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Leseprobe - Maseltrangen

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Abnormal and Social Psychology veröffentlicht.<br />

Milgram führte das Experiment in fast zwanzig Variationen durch. Mal klagte der Schüler<br />

über Herzschwäche, mal fand das Experiment in einem armseligen Bürogebäude<br />

außerhalb der Universität statt, mal teilten Frauen die Elektroschocks aus. Mit<br />

unverändertem Resultat: Über die Hälfte der Versuchsteilnehmer gingen bis zum<br />

Maximalschock.<br />

In anderen Versionen des Experiments befand sich der Schüler im gleichen Raum wie<br />

die Versuchsperson. Der Gehorsam sank zwar deutlich, doch selbst wenn der<br />

Versuchsleiter der Versuchsperson befahl, die Hand des Schülers eigenhändig auf die<br />

Schockplatte zu pressen, von der der Stromstoß kam, ging noch ein Drittel bis zu den<br />

450 Volt. Die körperliche Nähe zum Opfer schien zwar wichtig zu sein, noch<br />

entscheidender war jedoch die Nähe des Versuchsleiters. Als er seine Anweisungen über<br />

das Telefon gab, gehorchte nur noch eine von fünf Versuchspersonen.<br />

Kaum hatte Milgram seine Resultate veröffentlicht, wusste die ganze Welt davon. Die<br />

Zeitungen berichteten darüber und versuchten den Ausgang des Versuchs zu deuten.<br />

Die große Frage war: Handeln Menschen im richtigen Leben ebenso wie die<br />

verschreckten Versuchsteilnehmer? Darüber wird bis heute gestritten. Milgram selbst sah<br />

das Experiment immer in Zusammenhang mit den Verbrechen der Nazis im Zweiten<br />

Weltkrieg. Seit der Krieg vorbei war, suchte die Welt nach einer Erklärung für den<br />

Holocaust. Milgram war überzeugt, dass die Bereitschaft zum Gehorsam, die in allen<br />

Menschen steckt, eine mögliche war.<br />

Als seine Studie publiziert wurde, hatte die Philosophin Hannah Arendt gerade vom<br />

Prozess gegen den Naziverbrecher Adolf Eichmann in Jerusalem berichtet. In ihren<br />

berühmt gewordenen Artikeln für die Zeitschrift The New Yorker stellte sie das Konzept<br />

der »Banalität des Bösen« auf. Arendt behauptete, Eichmann sei nicht das sadistische<br />

Ungeheuer, als das ihn der Staatsanwalt darzustellen versuche, sondern ein<br />

fantasieloser Bürokrat, der einfach seine Pflicht getan habe.<br />

Das passte genau zu Milgrams Experiment. Seine Versuchsteilnehmer waren weder<br />

besonders aggressiv, noch empfanden sie Vergnügen, als sie dem Schüler die<br />

Elektroschocks verabreichten. Ganz im Gegenteil: Viele wurden nervös, begannen zu<br />

schwitzen oder stritten sich mit dem Versuchsleiter, doch die Kraft, das Experiment<br />

abzubrechen, hatten nur wenige. Offenbar erleben Menschen Gehorsamsverweigerung<br />

als einen so radikalen Akt, dass sie es stattdessen vorziehen, ihre grundlegenden<br />

moralischen Überzeugungen über Bord zu werfen. »Der Schlüssel zum Verhalten von<br />

Personen liegt nicht in einem aufgestauten Ärger oder in Aggression, sondern in ihrer<br />

Beziehung zur Autorität«, war Milgrams Folgerung.<br />

Im September 1961, kurz nachdem sich das erschreckende Resultat abzuzeichnen<br />

begann, schrieb Milgram an seinen Geldgeber, die National Science Foundation: »Früher<br />

habe ich mich gefragt, ob eine grausame Regierung in den ganzen USA genug<br />

moralische Dummköpfe finden könnte, um den Personalbedarf für ein nationales System<br />

von Konzentrationslagern, wie es sie in Deutschland gegeben hat, zu decken. Jetzt<br />

glaube ich langsam, dass die ganze Belegschaft in New Haven allein rekrutiert werden<br />

könnte.«<br />

Die Verbindung des Experiments mit dem Holocaust machte Milgram zur umstrittenen<br />

Figur, doch viel schwerer wog die Kritik, sein Experiment sei unethisch gewesen. Die<br />

Frage war, wie viel Stress einer Versuchsperson zugemutet werden darf. Einige seiner<br />

Kollegen waren der Meinung, Milgram sei zu weit gegangen. Er selbst hatte damit<br />

gerechnet, dass diese Vorwürfe kommen würden, aber er war enttäuscht darüber, dass<br />

die Sorgfalt, mit der er das Experiment vorbereitet hatte, nicht gewürdigt wurde.<br />

Nach Abschluss des einstündigen Versuchs wurde der Schüler aus dem Nebenraum<br />

geholt, und man erklärte der Versuchsperson, dass er in Wahrheit gar keine<br />

Elektroschocks bekommen habe. In einer Nachuntersuchung befragte Milgram<br />

Reto U. Schneider - Verrückte Experimente 12/36

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