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Leseprobe - Maseltrangen

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Gefangenen zu erniedrigen und ihnen ihre Individualität zu rauben. Die Kette am Fuß<br />

sollte sie selbst im Schlaf daran erinnern, wo sie sich befanden.<br />

Am ersten Tag wurden die 16 Regeln vorgelesen, die die Wärter mit David Jaffe<br />

ausgearbeitet hatten: »Regel Nummer eins: Gefangene dürfen während der Ruhepausen<br />

und Mahlzeiten, nach dem Lichterlöschen und außerhalb des Gefängnishofs nicht<br />

sprechen. Zwei: Gefangene dürfen zu den Essenszeiten und nur zu den Essenszeiten<br />

essen… Sieben: Gefangene müssen einander mit ihrer Identifikationsnummer<br />

ansprechen… Sechzehn: Nichtbefolgung der oben genannten Regeln kann eine<br />

Bestrafung nach sich ziehen.« Mehrmals während jeder Schicht – auch mitten in der<br />

Nacht – konnten die Wärter die Gefangenen zu einem Zählappell zusammenrufen. Dabei<br />

mussten die Häftlinge ihre Identifikationsnummern und die sechzehn Regeln aufsagen.<br />

Am Anfang dauerten diese Inspektionen zehn Minuten. Später konnten es Stunden sein.<br />

Interessanterweise hatte Zimbardo keine eigentliche Hypothese, was in einer solchen<br />

Situation geschehen würde. Das etwas diffus formulierte Ziel des Experiments war es,<br />

herauszufinden, welche psychischen Auswirkungen es hat, wenn man Gefangener oder<br />

Strafvollzugsbeamter ist. Er wollte verstehen, wie die Gefangenen ihre Freiheit,<br />

Unabhängigkeit und Privatsphäre verlieren, während die Wärter an Macht gewinnen,<br />

indem sie das Leben der Gefangenen kontrollieren. Seine früheren Experimente hatten<br />

gezeigt, wie leicht sich ganz normale Leute zu üblen Taten hinreißen ließen, wenn sie in<br />

einer Gruppe nicht mehr als Individuen wahrgenommen wurden oder wenn man sie in<br />

eine Situation brachte, in der sie andere Menschen als Feinde oder Objekte sahen. Das<br />

»Stanford-Prison-Experiment«, wie es heute genannt wird, kombinierte mehrere dieser<br />

Mechanismen. Es wurde so berühmt, dass sich eine Rockgruppe in Los Angeles danach<br />

benannte.<br />

Am zweiten Tag – nach einem Zählappell um 2.30 Uhr morgens – rebellierten die<br />

Gefangenen. Sie legten ihre Kopfbedeckungen ab, rissen die Nummern von ihren<br />

Kleidern und verbarrikadierten sich in der Zelle. Die Wachen drängten sie mit einem<br />

Feuerlöscher von der Tür weg und bestraften sie: Die Rädelsführer wurden ins »Loch«<br />

gesperrt, einen dunklen Kasten am Ende des Ganges. Wer nicht mitgemacht hatte,<br />

genoss eine Vorzugsbehandlung in einer besonderen Zelle und bekam besseres Essen.<br />

Kurze Zeit später steckten die Wärter Leute aus diesen beiden Gruppen ohne Erklärung<br />

in gemeinsame Zellen. Das verwirrte die Gefangenen, und sie begannen, einander zu<br />

misstrauen. Von da an begehrten sie nie mehr als Gruppe auf.<br />

Die Wärter stellten jetzt absurde Regeln auf, disziplinierten die Gefangenen willkürlich<br />

und gaben ihnen sinnlose Aufgaben. Sie mussten Kisten von einem Raum in den<br />

anderen tragen und wieder zurück, die Toilette mit bloßen Händen putzen, stundenlang<br />

Dornen aus ihren Decken entfernen (die Wärter hatten die Decken zuvor durch<br />

Dornenbüsche geschleift). Und es wurde ihnen befohlen, Mitgefangene zu verhöhnen<br />

oder sexuelle Handlungen mit ihnen zu simulieren.<br />

Nach weniger als 36 Stunden musste Zimbardo den Gefangenen 8612 wegen extremer<br />

Depressionen, unkontrollierter Weinkrämpfe und Wutausbrüche entlassen. Er zögerte<br />

zuerst damit, weil er glaubte, der Student gebe bloß vor, am Ende zu sein. Für Zimbardo<br />

war es unvorstellbar, dass ein Versuchsteilnehmer in einem simulierten Gefängnis nach<br />

so kurzer Zeit derart extreme Reaktionen zeigte. Doch in den nächsten drei Tagen<br />

passierte dasselbe mit drei weiteren Probanden. Aufgrund eines Missverständnisses<br />

glaubten die Versuchspersonen, sie könnten das Experiment nicht abbrechen.<br />

Sowohl für die Gefangenen als auch für die Wärter verwischten sich allmählich die<br />

Grenzen zwischen Experiment und Realität. Je länger das Experiment dauerte, desto<br />

häufiger mussten die Bewacher daran erinnert werden, dass keine körperliche Gewalt<br />

erlaubt war. Die Macht, die ihnen das Experiment gab, machte aus pazifistisch<br />

eingestellten Studenten sadistische Gefängniswärter. Selbst Zimbardo verhielt sich<br />

sonderbar. Eines Tages glaubte eine der Wachen, die Gefangenen bei der Planung eines<br />

Massenausbruchs belauscht zu haben. »Was denken Sie, wie wir auf dieses Gerücht<br />

reagierten?«, schrieb Zimbardo später, »glauben Sie, wir hätten die Verbreitung des<br />

Reto U. Schneider - Verrückte Experimente 16/36

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