Leseprobe - Maseltrangen
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voneinander zwei Gruppen bilden. In der zweiten würde er diese Gruppen<br />
zusammenbringen und für Spannungen sorgen, die er in der dritten Phase zu lösen<br />
versuchen wollte. Natürlich hätte er direkt bei Phase zwei einsteigen können, wenn er<br />
das Experiment mit zwei bereits bestehenden Gruppen gemacht hätte. Aber Sherif war<br />
ein akribischer Wissenschafter: Bestehende Gruppen hätten womöglich bereits<br />
stereotype Verhalten gegenüber anderen Gruppen mitgebracht, was das Resultat seines<br />
Versuchs verfälscht hätte.<br />
Damit er die Entstehung der Gruppen unter Kontrolle hatte, wählte er je 11 Knaben aus,<br />
die einander zuvor noch nie gesehen hatten. In einem aufwendigen Auswahlverfahren<br />
bestimmte er in 22 verschiedenen Schulen in Oklahoma jeweils einen Schüler, den er<br />
einer der beiden Gruppen zuordnete. Die Knaben mussten aus möglichst ähnlichen,<br />
intakten, mittelständischen, protestantischen Familien kommen. Problemfälle sowie<br />
Kinder, die zu Heimweh neigten, wurden ausgeschlossen.<br />
Stinker, Memmen, Kommunisten<br />
Um die Auswahl zu treffen, beobachteten die Forscher unerkannt Schüler im Schulhof,<br />
sprachen mit Eltern und Lehrern, liessen sich Zeugnisse geben, erhoben, wie gross das<br />
Haus war, in dem die Familie lebte, und welchen Wagen sie fuhr. Den Eltern gab man die<br />
diffuse Auskunft, im Lager solle die Interaktion zwischen Gruppen studiert werden. Eine<br />
Woche nach Ankunft hatten sich beide Gruppen einen Namen gegeben -<br />
Klapperschlangen und Adler -, es hatten sich stabile innere Hierarchien herausgebildet<br />
und typische Verhaltensmuster. Die Klapperschlangen fluchten zum Beispiel ständig, die<br />
Adler badeten nackt.<br />
Der Plan sah vor, dass man die Gruppen in dieser Phase noch ein oder zwei Tage<br />
getrennt hielt, bevor man sie in der Phase zwei zu Feinden machte. Doch die Knaben<br />
waren dem Plan weit voraus. Ohne die andere Gruppe je zu Gesicht bekommen zu<br />
haben, sprach die eine Gruppe von den «Nigger-Campern», als sie die andere weit<br />
entfernt auch nur hörte.<br />
Spannungen aufzubauen, schien der einfachste Teil des Experiments zu sein. Doch<br />
Sherif musste aufpassen. Einen ähnlichen Versuch hatte er im Jahr zuvor abbrechen<br />
müssen: Weil die Manipulationen der Lagerleitung zu offensichtlich waren, richtete sich<br />
der Ärger der Gruppen plötzlich nicht mehr gegeneinander, sondern gegen die<br />
Erwachsenen.<br />
Der Kern der Phase zwei waren 15 Wettbewerbe, in denen sich die Gruppen während<br />
vier Tagen massen. Dazu gehörten Baseball und Seilziehen, aber auch eine<br />
Schatzsuche und Zimmerinspektionen, die es den Experimentatoren erlaubten,<br />
unauffällig der einen oder anderen Gruppe Punkte zuzuschanzen.<br />
Die Folgen des Turniers - als Preise gab es heissbegehrte Sackmesser - kannte Sherif<br />
bereits aus früheren Studien: Der Zusammenhalt innerhalb der Gruppen wuchs, die<br />
andere Gruppe wurde herabgesetzt und bekämpft. Das Ausmass der Feindseligkeiten<br />
muss jedoch auch ihn überrascht haben. Es begann damit, dass sich die Teams<br />
gegenseitig beschimpften (Stinker, Memmen, Kommunisten). Am Abend des zweiten<br />
Tages verbrannten die Adler die auf dem Spielfeld zurückgelassene Fahne der<br />
Klapperschlangen. Ein Ereignis, «das es für die Experimentatoren unnötig machte, die<br />
Missstimmung zwischen den Gruppen künstlich anzufachen», wie Sherif später schrieb.<br />
Der Gegenschlag liess nicht lange auf sich warten: Am nächsten Abend überfielen die<br />
Klapperschlangen die Hütte der Adler, rissen Vorhänge herunter und drehten Betten um.<br />
Dabei eroberten sie eine Bluejeans des Gruppenführers, die sie am nächsten Tag als<br />
Fahne mit sich trugen mit der Aufschrift: «Der letzte der Adler». Einen Tag danach<br />
machten sich die Adler mit Baseballschlägern bewaffnet auf zur Hütte der<br />
Klapperschlangen, die sich an einem andern Ort aufhielten.<br />
Nach einer Reihe von weiteren Zusammenstössen wollte keine der Gruppen noch etwas<br />
mit der anderen zu tun haben. Phase drei konnte beginnen. Sherif liess die Gruppen<br />
zuerst in neutralen Situationen aufeinandertreffen. Doch eine Filmvorführung trug nichts<br />
zur Versöhnung bei, und das gemeinsame Essen endete mit einer<br />
Nahrungsmittelschlacht. Blosser Kontakt reichte nicht aus, um den Streit zu schlichten.<br />
In einem früheren Experiment war es ihm gelungen, zwei verfeindete Gruppen<br />
zusammenzubringen, indem er sie gegen einen äusseren Feind mobilisierte. Doch diese<br />
Methode schien ihm wenig sinnvoll, weil sich ein alter Konflikt auf diese Weise nur lösen<br />
liess, indem ein neuer entstand. Sherif wollte die Spannungen auf andere Art abbauen:<br />
Reto U. Schneider - Verrückte Experimente 20/36