Leseprobe - Maseltrangen
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Als der Psychologe Stanley Milgram von diesem Resultat erfuhr, machte er sich daran,<br />
es zu überprüfen. Milgrams Experiment wurde später so populär, dass es sich zu einem<br />
Gesellschaftsspiel entwickelte und ein Theaterstück nach dem Resultat benannt wurde.<br />
Milgram wählte zuerst eine Zielperson aus: die Frau eines Theologiestudenten in<br />
Cambridge, Massachusetts, wo Milgram zu dieser Zeit an der Harvard University<br />
arbeitete. Seine Ausgangspunkte waren ein paar Dutzend Personen aus Wichita,<br />
Kansas, oder Omaha, Nebraska. Sie bekamen den Namen der Zielperson mit einer<br />
kurzen Beschreibung genannt sowie eine Anleitung: »Wenn Sie die Zielperson nicht<br />
kennen, versuchen Sie nicht, sie direkt zu kontaktieren. Stattdessen schicken Sie diesen<br />
Umschlag… an einen Bekannten, bei dem es wahrscheinlicher ist, dass er die Zielperson<br />
kennt… Es muss jemand sein, den Sie mit Vornamen kennen.«<br />
Der erste Brief erreichte die Zielperson nach vier Tagen. Er hatte seine Reise bei einem<br />
Bauern in Kansas begonnen, der ihn dem Pfarrer in seiner Heimatstadt geschickt hatte.<br />
Der Pfarrer schickte ihn einem Kollegen in Cambridge, der die Frau des<br />
Theologiestudenten persönlich kannte. Nach zwei Stationen war der Brief am Ziel. Es<br />
war eine der kürzesten Ketten, die Milgram jemals beobachtete. Für die erste Studie gibt<br />
Milgram in seiner Publikation erstaunlicherweise keine weiteren Resultate bekannt. Der<br />
Durchschnitt seines zweiten Versuchs lag bei 5,5 Stationen.<br />
Die Erkenntnis, dass die Welt so klein ist, fand auf erstaunlichen Wegen Eingang in die<br />
Populärkultur. Im Jahr 1990 veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller John Guare<br />
das Theaterstück »Six Degrees of Separation« (etwa: »Sechs Stufen der Abgrenzung«),<br />
das indirekt auf Milgrams Experiment anspielt und später mit Will Smith in der Hauptrolle<br />
verfilmt wurde. 1994 erfanden drei Studenten vom Albright College in Pennsylvania das<br />
Spiel »Six Degrees of Kevin Bacon«, das sich darum dreht, einen beliebigen<br />
Filmschauspieler über möglichst wenige gemeinsame Filme mit Kevin Bacon zu<br />
verbinden. Zum Beispiel Will Smith: Er spielte in »Welcome to Hollywood« (2000) mit<br />
Laurence Fishburne und dieser in »Mystic River« (2003) mit Kevin Bacon. Das ergibt für<br />
Smith einen »Bacon-Wert« von zwei.<br />
Das Phänomen, dass jeder Reisbauer in China über wenige Zwischenstationen mit<br />
Madonna verbunden ist, hat viele Leute fasziniert. In Tschechien nennt sich sogar eine<br />
Metal-Rock-Band »Six Degrees of Separation«. Doch obwohl die Mathematik in jüngster<br />
Zeit Fortschritte gemacht hat und sich Leute aus allen möglichen Gebieten – zum<br />
Beispiel Computernetzwerkspezialisten und Epidemiologen – für die Prinzipien der<br />
»kleinen Welt« interessieren, gilt das Problem immer noch nicht als geknackt.<br />
Bis heute ist nicht klar, ob Milgram mit seinen 5,5 Verbindungen Recht hatte. Er<br />
publizierte seine Experimente nicht wie üblich in einer Fachzeitschrift, sondern in dem<br />
populärwissenschaftlichen Magazin Psychology Today. Die Daten in dem Artikel sind<br />
lückenhaft und lassen eine Überprüfung kaum zu. Milgram hat zum Beispiel den Erfolg<br />
mit dem Bauern in Kansas zitiert, dessen Brief es über nur zwei Stationen nach<br />
Cambridge schaffte, doch Genaueres zu dieser Studie findet sich ausschließlich in<br />
unveröffentlichtem Archivmaterial: Nur drei der 60 in Kansas an die Startpersonen<br />
verteilten Umschläge kamen ans Ziel – über durchschnittlich acht Stationen. Auf die 5,5<br />
Stationen stieß Milgram, der 1984 starb, in späteren Experimenten, bei denen als<br />
Startpersonen zuweilen bewusst Leute mit vielen sozialen Kontakten ausgesucht worden<br />
waren.<br />
Im Jahr 2003 wiederholten Wissenschaftler von der Columbia University in New York<br />
Milgrams Experiment mit E-Mails anstatt mit Briefen. Als Ziele wählten sie 18 Personen in<br />
13 Ländern aus. Wie bei Milgram wurde auch bei ihnen nur ein kleiner Teil der<br />
begonnenen Reihen abgeschlossen (384 von 24163). Die durchschnittliche Länge von<br />
Startperson zu Zielperson lag bei 4,05. Doch dieser Wert täuscht, da ja ein großer Teil<br />
der Ketten nicht bis zur Zielperson reichte. Ein Näherungsverfahren erlaubt, die<br />
fehlenden Ketten zu kompensieren, vorausgesetzt man weiß, an der wievielten Station<br />
diese abbrachen. Am Ende ergibt sich ein Wert zwischen fünf und sieben. Erstaunlich<br />
nahe bei Milgrams sechs Stationen, aber trotzdem keine eindeutige Bestätigung.<br />
Reto U. Schneider - Verrückte Experimente 14/36