von Gedichten über historische<br />
Betrachtungen bis zu den aktuellen<br />
Themen: Wahlen, Autorität,<br />
der Papst, Mieterhöhungen, Demonstrationen<br />
in Athen, Kommunismus bis<br />
zum Verhältnis von Marx und Baku-<br />
nin. Eine Übersicht der letztjährigen<br />
Veranstaltungen, anarchistische Publikationen<br />
der <strong>Berliner</strong> Verlage, Gruppenporträts<br />
usw.<br />
Auf den ersten Blick hat das Ganze was<br />
von einem Rechenschaftsbericht, und,<br />
selbst wenn man dies negativ sehen<br />
mag, es ist nicht das Schlechteste. Eine<br />
Dokumentation von strömungsübergreifenden<br />
Aktivitäten, die Anregungen<br />
geben können, die eine Arbeitsund<br />
Diskussionsgrundlage bieten, die<br />
weit über die <strong>Berliner</strong> Stadtgrenze hinausgehen<br />
kann. Für Interessent*innen<br />
an der Bewegung eine nützliche Broschüre<br />
und für die anarchistische Idee<br />
eine gute Empfehlung.<br />
ORGASMUS! – DER AUFSTAND KOMMT.<br />
A-Laden / Ralf Landmesser<br />
Alle reden vom Aufstand.<br />
Alle? Wir nicht!<br />
Dass Aufstände kommen, kamen und<br />
gingen ist unbestreitbar und unzweifelhaft.<br />
Denn die Lage ist oft verzweifelt<br />
und unerträglich. Sich erhebenden<br />
Menschen kann meistens kein Vorwurf<br />
daraus gemacht werden, dass sie<br />
sich in ein Abenteuer mit ungewissem<br />
Ende gestürzt haben, in der Hoffnung,<br />
durch ihre Opferbereitschaft werde am<br />
Ende alles besser.<br />
Blicken wir uns aber die Geschehnisse<br />
der Vergangenheit an, so sehen wir<br />
fast immer, dass sich die Verhältnisse<br />
wenig verbessert haben, ja in vielen<br />
Fällen sogar verschlimmerten. Aufstände<br />
und Revolutionen haben in der<br />
Geschichte zwar Impulse gesetzt, aber<br />
in ihrer unmittelbaren Folge häufig<br />
kaum die Lebensbedingungen verbessert<br />
und meist vielen Menschen das<br />
Leben oder die psychische Gesundheit<br />
gekostet, von den massiven materiellen<br />
Zerstörungen von Bürgerkriegshandlungen<br />
ganz zu schweigen. Das<br />
seinerzeit völlig zerstörte Beirut ist ein<br />
mahnendes Beispiel dafür.<br />
Dennoch schwelgen heute eine ganze<br />
Anzahl von Menschen wieder in den<br />
Vorstellungen von gewaltsamer Revolte,<br />
von zügellosem Aufstand oder<br />
von vermeintlicher Revolution. Sie<br />
finden Aufstände geil (ohne daran<br />
beteiligt zu sein) und geilen sind am<br />
Kampf anderer Menschen auf. Diese<br />
Aufstandsfetischist*innen scheinen<br />
aus der Geschichte kaum gelernt zu haben<br />
und die Gegenwart zu ignorieren.<br />
Der heroische Mythos von Revolutionen<br />
und Aufständen war in der<br />
Vergangenheit von einer gewalthaften<br />
Gesellschaft geprägt, die Krieg,<br />
Schlachtengetümmel, Eroberung, koloniale<br />
Räuberei verherrlicht hat und<br />
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