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Kartellrechtliche Marktabgrenzung<br />

in der Versicherungswirtschaft<br />

Dieser Artikel ist erschienen<br />

in: VersR, Heft 16, Seite<br />

673, 1. Juni 2004<br />

Dr. Ingo Brinker<br />

GLEISS LUTZ München<br />

I. Einleitung<br />

Anne Schädle<br />

GLEISS LUTZ München<br />

Mit dem In-Kraft-Treten der neuen GVO für den Versicherungssektor (VO 358/2003, im Folgenden: GVO) 1<br />

am 01.04.2003 und durch ein Ermittlungsverfahren des Bundeskartellamtes wegen vermeintlicher Absprachen<br />

im Industrie-Sachversicherungsgeschäft 2 sind kartellrechtliche Fragestellungen im Versicherungssektor<br />

verstärkt in den Blickpunkt gerückt. In diesem Zusammenhang drängt sich wie häufig im Kartellrecht das<br />

Problem der Abgrenzung des bzw. der relevanten Märkte auf. Diesem widmet sich der vorliegende Beitrag.<br />

Die neue GVO nimmt in zwei wichtigen Bestimmungen zur Freistellung von Mitversicherungs- bzw. von<br />

Mit-Rückversicherungsgemeinschaften auf die „jeweils relevanten Märkte“ Bezug. Damit eine Mitversicherungsgemeinschaft<br />

von der Freistellungswirkung der Versicherungs-GVO profitieren kann, ist es u. a. gemäß<br />

Art. 8 g) GVO erforderlich, dass kein an einem Pool beteiligter Versicherer gleichzeitig Mitglied in zwei<br />

Versicherungsgemeinschaften ist, die im selben Markt tätig sind. Außerdem darf die Mitversicherungsgemeinschaft<br />

auf dem relevanten Markt, in dem sie tätig ist, einen Marktanteil von nicht mehr als 20 % haben 3 .<br />

Die Marktanteilsschwelle für Mit-Rückversicherungsgemeinschaften ist mit 25 % nur geringfügig höher. In<br />

beiden Beispielsfällen ist die Marktabgrenzung von zentraler Bedeutung 4 .<br />

Der vorliegende Beitrag stellt die rechtlichen Grundlagen zur sachlichen und räumlichen Marktabgrenzung<br />

dar, die Entscheidungspraxis und Stellungnahmen der zuständigen Behörden und Gerichte auf europäischer<br />

und nationaler, deutscher Ebene sowie dazu ergangene Äußerungen in der Literatur. Außerdem wird der<br />

* Dr. Brinker ist Partner der Sozietät GLEISS LUTZ in München, A. Schädle freie Mitarbeiterin.<br />

1<br />

ABl. Nr. L 53 v. 28.2.2003, S. 8.<br />

2<br />

Siehe z. B. Handelsblatt v. 22.7.2003, S. 1; Der SPIEGEL v. 28.07.2003, Heft 31/2003, S. 68.<br />

3<br />

Nach der Vorgängerregelung in Art. 11 Abs. 1 lit. a) der VO 3932/92 kam es auf den kumulierten Marktanteil der Versicherungsgemeinschaft<br />

und aller an ihr beteiligten Versicherungsunte rnehmen an.<br />

4<br />

Vgl. hierzu bereits Brinker/Schädle, VersR 2003, 1475, 1480 f.


Versuch unternommen, einige Argumente dafür zu sammeln, dass die Marktabgrenzung auch im Versicherungssektor<br />

weniger risikozentriert, sondern flexibler und unter stärkerer Berücksichtigung des tatsächlichen<br />

Nachfrageverhaltens der Versicherungsnehmer erfolgen sollte.<br />

II.<br />

Der sachlich relevante Markt<br />

1. Einführung<br />

Die GVO definiert den Begriff des sachlich relevanten Marktes selbst nicht, sondern setzt ihn voraus.<br />

Art. 11 Abs. 1 a) der Vorgänger-GVO für den Versicherungssektor (VO 3932/92 5 ) sprach vom<br />

„Markt für identische oder vergleichbare Versicherungsprodukte“ und gab damit die Kriterien zur<br />

Abgrenzung des sachlichen Marktes vor 6 , die auch schon die (alte) Bagatellbekanntmachung 7 enthielt.<br />

Seit der Veröffentlichung der Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes 8<br />

kann auf diese zurückgegriffen werden. Diese folgt dem sog. Bedarfsmarktkonzept bzw. dem Konzept<br />

der funktionellen Austauschbarkeit aus Sicht der Marktgegenseite 9 .<br />

Der sachlich relevante Markt umfasst gemäß Ziff. 7 der Bekanntmachung sämtliche Erzeugnisse und/oder<br />

Dienstleistungen, die von den Verbrauchern hinsichtlich ihrer Eigenschaften, Preise und ihres vorgesehenen<br />

Verwendungszwecks als austauschbar oder substituierbar angesehen werden. Als die drei Hauptquellen, die<br />

den Markt bestimmen, nennt Ziff. 13 der Bekanntmachung die Nachfragesubstituierbarkeit, die Angebotssubstituierbarkeit<br />

sowie den potenziellen Wettbewerb. Letzterer spiele, so die Kommission, bei der Marktabgrenzung<br />

keine Rolle, sondern werde erst bei der Untersuchung der Stellung der Unternehmen auf dem jeweiligen<br />

Markt relevant (Ziff. 24).<br />

Bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise stellt die Möglichkeit der Nachfragesubstitution die unmittelbarste<br />

und wirksamste disziplinierende Kraft dar, die auf die Anbieter eines Produkts einwirkt. Maßstab für die<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

ABl. Nr. L 398 v. 21.12.1992, S. 7.<br />

Kreiling, Versicherungsgemeinschaften im europäischen Kartellrecht, 1999, S. 110.<br />

ABl. Nr. C 231 v. 12.09.1986, S. 2.<br />

Bekanntmachung der Kommission über die „Definition des relevanten Marktes im Sinne des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft“, ABl.<br />

Nr. C 372 v. 09.12.1997, S. 5.<br />

Bechtold, GWB, 3. Aufl., 2002, § 19, Rn. 6 m. w. N.; Emmerich, Kartellrecht, 9. Aufl., 2001, S. 168; Immenga/Mestmäcker/Möschel,<br />

GWB, 3. Aufl., 2001, § 19 Rn. 24 m.w.N; KG v. 18.02.1969 WuW/E OLG 995, 996; KG v. 28.08.1979 WuW/E OLG 2182, 2183; BGH<br />

v. 19.3.1996 WuW/E 3058, 3062.<br />

2


Nachfragesubstituierbarkeit ist das Konzept der Kreuzpreiselastizität 10 . Bei diesem Konzept wird danach<br />

gefragt, ob und auf welche verfügbaren Produkte der Verbraucher bei einer geringfügigen, aber dauerhaften<br />

Erhöhung der Preise (5 % - 10 %) ausweichen würde. Die auf diese Weise ermittelten Substitute gehören<br />

dem gleichen Markt an (Ziff. 15-17).<br />

2. Markt der Erstversicherer<br />

a) Praxis der EG-Kommission<br />

In ihrem Bericht über die Anwendung der bislang geltenden Versicherungs-GVO 3932/92 aus dem Jahr<br />

1999 11 stellte die Kommission fest, ein Problem der Marktabgrenzung im Versicherungssektor bestehe darin,<br />

dass die Struktur des Versicherungssektors der Einteilung der Risiken nach Versicherungsbranchen folge,<br />

wie z. B. im Anhang zur Richtlinie 73/239/EWG 12 zum Ausdruck komme, dass aber diese Zweige nicht<br />

zwangsläufig der Auffassung von einem sachlich relevanten Markt entsprechen (Rn. 28). Die im Anhang<br />

genannten Versicherungszweige differenzieren z. B. nicht zwischen der Sachversicherung für Feuerschäden<br />

bei Industrieanlagen und solchen bei Privaten, obwohl die dafür angebotenen Produkte aus der Sicht des<br />

jeweiligen Vertragspartners offensichtlich nicht substituierbar sind. Die Einteilung in Versicherungszweige<br />

ist für die Marktabgrenzung daher nur sehr eingeschränkt brauchbar. Nach Ansicht der Kommission gewinnt<br />

die tatsächliche und potenzielle Angebotssubstituierbarkeit für die „Definition des Versicherungsmarktes“ 13<br />

an Bedeutung, da jeder Versicherungsvertrag an sich einzigartig und folglich die Nachfragesubstituierbarkeit<br />

gleich Null sei 14 . Hier liegt eine Besonderheit des Versicherungssektors gegenüber anderen Branchen vor, da<br />

die Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes der Nachfragesubstituierbarkeit die größte<br />

Bedeutung zuschreibt. Bei der Angebotssubstituierbarkeit bzw. Angebotsflexibilität 15 wird gefragt, ob bei<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

So auch Langen/Bunte/Ruppelt, Kommentar zum europäischen und deutschen Kartellrecht, 9. Aufl., 2001, § 19, Rn. 13; Kreiling, a. a. O.,<br />

S. 111.<br />

Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der VO 3932/92 v. 12.05.1999, KOM (1999)<br />

192 endg., zu finden im Internet unter: http://europa.eu.int/comm/ competition/antitrust/ins_rep1999_de.pdf<br />

Anhang zur Ersten RL 73/239/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung<br />

der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung), ABl. Nr. L 228 v. 16.08.1973. Es werden darin folgende<br />

Versicherungszweige unterschieden: Unfall, Krankheit, Landfahrzeugkasko, Schienenfahrzeugkasko, Luftfahrzeugkasko, See-, Binnenseeund<br />

Flussschifffahrts-Kasko, Transportgüter, Feuer und Elementarschäden, sonstige Sachschäden, Haftpflicht für Landfahrzeuge mit eigenem<br />

Antrieb, Luftfahrzeughaftpflicht, See-, Binnensee- und Flussschifffahrthaftpflicht, allgemeine Haftpflicht, Kredit, Kaution, verschiedene<br />

finanzielle Verluste und Rechtsschutz.<br />

Gemeint ist nach unserer Interpretation die Definition der relevanten Märkte innerhalb des Versicherungssektors.<br />

Das gleiche „Phänomen“ gibt es auch bei Bauwerken, da aus Sicht des Bauherren diese nicht austauschbar sind; sog. absolute Heterogenität<br />

der Bauprojekte, BKartA v. 24.01.1995, WuW BKartA 2729, 2736 f.<br />

Immenga/Mestmäcker/Möschel, a. a. O., § 19, Rn. 24; Langen/Bunte/Ruppelt, a. a. O., § 19, Rn. 20.<br />

3


einer Erhöhung des Preises für ein Produkt andere Unternehmen kurzfristig in der Lage sind, ein vergleic h-<br />

bares Produkt anzubieten, so dass die Verbraucher zu diesen neu entwickelten Produkten wechseln können 16 .<br />

Den Entscheidungen der Kommission zu Art. 81 EG lassen sich kaum nähere Aussagen zur sachlichen<br />

Marktabgrenzung entnehmen, da die Kommission darin nicht erläutert, wie sie zu ihren Ergebnissen<br />

kommt 17 . In Einzelfreistellungsverfahren unterschied sie z. B. einen Markt für Maschinen-<br />

Betriebsunterbrechungsversicherung und Raumfahrtrisiken 18 , für Feuerindustrierisiken und einen allgemeinen<br />

Bereich der Feuerversicherung 19 , Schiffskaskoversicherung 20 u. ä. Aussagekräftiger hinsichtlich der<br />

Marktabgrenzung ist die Entscheidung ASSURPOL 21 , in welcher die Kommission eine Vereinbarung zur<br />

gemeinsamen Rückversicherung bestimmter industrieller Umweltrisiken zu beurteilen hatte. Es sollte ein<br />

Versicherungspool zur Deckung von Umweltrisiken aus Unfällen und allmählicher Umweltverseuchung<br />

gebildet werden. Da die Deckung von Risiken aus allmählicher Umweltverseuchung wenig verbreitet ist,<br />

wurden (für den Bereich der Erstversicherung) als sachlich relevanter Markt sowohl die Assurpol-Policen zu<br />

Grunde gelegt als auch alle anderen Haftpflichtpolicen, die Umweltrisiken decken, selbst wenn sie nur für<br />

Unfall oder allmähliche Risiken gelten und selbst wenn gleichzeitig auch noch andere Risiken abgedeckt<br />

sind (Rz. 21).<br />

In ihren Entscheidungen zur europäischen Fusionskontrolle unterteilt die Kommission das Versicherungsgeschäft<br />

in die Bereiche Leben, Nichtleben und Rückversicherung, die sich wiederum in so viele unterschiedliche<br />

Produktmärkte unterteilen, wie es Versicherungen für unterschiedliche Risiken gibt. Unterschiedliche<br />

Märkte lägen vor, wenn die Eigenschaften, Prämien und Verwendungsmöglichkeiten der einzelnen Versicherungen<br />

deutlich unterscheidbar seien und dadurch aus der Sicht der Verbraucher nur als schwer austauschbar<br />

erschienen 22 . In der Regel wurde eine genaue Abgrenzung der relevanten Märkte mangels Entscheidungsrelevanz<br />

offen gelassen, da in den entschiedenen Fällen auch bei der denkbar engsten Marktabgrenzung eine<br />

Beeinträchtigung des gemeinsamen Marktes nicht zu erwarten war 23 . In der Entscheidung Winterthur/Schweizer<br />

Rück 24 unterschied die Kommission beispielsweise als relevante Märkte Assistance-, Feuer-,<br />

Haftpflicht-, Kraftfahrzeug-, Kredit-/Kautions-, Lebens-, Rechtsschutz-, Sach- und Vermögens-, Transport-,<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

Bekanntmachung über die Definition des relevanten Marktes, a. a. O., Ziff. 20 ff.<br />

Ein Grund dafür ist sicherlich, dass die Marktabgrenzung häufig nicht im Zentrum der Entscheidung stand und/oder keine besonderen<br />

Probleme aufwarf.<br />

KomE TEKO, ABl. Nr. L 13 v. 17.01.1990, S. 34 ff., Rn. 3, 22.<br />

KomE Concordato Incendio, ABl. Nr. L 15 v. 19.01.1990, S. 25 ff., Rn. 1.<br />

KomE Lloyds Underwriters Association und The Institute of London Underwriters, ABl. Nr. L 4 v. 08.01.1993, Rn. 7 ff.<br />

ABl. Nr. L 37 v. 14.02.1992, S. 16.<br />

KomE v. 21.08.1995 Allianz/Elvia/Lloyd Adriatico, IV/M.539; KomE v. 27.09.1996 Allianz/Hermes, IV/M.813, Rn.8; KomE v. 08.05.1998<br />

Allianz/AGF, IV/M.1082, Rn. 6.<br />

KomE v. 20.12.1996 AXA/UAP, IV/M.862, Rn. 9 ff.<br />

KomE v. 14.03.1995 Winterthur/Schweizer Rück, IV/M.518, Rn. 7.<br />

4


Unfall- und Rückversicherungsmärkte. Ähnliche Abgrenzungen finden sich auch in den Entscheidungen<br />

Allianz / Vereinte 25 und AXA/UAP 26 .<br />

Die Kommission weist häufig darauf hin, dass es möglich sei, ausgehend von der von ihr vorgeschlagenen<br />

Einteilung sowohl weitere Unterteilungen innerhalb bestimmter Risiken zu treffen, als auch bestimmte Risiken<br />

zu gemeinsamen Produktmärkten zusammenzufassen. Zudem könnten auf Grund der geographischen<br />

Marktabgrenzung in nationale Märkte unterschiedliche sachliche Marktabgrenzungen notwendig sein, um<br />

den nationalen Besonderheiten der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung tragen zu können, in Frankreich<br />

beispielsweise den Besonderheiten im Bereich der Unfall-/Kranken- und Berufsunfallversicherung 27 . Interessant<br />

ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung Allianz/Hermes, in der die Kommission einen Zusammenschluss<br />

zu beurteilen hatte, der in erster Linie den Markt für Kreditversicherungen betraf. Die Kommission<br />

ging dabei von einem weiten Produktmarkt aus. Der Markt lasse sich in verschiedene Segmente unterteilen,<br />

z. B. Warenkreditversicherung, Ausfuhrkreditversicherung, Investitionsgüterkreditversicherung, Konsumentenkreditversicherung<br />

etc. Die Kommission stellte fest (Rn. 12), dass, obwohl nicht alle Anbieter von<br />

Kreditversicherungen in jedem Segment tätig seien und Spezialisierungen festgestellt werden könnten, angesichts<br />

der bestehenden Ähnlichkeiten der versicherten Risiken und angesichts der Tatsache, dass alle Versicherer<br />

in jedem Segment tätig sein könnten, auf den gesamten Markt der Kreditversicherer abzustellen sei 28 .<br />

Den Entscheidungen der Kommission lassen sich somit nur schwer eindeutige Kriterien entnehmen, wie im<br />

konkreten Fall eine Marktabgrenzung vorzunehmen ist. Die Äußerungen sind häufig nur allgemeiner Natur.<br />

Als Grundtendenz lässt sich aber feststellen, dass die Kommission im Versicherungsbereich eher von einem<br />

weitgefassten Markt ausgeht. Die zur Fusionskontrolle ergangenen Entscheidungen können auf Fälle, die<br />

nach Art. 81 EG zu beurteilen sind, übertragen werden, auch wenn, soweit man die wenigen Entscheidungen<br />

der Kommission zu Art. 81 EG als repräsentativ ansehen kann, diesen auf den ersten Blick ein engeres<br />

Marktverständnis zu Grunde zu liegen scheint. Beide Instrumente des Kartellrechts, Fusionskontrolle nach<br />

der FKVO und Kartellverbot des Art. 81 EG, dienen dem Schutz des Wettbewerbs im gemeinsamen Markt.<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

KomE v. 11.11.1996 Allianz/Vereinte, IV/M.812, Rn. 9, 10: Hier war von den Parteien eine Unterscheidung in 15 Produktmärkte vorgeschlagen<br />

worden: Leben, Feuer (unklar bleibt, ob einschließlich FBU), Extended coverage, Einbruch/Diebstahl, Leitungswasser, Glas, Sturm,<br />

Hausrat, Haftpflicht, Unfall, Transport, Technische Versicherungen, Kraftfahrzeugversicherung, Krankenversicherung und Luftfahrtversicherung.<br />

Mit dieser Unterscheidung setzte sich die Kommission nicht weiter auseinander, sondern stellte nur fest, dass einzelne der versicherten<br />

Risiken möglicherweise unterteilt und andere zu gemeinsamen Märkten zusammengefasst werden könnten.<br />

KomE AXA/UAP, a. a. O., Rz. 9. Es bestünden verschiedene Märkte: vie, dammages corporels (comprenant santé et accident corporels),<br />

responsabilité civile générale, multirisques habitation, construction, assistance aux cours des déplacements, automobile, marchandises<br />

transportées, biens professionneles et accidents du travail. Eigene Übersetzung: Leben, Körperschäden, d. h. allgemeine Krankenversicherung<br />

und Unfälle, Haftpflicht, Hausrat, Gebäude, Kfz, Transport, Industriegüter und Arbeitsunfälle.<br />

KomE AXA/UAP, a. a. O., Rn. 10.<br />

Soweit die Banken auch in diesem Markt tätig werden, sollte u.E. auch deren Tätigkeit bei der Berechnung der Marktanteile einbezogen<br />

werden.<br />

5


Die Abgrenzung des sachlich relevanten Marktes bestimmt sich in den Fällen der Art. 81, 82 EG wie auch<br />

bei der Fusionskontrolle nach dem Bedarfsmarktkonzept 29 . Eine parallel verlaufende Marktabgrenzung erscheint<br />

daher sinnvoll und angemessen.<br />

b) Praxis des Bundeskartellamtes<br />

Das Bundeskartellamt äußerte sich in dem Leitbrief vom 18.12.1981 30 zu § 102 GWB a. F., Ziff. 2, folgendermaßen:<br />

„Dieser (=der relevante Markt) ergibt sich im Versicherungswesen aus den angebotenen Versicherungsprodukten.<br />

Einen Anhaltspunkt für den relevanten Markt bietet das Bestehen von Musterversicherungsbedingungen<br />

für bestimmte Risiken. Ein noch engerer Marktbegriff wird anzulegen sein, wenn Spezialrisiken innerhalb<br />

einer Versicherungsagentur von wenigen Versicherern gezeichnet werden. (...) Sowohl zur Frage<br />

der Spürbarkeit als auch zur Bestimmung des relevanten Marktes bietet sich im Zweifelsfall die Erörterung<br />

mit der Aufsichts- oder Kartellbehörde an.“<br />

Im Leitbrief von 1984 31 weist das Bundeskartellamt erneut darauf hin, dass Zweifelsfragen mit den Aufsichts-<br />

oder Kartellbehörden erörtert werden sollten. Diese Kriterien für die Marktabgrenzung gelten auch<br />

nach der 6. GWB-Novelle und der damit verbundenen Abschaffung des § 102 GWB fort. Der Hinweis darauf,<br />

dass Zweifelsfragen erörtert werden sollten, zeigt, dass das Bundeskartellamt Argumentationsspielraum<br />

sieht, der genutzt werden muss 32 . Die wenigen Entscheidungen des BKartA und des BGH sind zu knapp, um<br />

verallgemeinerungsfähige Aussagen zuzulassen 33 .<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

33<br />

Emmerich, Kartellrecht, 9. Aufl., S. 465; Immenga/Mestmäcker/Emmerich, EG-Wettbewerbsrecht, Art. 85, Abs.<br />

1, Rn. 216 f. verweist auf die entsprechende Kommentierung zur FKVO und zu Art. 86 EGV.<br />

Abgedruckt in Hootz, Gemeinschaftskommentar, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht, Gemeinschaftskommentar,<br />

4. Aufl., 15. Lieferung 1992, Anhang zu § 102 GWB, Rn. 14.<br />

Abgedruckt in Hootz, Gemeinschaftskommentar, s. vorhergehende FN, Anhang zu § 102 GWB, Rn. 14.<br />

Zu einigen Argumenten, die aus unserer Sicht bei schwierigen Sachverhalten vorgebracht werden könnten, siehe unter d).<br />

Einige Beispiele: Im Rahmen der Umstrukturierung des Gerling-Konzerns im Jahr 1995 hatte das BKartA die Stellung von Gerling in bestimmten<br />

Versicherungszweigen der Schaden- und Unfallversicherung (Einheits-, Delkredere-, Kautions-, Vertrauensschadens- und Technische<br />

Versicherung) geprüft, TB 1975, S. 44. Da eine Orientierung an Versicherungszweigen heute weitgehend als zu grob und damit untauglich<br />

angesehen wird, ist die Aussage der Entscheidung beschränkt. Der Lebensversicherungsmarkt wird einhellig als ein Produktmarkt<br />

angesehen, TB 1991/92, S. 139. Im Kfz-Versicherungsmarkt hat der BGH, Entscheidung „Carpartner“, WuW/E DE-R 161, mangels Entscheidungsrelevanz<br />

offengelassen, ob er zwischen einem Markt der „Vermietung von Unfallfahrzeugen“ und einem solchen für die Vermietung<br />

von Kfz an Selbstfahrer unterscheiden will, oder, ob er ersteren als Bestandteil des Teilmarktes Vermietung von Kfz an Selbstfahrer<br />

sehen will.<br />

6


c) Stellungnahmen in der Literatur<br />

Die Äußerungen in der Literatur beziehen sich meist auf die frühere Bagatellbekanntmachung 34 . Es käme, so<br />

z. B. Hootz und v. Fürstenwerth, darauf an, welche Produkte aus der Sicht der Verbraucher austauschbar<br />

seien. Dafür seien insbesondere Verwendungszweck und Preis entscheidend. Teilweise wird auf die Leitbriefe<br />

des Bundeskartellamtes (s. o.) oder auf die Anlage 1 zur Verordnung über die Berichterstattung von Versicherungsunternehmen<br />

gegenüber dem Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen (BerVersV) vom<br />

14.06.1995 (BGBl I S.858) verwiesen, die die Märkte zutreffend beschreiben würde 35 . Diese Anlage 1 fasst<br />

über 250 Versicherungsarten zu 26 Versicherungszweigen zusammen. U.E. gibt die Anlage 1 grundsätzlich<br />

einen guten Ausgangspunkt für die Marktabgrenzung, die Untergliederung in Versicherungsarten ist aber für<br />

die Zwecke der Marktabgrenzung z.T. zu detailliert. Allein im Versicherungszweig der Krankenversicherung<br />

differenziert sie beispielsweise zwischen 59 Versicherungsarten.<br />

Soweit vertreten wird, die allgemeinen Kriterien für die Beurteilung der Austauschbarkeit, Verwendungszweck<br />

und Preis, seien für Versicherungsprodukte nicht tauglich 36 , kann dem nicht zugestimmt werden. Natürlich<br />

ist der Verwendungszweck jeder Versicherung identisch in dem Sinne, dass der Versicherungsnehmer<br />

sich vor den Kosten schützen will, die infolge der Realisierung eines bestimmten Risikos entstehen. Jedoch<br />

ist der Verwendungszweck einer Berufsunfähigkeitsversicherung augenscheinlich ein anderer als der einer<br />

Versicherung z. B. gegen Ski-Diebstahl. Der Verwendungszweck, der u. a. durch das versicherte Risiko bestimmt<br />

wird, ist ein taugliches Abgrenzungskriterium. Auch die Preislage einer Versicherung, d. h. die Prämienhöhe,<br />

ist für die Auswahlentscheidung des Verbrauchers maßgeblich. Dass sie von der Deckungssumme<br />

abhängt, spricht nicht dagegen.<br />

d) Eigene Stellungnahme<br />

Wie die bisherige Darstellung zeigt, erscheint das Konzept der Marktabgrenzung durch die Bekanntmachungen<br />

der Kommission vorgegeben und allgemein anerkannt. Die daraus gezogenen Schlussfolgerungen ähneln<br />

sich, jedoch bleiben die Details der Marktabgrenzung letztlich ungeklärt. Wir sind der Auffassung, dass sich<br />

die bisherige Praxis zu stark auf die Abgrenzung vermeintlicher Einzelrisiken konzentrierte und das tatsäch-<br />

34<br />

35<br />

36<br />

ABl. Nr. C 231 v. 12.09.1986, S. 2; Hootz, Gemeinschaftskommentar, GVO Versicherungswirtschaft, a. a. O., Art. 11 GVO, Rn. 2.<br />

v. Fürstenwerth, WM 1994, 365, 371; Hootz, Gemeinschaftskommentar, GVO Versicherungswirtschaft, a. a. O., Art. 11 GVO, Rn. 2. Bei<br />

Hootz wird nicht eindeutig klar, ob er sich auf die Versicherungszweige oder auf die Versicherungsarten bezieht. Anzunehmen ist wohl letzteres,<br />

da die Versicherungszweige zu grob gegliedert sind. U.E. ist zumindest im Versicherungszweig der Krankenversicherung die Unterteilung<br />

zu detailliert, da hier 59 Versicherungsarten aufgeschlüsselt werden.<br />

So Schümann, Die Gruppenfreistellungsverordnung 3932/92 für die Versicherungswirtschaft, 1998, S. 188.<br />

7


liche Nachfrageverhalten der Versicherten sowie das damit korrelierende Angebotsverhalten der Versicherer<br />

nicht ausreichend berücksichtigte. Der Bedarf der Versicherten und ihr Nachfrageverhalten sowie das entsprechende<br />

Angebotsverhalten der Versicherer sollten aber mehr als bisher in den Vordergrund gestellt werden.<br />

Das erscheint insbesondere zum einen mit Blick auf die geänderten Rahmenbedingungen der liberalisierten<br />

Regulierung von Versicherungsprodukten geboten zu sein. Dies erscheint aber auch unter Berücksichtigung<br />

der größer werdenden Bedeutung von Mittlern angemessen, die auf Seiten der Versicherten tätig<br />

werden. Die Tätigkeit von Versicherungsmaklern führt dazu, dass nicht nur die Angebotsseite professionell<br />

auftritt; auch die Nachfrageseite professionalisiert sich durch den vermehrten Einsatz von Maklern, die in<br />

aller Regel auf Seiten der Versicherten tätig werden. Diese Beratungstätigkeit führt häufig dazu, dass nicht<br />

standardisierte Versicherungsprodukte gezeichnet werden, sondern solche, die sehr viel flexibler auf die spezifischen<br />

Bedürfnisse des Versicherten zugeschnitten sind. Dies erscheint es geboten sein zu lassen, den risikozentrierten<br />

Ansatz, den die Kommission und die deutschen Behörden zu verfolgen scheinen, mit mehr<br />

Skepsis zu behandeln.<br />

aa)<br />

Nachfragesubstituierbarkeit als Kriterium<br />

Die Schwierigkeiten der Marktabgrenzung in der Versicherungsbranche lassen sich damit erklären, dass in<br />

hoch entwickelten Dienstleistungsbranchen im Gegensatz zum produzierenden Gewerbe die Produkte nicht<br />

eindeutig durch äußere Vorgaben bestimmt sind, sondern die Unternehmen diese in erheblichem Umfang<br />

durch ihre Bedingungen selbst definieren können. Das „Produkt“, d. h. der Versicherungsvertrag, wird durch<br />

viele Umstände bestimmt, wie z. B. durch den versicherten Gegenstand, den Deckungsumfang und die Zielgruppe.<br />

Das versicherte Risiko 37 ist zwar ein wesentlicher Faktor, aber eben nur einer unter mehreren. Die<br />

Aussage der Kommission, dass jeder Versicherungsvertrag einzigartig und die Nachfragesubstituierbarkeit<br />

theoretisch gleich Null sei 38 , ist an sich richtig. Dies gilt jedoch in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, für<br />

den Bereich der gewerblichen und der industriellen Versicherung. Verallgemeinern lässt sich diese Aussage<br />

u. E. aber nicht. In der Praxis stehen gerade im Individual-Massenversicherungsgeschäft sehr ähnliche Versicherungsverträge<br />

zur Auswahl, die auf ein vergleichbares Nachfrageverhalten bzw. Sicherungsinteresse der<br />

potenziellen Versicherungsnehmer zurückgehen. Da die Wettbewerber bereits ein häufig kaum zu modifizierendes<br />

Auswahlangebot geschaffen haben, das lediglich von der Person des Versicherungsnehmers abhängt,<br />

spielt die Nachfragesubstituierbarkeit in vielen Fällen doch eine Rolle. Der Verbraucher kann ohne weiteres<br />

auf das Produkt eines Wettbewerbers zurückgreifen.<br />

37<br />

38<br />

Zum Begriff „Risiko“ vgl. Prölss/Martin, VVG, 26. Aufl., § 49, Rn. 2-3.<br />

Bericht der Kommission, a. a. O., Rn. 26.<br />

8


Unstreitig dürfte sein, dass Abweichungen in den Versicherungsbedingungen, z. B. im Selbstbehalt oder<br />

hinsichtlich der Deckungssumme, allein nicht zu einem neuen Produkt und damit zu einem eigenen Markt<br />

führen. Ebenso bildet nicht jede Spezialversicherung einen eigenen Markt, da dies zu einer unzulässigen<br />

Atomisierung der Märkte führen und die Anbieter von Spezialversicherungen schnell eine - vermeintliche -<br />

marktbeherrschende Stellung erlangen würden, die die tatsächliche Marktstellung des Anbieters aber gar<br />

nicht angemessen reflektieren würde. Insoweit lässt sich die Kommissionsentscheidung Allianz/Hermes 39<br />

heranziehen: Sind versicherte Risiken ähnlich und können Versicherer ohne längere zeitliche Verzögerung<br />

auch für diese Risiken Versicherungsschutz anbieten, liegt ein einheitlicher relevanter Produktmarkt vor.<br />

bb)<br />

Sachgerechte Marktabgrenzung bei Multi-Risk- und Multi-Line-Produkten<br />

Der große Gestaltungsspielraum bei neuen Versicherungsprodukten wird deutlich bei sog. Multi-Risk-<br />

Versicherungen oder bei sog. Multi-Line-Versicherungen, bei denen spartenübergreifende Deckung, z. B.<br />

Deckung sowohl für Sachschäden als auch für Haftungsrisiken nebeneinander, gewährt wird. So erfassen<br />

Kfz-Versicherungen oder Gebäudeversicherungen verschiedenartige Risiken. Im Fall von Gebäudeversicherungen<br />

z. B. Schäden durch Feuer, Leitungswasser sowie Sturm und Hagel, wobei durch Zuschläge und Deckungserweiterungen<br />

weitere Risiken 40 versicherbar sind. Gerade die Assurpol-Entscheidung zeigt, dass das<br />

versicherte Risiko, auf das sich die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung bezieht, nicht alleiniges Kriterium<br />

für die Bestimmung des relevanten Marktes sein kann. Vielmehr kann es nur ein Anknüpfungspunkt für<br />

die Marktabgrenzung unter mehreren sein. Ansonsten hätte der relevante Markt im Verfahren Assurpol als<br />

derjenige der Policen für Schäden aus Unfällen und allmählicher Umweltverschmutzung definiert werden<br />

müssen. Stattdessen hat die Kommission bei der Marktabgrenzung auch Policen einbezogen, die nur das eine<br />

oder das andere Risiko versichern und auch allgemeine Haftpflicht-Policen, sofern sie Umweltrisiken nur<br />

mitabdecken.<br />

Fraglich ist, ob sich aus der Assurpol-Entscheidung der allgemeine Grundsatz ableiten lässt, dass Versicherungen<br />

für Einzelrisiken dem Markt der Multi-Risk-Versicherungen angehören, deren Policen das betreffende<br />

Einzelrisiko mitabdecken. Ein solcher Grundsatz könnte die Marktabgrenzung im Versicherungsbereich<br />

teilweise vereinfachen. Andererseits zeigt folgendes Beispiel die nur beschränkte Anwendbarkeit eines solchen<br />

Ansatzes und legt nahe, dass man nach einer anderen, flexibleren Lösung suchen sollte. Wenn man die<br />

sachlichen Märkte im Bereich der industriellen Feuerbetriebsunterbrechungsversicherung (FBU) und der<br />

39<br />

40<br />

ABl. Nr. C 384 v. 19.12.1996, S. 4.<br />

Z. B. Dekontamination von Erdreich, Schäden durch Zu- und Abwasserleitungen.<br />

9


TV-Betriebsunterbrechungsversicherung zu bestimmen hätte, wäre nach o. g. Grundsatz nicht klar, ob FBU-<br />

Versicherungen dem Markt der allgemeinen Betriebsunterbrechungs- oder dem der allgemeinen industriellen<br />

Feuersachversicherung zuzurechnen wäre. Es gibt in der industriellen Feuersachversicherung sowohl Policen,<br />

die FBU-Risiken erfassen, als auch solche, die sie ausschließen. Deshalb erscheint es zunächst grundsätzlich<br />

sachgerechter, von getrennten Produktmärkten der Versicherungen für Einzelrisiken auszugehen,<br />

jedoch bei der Berechnung der Marktanteile diejenigen Prämienanteile, die im Rahmen einer Multi-Risk-<br />

Versicherung auf das Einzelrisiko entfallen, in das Gesamtprämienaufkommen mit einzubeziehen. Aus der<br />

Assurpol-Entscheidung 41 geht nicht klar hervor, ob die Kommission die Marktanteile nach der hier vorgeschlagenen<br />

Methode ermittelte, d. h. die Prämienanteile der allgemeinen Haftpflicht-Versicherungen, die auf<br />

Umweltrisiken entfallen, „herausrechnete“ und zum Gesamtprämienaufkommen für Umweltrisiken dazurechnete.<br />

Die vorgenommene Marktabgrenzung spricht dagegen.<br />

Bei Multi-Risk-Versicherungen, die Risiken versichern, für die auch Einzelpolicen erhältlich wären, vermeidet<br />

dieser am Einzelrisiko orientierte Ansatz Zufälligkeiten und gewährt mehr Rechtssicherheit 42 . Die Entscheidung<br />

der Behörden, ob und inwieweit bei der Beurteilung einer Versicherung gegen Einzelrisiken andere<br />

Versicherungen mit zu berücksichtigen sind, entfällt. Auch wenn diese Vorgehensweise aufwändiger ist<br />

und die betroffenen Unternehmen ihre Kalkulation gegenüber der Kartellbehörde in gewissem Umfang offen<br />

legen müssten, damit die Prämienanteile, die auf die Einzelrisiken entfallen, bestimmt werden können, so<br />

wiegt das Mehr an Rechtssicherheit u.E. diesen Nachteil auf. Die gleiche Vorgehensweise empfiehlt sich<br />

auch bei Multi-Line-Versicherungen. Hier sind die Prämienanteile, die auf die Haftpflichtversicherung entfallen,<br />

von denjenigen der Sachversicherung zu trennen und im Rahmen der Marktanteilsberechung der Einzelversicherungen<br />

zu berücksichtigen. Auch die Gestaltung der Versicherungsverträge in der Praxis legt eine<br />

„Zergliederung“ der Prämie nahe. Die Rückversicherungsverträge sind nach Risiken gegliedert und sehen für<br />

die Einzelrisiken auch unterschiedliche, sachgerechte Bedingungen vor. Lediglich die Prämie ist nicht auf<br />

die Einzelrisiken aufgeteilt.<br />

cc)<br />

Multi-Risk- und Multi-Line-Produkte als eigene Märkte?<br />

Damit ist noch nicht geklärt, ob neben den Märkten für Einzelversicherungen noch ein weiterer, gesonderter<br />

Markt für die jeweilige Multi-Risk- oder Multi-Line-Versicherung besteht. Bei Multi-Risk-Versicherungen,<br />

41<br />

42<br />

ABl Nr. L 37 v. 14.02.1992, S. 16.<br />

Eine ähnliche Frage, d. h. ob man bei einer Vielzahl von Einzelteilen, die zusammen eine Gesamtheit/eine Anlage bilden, von Märkten für die<br />

Einzelteile oder von einem Markt für die Anlage ausgehen müsse, stellt sich z. B. im Bereich der Automobilindustrie bei Systemlieferanten.<br />

Hier wird teilweise überlegt, ob nicht auf das „Modul“ als Produkt anstelle der Einzelteile abzustellen ist.<br />

10


deren versicherte Risiken nicht einzeln versicherbar sind, ist eine Aufteilung der Prämie nicht erforderlich.<br />

Diese Multi-Risk-Versicherungen bilden einen eigenen Produktmarkt. Für die anderen stellt sich die Frage,<br />

ob sie mehreren Produktmärkten angehören können, d.h. ob es neben den Märkten für die Einzelrisiken noch<br />

einen eigenen Markt für die „Kombi“-Versicherung gibt. Für die anderen „aufteilbaren“ Versicherungen<br />

besteht u. E. kein eigener Produktmarkt der Multi-Risk- und Multi-Line-Versicherungen. Die Abgrenzung<br />

als eigener Markt hätte eine unnatürliche Aufspaltung der Märkte zur Folge.<br />

dd)<br />

Zusammenfassung mehrerer Risiken zu einem Produktmarkt?<br />

Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob unabhängig von einer Police, die mehrere Risiken zusammenfasst,<br />

Versicherungsprodukte, die einzelne Risiken zum Gegenstand haben, zu einem Markt zusammengefasst<br />

werden können. Legt man die Maßstäbe zu Grunde, die insbesondere das Bundeskartellamt mit Blick auf<br />

Äußerungen der Versicherungsaufsicht formuliert hat, wäre eine solche Zusammenfassung nicht denkbar.<br />

Das bedeutet, dass, wie vorstehend bereits kritisiert wurde, nicht selten eine Atomisierung der Versicherungsmärkte<br />

die Folge ist. Dass dies nicht richtig sein kann, jedenfalls nicht in jedem Einzelfall, erscheint<br />

evident. Uns erscheint es richtiger zu sein, das tatsächliche Nachfrageverhalten der Versicherungsnehmer<br />

und das darauf reagierende Angebotsverhalten der Versicherungen verstärkt in den Vordergrund zu rücken.<br />

Das Nachfrageverhalten der Versicherungsnehmer ist, den allgemeinen Grundsätzen der Marktabgrenzung<br />

folgend, die z. B. in der Bekanntmachung der Kommission über die Abgrenzung des relevanten Marktes zum<br />

Ausdruck kommen, der wesentliche Maßstab, der auch im Versicherungssektor von Relevanz sein sollte.<br />

Das würde z. B. bedeuten, dass verschiedene Einzelrisiken zu einem Markt zusammengefasst werden könnten,<br />

wenn Versicherungsnehmer generell oder typischerweise diese Versicherungsprodukte zusammen nachfragen.<br />

Als Beispiel, auf das bereits weiter oben hingewiesen wurde, kann die allgemeine Feuerversicherung<br />

herangezogen werden, die auf den Ersatz des verlorenen Gutes gerichtet ist und typischerweise zumindest im<br />

Gewerbe- bzw. Industriebereich zusammen mit einer Feuer-Betriebsunterbrechungsversicherung (FBU) abgeschlossen<br />

wird. Stellte man allein auf das versicherte Einzelrisiko ab, würde dies zu einer getrennten<br />

Marktbetrachtung führen, nämlich zu einem Markt der Feuer-Sachversicherung und einem Markt der FBU-<br />

Versicherungsprodukte. Im Hinblick auf die regelmäßig kombinierte Nachfrage nach beiden Versicherungsprodukten<br />

erscheint es angemessener zu sein, nicht unterschiedliche Märkte zu differenzieren, sondern die<br />

beiden Bereiche zusammenzufassen. Dies hat z. B. auch die Kommission in ihrer Entscheidung Feuerversi-<br />

11


cherung (D) angenommen, ohne eine nähere Erläuterung oder Begründung für erforderlich zu halten 43 . Ähnliches<br />

muss auch für andere Produkte gelten, z. B. für den Bereich der Technischen Versicherungen. Auch<br />

diese wird regelmäßig zusammen mit einer TV-BU-Versicherung abgeschlossen.<br />

ee)<br />

Typisierung von Risiken?<br />

Folgt man der vorstehenden Auffassung nicht, sondern betrachtet weiterhin das jeweils versicherte Einzelr i-<br />

siko, müsste nach unserer Überzeugung zumindest das jeweilige Risiko allgemeiner betrachtet bzw. definiert<br />

werden, indem z. B., um bei dem genannten Beispiel zu bleiben, allein auf das Risiko der Betriebsunterbrechung<br />

abgestellt werden muss, unabhängig davon, auf welche Ursache sie zurückzuführen ist. Das würde<br />

dazu führen, den Bereich der FBU mit dem Bereich der TV-BU zu einem einheitlichen BU-Markt zusammenzufassen.<br />

Gegen eine solche Zusammenfassung würde nach unserer Auffassung sprechen, dass das ta t-<br />

sächliche Nachfrageverhalten der Versicherungsnehmer ein anderes ist, je nachdem ob man auf das FBU-<br />

Segment abstellt oder das TV-BU-Segment. Uns erscheint es deshalb sinnvoller zu sein, den Bereich der<br />

jeweiligen BU-Versicherungsprodukte im Zusammenhang mit dem im Vordergrund stehenden Versicherungsprodukt<br />

zu sehen, das nicht den Vermögensschaden, sondern den Substanzschaden ersetzen soll.<br />

Ein anderes Beispiel ist der Bereich der Vermögensschadens-Haftpflicht. Es entspricht der herkömmlichen<br />

Methodik des Bundeskartellamtes, wenn man zwischen Risiken verschiedener Berufsträgergruppen (z. B.<br />

Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Rechtsanwälte, Architekten, Ärzte etc.) differenziert und entsprechend unterschiedliche,<br />

sachlich relevante Märkte abgrenzt. Dies würde ebenfalls zu einer nicht sachgerechten Atomisierung<br />

der Märkte führen. Es erscheint uns angemessener, das Risiko, das aus der Ausübung der Berufstätigkeit<br />

erwächst, als maßgeblichen Anknüpfungspunkt zu nehmen. Das würde bedeuten, dass man die Tätigkeit<br />

eines freiberuflich tätigen Berufsträgers, möglicherweise aber auch anderer Berufstätiger, die eine<br />

Haftpflichtversicherung benötigen, zu einem Markt zusammenfassen müsste. Das Resultat wäre ein einheitlicher<br />

Markt der berufsbezogenen Vermögensschadens-Haftpflicht. Nicht zusammenzufassen wäre dieser<br />

mit anderen Bereichen, z. B. der privaten Vermögensschadens-Haftpflicht. Im Hinblick auf die unterschie d-<br />

lichen Nachfragerkreise erscheint uns eine Zusammenfassung dieser beiden Segmente unter kartellrechtlichen<br />

Gesichtspunkten nicht als angemessen.<br />

43<br />

KomE Feuerversicherung (D), ABl. Nr. L 35 v. 07.02.1985, S. 34.<br />

12


3. Markt der Rückversicherung<br />

a) Formen der Rückversicherung<br />

Rückversicherer versichern nicht das konkrete Risiko des Schadeneintritts, sondern das versicherungstechnische<br />

Risiko des Erstversicherers. Die Rückversicherung erfolgt nach ganz h. M. durch einen echten, regulären<br />

Versicherungsvertrag zwischen Erstversicherer und Rückversicherer 44 . Sie geschieht durch professionelle<br />

Rückversicherer oder durch mehrere Erstversicherer, häufig zusammengeschlossen in Pools, die für bestimmte<br />

Risikoarten gemeinsam Rückversicherungsschutz anbieten. Dabei ist zwischen der obligatorischen<br />

und der fakultativen Rückversicherung zu unterscheiden 45 . Obligatorische Rückversicherung, die den überwiegenden<br />

Teil des Rückversicherungsgeschäfts ausmacht, bedeutet, dass ein Rückversicherungsvertrag für<br />

eine Vielzahl noch abzuschließender (Erst-) Versicherungsverträge geschlossen wird und der Erstversicherer<br />

jedes Risiko, das unter diesen Rückversicherungsvertrag fällt, bei dem Rückversicherer versichern muss<br />

(Zessionspflicht) und dieser jedes Risiko rückversichern muss (Annahmepflicht). In der obligatorischen<br />

Rückversicherung wiederum dominiert die Form der sog. proportionalen Rückversicherung. Bei dieser beteiligt<br />

sich der Rückversicherer zu einer bestimmten Quote an allen unter den konkreten Rückversicherungsvertrag<br />

fallenden Risiken und erhält dafür eine entsprechende Quote der Prämien 46 . Wenn heute noch gelegentlich<br />

vom Erstversicherer als „Zedent“ des Rückversicherers gesprochen wird, ist dies nur ein Relikt der<br />

früheren sog. „Zessionstheorie“, wonach der Erstversicherer seine Prämienforderung an den Rückversicherer<br />

abtritt. Der Begriff „Retrozession“ (= Rückversicherung des Rückversicherers) bezeichnet ebenfalls einen<br />

echten Versicherungsvertrag 47 . Bei der fakultativen Rückversicherung geht es dagegen um die Rückversicherung<br />

eines bestimmten Einzelrisikos, das der Erstversicherer gezeichnet hat.<br />

b) Rückversicherung als eigener Produktmarkt<br />

Man könnte der Auffassung sein, dass es sich bei diesem Risiko, d.h. dem versicherungstechnischen Risiko<br />

des Erstversicherers, um einen bloßen Rechnungsposten handelt und dass dieses Risiko so einheitlich ist,<br />

dass dieses Risiko als einziges Produkt den Markt der Rückversicherer bestimmt. Es würde dann nur ein<br />

44<br />

45<br />

46<br />

47<br />

Gerathewohl, Rückversicherung Grundlagen und Praxis, Karlsruhe, 1976, Bd. I, Kapitel 7, Ziff. 1.2.1.<br />

Die fakultative Rückversicherung bezieht sich immer auf ein konkretes Einzelrisiko, wobei es dem Erstversicherer freisteht, ob und inwieweit<br />

er das Risiko rückversichern will und es dem Rückversicherer ebenso freisteht, ob er seine Leistung anbietet, Liebwein, Klassische und<br />

moderne Formen der Rückversicherung, Karlsruhe, 2000, Kapitel 5, Ziffer 5.3.<br />

Liebwein, a. a. O., Kapitel 6, Ziffer 6.1<br />

Zu weiteren Theorien s. Gerathewohl, a. a. O., Kapitel 7, Ziff. 1.2.1.<br />

13


einheitlicher sachlicher Markt bestehen 48 . Tatsächlich wird das Rückversicherungsgeschäft jedoch durch die<br />

Art des beim Erstversicherer versicherten Risikos geprägt. Im Fall der proportionalen Rückversicherung ist<br />

es unmittelbar einleuchtend, dass die Bedingungen des Erstversicherers auch die Interessen des Rückversicherers<br />

berühren und er deshalb auf diese in gewissem Umfang Einfluss nehmen wird, indem er beispielsweise<br />

dem Erstversicherer eine Mindestprämie vorgibt. Auch die Kommission stellte fest, dass „angesichts<br />

der Koppelung von Erstversicherung und Rückversicherung ein gewisser Einfluss der Rückversicherer auf<br />

das Marktverhalten der Erstversicherer üblich ist (...)“ 49 . Auch bei der selteneren nachträglichen Rückversicherung<br />

wird der Rückversicherer faktisch Einfluss auf den Erstversicherer haben. Da dieser keine Rückversicherung<br />

erhält, wenn die Konditionen dem Rückversicherer zu ungünstig erscheinen, wird er sich im Vorfeld<br />

mit diesem abstimmen.<br />

c) Unterteilung verschiedener Rückversicherungsmärkte?<br />

Ungeachtet dieser Gesichtspunkte nimmt die Kommission ebenso wie das Bundeskartellamt in ständiger<br />

Praxis einen einheitlichen Markt der Rückversicherung an. Dies beruht auf der Überlegung, dass aus Sicht<br />

der Nachfrager, d. h. der Erstversicherer, Rückversicherungsschutz gesucht wird. Eine Differenzierung danach,<br />

für welches Geschäft bzw. für welches versicherte Einzelrisiko Rückdeckung gesucht wird, kommt es<br />

nicht an. Das gilt sowohl für die obligatorische als auch für die fakultative Rückversicherung. Eine weitere<br />

Unterteilung wäre allein mit Blick auf das Interesse und das Nachfrageverhalten der Erstversicherer nicht<br />

sachgerecht. Man könnte allenfalls daran denken, so wie dies die Rückversicherer in ihrer Organisation häufig<br />

tun, zwischen den Bereichen Leben, Nicht-Leben, Casualty und Maritime zu unterscheiden. Diese grobe<br />

Unterteilung, die sich, wie gesagt, häufig in der Organisationsstruktur der großen Rückversicherer widerspiegelt,<br />

fasst Risiken bzw. Risikoarten zusammen, die Ähnlichkeiten aufweisen. Deshalb halten wir es nicht<br />

für ausgeschlossen, den Markt der Rückversicherung weiter in die genannten Bereiche zu unterteilen. Eine<br />

darüber hinaus gehende Differenzierung nach Rückversicherung von Einzelrisiken erscheint uns dagegen<br />

nicht angemessen zu sein. Dies würde in der Tat zu einer völlig unakzeptablen Atomisierung der Rückversicherungsmärkte<br />

führen. Dies ist auch mit Blick auf die Anbieter im Markt der Rückversicherung nicht angemessen.<br />

Die wesentlichen Wettbewerber bieten in der Tat Rückversicherungsschutz für praktisch alle vorstehend<br />

genannten Bereiche an. Spezialanbieter, wie dies z. B. Mit-Rückversicherungsgemeinschaften sind,<br />

die sich nicht selten nur aus Erstversicherern, ggf. unter Einbeziehung eines Rückversicherers, zusammen-<br />

48<br />

49<br />

Kreiling, a. a. O., S. 117.<br />

KomE TEKO, a. a. O., Rn. 19.<br />

14


setzen, können an dieser Einschätzung nichts ändern. Es wäre nicht angemessen, mit Blick auf solche Rückversicherungsgemeinschaften<br />

eine weitere Detaillierung der Rückversicherungsmärkte vorzunehmen.<br />

4. Besonderheiten im Bereich der Mitversicherungsgemeinschaften und der Mit-Rückversicherungsgemeinschaften?<br />

Bei Mitversicherungsgemeinschaften (sog. Versicherungspools) handelt es sich um Risikostreuungs-<br />

oder Risikoaufteilungsgemeinschaften 50 , d. h. um einen Zusammenschluss mehrerer Versicherungsunternehmen<br />

zum gemeinschaftlichen Tragen von Risiken. Art. 2 Nr. 5, 6 GVO definiert<br />

die Begriffe Mitversicherungsgemeinschaft und Mit-Rückversicherungsgemeinschaft 51 . In Deutschland<br />

sind die Mitversicherungsgemeinschaften als Gesellschaften bürgerlichen Rechts, §§ 705 ff.<br />

BGB 52 , organisiert, und zwar meist in der Weise, dass entweder jedes Poolmitglied nach außen als<br />

selbstständiger Versicherer tätig wird, die Police ganz oder teilweise in den Pool einbringt und die<br />

anderen Poolmitglieder als Rückversicherer dienen (sog. Mit-Rückversicherungspool), oder dass<br />

alle Poolmitglieder mit einem Anteil direkt am Versicherungsvertrag beteiligt sind (sog. Mitversicherungspool)<br />

53 .<br />

Allein die Tatsache, dass Mitversicherungsgemeinschaften überwiegend im Rahmen der Versicherung<br />

von großen Risiken tätig werden, führt nicht dazu, dass diese Großrisiken einem eigenen, einheitlichen<br />

Produktmarkt zuzurechnen wären. Für den Bereich der Mitversicherungsgemeinschaften/Mit-Rückversicherungsge-meinschaften<br />

bzw. der von diesen (rück-) versicherten Großrisiken<br />

existiert kein eigenständiger sachlich relevanter Markt. Die unterschiedlichen Produktmärkte sind<br />

anhand der allgemeinen Kriterien, insbesondere über die Art des versicherten Risikos zu definieren.<br />

50<br />

51<br />

52<br />

53<br />

Brinker/Schädle, VersR 2003, 1475 ff.; Liebwein, Klassische und moderne Formen der Rückversicherung, Karlsruhe 2000, S. 36.<br />

Mitversicherungsgemeinschaften: Gemeinschaften aus Versicherungsunternehmen, welche (i) sich verpflichten, im Namen und für Rechnung<br />

aller beteiligten Unternehmen Versicherungsverträge für eine bestimmte Risikosparte abzuschließen oder (ii) den Abschluss und die<br />

Abwicklung der Versicherung einer bestimmten Risikosparte durch eines der beteiligten Unternehmen, einen gemeinsamen Makler oder eine<br />

zu diesem Zweck geschaffene gemeinsame Organisation in ihrem Namen und für ihre Rechnung vornehmen lassen;<br />

Mit-Rückversicherungsgemeinschaften: Gemeinschaften aus Versicherungsunternehmen, gegebenenfalls unter Beteiligung eines oder<br />

mehrerer Rückversicherungsunternehmen, die (i) wechselseitig alle oder Teile ihrer Verpflichtungen betreffend eine bestimmte Risikosparte<br />

rückversichern, (ii) nebenbei für dieselbe Risikosparte Rückversicherungsschutz im Namen und für Rechung aller beteiligten Unternehmen<br />

anbieten;<br />

Brinker/Schädle, VW 2003, 1380, 1420; Prölss/Martin/Kollhosser, Versicherungsvertragsrecht, 26. Aufl., 1998, § 186 Rn. 11; Gerathewohl,<br />

a. a. O., Bd. I, Kapitel 7, Ziff. 1.4, S. 430; Hübener, Die Führungsklausel in der Mitversicherung, Karlsruhe 1954, S. 28 f., 80, differenziert<br />

zwischen Pools und Mitversicherungsgemeinschaften: Mitversicherungsgemeinschaften würden die einzelnen Versicherer erkennen<br />

lassen und seien nur im Einzelfall eine GbR, während bei Poolverträgen nur ein Versicherer nach außen auftrete und eine GbR vorläge; diese<br />

Differenzierung entspricht nicht mehr der heutigen Verwendung der Begriffe. Die Begriffe „Pool“ und „Versicherungsgemeinschaft“ werden<br />

heute synonym gebraucht.<br />

Gerathewohl, a. a. O., Bd. I, Kapitel 2. Ziff. 2.4.1, S. 134 f.<br />

15


Auch Art. 2 Ziff. 5, 6 GVO 54 gehen davon aus, dass die Gemeinschaften jeweils in einer bestimmten<br />

Risikosparte tätig wird.<br />

III. Geographisch relevanter Markt<br />

Der räumlich relevante Markt wird in der Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten<br />

Marktes, Ziff. 8, definiert als das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die relevanten Produkte<br />

und Dienstleistungen anbieten, in dem die Wettbewerbsbedingungen homogen sind und das sich von benachbarten<br />

Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet. Eine detailliertere<br />

Darstellung wie bei der sachlichen Marktabgrenzung kann unterbleiben, da die Meinungen in Literatur<br />

und Praxis weitgehend übereinstimmen 55 .<br />

1. Markt der Erstversicherer<br />

a) Versicherungsmärkte als nationale Märkte<br />

Im Erstversicherungsgeschäft gehen die Kommission und das Bundeskartellamt übereinstimmend davon aus,<br />

dass die Märkte trotz Liberalisierung bisher noch weitgehend national geprägt sind 56 . Die etablierten Marktstrukturen,<br />

die Vertriebskanäle, die Haltung der Verbraucher und die nationale Gesetzgebung z. B. hinsichtlich<br />

der Aufsicht, führen dazu, dass jedenfalls im Privatversicherungsgeschäft von einem nationalen Markt<br />

auszugehen ist. Eine engere Abgrenzung des räumlichen Marktes, z. B. auf einzelne Bundesländer, ist, von<br />

Sondersituationen abgesehen, in den meisten Fällen nicht vertretbar, da die Wettbewerbsbedingungen homogen<br />

sind. Manche Versicherer werden zwar in unterschiedlichen Regionen tätig, ihre Geschäftstätigkeit hält<br />

sich aber nicht an Bundesländergrenzen, so dass eine solche Abgrenzung nicht der Realität entspräche.<br />

54<br />

55<br />

56<br />

ABl. Nr. L 53 v. 28.2.2003, S.8<br />

Vgl. allg. zur geographischen Marktabgrenzung Altemöller, ZVersWiss, 335 ff.<br />

Hootz, Gemeinschaftskommentar, GVO-Versicherungen, a. a. O., Art. 11, Rn. 3 m. w. N.; KomE TEKO ABl. Nr. 13 v. 17.01.1990, S. 34;<br />

KomE v. 03.04.1995, Allianz/Elvia/Adriatico, IV/M.539.<br />

16


) Internationalisierung der Märkte?<br />

Im Industriegeschäft und bei der Versicherungen von Großrisiken, z. B. in der Luftfahrt, zeichnet sich in<br />

größerem Ausmaß ein gemeinschaftsweiter Wettbewerb ab 57 . So lange der Marktzutritt aber vorwiegend<br />

über nationale Niederlassungen erfolgt, geht die Kommission hier weiterhin von nationalen Märkten aus 58 .<br />

Ob dies den Marktentwicklungen immer gerecht wird, ist zu bezweifeln. Zwei Aspekte sprechen gegen einen<br />

so engen Ansatz: Das tatsächliche Angebots- und Nachfrageverhalten von Versicherern und Versicherten,<br />

zum anderen die geographische Ausdehnung führender Versicherungskonzerne wie Allianz, Axa, Fortis,<br />

Generali, Münchener Rück/ERGO u. a. Die geographischen Expansionsbemühungen der genannten Versicherungsgruppen<br />

sprechen sehr stark für eine Entwicklung in räumlich größere Märkte. Durch ein immer<br />

einheitlicher werdendes Angebot, auch im Hinblick auf immer ähnlicher werdende Werbe- und Marketingmaßnahmen,<br />

ist davon auszugehen, dass zumindest in absehbarer Zeit nicht mehr von nationalen, sondern<br />

von größeren Märkten auszugehen ist, die entweder mehrere Mitgliedstaaten der Gemeinschaft umfassen,<br />

oder die gesamte Gemeinschaft ausmachen.<br />

2. Rückversicherung<br />

Im Rückversicherungsgeschäft geht die Kommission in ständiger Entscheidungspraxis von weltweiten<br />

Märkten aus 59 . Diese Abgrenzung ist zutreffend, da Rückversicherungen weltweit bei den gleichen Anbietern<br />

nachgefragt werden. Die bestehenden Reglementierungen und Aufsichtsregime führen nicht zu spürbar unterschiedlichen<br />

Wettbewerbsbedingungen und Marktstrukturen.<br />

IV. Fazit<br />

Eine gesetzliche Regelung zur Abgrenzung des sachlichen und räumlichen Marktes im Sinne des Kartellrechts<br />

besteht nicht. Die Grundsätze, insbesondere das Bedarfsmarktkonzept, sind jedoch allgemein anerkannt<br />

und führen in den meisten Fällen zu sachgerechten Ergebnissen. Dabei sollte auch für die Versicherungswirtschaft<br />

in Zukunft stärker als in der Vergangenheit auf das tatsächliche Nachfrageverhalten der Ver-<br />

57<br />

58<br />

59<br />

KomE v. 27.09.1996 Allianz/Hermes, IV/M.813, Rn. 13 f.; KomE v. 11.11.1996, Allianz/Vereinte, IV/M.812, Rn. 11 f.<br />

KomE Allianz/Hermes a. a. O., Rn. 14.<br />

Vgl. Hootz, Gemeinschaftskommentar, GVO-Versicherungen, a. a. O. Art. 11, Rn. 3; KomE v. 03.04.1995 Allianz/Elvia/Adriatico,<br />

IV/M.539; KomE v. 30.06.1995, IV/M.600 Employers Reinsurance Cooperation/Frankonia Rückversicherungs-AG, Kurzfassung in WuW<br />

1996, 29; KomE v. 24.10.1994 General RE/Kölnische Rück, Kurzfassung WuW 1995, 211.<br />

17


sicherungsnehmer und das damit korrelierende Angebotsverhalten der Versicherer abgestellt werden. Dies<br />

wird bei verschiedenen Konstellationen, insbesondere in den Bereichen Gewerbliche und Industrielle Versicherung,<br />

dazu führen, dass Versicherungsprodukte, die zwar unterschiedliche Risiken abdecken, jedoch häufig<br />

zusammen nachgefragt werden, zu einem Markt zusammenzufassen sind. Schwierigkeiten der Abgrenzung<br />

können sich jedoch im Bereich der Multi-Risk- und Multi-Line-Versicherungen ergeben. Die hier vorgeschlagene<br />

Vorgehensweise orientiert sich in diesen Fällen nicht an dem Produkt „Multi-Risk-<br />

Versicherung“, sondern an den versicherten Einzelrisiken, da damit Zufälligkeiten der Marktabgrenzung<br />

besser vermieden werden.<br />

18


[ Der Autor<br />

Dr. Ingo Brinker, LL.M.<br />

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www.gleisslutz.com<br />

Dr. Ingo Brinker, LL.M., geboren 1964. Studium in Freiburg, Münster, München<br />

und Chicago. Master of Laws 1993. Promotion 1994. Seit 1993 Rechtsanwalt<br />

im Büro Brüssel, seit 1995 im Büro Stuttgart, seit 2001 im Büro München.<br />

Mitglied verschiedener Vereinigungen, u.a. Studienvereinigung Kartellrecht,<br />

Wissenschaftliche Gesellschaft für Europarecht, International Bar Association.<br />

Schwerpunkte<br />

Deutsches und europäisches Kartellrecht, öffentliches Vergaberecht, Europarecht,<br />

Energierecht, Versicherungsrecht.<br />

19


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