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Briefe aus Paris (Fünfter bis Siebenter Brief).<br />
(Bearbeiter: Thomas Bremer, Halle)<br />
1. Textüberlieferung<br />
1.1. Handschriften<br />
1.1.1. Übersicht<br />
Es sind keine handschriftlichen Überlieferungsträger bekannt.<br />
1.2. Drucke<br />
E Briefe aus Paris. Von Karl Gutzkow. Theil 1-2, Leipzig: Brockhaus,<br />
1842. (Rasch 2.24)<br />
J Für den gesamten Text sind Journalerstdrucke nicht bekannt. Einzelne<br />
Auszüge erschienen jedoch zeitgleich zum bzw. nach Erscheinen<br />
der Buchausgabe. So in „Didaskalia“: „Frankreichs<br />
Centralisation“, Nr. 262 und Nr. 263, 22. und 23. September 1842,<br />
[jeweils S. 2-3] (Rasch 3.42.09.22); „Versailles“, Nr. 266, 26.<br />
September 1842, [S. 2-3] (Rasch 3.42.09.26) und „Der französische<br />
Minister Villemain“, Nr. 6, 6. Januar 1845 (Rasch<br />
3.45.01.06). In der Beilage zur „Allgemeinen Zeitung“: „Aus<br />
Gutzkows Pariser Briefen. I. Cormenin. – II. Thiers“, Nr. 272, 29.<br />
September 1842, S. 2171-2173, Nr. 276, 3. Oktober 1842, S. 2201-<br />
2202 und Nr. 277, 4. Oktober 1842, S. 2210-2212 (Rasch<br />
3.42.09.29). Im „Gesellschafter“: „Gutzkow über Thiers“, 161.<br />
Blatt, 3. Oktober 1842 (Rasch 3.42.10.03).<br />
A (Überarbeitung) Briefe aus Paris 1842. In: GWI, Bd 12, 1846, S. 1-<br />
384 (Rasch 1.2.12.1; 1.2.12.2). Der Text ist mit einer Vorerinnerung<br />
versehen und gekoppelt mit Pariser Eindrücke. 1846 (Rasch<br />
1.2.12.3). Beide Texte zusammen bilden den zwölften Band von<br />
GWI (Rasch 1.2.12; → Entstehungsgeschichte).<br />
B (Nochmalige geringfügige Überarbeitung) Briefe aus Paris. In:<br />
GWII, Bd 7 [1874], S. 47-344 (Rasch 1.5.7.2). Der siebente Band<br />
von GWII umfasst außerdem folgende Texte über Frankreich bzw.<br />
Paris: Frankreich im Jahre 1834. Ein Zeitgemälde (Rasch 1.5.7.1),<br />
Pariser Eindrücke 1846 (Rasch 1.5.7.3), Nach dem zweiten De-<br />
© EDITIONSPROJEKT KARL GUTZKOW,THOMAS BREMER, HALLE 2001 (F. 1.1)
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BRIEFE AUS PARIS (APPARAT)<br />
cember (Rasch 1.5.7.4) und Durch Frankreich im Jahre 1874<br />
(Rasch 1.5.7.5).<br />
Weitere Auflagen existieren in auszugsweisen Drucken in:<br />
Carl Gutzkow. Eine Biographie von W. Neumann. Mit Portr. Cassel:<br />
Balde, 1854 (Rasch 4.54.1); Karl Gutzkow: Vermischte Aufsätze. In:<br />
Denker und Forscher der Neuzeit. Eine Anthologie. Mit biograph.-krit.<br />
Skizzen von Arnold Schloenbach. Hildburghausen: Bibliographisches<br />
Institut, 1864, S. 149-218 (Rasch 4.64.2); Auszüge in Demetz nach der<br />
Druckvorlage A unter dem Titel „Über Hegel und Fourier“ (DE,<br />
S. 136-137), „Über die Persönlichkeit Balzacs“ (DE, S. 206-208) und<br />
„Ein Gespräch mit George Sand“ (DE, S. 213-218); „Briefe aus Paris.<br />
1842. Erster Theil. Siebenter Brief“ und „Zweiter Theil. Fünfter<br />
Brief“ in Hummel nach der Druckvorlage A (HU, Bd 1, S. 257-268 und<br />
S. 269-310).<br />
2. Textdarbietung<br />
2.1. Edierter Text<br />
E. Der Text folgt in Orthographie und Interpunktion unverändert dem<br />
ersten Buchdruck. Textsperrungen werden übernommen. Silbentrennstriche<br />
(=) werden durch – wiedergegeben. Die Seitenzählung wird mit<br />
Klammern [ ] an den betreffenden Stellen in den Text eingefügt.<br />
2.2. Lesarten und Varianten<br />
Korrigierende Lesarten:<br />
Siebenter Brief: 22,26 auf den Boulevards] auf dem Boulevards E.<br />
3. Quellen, Folien, Anspielungshorizonte<br />
Gattungsfolien:<br />
Ludwig Börne: Briefe aus Paris (von 1831 bis 1834, insgesamt 115<br />
Briefe; als Buchveröffentlichung: 2 Bde, Hamburg: Hoffmann und<br />
Campe, 1832 [Briefe 1830-31]; Paris: Brunet, 1833 [Briefe 1831-<br />
32]; 2 Bde, Paris: Brunet, 1834 [Briefe 1832-34]).<br />
Heinrich Heine: Französische Zustände. Hamburg: Hoffmann und<br />
Campe, 1833 (die Vorrede dazu getrennt, Leipzig: Heideloff und<br />
Campe, 1833) und ders.: Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und<br />
Volksleben (ab 1840 und damit zeitgleich zu Gutzkows Briefen in<br />
der „Allgemeinen Zeitung“, Augsburg).<br />
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BRIEFE AUS PARIS (APPARAT)<br />
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Anspielungshorizonte:<br />
Die kulturelle, soziale und politische Situation Frankreichs in der<br />
zweiten Hälfte der Julimonarchie unter dem ‚Bürgerkönig‘ Louis<br />
Philippe (so genannt nach der Julirevolution von 1830).<br />
Die städtische Situation von Paris mit ihrer noch weitgehend mittelalterlichen<br />
Innenstadt und der (vor allem in hygienischer Hinsicht<br />
defizitären) Infrastruktur vor den Urbanisierungsmaßnahmen der<br />
fünfziger Jahre, der sogenannten ‚Hausmannisierung‘.<br />
Die Situation der Literatur, vor allem im Blick auf Victor Hugo und<br />
George Sand, das Pressewesen, die Formen der Öffentlichkeit und<br />
die Diskussion intellektueller Vorbilder für die deutsche Situation.<br />
Die Situation des Theaters in Frankreich im Kontrast zu Deutschland<br />
einschließlich ihrer materiellen Seite im weiteren Sinne (Stücke,<br />
Einnahmen, Bühnenbilder und Inszenierungen, Sprechweise, berühmte<br />
Schauspieler).<br />
Die unmittelbare politische Situation unter der Regierung Guizot, die<br />
Algerienfrage, die Arbeiterbewegung einschließlich der sozialen<br />
Utopiebewegungen und die Rolle der politisch-parlamentarischen<br />
Institutionen (Abgeordnetenversammlung, Pairs-Kammer) sowie<br />
ihrer Protagonisten im Kontrast zu Deutschland<br />
4. Entstehung<br />
4.1. Dokumente zur Entstehungsgeschichte<br />
4.2. Entstehungsgeschichte<br />
Überlegungen Gutzkows, eine Paris-Reise zu unternehmen, hat es<br />
offenbar bereits in den dreißiger Jahren gegeben. Diese Absicht wurde<br />
sicherlich verstärkt dadurch, dass sich nach der Julirevolution von<br />
1830 (→ Lexikon) zahlreiche Deutsche für kürzere oder längere Zeit<br />
dort aufhielten – nicht zuletzt Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle,<br />
die diesen Aufenthalt anschließend publizistisch verwerteten –,<br />
sowie unmittelbar durch den Bruch mit Heine, der sich als Folge von<br />
dessen 1840 erschienenem Börne-Buch ergeben hatte. Sowohl Börne<br />
als auch Heine, daneben aber zahlreiche weitere, vor allem mit kleineren<br />
Stadtschilderungen hervorgetretene Autoren waren nach 1830<br />
Referenzpunkte der literarisch-publizistischen Parisschilderung für<br />
deutsche Leser, während zeitgleich Balzac und George Sand im Be-<br />
© EDITIONSPROJEKT KARL GUTZKOW, THOMAS BREMER, HALLE 2001 (F. 1.0)
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reich des Romans, Lamartine und Hugo in der Lyrik und im Theater zu<br />
Modellen literarischen Schreibens auch in Deutschland geworden<br />
waren. Meldungen wie Korrespondentenberichte etwa aus dem Pariser<br />
Theater- und Modeleben erfreuten sich daher – neben der Schilderung<br />
des politischen Lebens, das mit den deutschen Verhältnissen so stark<br />
kontrastierte, und dem Referat neu erschienener literarischer Werke –<br />
in allen Journalen einer intensiven Leseraufmerksamkeit.<br />
Vor diesem Hintergrund ist Gutzkows Parisreise von März bis Mai<br />
1842 zu verstehen. Der erste der Briefe aus Paris ist vom 4. März, der<br />
29. und letzte vom 2. Mai 1842 datiert; Gutzkows Aufbruch (aus Hamburg)<br />
wird unter anderem auch durch eine vom 1. März 1842 stammende<br />
und am 11. März in der „Allgemeinen Theater-Chronik“ in<br />
Leipzig erschienene Notiz dokumentiert, die wegen einer längeren<br />
Abwesenheit alle Leser bittet, sich in Gutzkow betreffenden Angelegenheiten<br />
in dieser Zeit an den Souffleur Wolff in Berlin zu wenden.<br />
(Vgl. Rasch 3.42.03.11.1) Die ersten vier der Briefe aus Paris thematisieren<br />
die Reise (mit den Stationen Hannover, Köln, Aachen, Brüssel);<br />
mit dem fünften, auf Gutzkows 41. Geburtstag datierten Brief setzen<br />
die eigentlichen Schilderungen aus Paris ein.<br />
Auffallend ist, dass Gutzkow diese Texte nicht zunächst abschnittoder<br />
briefweise als Journalbeiträge drucken ließ, sondern dass der<br />
Erstdruck (wie auch bereits im Falle der gleich betitelten „Briefe aus<br />
Paris“ von Börne) sofort als Gesamttext in Buchform, nämlich als<br />
zweibändige Ausgabe bei Brockhaus in Leipzig erschien, versehen mit<br />
einem Anhang. Frankfurt a. M. den 15. August 1842. Bereits vier Jahre<br />
später (1846) übernahm Gutzkow diesen Gesamttext der Briefe,<br />
redigiert (und dabei vor allem in der Adjektivierung mancher Schilderungen<br />
zurückgenommen) sowie um die Pariser Eindrücke erweitert,<br />
als eigenständigen Band in die erste Werkausgabe (→ Drucke, A). Zu<br />
dieser Zeit erschienen die (bereits vor Gutzkows Reise begonnenen)<br />
Pariser Korrespondentenberichte Heines weiterhin in der Augsburger<br />
„Allgemeinen Zeitung“, also in Journalform.<br />
5. Rezeption<br />
5.1. Dokumente zur Rezeptionsgeschichte<br />
→ Vorläufig summarische Nennung unter Rezeptionsgeschichte.<br />
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5.2. Rezeptionsgeschichte<br />
Vor diesem Hintergrund verwundert ein gewisser Skandalerfolg nicht,<br />
den Gutzkows Briefe sofort nach Erscheinen hatten. Pariser Korrespondenten<br />
der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“ protestierten gegen<br />
Gutzkows Schilderung („Leipziger Allgemeine Zeitung“, 22. November<br />
1842 und „Allgemeine Zeitung“, 25. November 1842), so dass sich<br />
Gutzkow zu einer Entgegnung genötigt sah („Leipziger Allgemeine<br />
Zeitung“, 7. Dezember 1842 und „Telegraph für Deutschland“, 16.<br />
Dezember 1842; Rasch 3.42.11.22 bzw. 3.42.12.07).<br />
Insgesamt löste Gutzkows Text eine breite Rezeption von zumeist<br />
uneinheitlichen, häufig polemischen, teilweise auch aufeinander polemisch<br />
reagierenden Kritiken aus (vgl. Rasch 14.24). An umfangreicheren<br />
Besprechungen bekannterer Autoren sind diejenigen von Willibald<br />
Alexis, Heinrich Laube, Gustav Kühne und Georg Jung erwähnenswert;<br />
hervorzuheben ist auch, dass sich die französische wie die englische<br />
Presse (mit Besprechungen im „Courrier français“, in der<br />
„France“ und, am umfangreichsten wie vom Publikationsort her am<br />
prominentesten, in der „Revue des Deux Mondes“ sowie in der<br />
„Foreign Quarterly Review“) in die Debatte einschaltete.<br />
Ein spektakulärer ökonomischer Erfolg waren die Briefe aus Paris<br />
jedoch eindeutig nicht. Von der Auflage von insgesamt 1500 Exemplaren<br />
waren 1867, also 25 Jahre nach dem Erstdruck, noch 148 Exemplare<br />
unverkauft, weitere fünf Jahre später ging der Rest von 129 broschierten<br />
Exemplaren an den Verleger der letzten Werkausgabe zu<br />
Gutzkows Lebzeiten, Costenoble in Jena (vgl. Rasch 2.24).<br />
6. Kommentierung<br />
6.1. Globalkommentar<br />
Gutzkow hat sich bei mehreren Gelegenheiten in Paris aufgehalten;<br />
das Corpus seines Gesamtwerks verzeichnet insgesamt fünf größere<br />
zusammenhängende Textgruppen, in denen er sich intensiv mit Paris<br />
und Frankreich auseinander gesetzt hat, nämlich 1. im „Zeitgemälde“<br />
Frankreich im Jahre 1834, 2. in den Briefen aus Paris (1842), der mit<br />
Abstand umfangreichsten und bekanntesten Thematisierung seiner<br />
Pariserfahrungen, sowie 3. kurz darauf mit den Pariser Eindrücken von<br />
1846 und dann – mit einem gewissen Abstand, in dem sich auch der<br />
Gegenstand, Paris und Frankreich, entscheidend verändert hatten – 4.<br />
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bzw. 5. mit den Skizzen Nach dem Zweiten December (dem Datum des<br />
Staatsstreichs) von 1852 und Durch Frankreich im Jahre 1874. (→<br />
Drucke, B)<br />
Der Kontinuität dieser vierzig Jahre umfassenden Textproduktion<br />
muss man notwendigerweise nicht nur den radikalen Wandel der politischen<br />
Verhältnisse, sondern auch die komplette Verwandlung des<br />
Pariser Stadtbildes korrelieren. Die drei ersten Textkorpora befassen<br />
sich mit den Verhältnissen unter der Julimonarchie des ‚Bürgerkönigs‘<br />
Louis Philippe und mit seiner Politik, die vor allem die Banken und<br />
den Handel, also das Kapital favorisiert (gegenüber dem zuvor politisch<br />
wie wirtschaftlich dominanten altadligen Großgrundbesitz). Die<br />
ersten drei Textsammlungen sind nach 1830, aber vor 1848 entstanden,<br />
wobei unter innenpolitischem Gesichtspunkt gerade 1834 und<br />
1842 wichtige Wendedaten der Julimonarchie markieren. Aus der<br />
Epoche um 1848 gibt es keine Texte Gutzkows aus unmittelbarer Anschauung.<br />
Der Text Nach dem Zweiten December bezeichnet die Verhältnisse<br />
nach dem Staatstreich Louis Napoléons, des Neffen des<br />
ersten Napoleon, im Dezember 1851, aber noch vor dessen Selbstproklamation<br />
zum Kaiser Napoleon III. Der fünfte Text, Durch Frankreich<br />
im Jahre 1874, bezieht sich auf die Epoche nach Napoleon III.: Der<br />
Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 führt bekanntlich dazu, dass<br />
der französische Kaiser abdankt und ins Exil geht und Frankreich –<br />
ironischerweise unmittelbar durch die Hohenzollern – seither Republik<br />
ist; der Text besichtigt gewissermaßen die Provinz des soeben besiegten<br />
Gegners.<br />
Wichtig ist aber auch zu sehen, dass sich das Paris, das Gutzkow<br />
schildert, zwischen den Texten vor 1848 und nach 1848 völlig gewandelt<br />
hat, bzw. dass die von Gutzkow in den Briefen aus Paris geschilderte<br />
Stadt mitnichten mit der Topographie von heute übereinstimmt.<br />
Gutzkow schildert noch die im Grunde mittelalterliche Stadt, die kurz<br />
darauf im Zuge der ‚Hausmannisierung‘ nahezu vollständig beseitigt<br />
und durch die großen Boulevards und die Prachtgebäude des Second<br />
Empire (mit dem Zentralstück der Oper Garniers) ersetzt wird. Das<br />
Paris der Gutzkow’schen Briefe liegt damit zeitlich auch noch vor<br />
Baudelaires Schwan, der vom Rinnstein aus die neuerrichteten Teile<br />
des Louvre betrachtet und dabei ausruft: „Hélas!, le vieux Paris n’est<br />
plus“. („Le Cygne“, Erstdruck Januar 1860; vgl. zum Kontext Wolf-<br />
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gang Fietkau: Schwanengesang auf 1848. Ein Rendezvous am Louvre:<br />
Baudelaire, Marx, Proudhon und Victor Hugo. Reinbek 1978)<br />
Zumindest drei große Themen lassen sich in Gutzkows Schilderungen<br />
als durchgängig behandelt identifizieren:<br />
1. die Institutionalisierungsformen der Politik (die Schilderung der<br />
Parlamentssitzungen, die informellen Kontakte der Politiker, die Rolle<br />
der Opposition), ein Thema, das natürlich gerade auch vor der Folie<br />
(fehlender) deutscher Parallelerfahrungen interessant sein musste;<br />
2. das Sprechtheater, seine Inhalte (Stücke, Erfolgsthemen), Repräsentationsformen<br />
(Regiedarbietungen, Schauspieler, Gebäude, Direktoren)<br />
und Veränderungen (Artikulationsveränderung, Wandel des<br />
Bühnen- und Ausstattungsgeschmacks), ein Thema, das in Gutzkow<br />
immer wieder auch den theaterpraktisch Interessierten erkennen lässt,<br />
sowie<br />
3. die Rolle der Schriftsteller und Intellektuellen in der Gesellschaft.<br />
Vor allem die Punkte 1 und 2 kommen in den hier abgedruckten<br />
Briefen deutlich zur Geltung.<br />
Thomas Bremer: Gutzkows Briefe aus Paris, die Wahrnehmung der<br />
Großen Stadt und die Umstrukturierung intellektueller Öffentlichkeitserfahrung.<br />
In: Gustav Frank / Detlev Kopp (Hgg.): Gutzkow<br />
lesen! Bielefeld 2001, S. 207-226.<br />
Johann Friedrich Geist: Passagen, ein Bautyp des 19. Jahrhunderts.<br />
3., erg. Aufl. München 1979.<br />
La Grande Encyclopédie. Inventaire raisonné des sciences, des lettres<br />
et des arts par une société de savants et de gens de lettres sous la<br />
direction de MM. Berthelot [...]. Paris: Lamirault, o. J. [ca. 1885].<br />
Grand Dictionnaire Universel français, historique, géographique,<br />
biographique, mythologique, bibliographique, littéraire, artistique,<br />
scientifique, etc. [...] par Pierre Larousse.<br />
France. Dictionnaire encyclopédique. Par M. Ph. Le Bas (=<br />
L’Univers, ou Histoire et déscription de tous les peuples, de leurs<br />
réligions, mœurs, coutumes, etc.: Dictionnaire encyclopédique de<br />
l'histoire de France). Paris: Firmin Didot, 1840-45. Unter leicht<br />
variierendem Titel in Lieferungen erschienenes Lexikon in 12 Bden,<br />
sowie parallel dazu erschienene „Annales historiques", 2 Bde,<br />
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1840-43 (für die Zeit bis 1830 mit fortlaufendem Text; von 1830 bis<br />
1841 nur Datentafeln) und 3 Bde Kupferstiche, 1845.<br />
Gilbert Ziebura: Frankreich 1789-1870. Entstehung einer bürgerlichen<br />
Gesellschaftsformation. Frankfurt, New York 1979.<br />
6.2. Einzelstellenerläuterungen (Auswahl)<br />
6.2.1. Erläuterungen zum Fünften Brief<br />
3,3 es ist mein Geburtstag] Gutzkow wurde am 17. März 1811 geboren,<br />
die Ankunft in Paris erfolgt also der Textstelle zufolge an seinem 41.<br />
Geburtstag.<br />
4,7 Conducteur] Schaffner, Platzzuweiser in den Reisekutschen.<br />
4,16 verre d’eau sucrée] Zuckerwasser. Das ganze 19. Jahrhundert<br />
hindurch galt ein Glas Wasser mit aufgelöstem Zucker als typische<br />
Erfrischung mit zugleich beruhigender Wirkung.<br />
5,2 zwei Mal, 1814 und 1815] Der Aufenthalt des Vaters fällt damit in<br />
die letzte Zeit der Herrschaft Napoleons bzw. seiner Rückkehr aus dem<br />
ersten Exil (die „Hundert Tage“), seiner (zweiten, diesmal endgültigen)<br />
Verbannung nach St. Helena und der Rückkehr der Bourbonen an<br />
die Macht. 1815 wird Ludwig XVIII., der Bruder von Ludwig XVI., zum<br />
König gekrönt: der Beginn der sog. „Restaurationsepoche“, die bis<br />
zur Beendigung der Bourbonenherrschaft durch die Revolution von<br />
1830 andauert.<br />
5,4 von Franconi, von einem Hirsch] Franconi ist der Name einer<br />
über mehrere Generationen berühmten Zirkusfamilie im Paris des 19.<br />
Jahrhunderts. In erster Generation (Antonio Franconi) bereits zur Zeit<br />
der Revolution aktiv und schon zu dieser Zeit für Pferdedressurnummern<br />
bekannt (Übernahme der Reitschule von Astley am Eingang des<br />
damaligen Faubourg du Temple 1793), ist der Name sowohl mit dem<br />
verheerenden Pariser Zirkusbrand vom März 1826 als auch mit der<br />
Wiedererrichtung des „Cirque Olympique“ sowie der Errichtung des<br />
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VIII-39<br />
(im Prinzip noch heute bestehenden) „Cirque d’hiver“ (Winterzirkus)<br />
verknüpft. In den letzten Jahren Napoleons und den ersten der Restauration<br />
waren ‚die Franconis‘ vor allem für die Dressur nicht nur von<br />
Pferden, sondern auch von Hirschen und Elefanten berühmt, darunter<br />
– worauf sich die Erzählung von Gutzkows Vater vermutlich bezieht –<br />
ein weißer Hirsch namens Coco. Dieser war seinerzeit, wie auch ein<br />
Elefant namens Baba, ein weit über Paris hinaus bekannter Publikumsmagnet.<br />
7,7-8 in den Champs élysées freuen sich die Pferde] Die Stelle verweist<br />
auf die ersten Bemühungen einer urbanistischen Umgestaltung<br />
von Paris und einer Modernisierung seiner (vor allem auch hygienisch)<br />
unbefriedigenden Infrastruktur, aber auch auf die erste, mit der<br />
Umgestaltung der Innenstadt verbundene Spekulationswelle. Nachdem<br />
das Gelände, auf dem während der Revolution die großen Aufmärsche<br />
und Versammlungen stattgefunden hatten, durch ein Gesetz vom August<br />
1828 aus dem Eigentum der Krone in dasjenige der Stadt übergegangen<br />
war, begann diese nach langer Diskussion 1838 mit der<br />
Umgestaltung des Geländes, wobei die Stadt selbst die Verantwortung<br />
für die Anlage neuer Wege und die Errichtung einer Reihe von Brunnen<br />
übernahm, der Bau von Cafés und Pavillons sowie eines Panoramas<br />
und des ‚Winterzirkus‘ hingegen privaten Interessenten überlassen<br />
wurde. Seit dieser Zeit war es auch höchst modern, seine Wohnung in<br />
der Nähe der Champs Elysées zu haben. Der Spaziergang bzw. der<br />
Ausritt dort (vgl. auch die Schilderung nur eine Seite später, 8,23),<br />
aber auch in dem von Gutzkow erwähnten Garten des Palais royal,<br />
und das Flanieren auf den ersten Boulevards gehört seit den späten<br />
dreißiger Jahren zu den typischen, zahlreich dokumentierten Sonntagsbeschäftigungen<br />
der Pariser Bevölkerung.<br />
9,21 find’ ich le Cid angekündigt] „Le Cid“ ist eine „tragi-comédie“<br />
von Pierre Corneille, uraufgeführt im Dezember 1636, und eines der<br />
entscheidenden Theaterstücke der französischen Klassik. Thematisch<br />
beruht es auf spanischen Vorbildern, konzentriert aber eine eigenständige<br />
Handlung entsprechend den poetologischen Normen der französischen<br />
Klassik auf eine Handlungszeit von 24 Stunden. Auslöser des<br />
dramatischen Konfliktes ist die Ernennung eines neuen Prinzenerzie-<br />
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hers am Hofe. Don Gomez, der Vater von Chimène (von Gutzkow immer<br />
wieder erwähnt, weil bei der Aufführung von Rachel gespielt) ist<br />
empört, weil ihm Don Diège als Prinzenerzieher vorgezogen wird. Er<br />
beleidigt Don Diège, dessen Sohn – der mit Chimène verlobte Rodrigue<br />
– den Normen der Ehrenrettung gemäß im Auftrag seines Vaters<br />
die Beleidigung rächt und dabei den Vater seiner Verlobten im Duell<br />
tötet. Damit gerät aber Chimène in einen Normkonflikt ohne Ausweg:<br />
Einerseits muss sie die Tat ihres Verlobten, der aus Ehrgründen handelt,<br />
billigen, andererseits die Ermordung ihres Vaters aus demselben<br />
Grunde rächen. Obwohl Rodrigue inzwischen die Mauren besiegt und<br />
damit für die Interessen des Königs und des Reichs gekämpft hat, verlangt<br />
Chimène normgemäß vom König seinen Tod. Ein weiteres Duell,<br />
dessen Sieger Chimène für sich gewinnen wird, soll die Entscheidung<br />
bringen. Rodrigue gewinnt, schenkt dem Unterlegenen das Leben und<br />
hat damit allen Anforderungen der Ehre Genüge getan. Mit Billigung<br />
des Königs kann daher nach einer angemessenen Trauerzeit die ursprünglich<br />
geplante Hochzeit der Liebenden – Chimène und Rodrigue<br />
– stattfinden. Diese Darstellung des Konflikts zwischen individuellen<br />
Glücks- und gesellschaftlichen Ehransprüchen und seine Auflösung in<br />
einem ‚Happy End‘ ist bei den Gattungsnormen des klassischen französischen<br />
Theaters höchst ungewöhnlich.<br />
9,21 Dem. Rachel Chimêne] ,Die Rachel‘, Schauspielerin (1821-58),<br />
eigentlich Elisa Félix. Seit ihrer Jugend trat sie unter dem – auf ihre<br />
jüdische Herkunft anspielenden – Künstlernamen Rachel auf; Dem. ist<br />
die Abkürzung für ‚Demoiselle‘. Sie ist die mit Abstand prominenteste<br />
Schauspielerin im Frankreich der Julimonarchie und bis zum Auftreten<br />
von Sarah Bernhardt die bekannteste Tragödin, ja im Grunde der<br />
Prototyp der Schauspielerin bis fast ans Ende des 19. Jahrhunderts.<br />
Bereits seit den späten dreißiger Jahren gehörte sie zu den Stars des<br />
Théâtre Français, vor allem im klassischen, aber auch im zeitgenössischen<br />
Repertoire. Im Laufe ihrer Karriere (die bereits Ende 1855 infolge<br />
einer Lungenkrankheit endete) spielte sie nahezu alle großen<br />
Frauenrollen in den Stücken von Corneille, Racine, Molière, aber auch<br />
von Dumas, Hugo und den in den vierziger Jahren berühmten Dramatiker(inne)n<br />
Augier, Soumet und Mme de Girardin. Im Pariser Theaterleben<br />
war sie wegen ihrer plötzlichen Absagen und Änderungen als<br />
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eine frühe ‚Diva‘ berüchtigt, aber auch wegen ihrer künstlerischen<br />
Skrupelhaftigkeit, ihrer exakten Rollenvorbereitung und ihres Lampenfiebers<br />
vor jedem Auftritt berühmt. Auffallend war ihr Sprachduktus,<br />
der sich in den klassischen Rollen, der Bühnentradition des<br />
Théâtre Français folgend, ausschließlich auf die Sprache, d. h. auf<br />
eine bewegungs- und emotionsarme, statuarische Versdeklamation an<br />
der Bühnenrampe konzentrierte und damit im Gegensatz zu den<br />
Grundsätzen einer auf die Handlung ausgerichteten, aktionsreichen<br />
und schnelle Repliken bevorzugenden romantischen Bühnenästhetik<br />
stand. Eine zwangsläufige Folge dieser Entscheidung war die Kälte<br />
der Rachel, die Gutzkow bemängelt und die auch den französischen<br />
Zeitgenossen bewusst war. Théophile Gautier beschreibt ihre Posen<br />
und Gesten als „von eher skulpturaler Art“. Sie hätten sich stets „in<br />
eine Folge von Standbildern“ aufgelöst und ihr weißer Köper sei „wie<br />
aus griechischem Marmor gemacht“ gewesen: „Gelegentlich warf<br />
man ihr sogar vor, ihr fehle es an Gefühl [...]; Mlle Rachel war kalt<br />
wie die Antike, die den übertriebenen Ausdruck von Gefühlen indezent<br />
fand [...] Sie hatte daher recht darin, nicht, wie man sagt, ‚Tränen in<br />
der Stimme‘ zu haben und den Alexandriner mit der modernen Gefühlsduselei<br />
zu verzittern und zu vermeckern" (Art. „Rachel“. In: Larousse,<br />
Bd. 13, S. 605, Sp. 1). Kurz bevor Gutzkow sie sah, hatte sie<br />
eine unerhört erfolgreiche Tournee durch England absolviert, bei der<br />
ihr – Ausweis ihrer zunehmend auch über Frankreich hinaus wirkenden<br />
Berühmtheit – Königin Victoria ein Armband mit gravierter Widmung<br />
geschenkt hatte. (In den fünfziger Jahren war Rachel dann die<br />
erste französische Schauspielerin, die – mit französischen Stücken – eine<br />
Gastspielreise nach Amerika wagte.) Zur Zeit der Revolution von 1848<br />
wurde ihr Vortrag der Marseillaise als quasi inszeniertes Theaterstück<br />
berühmt. Ihr Auftreten als Chimène im „Cid“ war die erste Premiere des<br />
Jahres 1842 (erste Vorstellung am 19. Januar 1842). Gutzkow sah also<br />
eine der Reprisen nach acht Wochen Laufzeit der Produktion.<br />
11,27-29 Act 5, Scene 1 [...] me fait rougir de honte] Die Stelle bezieht<br />
sich auf das Duell zwischen Rodrigue und Don Sanche, an dessen<br />
Ende der Sieger Chimène heiraten soll. Übersetzt lautet die Stelle:<br />
„Sei Sieger eines Kampfs, bei dem Chimène der Preis. / Adieu: dies<br />
feige Wort lässt mich vor Scham erröten“.<br />
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13,2 Ligier] Pierre Ligier (1797-1872), ebenfalls ein berühmter Schauspieler<br />
der Zeit, wenngleich deutlich älter als Rachel. 1820 hatte er<br />
seine Karriere am Théâtre Français begonnen, war dann an zahlreichen<br />
anderen Theatern tätig (auch in Bordeaux und anderen Städten).<br />
Eine seiner bekannten Rollen war die des Marino Faliero in Casimir<br />
Delavignes gleichnamigem Stück, das Gutzkow wenige Jahre darauf<br />
als Vorlage für ein eigenes Drama diente. Während der gesamten<br />
Julimonarchie und bis zum Staatsstreich Napoleons III. gehörte Ligier<br />
zu den prominentesten Schauspielern der Comédie Française, sowohl<br />
in den klassischen Dramen Corneilles und Racines als auch in den<br />
Stücken vor allem Victor Hugos; dort u. a. als Hauptperson in der<br />
einzigen Aufführung von „Le roi s'amuse“, dem bekanntesten Zensurfall<br />
der Julimonarchie. Nach dem Staatsstreich zog er sich aus allen<br />
staatlichen Theatern zurück.<br />
13,14-15 mir sehr lieb gewordener Schauspieler ist Guyon] Georges<br />
Guyon (1809-50), ebenfalls (seit 1838), wenn auch nur für wenige<br />
Jahre, an der Comédie Française. Ansonsten jedoch besaß er einen<br />
Namen als ‚Boulevard-Schauspieler‘, d. h. er spielte in den ‚leichteren‘<br />
(zumeist Erfolgs-)Stücken der Theater an den großen Boulevards,<br />
den Stätten der so genannten ‚melodramatischen Gattung‘. Gutzkows<br />
Bevorzugung von Guyon als Schauspieler ist gewissermaßen die logische<br />
Entsprechung zu seiner Enttäuschung von der Rachel und seiner<br />
Distanz zur Ästhetik der traditionellen Versdeklamation des Théâtre<br />
Français.<br />
14,9 As-tu peur de mourir?] „Hast Du Angst zu sterben?“<br />
14,18-21 war der Applaus von specieller Bedeutung [...] le nombre des<br />
années] In den Theatervorstellungen des 19. Jahrhunderts war es in<br />
Paris (aber natürlich auch anderswo) gängige Praxis, an Stellen, die<br />
sich als Anspielung auf aktuelle Ereignisse – vor allem auf die jeweilige<br />
politische Situation – verstehen ließen, laut zu applaudieren und<br />
damit eine politische Stellungnahme auszudrücken. Im Einzelfall<br />
konnte dies zur Auseinandersetzung innerhalb des Publikums, insbesondere<br />
zwischen dem (zumeist billigeren, nur mit Stehplätzen versehenen)<br />
Parkett und den (dem reicheren Abonnenten-Publikum<br />
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vorbehaltenen) Rängen führen. Die berühmte ‚Hernani-Schlacht‘ von<br />
1830 nach dem Stück von Victor Hugo, die als eines der zentralen<br />
Daten für die Durchsetzung der literarischen Prinzipien der Romantik<br />
im Theater gilt, entzündete sich zeitgenössischen Darstellungen zufolge<br />
u. a. an dem Vers: „Was ist die Stunde? – Mitternacht“ und dem Zwischenruf<br />
aus dem Publikum: „Was? Ein König fragt nach der Uhrzeit<br />
wie ein einfacher Bürger?“ – Aus Gutzkows Bericht geht hervor, dass<br />
zunächst der liberale Teil des Publikums klatscht, während der Versuch<br />
des konservativen Teils, den Vers „Und wenn ein König befiehlt,<br />
so hat man ihm zu folgen“ (14,31) durch Klatschen hervorzuheben, im<br />
Zischen endet. – Je suis jeune, il est vrai [...] le nombre des années:<br />
„Ich bin jung, das ist wahr, doch bei edlen Seelen / Wartet der Wert<br />
nicht auf die Zahl der Jahre“.<br />
14,23-27 Sortir d’une bataille [...] en vous la racontant] „Aus einer<br />
Schlacht zu kommen und dann sofort zu kämpfen“ bzw. „Rodrigue hat<br />
Luft geholt, indem er es erzählte“.<br />
14,31 Et quand un roi commande, on lui doit obéir] „Und wenn ein<br />
König befiehlt, so hat man ihm zu folgen“ → Erläuterung zu 14,18-21.<br />
6.2.2. Erläuterungen zum Sechsten Brief<br />
16,3 Guizot] François Guizot (1787-1874; → Lexikon), eigentlich<br />
Historiker und Professor an der Sorbonne, ist einer der wichtigsten<br />
Politiker Frankreichs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und<br />
einer der zentralen politischen Repräsentanten der Julimonarchie.<br />
Bereits unmittelbar nach der Julirevolution war er für kurze Zeit an<br />
der Regierung, dann nach dem Tod Périers 1832 Unterrichtsminister<br />
und von 1840 bis zur Revolution von 1848 (also auch zum Zeitpunkt<br />
von Gutzkows Zusammentreffen mit ihm) Außenminister; zuletzt seit<br />
1847 auch Regierungschef.<br />
17,7 Casimir Perier] Casimir Périer (1777-1832), Bankier und Politiker.<br />
Bereits vor der Julimonarchie, nämlich schon seit 1817, war er<br />
Abgeordneter; zu diesem Zeitpunkt der Opposition zuzurechnen. In<br />
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seiner Doppelfunktion als Politiker und Bankier und wegen zahlreicher<br />
Interessenüberschneidungen zwischen den Funktionen wurde er von<br />
der Opposition der dreißiger Jahre häufig und heftig als typischer<br />
Repräsentant der Julimonarchie attackiert. 1831/32 war er Ministerpräsident<br />
und Innenminister vor der Regierung Thiers. Eine skeptische<br />
Einschätzung findet sich bei Börne schon anlässlich von Périers Ernennung<br />
im Kontext der berühmten Stelle (42. Brief aus Paris, 15.<br />
März 1831): „In Deutschland war ich schon längst der einzige gescheite<br />
Mensch [...]. Und mit Ärger sehe ich jetzt ein, daß ich hier<br />
auch der einzige gescheite Mensch bin“: „Und die Narren hier reden<br />
sich jetzt ein, Casimir Périer würde ihnen Rosen und Veilchen pflanzen,<br />
und sie würden ein Schäferleben führen und den ganzen Tag oben<br />
auf dem reinen Hügel der Renten stehen und singen und hinabschauen<br />
in das grüne Tal, wo das grasende Lämmervolk springt.“ (Ludwig<br />
Börne: Briefe aus Paris. Hg. v. Alfred Estermann, Frankfurt/M. 1986,<br />
S. 206) Eine umfangreiche Schilderung von Périers Regierungszeit<br />
findet sich auch in Heines „Französischen Zuständen“, wo er mehrfach<br />
als mit einem „kläglichen, krämerhaften Verstand“ beschrieben<br />
wird: „Wie gebannt von einem unheimlichen Zauber stand ich jüngst<br />
eine Stunde lang neben ihm, und betrachtete diese trübe Gestalt, die<br />
sich zwischen den Völkern und der Sonne des Julius so kühn gestellt<br />
hat. Wenn dieser Mann fällt, dachte ich, hat die große Sonnenfinsternis<br />
ein Ende, und die dreifarbige Fahne auf dem Pantheon erglänzt wieder<br />
begeistert, und die Freiheitsbäume erblühen wieder! Dieser Mann ist<br />
der Atlas, der die Börse und das Haus Orléans und das ganze europäische<br />
Staatengebäude auf seinen Schultern trägt, und wenn er fällt, so<br />
fällt die ganze Bude, worin man die edelsten Hoffnungen der Menschheit<br />
verschachert, und es fallen die Wechseltische, und die Kurse, und<br />
die Eigensucht und die Gemeinheit!“ (Heinrich Heine, Französische<br />
Zustände. In: SSB, Bd. 3, S. 141)<br />
6.2.3. Erläuterungen zum Siebenten Brief<br />
22,5-9 Man flüchtet sich in die Passagen, ins Palais-Royal [...] Vefour,<br />
den Rocher de Cancale] Die Passagen, der „Bautyp des 19. Jahrhunderts“<br />
(Walter Benjamin), waren seit den zwanziger Jahren zuneh-<br />
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mend in Mode gekommen und verbanden mittels eines glasüberdachten<br />
und damit weitgehend witterungsunabhängigen Durchgangs zwei<br />
Straßenzüge miteinander. Passagen wurden damit zu einer Abkürzung,<br />
zu einem (bis zu den Surrealisten immer wieder beschworenen) sozialen<br />
Treffpunkt, vor allem aber auch zum Umschlagplatz von Waren,<br />
vor allem von Luxusgütern. Eine der frühesten und wichtigsten Passagen<br />
war die Verbindung zwischen der Rue Saint-Honoré und den Tuilerien,<br />
eine spätere die noch bei Aragon geschilderte Passage de<br />
l’Opéra. Die Passage des Panoramas, „wo man abends gern vermeidet<br />
hindurchzugehen, wenn man eine Dame am Arm führt“, gehörte zu<br />
Heines Lieblingsspaziergängen, wie August Lewald berichtet: „Heine<br />
schlenderte hier auf und ab, die Hände in den Taschen, den Kopf in<br />
den Nacken geworfen, mit aufgesetzter Brille. Hier beobachtete er das<br />
Pariser Treiben“ (August Lewald: Ein Menschenleben. In: Gesammelte<br />
Schriften, Bd 6, Leipzig 1844, S. 57; vgl. Geist, S. 262 ff.). Im<br />
„Romanzero“ heißt es über die dort gelegene Schokoladenhandlung<br />
Marquis: „Mit chinesisch eleganten / Arabesken, wie die hübschen /<br />
Bonbonnieren von Marquis / Im Passage Panorama.“ (Heinrich Heine:<br />
Jehuda ben Halevy. IV, 17-20. In: SSB, Bd. 6/1, S. 149) Im Idealfall<br />
ist – mit Geists Formulierung – die Passage ein „Straßenraum mit<br />
Außenfassade“, die sich dieses illusionistischen Mittels bedient, „um<br />
dem Passanten nie das Gefühl zu geben, einen Innenraum zu betreten,<br />
denn einen Innenraum betritt man immer mit einem Ziel, einer erkennbaren<br />
Absicht“ (Geist, S. 32-33). Diese Struktur macht die Passage<br />
zum idealen Ort des Flanierens, nicht zuletzt – wie bei Gutzkow – im<br />
Falle von schlechtem Wetter. Zugleich wird sie aber auch zum Prototyp<br />
einer neuen, nicht mehr an die aristokratischen Salons und eine<br />
soziale Stellung gebundenen Öffentlichkeit, die es erlaubt, in voller<br />
Anonymität betrachtend am städtischen Leben teilzuhaben und gegebenenfalls<br />
– vergleichsweise unbeobachtet – in es einzugreifen. Für<br />
den Erfolg der Passage kommt es daher darauf an, ihr „den ganzen<br />
Tag hindurch ein Eigenleben zu garantieren, das dem einer Straße<br />
gleicht. Etablissements zur Unterhaltung, zur Befriedigung kulinarischer<br />
Bedürfnisse und kultureller Ambitionen gehören in die Passage,<br />
um aus dem Passanten einen Benutzer zu machen und um im öffentlichen<br />
Leben der Stadt unentbehrlich zu werden. Im idealen Fall muß<br />
die Passage kaleidoskopartig das Ganze der Stadt im Kleinen wieder-<br />
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geben“ (Geist, S. 32). – Schon zuvor waren jedoch die unzähligen<br />
Galerien, Höfe und Arkaden des Palais Royal mit ihren Geschäften,<br />
Ateliers, Cafés, Theatern und Spielsälen ein Zentrum des Flanierens<br />
gewesen, zumal sich in seiner Umgebung auch die Mehrzahl der Lesekabinette<br />
sowie zahlreiche Cafés und Restaurants befanden, deren<br />
Besuch vor allem nach ca. 1820 zunehmend in Mode gekommen war.<br />
Bereits Börne erwähnt mehrfach die Lesekabinette, in denen man (vor<br />
allem auch fremdsprachige) Zeitungen lesen konnte. Stendhal berichtet,<br />
wie er insgesamt neun Jahre lang jeden Morgen in Begleitung<br />
seines Freundes Lussinge im Café de Rouen gefrühstückt habe und<br />
dann, als er dessen Begleitung überdrüssig war, ins Café Lemblin<br />
wechselte, „das berühmte liberale Café“, im Palais Royal gelegen.<br />
(Vgl. Stendhal: Souvenir d’égotisme. In: Œuvres intimes. Hg. v. Vittorio<br />
del Litto, 2 Bde, Paris 1981-82, Bd. 2, S. 438) Das ist der Grund,<br />
weshalb Gutzkow davon spricht, es seien Oerter, wo man sich Rendezvous<br />
gibt; die in der Folge erwähnten sind die wichtigsten Speiserestaurants,<br />
wo man sich abends treffen konnte und wo vor allem<br />
zahlreiche Pariser Schriftsteller, Komponisten und Intellektuelle verkehrten.<br />
Sie alle waren in der Umgebung des Palais Royal gelegen.<br />
22,13-19 So unregelmäßig Paris gebaut ist [...] Im Gewühl der engen<br />
Straßen] Hier wird nochmals deutlich, dass Gutzkow von dem Paris<br />
vor der ‚Hausmannisierung‘ spricht. Nicht zuletzt unter dem Eindruck<br />
der Revolutionen von 1830 und 1848, bei denen Barrikaden aus wenigen<br />
Baumstämmen und Steinen genügten, um ganze Straßenzüge zu<br />
blockieren und unter die Kontrolle der Aufständischen zu bringen, kam<br />
es bei der Neuplanung darauf an, gerade diese Enge der (in der Anlage<br />
weitgehend noch mittelalterlichen) Straßen so weit wie möglich zu<br />
beseitigen. Die Stadt wurde dadurch nicht nur ‚moderner‘ und leichter<br />
passierbar, sondern einfach auch militärisch besser kontrollierbar.<br />
22,29-23,2 „Pardon, vous êtes Monsieur Albert? [...] als sich beim Nachforschen<br />
bestätigen möchte.] Die Technik der „hirondelles“ („Schwalben“),<br />
d. h. der Straßenprostituierten, einen potentiellen Kunden mit<br />
einem beliebigen Namen („Sind Sie Monsieur Albert?“) anzusprechen,<br />
ist vielfach belegt. Der künstliche Irrthum irritiert – weil künstlich<br />
herbeigeführt – nur den Angesprochenen, der den Brauch nicht kennt.<br />
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Die Dame irrt sich doppelt, weil Gutzkow – natürlich – weder Monsieur<br />
Albert ist noch auf das Angebot eingehen möchte. Die ganze<br />
Stelle spielt auf Paris und den Mythos der dort herrschenden erotischen<br />
Freizügigkeit an; die bains chinois („chinesische Bäder“) waren<br />
berühmt für die dort erfolgenden Massagen.<br />
23,6-8 ins Café Foy ein, um den Charivari zu lesen [...] dame du<br />
Comptoir] Das Einkehren in ein Café, um dort eines der ausliegenden<br />
Journale zu lesen, unterstreicht erneut den Charakter der veränderten<br />
Öffentlichkeit. Der „Charivari“ ist mit 2740 Exemplaren Auflage<br />
(1846) zwar nur eines der kleineren, allerdings wegen seiner satirischen<br />
Texte bekanntesten Pariser Journale und vor allem durch die<br />
Karikaturen berühmt, die Daumier in ihm seit 1832 veröffentlichte.<br />
(Vgl. die Auflistung in Claude Bellanger u. a. [Hgg.]: Histoire générale<br />
de la presse française. Bd 2: De 1815 à 1871. Paris 1969, S. 146;<br />
→ auch Die Zeitgenossen, Erläuterung zu 11,34-12,2) Die dame du<br />
Comptoir ist die Kassiererin, häufig die Frau des Inhabers, die – traditionell<br />
erhöht am Ausgang sitzend – die Getränke abkassiert. In der<br />
Julimonarchie war es lange Zeit besonders vornehm, Schokolade zu<br />
trinken.<br />
26,19-22 Der Communismus [...] zwischen den Debats und dem National]<br />
Wie noch mehrfach an anderen Stellen der Briefe aus Paris<br />
spricht Gutzkow hier erstmals die Problematik der Arbeitslosigkeit<br />
(Tagelöhner, die auf dem Grêve-Platz stehen und noch nicht wissen,<br />
wovon sie den Tag leben sollen) und der sozialen Bedürftigkeit erheblicher<br />
Bevölkerungsschichten an. Aus diesen werden sich 1848 große<br />
Teile der Pariser Aufständischen rekrutieren. Die weit verbreitete Armut<br />
bringt gerade während der Julimonarchie eine Vielfalt an sozialreformerischen<br />
wie sozialrevolutionären Initiativen, vor allem aber<br />
auch an Sozialutopien hervor. Hintergrund dieser Bewegungen, die<br />
sich auch in einer Unmenge von Informationsblättern, Handzetteln,<br />
Broschüren sowie – zum Teil sehr stark besuchten – Veranstaltungen,<br />
Informationsabenden, Lese- und Vorlese-, aber auch politischen Gesangszirkeln<br />
manifestieren, ist vor allem ein angewachsenes politisches<br />
Selbstbewusstsein der Handwerker, der ‚ouvriers‘. Der<br />
Communismus ist eine dieser Bewegungen, in Frankreich zunächst<br />
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besonders verknüpft mit dem Namen Lamennais, den Gutzkow kurz<br />
darauf erwähnt: Dieser steht für einen gewissermaßen ‚politisierten<br />
Katholizismus‘. Andere einflussreiche zeittypische Bewegungen sind u.<br />
a. der Saint-Simonismus, der Fourierismus und der Neo-Babouvismus<br />
(nach dem zur Zeit der Französischen Revolution tätigen Babeuf). –<br />
Debats und National sind zwei ideologisch unterschiedlich ausgerichtete<br />
Tageszeitungen mit 9305 bzw. 4280 Exemplaren Auflage (im Jahr<br />
1846); vgl. Histoire générale de la presse (→ Erläuterung zu 23,6-8),<br />
S. 146. Das „Journal des Débats“ ist regierungsnah (wenn auch nicht<br />
notwendigerweise unkritisch), der „National“ eines der größten und<br />
republikanisch orientierten Oppositionsblätter.<br />
26,25-27 George Sand ihren Frack mit der Blouse, die revue des deux<br />
mondes mit der revue indépendante vertauscht] George Sand war<br />
eine der am stärksten wahrgenommenen Personen der politischen<br />
Linken. Damit verbunden machte sie ihr Status als nicht rollenkonforme<br />
Frau zu einer der am polemischsten umstrittenen Figuren der Zeit.<br />
Zugleich personifizierte sie vor allem seit Beginn der vierziger Jahre<br />
ein neues Rollenverständnis der Intellektuellen und wirkte daher als<br />
internationales Vorbild (vgl. Bremer, bes. S. 217-222). Als Schriftstellerin<br />
gehörte sie zu den meistgelesenen Autoren der Zeit, und in dem<br />
seit 1836 tobenden Konkurrenzkampf der großen Pariser Tageszeitungen,<br />
die ihr Geschäft mit Fortsetzungsromanen machten, auch zu den<br />
am besten bezahlten. Umso größer war das Aufsehen, als sie aus Protest<br />
gegen den Verleger Buloz, der sie zu ‚weniger demokratischen‘<br />
Romanen hatte zwingen wollen, für dessen „Revue des Deux Mondes“<br />
(vertragsbrüchigerweise) gar keine Romane mehr schrieb, sondern<br />
zusammen mit dem von Gutzkow kurz darauf erwähnten Pierre Leroux<br />
eine eigene Zeitschrift gründete, die „Revue indépendante“. Hierauf<br />
bezieht sich die Stelle, die davon spricht, dass Sand die eine mit der<br />
anderen Zeitschrift vertauscht habe. In der Anspielung auf die Vertauschung<br />
von Frack und Bluse ist entsprechend die soziale Dimension –<br />
die Bluse als typisches Arbeiterkleidungsstück –, aber auch die Gender-Dimension<br />
zu beachten: Beides sind typisch männliche Kleidungsstücke<br />
und spielen auf Sands ‚männliches‘ Rollenverhalten an.<br />
Gutzkow wird auf diese Situation im 22. der Briefe aus Paris zurückkommen,<br />
wo er einen Besuch bei George Sand in der rue Pigalle schil-<br />
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dert und sie fragt: „Hat die Revue indépendante guten Fortgang? – Für<br />
ein junges Blatt sehr bedeutenden. Eben Buloz von der Revue des deux<br />
mondes, will mich zwingen, ihm einen Roman zu schreiben.“<br />
26,27-31 die Gedichte der Handwerker über die Gedichte Lamartine’s<br />
[...] der größte jetzt lebende Dichter in Frankreich] Im Kontext der<br />
Diskussion um die politische und kulturelle Rolle der ‚ouvriers‘ war<br />
zur Zeit von Gutzkows Aufenthalt in Paris die so genannte ‚poésie<br />
ouvrière‘ (Arbeiterlyrik) eine der am stärksten diskutierten Fragen,<br />
nachdem der Saint-Simonist Olinde Rodrigues eine so betitelte Anthologie<br />
mit zahlreichen Beispielen ‚nichtprofessioneller‘ Autoren herausgegeben<br />
hatte. George Sand korrespondierte mit zahlreichen der Arbeiterdichter,<br />
ermunterte sie zum Schreiben und hatte in der „Revue<br />
indépendante“ einen ihre Aktivität begrüßenden Artikel veröffentlicht.<br />
Lamartine selbst hatte die Gedichte des (okzitanisch schreibenden)<br />
Friseurs Jacques Janin aus Agen zu den wichtigsten der Zeit erklärt,<br />
während die eher konservative Presse (vor allem Théophile Gautier in<br />
der „Revue des Deux Mondes“) die ganze Bewegung grundsätzlich<br />
ablehnte.<br />
27,10-11 Lamennais [...] Pierre Leroux] Félicité-Robert Lamennais<br />
(1782-1854) war Theologe und Sozialreformer; seine in den dreißiger<br />
und vierziger Jahren in Frankreich, aber beispielsweise auch in Lateinamerika<br />
äußerst einflussreichen „Paroles d’un croyant“ (Worte<br />
eines Gläubigen) gehören zu den Grundpfeilern einer katholischen<br />
Soziallehre und einer politisierten Religiosität. Der Text wurde vom<br />
Vatikan auf den Index gesetzt und von Börne während seines Parisaufenthaltes<br />
ins Deutsche übersetzt. – Pierre Leroux (1797-1871) ist einer<br />
der Gründungsväter des französischen Sozialismus (die Begriffsprägung<br />
wird ihm zugeschrieben); Gründer der für die Frühphase des<br />
Saint-Simonismus wichtigen Zeitschrift „Le Globe“ (1824-31) und<br />
später mit George Sand der „Revue indépendante“ (1841-44). Zur Zeit<br />
von Gutzkows Aufenthalt in Paris wurde vor allem seine Schrift „De<br />
l’humanité“ (Über die Menschheit) von 1840 diskutiert.<br />
27,17 St. Simon und Fourier] Die beiden wichtigsten Vertreter sozialutopischer<br />
Strömungen im Frankreich des ersten Jahrhundertdrittels<br />
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und von großem Einfluss auf den Frühsozialismus der Julimonarchie.<br />
Henri de Saint-Simon (1760-1825), selbst adliger Herkunft (Graf),<br />
kritisierte vor allem die Unproduktivität der Angehörigen einer traditionellen<br />
Klassenstruktur gegenüber den produktiven ‚industriels‘,<br />
unter denen sowohl Unternehmer als auch Arbeiter zu verstehen sind.<br />
Charles Fourier (1772-1837) hebt stärker auf die Gesellschaftsorganisation<br />
in tendenziell autarken Lebensgemeinschaften ab: Die ‚familistères‘,<br />
die auch eine Form erotischer Utopie darstellen, sollen<br />
wiederum innerhalb von genossenschaftlich organisierten Gebieten<br />
(‚phalanstères‘) existieren. Noch Adorno sprach rückblickend davon,<br />
„unter den Utopisten“ nehme „der unrevolutionäre Fourier eine extreme<br />
Position ein. Keiner bietet dem Vorwurf des Utopismus schutzloser<br />
sich dar als er“ (Theoder W. Adorno: Vorwort. In: Charles<br />
Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen.<br />
Frankfurt/M. 1966, S. 6). Im Laufe seines Aufenthalts in Paris<br />
erlebt Gutzkow auch eine Veranstaltung seiner Anhänger unter dem<br />
Vorsitz ihres bereits legendären Vordenkers Victor Considérant und<br />
schildert sie im 18. der Briefe aus Paris.<br />
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