SEK-Bulletin 2/2010 - Evangelisch-Reformierte Kirche des Kantons ...
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30 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
aufgetretenen «Entzugserscheinungen». «Es meldete<br />
sich sozusagen ein biologisches Bedürfnis an, zum romantischen<br />
etwa im ähnlichen Verhältnis stehend wie<br />
Sexualität zu Erotik.»<br />
Hier und jetzt, in der von unzähligen Erinnerungsstücken<br />
beseelten und vom Rauch patinierten<br />
Schreibstube an der Hauptgasse in Solothurn ist der<br />
Erzähler in seinem Element. Genüsslich steckt er sich<br />
eine Parisienne an und weist nickend zum Bücherregal.<br />
Dort steht die Bibel in zwei Bänden, ein Faksimiledruck<br />
<strong>des</strong> Gutenberg-Originals. Er hege den Verdacht,<br />
verrät er, dass die Buchstaben religiöser Natur<br />
seien. Bichsel, dem die Theologische Fakultät Basel<br />
2004 das Ehrendoktorat verliehen hat, bezeichnet das<br />
Christentum, Judentum und den Islam als «literarische<br />
Religionen» mit unerhört kraftvollen Schriften.<br />
Als Beispiel führt er das Werk von Augustinus an, dem<br />
algerischen Philosophen und Theologen der christlichen<br />
Spätantike. «Die Bekenntnisse haben bis heute<br />
Gültigkeit.»<br />
Bichsel beklagt die Reduktion<br />
<strong>des</strong> Christentums auf Moral und Ethik<br />
Als Kind las Bichsel täglich die Bibellosungen.<br />
Klein Peter hatte missionarische Ambitionen. «Ich<br />
wollte in die Wildnis, nach Afrika. Ich wollte die Wilden<br />
zu Christen machen.» Das war seine Emanzipation.<br />
Im Elternhaus wurde über Religiöses nicht gesprochen,<br />
bei Tisch kein Gebet gesprochen. Vater und<br />
Mutter glaubten an die Anständigkeit und Diskretion.<br />
Der Junge aber war geneigt, «ein zorniger Christ zu<br />
werden». Was ihm allerdings gänzlich misslang. «Im<br />
Grunde genommen war ich ängstlich bis auf die Knochen<br />
und ebenso wie meine Eltern darauf bedacht, als<br />
lieb und nett und anständig zu gelten.» Immerhin:<br />
«Der fromme Bub hat mich zum Schriftsteller gemacht.»<br />
Der Jugendliche Bichsel trat dem Bibellesebund<br />
bei, dem Hoffnungsbund <strong>des</strong> Blauen Kreuzes, er<br />
leitete den Jünglingsbund und später die Sonntagsschule.<br />
Als Protestant liebäugelte er bisweilen damit,<br />
zum Katholizismus zu konvertieren. «Mich faszinierte<br />
die Andacht, das Schweigen, die Stille.» Sonntags besuchte<br />
er jeweils die katholische Messe und trat danach<br />
als Sonntagsschullehrer an.<br />
Das intensive Interesse an Religion und Theologie<br />
forderte schliesslich seinen Preis: Bichsel verabschiedete<br />
sich emotional von der <strong>Kirche</strong> und wandte<br />
sich der Politik zu. «Vielleicht suchte ich in der Sozialdemokratischen<br />
Partei – inzwischen recht oft enttäuscht<br />
– das, was mir die <strong>Kirche</strong> in meiner Jugend<br />
einmal war, das Erlebnis der alternativen Minderheit,<br />
das Erlebnis der Gegenwelt.» Bichsel beklagt die Reduktion<br />
<strong>des</strong> Christentums auf Moral und Ethik, und er<br />
klagt die <strong>Kirche</strong> an, eine «halbstaatliche Anständigkeitsinstitution»<br />
zu sein. Grundsätzlich sei das Christentum<br />
eine revolutionäre Idee und Christus ein Neuerer.<br />
Aber: «Die Rebellion, die Revolution, die<br />
Opposition und die Alternative lassen sich offenbar<br />
nicht institutionalisieren.»<br />
Der tempelreinigende Jesus entspricht da schon<br />
eher dem Geschmack <strong>des</strong> Streitbaren. Bei ihm spürt<br />
Bichsel «Verwandtschaft». Die Bergpredigt bewundert<br />
er als «unmöglich freche Idee», die in ihrer Sozialvorstellung<br />
dem römischen Recht «ins Gesicht schlug».<br />
Auch sieht er in ihr den Versuch, den Teufelskreis der<br />
Welt zu durchbrechen − das Streben nach Sicherheit,<br />
das doch nur zu Ausbeutung, Egoismus, Raub, Diebstahl<br />
und Mord führe. Der Wunsch nach Sicherheit<br />
gründe letztlich in der beängstigenden Unsicherheit<br />
der eigenen Sterblichkeit, sagt Bichsel. «Nur mein eigenes<br />
Schicksal hindert mich daran, das Schicksal der<br />
anderen ernst zu nehmen, und mein eigenes Schicksal<br />
heisst Tod.»<br />
Bichsels Worte hallen in der Stille nach. Lediglich<br />
das Klicken <strong>des</strong> Gasfeuerzeuges ist zu hören. Die Worte<br />
treffen, weil sie uns alle betreffen. Und weil es darüber<br />
hinaus nichts zu sagen gibt, denn: «Erzählen führt<br />
letztlich in das Schweigen.» <<br />
* STEPHANIE RIEDI ist freie Journalistin.<br />
BÜCHERTIPP<br />
Peter Bichsel: Über Gott und<br />
die Welt. Texte zur Religion.<br />
Herausgegeben von Andreas<br />
Mauz.<br />
Suhrkamp Verlag,<br />
231 Seiten, ca. Fr. 16.–,<br />
ISBN 3-518-46154-9