KEYSTONE/GAETAN BALLY – Porträt «Erzählen ist der Weg in die Stille» Peter Bichsel wird reihum als intellektueller Erzähler gefeiert. Doch im Herzen ist er ein zutiefst gläubiger Mensch. Jetzt liegen seine gesammelten Texte «Über Gott und die Welt» vor.
29 Der Solothurner Schriftsteller Peter Bichsel liebt das Schweigen und das unbeobachtete Beobachten. Oft sitzt er im «Kreuz» und macht sich Gedanken «Über Gott und die Welt», wie sein jünstes Buch mit Texten zum Glauben heisst. VON STEPHANIE RIEDI * Peter Bichsel ist ein begnadeter Schweiger. Der preisgekrönte Erzähler weiss die Stille ebenso zu schätzen wie die Sprache; und er weiss, dass die beiden sich gegenseitig bedingen. An diesem Montagmorgen fühlt sich das Schweigen zunächst zwar etwas frostig an – die nachtblaue Wolljacke bleibt zugeknöpft, der Blick irrt vom Irgendwo ins Nirgendwo der Solothurner Genossenschaftsbeiz «Kreuz». Aber der Kaffee samt Stossseufzer lässt das Eis schmelzen. Auf die beredte Verschlossenheit folgt die einladende Stille. Oder wie Bichsel schreibt: «Erzählen ist eine eigenartige Form von Schweigen, Erzählen ist der Weg in die Stille.» Der Satz stammt aus seinem jüngsten Werk «Über Gott und die Welt», das im Pressegewitter der vergangenen Wochen zum 75. Geburtstag <strong>des</strong> Dichters und dem ihm gewidmeten Dokumentarfilm «Zimmer 202» merkwürdigerweise kaum Beachtung gefunden hat. Merkwürdig <strong>des</strong>halb, weil das aufwühlende Buch Geschichten, Kolumnen, Essays, Reden und Laienpredigten enthält, in denen Bichsel sich teils zweifelnd, teils zornig, teils zuversichtlich dem Glauben stellt. Zündstoff also, der die Feuilletonisten und Literaturkritiker sonst entbrennen lässt. Zumal Bichsel als Inbild <strong>des</strong> politisch motivierten Intellektuellen gilt, der sich gar einer Fiche rühmen kann. Doch der bekennende Sozialist ist eben auch ein bekennender Christ. Zwar einer, der sich heute schwer tut mit <strong>Kirche</strong> und Frömmigkeit. Aber einer, der erkannt hat, dass er «Gott nicht braucht, um zu überleben», sondern, «nur um leben zu können». Sprache als Medium zur inneren Einkehr Das Glaubenseingeständnis erklärt in gewisser Weise Bichsels Liebe zur Stille. Obwohl – oder gerade weil – er seit fast fünf Jahrzehnten als «Sprachgenie» gefeiert wird, als «genuiner Dichter», ja, «als bekanntester und beliebtester Schriftsteller der Schweiz», gehört sein Herz der Meditation: Bichsel achtet und pflegt die Sprache als Medium zur inneren Einkehr. Das zeigt sich in der Prägnanz und Kürze seiner Texte. Und das zeigt sich in immer wiederkehrenden Anspielungen: «Man kann jetzt nicht über irgendetwas sprechen», schreibt er etwa in der Weihnachtsgeschichte «24. Dezember». Bichsel verleiht seinen Protagonisten Würde, indem er Otto und Peter intuitiv wissen lässt, wann es geboten ist, die Unzulänglichkeit der Sprache zu respektieren. Das klingt paradoxerweise selbst dann edel, wenn die Worte in der Beiz mit einem halben Roten hinuntergeschluckt statt mit Bigotterie unter dem Christbaum heraufbeschworen werden. Gefühlsaufruhr infolge «jahrelanger religiöser Abstinenz» In der fiktiven weinseligen Andacht offenbart sich Bichsels Verhältnis zu Glauben, <strong>Kirche</strong> und Religion. Auf Bali lernte er eine von Pragmatismus geprägte Spiritualität kennen, eine Erfahrung, die quasi einer Initialzündung gleichkam. Ein junger Hotelangestellter gewährte ihm damals Einblick in den Hinduismus. Die absolute Gleichberechtigung von Mann und Frau, die selbst in den Tempeln waltet, hat Bichsel schwer beeindruckt. Ebenso die Unverkrampftheit Gott und religiösen Riten gegenüber. Als die beiden unterwegs waren, und Bichsels Begleiter beten wollte, half er ihm mit Zigarette und Feuerzeug aus. Die Balinesen bringen Gott Wasser, Blumen und Rauch dar – egal, in welcher Form. Also wurde in der Pampa halt blauer Dunst gen Himmel geschickt. Bichsel war gerührt, so gerührt, dass er nach vierzehn Tagen überstürzt, ja, bestürzt abreisen musste. «Ich fürchtete, Hindu zu werden.» Der Gefühlsaufruhr hatte nichts mit Romantik gemein. Er wurzelte, laut Bichsel, «in der jahrelangen religiösen Abstinenz» respektive den auf Bali plötzlich PETER BICHSEL Peter Bichsel wurde 1935 in Luzern geboren, er wuchs in Olten auf. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer schrieb er sich 1964 mit dem Buch «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» in die Herzen der Leserinnen und Leser. Die Kürzestgeschichten über den Kleinbürgeralltag wurden über die Lan<strong>des</strong>grenze hinaus als poetische Miniaturen gefeiert. Weitere Werke folgten und mit ihnen zahlreiche Auszeichnungen, unter anderen die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät Basel 2004. Von 1974 bis 1981 war Bichsel der persönliche Berater und Redenschreiber von Bun<strong>des</strong>rat Willi Ritschard. Er wohnt in Bellach bei Solothurn. Bichsel ist Witwer, Vater von zwei Kindern und Grossvater von drei Enkelkindern.