Leseprobe - Maseltrangen
Leseprobe - Maseltrangen
Leseprobe - Maseltrangen
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Schon Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine feste Überzeugung, wie man sich<br />
gesund ernährt: Viel Gemüse und Früchte und wenig Fleisch, hiess die Grundregel.<br />
Ohne das Vitamin C aus Gemüse und Früchten - das hatten die Seefahrer auf die harte<br />
Tour gelernt - erkrankt der Mensch an Skorbut. Übermässiger Fleischgenuss hingegen<br />
führe zu Rheumatismus, hohem Blutdruck, Überlastung der Nieren. Kein Mensch kann<br />
von Fleisch allein leben, das stand schon in der Bibel. Daran glaubte auch Stefansson,<br />
als er 1906 - 22 Jahre vor dem Experiment - seine Stellung als Assistenzlehrer in<br />
Anthropologie an der Universität Harvard aufgab und 27-jährig in die Arktis aufbrach.<br />
Von allen Nahrungsmitteln, gegen die man eine Abneigung haben konnte, mochte<br />
Stefansson ausgerechnet Fisch überhaupt nicht. «Ich knabberte vielleicht ein- oder<br />
zweimal pro Jahr daran herum, nur um meine Meinung zu bestätigen, dass Fisch so<br />
schlecht schmeckte, wie ich dachte», schrieb er später. Die Eskimo, bei denen er auf<br />
seiner ersten Reise gezwungen war zu überwintern, lebten ausschliesslich von Fisch.<br />
Immerhin musste Stefansson ihn nicht in Wasser gekocht oder roh essen, wie die Eskimo<br />
es taten. Die Frauen brieten den Fisch für ihn, und er erlebte eine Überraschung.<br />
«Entgegen meiner Erwartung und fast gegen meinen Willen begann ich gebratene<br />
Lachsforelle zu mögen.» Und nicht nur das, schon bald bevorzugte Stefansson den<br />
gekochten Fisch, und auch der rohe, den die Frauen wie eine Banane schälten,<br />
schmeckte ihm.<br />
Nach drei Monaten hatte Stefansson die Essgewohnheiten der Eskimo weitgehend<br />
übernommen. Einzig der Genuss von verfaultem Fisch wollte ihm nicht recht gelingen.<br />
Doch dann: «Eines Tages versuchte ich verfaulten Fisch, und ich mochte ihn besser als<br />
mein erstes Stück Camembert.» In den darauffolgenden Wochen wurde auch der<br />
stinkende Fisch zu einer Delikatesse für ihn.<br />
Stefansson machte weitere ausgedehnte Reisen in die Arktis. Als er 1918 im Ganzen<br />
bereits fünf Jahre ausschliesslich Fisch, Eisbär, Robben und Rentiere - also Fleisch -<br />
gegessen hatte, teilte er einem Wissenschafter der amerikanischen<br />
Nahrungsmittelbehörde mit, man müsste den Sachverhalt genauer prüfen. Er selbst<br />
schien keine Probleme zu haben, sich ausschliesslich von Fleisch zu ernähren.<br />
Stefansson bezog sich dabei auf die wissenschaftliche Definition von Fleisch, die Fisch<br />
einschliesst. Ständig verhindert durch seine Reisetätigkeit, liess sich Stefansson<br />
schliesslich 1926 untersuchen. In der Facharbeit «Die Wirkung von langanhaltendem<br />
ausschliesslichem Konsum von Fleisch» kamen die Ärzte zum Schluss, dass Stefansson<br />
unter keiner einzigen der angenommenen schädlichen Auswirkungen von masslosem<br />
Fleischkonsum litt.<br />
Doch die Fachwelt blieb skeptisch. Einige Experten vermuteten, dass Stefanssons<br />
Fleischdiät nur unter extremen klimatischen Bedingungen unschädlich war, andere<br />
glaubten, die grosse körperliche Anstrengung in freier Natur sei nötig, um die einseitige<br />
Nahrung zu tolerieren. Positiv reagierte die Vereinigung der amerikanischen<br />
Fleischarbeiter. Sie bat um die Erlaubnis, den Artikel in grossen Mengen an Ärzte und<br />
Ernährungsberater zu verteilen. Stefansson und die beteiligten Ärzte lehnten ab, machten<br />
den Fleischarbeitern aber ein anderes Angebot. Wenn sie ein Experiment finanzierten,<br />
das klären sollte, ob eine reine Fleischdiät auch für den durchschnittlichen<br />
amerikanischen Stadtbewohner gesund sei, dürften sie die Resultate für ihre Zwecke<br />
nutzen.<br />
Zum Dessert etwas Knochenmark<br />
Und so trat Stefansson am 13. Februar 1928 ins Bellevue-Spital in New York ein.<br />
Während der ersten zwei Wochen bestimmten die Ärzte die Eckdaten von<br />
Stefanssons Stoffwechsel. Er ass eine<br />
gemischte Diät aus Früchten, Gemüse, Getreide und Fleisch und legte sich dann für drei<br />
Stunden in ein Kalorimeter, eine Art Sarg mit Glaswänden, der den Gasaustausch<br />
überwachte, die Temperatur und andere Werte bestimmte und daraus Rückschlüsse auf<br />
die Prozesse im Körper erlaubte. Diese Untersuchungen empfand Stefansson als<br />
besonders lästig. «Wir durften nicht lesen, und man warnte uns sogar, an irgendetwas<br />
besonders Angenehmes oder Unangenehmes zu denken, weil Gedanken und Gefühle<br />
den Körper erhitzen oder kühlen können.»<br />
Ursprünglich wollte Stefansson den Versuch alleine machen, aber «ich könnte von einem<br />
Lastwagen überfahren werden, und das würde von Mischessern und Vegetariern als<br />
Zeichen mangelnder Aufmerksamkeit und Vitalität ausgelegt, verursacht von der<br />
monotonen Diät und dem Gift im Fleisch». Als zweiten Versuchsteilnehmer konnte<br />
Reto U. Schneider - Verrückte Experimente 25/36