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ich lebe nicht allein zusammen - GEW

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ESSAY<br />

ihres Gegenübers und des pädagogischen Feldes werden. Und sie<br />

müssen um die festlegende Wirkung ihrer eigenen Bilder vom<br />

Gegenüber und dessen Mögl<strong>ich</strong>keiten wissen.<br />

Diese festlegenden Wirkungen unserer Bilder vom anderen hat<br />

Max Frisch verschiedentl<strong>ich</strong> in seinen Texten thematisiert. In seinen<br />

Tagebüchern findet s<strong>ich</strong> eine Aufze<strong>ich</strong>nung mit dem Titel „Du sollst<br />

Dir kein Bildnis machen“ (Frisch 1985), in dem es heißt:<br />

„Man hat darauf hingewiesen, das Wunder jeder Prophetie erkläre<br />

s<strong>ich</strong> teilweise schon daraus, dass das Künftige, wie es in den Worten<br />

eines Propheten erahnt scheint und als Bildnis entworfen wird, am<br />

Ende durch eben dieses Bild verursacht, vorbereitet, ermögl<strong>ich</strong>t oder<br />

mindestens befördert worden ist (...).<br />

Kasandra, die Ahnungslose, die scheinbar Warnende und nutzlos<br />

Warnende, ist sie immer ganz unschuldig an dem Urteil, das sie vorausklagt?<br />

Dessen Bildnis sie entwirft.<br />

Irgendeine fixe Meinung unserer Freunde, unserer Eltern, unserer<br />

Erzieher, auch sie lastet auf manchem wie ein altes Orakel. Ein halbes<br />

Leben steht unter der heiml<strong>ich</strong>en Frage: Erfüllt es s<strong>ich</strong> oder erfüllt<br />

es s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t. Mindestens die Frage ist uns auf die Stirne gebrannt,<br />

und man wird ein Orakel n<strong>ich</strong>t los, bis man es zur Erfüllung bringt.<br />

Dabei muss es s<strong>ich</strong> durchaus n<strong>ich</strong>t im geraden Sinne erfüllen; auch im<br />

Widerspruch zeigt s<strong>ich</strong> der Einfluss, darin, dass man n<strong>ich</strong>t sein will,<br />

wie der andere uns einschätzt. Man wird das Gegenteil, aber man wir<br />

es durch den anderen.<br />

Eine Lehrerin sagte einmal meiner Mutter, niemals in ihrem Leben<br />

werde sie stricken lernen. Meine Mutter erzählte uns jenen Ausspruch<br />

sehr oft; sie hat ihn nie vergessen, nie verziehen; sie ist eine leidenschaftl<strong>ich</strong>e<br />

und ungewöhnl<strong>ich</strong>e Strickerin geworden, und alle die Strümpfe<br />

und Mützen, die Handschuhe, die Pullover, die <strong>ich</strong> jemals bekommen<br />

habe, am Ende verdanke <strong>ich</strong> sie <strong>allein</strong> jenem ärgerl<strong>ich</strong>en Orakel!...“<br />

(ebd., S.28f).<br />

Es gibt in der Literatur kaum eine treffendere Beschreibung der<br />

systemischen Wirkungen, die von Festlegungen ausgehen können.<br />

Diese können einengen oder zum Widerstand mobilisieren - dies ist<br />

das Spektrum der mögl<strong>ich</strong>en, n<strong>ich</strong>t-linearen Effekte von dem, was<br />

wir erzieherisch deuten und tun. Unsere Deutungen jedoch sind<br />

w<strong>ich</strong>tige Bausteine unseres Selbst. Dieses können und wollen wir<br />

nur selten wirkl<strong>ich</strong> aufgeben. Zu groß ist unsere Angst davor, dass<br />

ein neuer Blick auf das uns Vertraute uns überraschen und es uns<br />

die Sprache verschlagen könnte. Echtes In-Beziehung-Treten und<br />

pädagogisch professionelles Wahrnehmen, Denken und Handeln<br />

jedoch ist ohne ein Herauswachsen aus den vertrauten Deutungen<br />

kaum mögl<strong>ich</strong>. Denn ohne dieses Heraustreten kommen wir im<br />

Gegenüber immer nur in Kontakt mit uns selbst bzw. mit dem, was<br />

wir in den anderen hineinsehen. So bleibt der „schwierige Schüler“<br />

der „schwierige Schüler“, wir stellen ihn beständig selbst wieder mit<br />

her. Es gilt aber auch das Umgekehrte: Wir sind<br />

„in gewissem Grade wirkl<strong>ich</strong> das Wesen (sind), das die anderen in uns<br />

hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! auch wir sind die<br />

Verfasser der anderen; wir sind auf eine heiml<strong>ich</strong>e und unentrinnbare<br />

Weise verantwortl<strong>ich</strong> für das Ges<strong>ich</strong>t, das sie uns zeigen, verantwortl<strong>ich</strong><br />

n<strong>ich</strong>t für ihre Anlage, aber für die Ausschöpfung dieser Anlage. Wir<br />

sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemüht, im Wege<br />

stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein<br />

weiteres Glied in jener Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwürgt“<br />

(ebd., S.29).<br />

Aus diesen Überlegungen ergibt s<strong>ich</strong> eine weitere Hauptkritik an<br />

den vielfach vorherrschenden Versuchen, das Erzieherische linear<br />

zu fassen. Der schl<strong>ich</strong>te Gedanke, dass dort, wo Disziplinprobleme<br />

bestehen, Disziplinierung angezeigt sei und zu den erwünschten<br />

Effekten führe (vgl. Bueb 2006), ist s<strong>ich</strong> seiner festlegenden Implikationen<br />

n<strong>ich</strong>t bewusst. Bereits die Beze<strong>ich</strong>nung des Verhaltens<br />

eines Gegenübers als „undizipliniert“ entstammt einer typisierenden<br />

Brille, mit der man nur sieht, was man sieht. Von daher könnte<br />

man in Anlehnung an Frisch sagen: „Die Disziplinpädagogik ist<br />

es, die den undisziplinierten Kindern und Jugendl<strong>ich</strong>en im Wege<br />

stehen, und zwar dadurch, dass ihre Meinung, der andere sei undiszipliniert,<br />

ein weiteres Glied in der Kette ist, die ihn fesselt und<br />

langsam erwürgt“. So erzeugt s<strong>ich</strong> die Disziplinpädagogik ihren<br />

eigenen Gegenstand und auch ihre eigene Berechtigung. Und einer<br />

systemischen Pädagogik bleibt auch n<strong>ich</strong>t verborgen, dass es die<br />

Disziplinpädagogen selbst sind, die hier „das Problem“ darstellen<br />

bzw. in die erzieherischen Situationen mitbringen. In diesem Sinne<br />

stellte bereits der bekannte Schulpraktiker und Pädagoge in seinem<br />

weit verbreiteten Buch „Techniken des Lehrerverhaltens fest:<br />

„Lehrer, die glauben, ihre Schüler dauernd kontrollieren zu müssen,<br />

werden (hoffentl<strong>ich</strong>!) immer Disziplinprobleme haben! Jeder Lehrer,<br />

der an das Märchen glaubt, dass Schüler im Gle<strong>ich</strong>schritt lernen, sollte<br />

Disziplinschwierigkeiten haben!“(Grell 1995, S.202).<br />

Dem ist n<strong>ich</strong>ts hinzuzufügen. Es ist der systemische pädagogische<br />

Blick, der hier implizit enthalten ist. Grell weiß um die selbst erfüllende<br />

Prophezeiung unserer Wahrnehmung. Er weiß, dass die Bilder<br />

und Typisierungen, die wir uns vom Gegenüber entwerfen, dieses<br />

Gegenüber auch festlegen und wir uns so die Realität mit erschaffen,<br />

der wir dann mit den selben Mustern zu Leibe zu rücken versuchen,<br />

wie denen, die uns diese Realität als das erscheinen ließen, als das<br />

sie uns erscheint. Hier hilft nur eines: Man muss aus den eigenen<br />

Mustern der bevorzugten Wahrnehmung aussteigen, statt diese noch<br />

in Bücher zu publizieren und ihnen so eine Wirkung zu verleihen,<br />

die mit dazu beiträgt, dass die Erziehungskultur in Deutschland so<br />

bleibt, wie sie ist. Dies ist die eigentl<strong>ich</strong>e Erziehungskatastrophe,<br />

über die es nachzudenken lohnt. Diese Erziehungskatastrophe ist<br />

letztl<strong>ich</strong> das Ergebnis einer tiefen Selbstgerechtigkeit und somit<br />

Ausdruck von eigenen Ängsten und eigener Schwäche. Der nüchterne<br />

und aufmerksame Blick auf das Geschehen ist ihr fremd, zu<br />

laut ist das eigene Rauschen im Denken, Fühlen und Handeln der<br />

eifernden Pädagogen.<br />

Das „Lob der Disziplin“ (Bueb 2006) arbeitet zudem auf eine<br />

subtile Weise auch mit der Opferbrille. Eltern, Lehrerinnen und<br />

Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher sind für ihn die Opfer<br />

der Undiszipliniertheit. Ihre Erziehungshandlungen haben deshalb<br />

auch den Charakter einer berechtigten Verteidigungsreaktion. Diese<br />

Argumentationsmuster hat etwas Selbstgerechtes. Das Opfer ist<br />

immer in der „guten Rolle“. Opfer stehen in einer Schulddistanz,<br />

die nur schwer wirkl<strong>ich</strong> ausgegl<strong>ich</strong>en werden kann, man müsste ja<br />

dann die selbstgerechten Typisierungen aufgeben. Deshalb ist es der<br />

„schuldige“ Teil, der s<strong>ich</strong> irgendwann ganz entziehen muss, dann<br />

erlischt die Beziehung und mit ihr jegl<strong>ich</strong>e Erziehungswirksamkeit.<br />

Entziehen können s<strong>ich</strong> Kinder und Jugendl<strong>ich</strong>e oft n<strong>ich</strong>t, da sie<br />

<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 3 / 2008<br />

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