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Leseprobe - Maseltrangen

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1902 Wenn der Pavlov einmal klingelt<br />

Der russische Mediziner Ivan Petrowitsch Pavlov hält einen kuriosen Rekord: Nach<br />

keinen Experimenten wurden mehr Musikgruppen benannt, als nach jenen, die er Anfang<br />

des 20. Jahrhunderts mit Hunden anstellte. In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts<br />

gab es eine Rockband mit Namen »Pavlov’s Dog and the Condition Reflex Soul Revue<br />

and Concert Choir«, in den Achtzigern traten »Ivan Pavlov and the Salivation Army« auf,<br />

aus den Neunzigern kommen die Bluegrassband »Pavlov’s Dawgs« und die Rockband<br />

»Conditioned Response«, im neuen Jahrtausend spielt die englische Folk-Formation<br />

»Pavlov’s Cat« auf. Und Musiker waren nicht die Einzigen, die auf der Suche nach einem<br />

Namen bei Pavlov hängen blieben. »Pavlov’s Dog« heißt auch eine<br />

Kommunikationsagentur in Irland, ein Pub in England, eine Theatergruppe in Kanada und<br />

ein Drink im One World Café in Baltimore, USA – gemixt aus Kahlua, Bailey’s und Milch.<br />

Pavlov erhielt 1904 den Nobelpreis für seine Forschungen über die Verdauung. Doch das<br />

ist nicht der Grund, weshalb sein Name heute so populär ist. Vielmehr ist es der<br />

fundamentale Lernmechanismus, den er bei dieser Arbeit zufälligerweise entdeckte.<br />

Bei seinen Studien der Verdauung interessierte sich Pavlov auch für die Funktion der<br />

Speicheldrüsen. Um ihre Tätigkeit an lebenden Hunden beobachten zu können, führte er<br />

den Speichel der Tiere durch ein Loch in der Wange direkt von der Drüse in einen kleinen<br />

Messbecher. Eigentlich wollte er so die Zusammensetzung des Speichels bestimmen,<br />

wenn er die Hunde mit unterschiedlicher Nahrung fütterte. Doch bald tauchte ein Problem<br />

auf. Nachdem die Hunde ein paarmal gefüttert worden waren, begannen sie schon<br />

Speichel abzusondern, wenn sie das Fressen nur sahen. Zuerst betrachtete Pavlov<br />

diesen Effekt als Störfaktor und entwickelte Techniken, den Hunden das Fressen ohne<br />

Vorwarnung ins Maul zu geben. Doch es zeigte sich, dass die Tiere auch ganz subtile<br />

Signale mit dem Fressen verknüpften. Es reichte schon der Anblick des Forschers oder<br />

das Geräusch seiner Schritte, um den Speichelfluss in Gang zu bringen.<br />

Bald schon sah Pavlov dieses Phänomen nicht mehr als Makel seiner Versuche, sondern<br />

als neues Forschungsgebiet. Er machte Experimente, bei denen er die Signale<br />

kontrollierte, die vor der Fütterung erfolgten: Fünf Sekunden vorher wurde ein Metronom<br />

in Gang gesetzt oder eine elektrische Glocke. Nach eingen solchen Paarungen – bei der<br />

Glocke reichte eine einzige – begann der Speichel schon bei den Signalen zu fließen. Die<br />

Hunde hatten gelernt, dass sie nach dem Glockenläuten gefüttert wurden.<br />

Weil die Hunde selbst kleinste Hinweise aus ihrer Umwelt als Signale für die Fütterung<br />

deuteten, ließ Pavlov in St. Petersburg ein neues Gebäude mit schalldichten Räumen<br />

bauen, in denen er alle nötigen Manipulationen über Hebel und Seilzüge ferngesteuert<br />

vornehmen konnte.<br />

Der so von Pavlov entdeckte grundlegende Lernmechanismus heißt »klassisches<br />

Konditionieren«. Dabei wird an eine natürliche Reiz-Reaktions-Kombination (Futter-<br />

Speichelfluss) ein neuer Reiz gekoppelt (Glocke). Ein neuer Reiz kann dabei also nur ein<br />

angeborenes Verhalten auslösen. Das allerdings in fast beliebiger Kombination. Wie<br />

dagegen neue Verhalten gelernt werden, untersuchte dreißig Jahre nach Pavlov der<br />

amerikanische Psychologe B. F. Skinner mit der so genannten Skinnerbox (mehr dazu im<br />

Buch).<br />

Pavlov fand bei seinen Versuchen auch heraus, wie sich die Konditionierung wieder<br />

löschen lässt. Man brauchte bloß ein paarmal mit der Glocke zu klingeln, ohne den Hund<br />

danach zu füttern, und er verlernte den Zusammenhang wieder. Auf diesem Prinzip<br />

basiert die später entwickelte Verhaltenstherapie, bei der Patienten kontrolliert mit jenen<br />

Situationen konfrontiert werden, die bei ihnen zum Beispiel Angst auslösen. Auf diese<br />

Weise soll die Verknüpfung zwischen Situation und Angst gelöscht werden.<br />

Heute sind Pavlovs Hunde ein Alltagsbegriff. Für Kulturkritiker wurden sie zum Symbol für<br />

die breite Masse in westlichen Industriegesellschaften, die sich von der Werbung zu<br />

»Konsum-Tieren« dressieren lässt und auf bestimmte Reize vorhersehbare<br />

Reto U. Schneider - Verrückte Experimente 2/36

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