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AUSGABE NR.<br />

VORBLICK<br />

Woher wir kommen und wohin wir gehen ...<br />

P.Köppen: Erfahrungen, Ansichten und Mythen__B.Kluger: 1989 und die gesellschaftlich-kulturelle Überformung von Identitäten__S.-<br />

M.Knauf: Ein bisschen Wende__C.Mannewitz: The Igel has landed__A.Kellner: Das Li.Wu. sucht ein neues Zuhause__Henryk Janzen/0381<br />

im Interview__Umfrage zur OB-Neubesetzung__Stadtgestalten-Debatte: Energie in Bürgerhand__S.Bachmann: Zwei innerstädtische<br />

Museumszentren__R.Knisch: Demokratisierung der kommunalen Ausgaben – Eine Vision__I.-J. Dögüs: Unsere Stadt hat "Ja" gesagt__Sichelschmiede:<br />

Die Heide ist frei!__A.Möller: Vorgestellt: Courage!__J.Langer: Asche, Archive und Leben.<br />

<strong>Hier</strong> <strong>werden</strong> <strong>Sie</strong> <strong>Ihren</strong><br />

<strong>Lieblingsfehler</strong> <strong>los</strong>:<br />

GEDRUCKTE KÖRPERHALTUNG<br />

MAGAZIN<br />

FÜR BEWEGUNG,<br />

MOTIVATION UND<br />

DIE NACHHALTIGE<br />

KULTIVIERUNG<br />

DER REGION ROSTOCK<br />

stadtgespraeche- rostock.de<br />

ISSN 0948-8839<br />

ERSCHEINT<br />

QUARTALSWEISE<br />

SEIT SEIT 1994 1994<br />

Ostalgie<br />

Suchen<br />

15. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €


SOLIABO:<br />

Wer kann zahlt<br />

20€/Jahr<br />

Seit fast 15 Jahren begleiten wir<br />

die regionale Politik, Wirtschaft<br />

und Kultur kritisch, konstruktiv<br />

und offen. Das sichert unserem<br />

Leserkreis vier inspirierende Ausgaben<br />

pro Jahr. Wir arbeiten ausnahms<strong>los</strong><br />

ehrenamtlich, engagiert<br />

und unabhängig. Und das soll<br />

auch so bleiben. Durch die Insolvenz<br />

des druckenden Copy-Shops<br />

mussten wir auf eine neue Herstellung<br />

umstellen; das Ergebnis<br />

halten <strong>Sie</strong> in der Hand. Die daraus<br />

resultierenden Mehrkosten<br />

bitten wir <strong>Sie</strong> mitzutragen. Wenn<br />

<strong>Sie</strong> können ...<br />

<strong>Sie</strong> können ...<br />

bitten wir <strong>Sie</strong> mitzutragen. Wenn<br />

halten <strong>Sie</strong> in der Hand. Die daraus<br />

resultierenden Mehrkosten<br />

mussten wir auf eine neue Herstellung<br />

umstellen; das Ergebnis<br />

SICHERN SIE UNSERE UNABHÄNGIGKEIT


00.3 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />

Inhalt dieses Heftes<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

eigentlich sollte es – naheliegend zu diesem Erscheinungszeitpunkt<br />

– ein Heft über 1989<br />

bzw. das dazugehörige Jubiläum <strong>werden</strong>. Aber<br />

je weiter die Planungen voranschritten, desto<br />

weniger hatten wir das Gefühl, den vielen aktuell<br />

veröffentlichten Beiträgen noch wirklich<br />

Lesenswertes hinzufügen zu können. Mit drei<br />

Ausnahmen: Dem Artikel von Peter Köppen,<br />

der den derzeitigen öffentlichen Umgang mit<br />

dem Thema kritisch beleuchtet und die Frage<br />

nach Intentionen und, dementsprechend,<br />

Funktionalisierungen öffentlicher Darstellungen<br />

stellt. Und sehr persönliche Sichtweisen<br />

von Björn Kluger und Sven-Markus Knauf, die den Leser gerade wegen ihrer<br />

Perspektive zu eigener Reflexion zwingen.<br />

Die verbleibenden Heftseiten haben wir deshalb von oben genannten Redundanzen<br />

freigehalten und stattdessen mit Streitbarem und Wissenswertem aus<br />

<strong>Rostock</strong> gefüllt - und natürlich gibt’s auch Blicke über den Tellerrand, sonst<br />

wär’s ja gruselig. Neu ist, dass mehrere Beiträge im aktuellen Heft explizit aufs<br />

Weiterdiskutieren ausgelegt sind – hiermit meine ausdrückliche Ermunterung,<br />

dies zu tun.<br />

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />

Kurz notiert/Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

Titelthema: 1989 2009<br />

P.Köppen: Erfahrungen, Ansichten und Mythen . 7<br />

B.Kluger: 1989 und die gesellschaftlich-kulturelle<br />

Überformung von Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

S.-M.Knauf: Ein bisschen Wende ... . . . . . . . . . . . . 14<br />

Aktuelles<br />

C.Mannewitz: The Igel has landed . . . . . . . . . . . . 17<br />

A.Kellner: Das Li.Wu. sucht ein neues Zuhause . 18<br />

Henryk Janzen/0381 im Interview . . . . . . . . . . . . 20<br />

Umfrage zur OB-Neubesetzung . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

Konzeptionelles/Stadtpolitik<br />

Stadtgestalten-Debatte: Energie in Bürgerhand . 24<br />

S.Bachmann: Zwei innerstädtische Museumszentren<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />

R.Knisch: Demokratisierung der kommunalen Ausgaben<br />

– Eine Vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

Projekte<br />

I.-J. Dögüs: Unsere Stadt hat "Ja" gesagt . . . . . . . . 30<br />

Sichelschmiede: Die Heide ist frei! . . . . . . . . . . . . 33<br />

A.Möller: Vorgestellt: Courage! . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />

Rezensionen<br />

J.Langer: Asche, Archive und Leben. . . . . . . . . . . . 37<br />

In eigener Sache möchte ich <strong>Ihren</strong> Blick auf die Seite links neben dem Editorial<br />

lenken: Die optische Verbesserung unseres Heftes, eigentlich aus der Not<br />

geboren (unsere frühere Druckerei ist insolvent), wurde allgemein begrüßt –<br />

hat aber ihren Preis. An dieser Stelle an Dank an alle, die sich zu einer finanziellen<br />

Unterstützung der „<strong>Stadtgespräche</strong>“ durch Spende oder Soli-Abo bereitfinden.<br />

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende und anregende<br />

Lektüre und einen schönen Herbst<br />

Ihre Kristina Koebe<br />

FOTO: TOM MAERCKER<br />

Geplapper auch ...


00.4 __ //// LESERBRIEFE | GLOSSE | IMPRESSUM<br />

Leserbriefe<br />

Zum Beitrag von Ines Pawlowski „Hansa im Wandel“? (Heft 53)<br />

Hallo Frau Pawlowski,<br />

ich möchte nur einmal dezent andeuten, dass der FC Hansa <strong>Rostock</strong><br />

fast 10 Jahre in der ersten Bundesliga gespielt hat. In dieser<br />

Zeit wurden das moderne Stadion, das Nachwuchszentrum sowie<br />

gute Trainingseinrichtungen geschaffen. Das Problem ist<br />

einfach, dass Erstligafußball in einer der ärmsten und dünnbesiedelsten<br />

Regionen Deutschlands nicht nachhaltig möglich ist.<br />

Als Hansa auf dem fünften Tabellenplatz in der ersten Liga<br />

stand kamen oft nur 17.000 Zuschauer. In anderen Regionen<br />

gibt es einen Zuschauerdurchschnitt von 25.000 Leuten - in der<br />

zweiten Liga...<br />

Ich kenne kein Team das mit so wenigen Sponsorengeldern so<br />

lange am Limit der Möglichkeiten gespielt hat. Der Abstieg<br />

musste also zwangsläufig kommen. Das war eine Frage der Zeit.<br />

Nach Bosman haben gerade die kleineren Vereine die letzte<br />

Möglichkeiten verloren sich ein „wenig“ Geld dazu zu verdienen.<br />

Es ist bezeichnend, dass auf der Hansa Brust Scanhaus, Ospa<br />

usw. stand, während bei anderen Mannschaften Opel, VW, Bayer<br />

und andere Weltfirmen werben. Hallo? Da packt ein Hauptsponsor<br />

schon mal 20 Mille auf den Tisch. Bei Hansa waren es<br />

zuletzt nur 2,5 Milliönchen... Geld schießt und Geld verhindert<br />

Tore. Daran führt kein Weg vorbei.<br />

Kennen <strong>Sie</strong> irgendeinen Verein der mit einem so kleinen Etat<br />

über 10 Jahre in der Bundesliga spielen konnte?? Sehen <strong>Sie</strong> - den<br />

gibt es nämlich nicht. <strong>Sie</strong> haben mit Ihrem Artikel ein wenig für<br />

Unterhaltung gesorgt - nicht mehr. Weder wurden Hintergründe<br />

durchleuchtet noch haben <strong>Sie</strong> Fakten analysiert. Daher geht<br />

Ihr Artikel absolut an den Gegebenheiten in <strong>Rostock</strong> vorbei.<br />

M. f. G.<br />

Michael Thürke<br />

---<br />

Hallo Michael,<br />

es freut mich, dass mein Artikel etwas zu Deiner Unterhaltung beitragen<br />

konnte. Trotzdem muss ich mich fragen, ob Du meinen Artikel<br />

richtig verstanden hast. Hansa liegt mir am Herzen. Ich sehe<br />

das, was mir als Fan zugänglich gemacht wird. Ich kenne natürlich<br />

keine Interna, habe aber meine Meinung aufgeschrieben und<br />

einige Dinge aufgezählt, die ich schlecht nachvollziehen kann.<br />

In Ihrem Kommentar vermisse ich jegliche Hinweise auf das offensichtliche<br />

Missmanagement seitens des Vereins. Hansa hat einen<br />

kleinen Etat, das ist richtig. Doch dieser Gedanke muss fortgeführt<br />

<strong>werden</strong>. In diesem Zusammenhang fällt mir das Geld ein, das<br />

Hansa an ehemalige leitende Angestellte sowie ausgemusterte Profis<br />

zahlt. Und das nicht nur bis zum Ende der Saison.<br />

Auch einen weiteren Einwand über die Sponsoren kann ich schwer<br />

nachvollziehen. Die Sponsorensuche zeigte in meinen Augen die<br />

Unprofessionalität einiger leitender Angestellten und die Qualität<br />

des Vorstandes. Nicht umsonst wurde der Marketingleiter aufgrund<br />

mangelnder Aufgabenerfüllung entlassen. Natürlich kann<br />

sich Hansa nicht mit großen Vereinen der Bundesliga vergleichen,<br />

bei denen Sponsoren wie Opel, VW und Bayer Millionen in die<br />

Vereine investieren. Aber Hansa kann und muss sich mit anderen<br />

„kleinen“ Vereinen vergleichen, die vor ähnlichen Problemen stehen.<br />

Ich denke nicht, dass Hansa die schlechtesten Voraussetzungen hatte.<br />

Ja, der Verein kommt aus einer der ärmsten Regionen Deutschlands.<br />

Aber er war jahrelang der einzige Verein aus dem Osten, der<br />

sich in der Bundesliga etabliert hatte. Es ist schade, dass daraus<br />

nicht mehr Kapital geschlagen wurde. Man muss sagen, dass Energie<br />

Cottbus, die sicherlich eine schlechtere Ausgangsposition hatte,<br />

uns überholt hat. Und auch Union Berlin ist auf einem sehr guten<br />

Weg. Das sind zwei Vereine, die sicherlich auch nicht mehr Geld<br />

zur Verfügung haben.<br />

Noch ein Wort zu den Zuschauerzahlen. Auch das ist nicht alleiniges<br />

Problem von Hansa. Denn auch bei unserem Verein dürften<br />

die Zuschauereinnahmen bei Heimspielen von über 15.000 Fans<br />

keine fest eingeplante Größe im Etat eines Vereins sein, sondern<br />

nur ein Bonus. So war ich und wohl auch der Verein selbst letzte<br />

Saison oft überrascht, wie viele Zuschauer zu den Heimspielen kamen.<br />

Es ist richtig, dass der FC Hansa <strong>Rostock</strong> fast 10 Jahre in der ersten<br />

Bundesliga gespielt hat. Ohne die Leistung zu schmälern, bedeutet<br />

das nicht 10 Jahre Erstligaqualität. Und schon gar nicht<br />

Erstligaqualität im Vorstand. Mann muss weg von der stillschweigenden<br />

und abgeschotteten, alt gedienten Vereinsführung. Der<br />

Fußball ist im Wandel und erfordert nicht nur auf dem Platz ein<br />

modernes Management.<br />

Ines Pawlowski ¬


Kurz notiert<br />

Impressum<br />

<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 56:<br />

„Vorblick”<br />

Ausgabe Oktober 2009<br />

(Redaktionsschluss: 05. Oktober 2009)<br />

FRIEDA 23<br />

Am 9.9. hat die Bürgerschaft besch<strong>los</strong>sen, die für das Projekt FRIEDA 23 benötigten<br />

Zuschüsse aus dem <strong>Rostock</strong>er Haushalt doch schon im Jahr 2010 zur Verfügung zu<br />

stellen. Wir gratulieren herzlich zu diesem Erfolg nach jahrelangem zähem Ringen<br />

und halten <strong>Sie</strong> über den weiteren Fortgang auf dem Laufenden!<br />

Die Redaktion der „<strong>Stadtgespräche</strong>“ ¬<br />

Herausgeber:<br />

Bürgerinitiative für eine solidarische Gesellschaft e.V.<br />

<strong>Rostock</strong> in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt<br />

<strong>Rostock</strong> e.V.<br />

Redaktion und Abonnement:<br />

Redaktion »<strong>Stadtgespräche</strong>«<br />

Kröpeliner Tor<br />

18055 <strong>Rostock</strong><br />

Fax 01212-514072528<br />

E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />

Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />

Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Redaktion:<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Peter Koeppen<br />

Dr. Jens Langer<br />

Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />

und <strong>werden</strong> von den Autorinnen und Autoren<br />

selbst verantwortet.<br />

Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />

Mediadaten:<br />

Gründung: 1994<br />

Erscheinung: 15. Jahrgang<br />

ISSN: 0948-8839<br />

Auflage: 200 Exemplare<br />

Erscheinung: quartalsweise<br />

Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />

Herstellung: LASERLINE<br />

Anzeigenpreise (Kurzfassung) :<br />

(ermäßigt / gültig für 2009)<br />

3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />

4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />

Details auf unserer Website im Internet<br />

Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />

Unibuchhandlung Thalia, Breite Str. 15-17<br />

Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 80<br />

die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />

Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />

Kiosk am Neuen Markt<br />

Sequential Art, Peter-Weiss-Haus, Doberaner Str. 21<br />

Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5<br />

FOTO: TOM MAERCKER<br />

Bankverbindung<br />

(für Abo-Überweisungen und Spenden)<br />

Kto.: 207350082<br />

BLZ: 52060410<br />

bei der Evangelischen Kreditgenossenschaft e.G.<br />

Nürnberg<br />

Abonnement:<br />

Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />

Jahressoliabo (4 Ausgaben): 20,00 €<br />

Einen Aboantrag finden <strong>Sie</strong> auf S. 10 (bzw. als<br />

PDF-Datei zum Ausdrucken und Ausfüllen auf<br />

unserer Website im Internet).


FOTO: TOM MAERCKER<br />

TITELTHEMA:<br />

1989 - 2009<br />

Wie bereits betont, geht es uns nicht darum, den Analysen und Pseudoanalysen dieser Tage<br />

eine weitere Chronologie der Wende zur Seite zu stellen. Vielmehr haben wir uns gefragt,<br />

was die Betrachtung des Themas heutzutage ausmacht. Historisch genau ist sie keinesfalls:<br />

Wird das Thema funktionalisiert? Geraten die Dinge einfach in Vergessenheit?


00.7 __ //// TITELTHEMA<br />

Erfahrungen,<br />

Ansichten und<br />

Mythen<br />

Die DDR und das Jahr 1989: Eine<br />

Betrachtung in drei Teilen.<br />

PETER KÖPPEN ______//REDAKTION<br />

„Schon bald <strong>werden</strong> wir Mühe haben,<br />

uns die DDR selber zu erklären.<br />

An die neuen Verhältnisse angepaßt,<br />

<strong>werden</strong> wir uns fragen,<br />

wieso wir uns damals derart anpassen konnten.“<br />

(Rosenlöcher, Thomas: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch,<br />

Frankfurt am Main 1990, S.96.)


00.8 __ //// TITELTHEMA<br />

1. Über die Zwietracht von zwei edlen Damen und<br />

den Tod der Dedeèr. Ein urdeutsches Heldenepos,<br />

nacherzählt von Peter Köppen<br />

Überall auf der Welt verkündeten es die Trommler und Marktschreier,<br />

schrieben es die Mönche auf das Pergament und war es<br />

Gesprächsstoff in den Schlössern wie in den Katen: Die gerade<br />

40jährige Herrscherin Dedeèr die Große ist verstorben!<br />

<strong>Sie</strong> litt schon längere Zeit an Auszehrung und Überschätzung<br />

eigener Kraft und Stärke, an mangelnder Immunkraft und an<br />

Liebesverlust. Zu groß wurde die Kluft zwischen ihrem ursprünglichen<br />

Wollen, eine mit ihrem Volk verbundene und zu<br />

Wohlstand und Zufriedenheit führende Herrscherin zu sein<br />

und ihrem immer sichtbareren <strong>Sie</strong>chtum, ihrem wachsenden<br />

Starrsinn und ihrer Abweisung neuer, Erfolg versprechender<br />

Medikamente.<br />

<strong>Sie</strong> missbrauchte die ihr durch Götter des Ostens übergebene<br />

Macht und wandte vielfältige Formen der Gewalt gegen Aufmüpfige<br />

und der Aufmüpfigkeit Beschuldigte an, die viele<br />

Menschen zum Murren und Fluchen oder gar zur Flucht aus<br />

ihrer angestammten Heimat trieb. Der Zustand von Dedeèr<br />

verschlechterte sich, gefördert durch die Inkompetenz ihrer<br />

Chefärzte und die Schwäche der völlig überforderten und<br />

letztlich resignierenden Pflegekräfte und eine gehörige Portion<br />

Sterbehilfe auch durch viele der ihr ehemals mehrheitlich Nahestehenden<br />

und durch Außenstehende, die entweder selbst<br />

hilfsbedürftig an dieser tückischen Krankheit litten oder die<br />

die Ungeliebte schon immer <strong>los</strong><strong>werden</strong>, aber auch ihren Nachlass,<br />

ihre Ländereien mit all ihren Menschen und Gütern übernehmen<br />

wollten.<br />

Den arg ramponierten Nachlass erwarb die sehr viel stärkere<br />

und robustere, mit langjähriger Unterstützung vieler Familienangehörigen<br />

und äußerst potenter Bekannter aufgewachsene<br />

Dame Beerdé. Beerdé und Dedeèr waren nämlich die ungleichen<br />

Töchter der vor ihnen herrschenden Despotin Nazisse,<br />

die alle ihre Nachbarn mit furchtbaren Kriegen überzog, mit<br />

nicht vorstellbarer Grausamkeit ihre Gegner und aber- und<br />

abertausende Unschuldige hinmordete und letztlich nur durch<br />

gemeinsame Anstrengungen der Ostmacht und der Westmacht<br />

- den beiden damals größten und miteinander konkurrierenden<br />

Mächten mit ihren jeweiligen Verbündeten - niedergezwungen<br />

<strong>werden</strong> konnte. Die nach langem Kampf überwältigte Nazisse<br />

machte ihrem Leben selbst ein Ende. Die <strong>Sie</strong>ger – bald wieder<br />

uneins und verfeindet untereinander – teilten der Nazisses<br />

Land auf und gaben die eine, größere Hälfte an Beerdé, die andere,<br />

ärmere an Dedeèr als Lehen.<br />

Dedeèr versprach ihren neuen Untertanen mit großem Pathos:<br />

„Jetzt beginnt ein neues Leben, mit gemeinsamer Kraft <strong>werden</strong><br />

wir etwas völlig Neues errichten, denn die Ostmacht wird immerdar<br />

fest an unserer Seite stehen!“ Doch die Ostmacht war<br />

selbst arm, ließ Dedeèr viel und lange Zeit großen Tribut zahlen<br />

und mahnte sie immer wieder zu treuer Gefolgschaft.<br />

Beerdé war eng verbunden mit der langjährigen Geschichte all<br />

ihrer Ahnen und mit den Zielen und Vorhaben der Westmacht<br />

und ihrer Vasallen. <strong>Sie</strong> konnte es nicht verwinden, dass sie nach<br />

dem schmählichen Tod der Nazisse nicht alles Land erhielt und<br />

blieb zeitlebens erbitterte Gegnerin von Dedeèr, deren Umfeld<br />

sie nachhaltig beeinflusste und deren Anhänger sie auf unterschiedliche<br />

Art und Weise, aber in immer größerer Zahl auf ihre<br />

Seite zog.<br />

Beerdé und Dedeèr führten über vier Jahrzehnte einen heftigen<br />

Zwist mit Worten, in dem jede die andere der schlimmsten<br />

Missetaten bezichtigte. Mehrere Male war der Zeitpunkt nahe,<br />

dass sie ihre Heerscharen mit Kanonen und Musketen ausschickten<br />

zum Gefecht auf Leben oder Tod.<br />

Endlich, nach dem Tod von Dedeèr und der Übernahme ihres<br />

Reiches, konnte Beerdé stolz und absolut verkünden: „Ich habe<br />

gesiegt! Ich, die Reiche, Gute und Schöne, werde Euch in<br />

Ewigkeit Heimat geben und Wohlstand, Freiheit und Menschlichkeit<br />

bringen und garantieren. Vorbei ist es mit dem unmenschlichen<br />

und verbrecherischen Unrechtsregime der Dedeèr.<br />

Die ehemaligen Ländereien der Dedeér <strong>werden</strong> unter<br />

meiner Herrschaft herrlich erblühen, keinem meiner neuen<br />

Untertanen wird es schlechter gehen, sondern vielen besser.<br />

Und das müsst ihr alle preisen, aber die Zeit unter Dedeèr verachten<br />

und Euch schuldig bekennen, dass ihr Dedeèr so lange<br />

ertragen habt und ihre Anhänger ächten bis ins letzte Glied.“<br />

Und viele Menschen aus den ehemaligen Ländereien der Dedeèr<br />

jubelten, sch<strong>los</strong>sen sich der Partei der Beerdé oder einer<br />

der vielen neuen oder alten Zünfte an, aßen von nun an viele<br />

Bananen, eilten zu Urnen, um dort ein Kreuz für Beerdé auf<br />

dem Papier zu machen und freuten sich über die vielen neuen<br />

Dinge, die unter der Herrschaft der Beerdé über sie kamen.<br />

Aber seltsam: der Streit um das Erbe, um den Charakter und<br />

das Lebenswerk der Toten entflammte neu und dauert fort,<br />

aber das Lob auf Beerdé erscholl leiser oder verstummte ganz,<br />

sowohl in den ehemaligen Landen der Dedeèr als auch im<br />

Stammgebiet der Beerdé. So mancher, der ehemals der glanzund<br />

prunkvoll auftretenden und milde Gaben verteilenden<br />

Beerdé zugejubelt und die sterbende Dedeèr verdammt hatte,<br />

suchte vergeblich nach den blühenden Landschaften oder war<br />

bereits abgeschoben in die vierte Hartz-Wüste mit wenig Wasser<br />

und hartem Brot, verdingte sich für 1 Gulden oder werkte<br />

viel und litt doch Hunger. Ein Sitz am Hofe der Beerdé war<br />

nur wenigen ehemaligen Untertanen von Dedeèr gegeben und<br />

dann nur denjenigen, die demütig und reumütig der Beerdé<br />

dienten.<br />

Immer mehr Landeskinder, die einst – voll bunt blühender Illusionen<br />

- gehofft hatten, in einer „Keine-Gewalt-Kur“ Dedeèr<br />

radikal gesunden zu lassen, ihre Herrschaft von Grund auf zu<br />

verändern oder sie gar abzulösen und ihre Ländereien von<br />

Grund auf neu zu gestalten, misstrauten der Beerdé, ihrer Partei<br />

und den bestehenden Zünften. <strong>Sie</strong> zogen sich murrend auf<br />

ihre Ländereien zurück, bildeten eine eigene Zunft oder sch<strong>los</strong>sen<br />

sich in <strong>los</strong>en Bünden zusammen, die sich allerdings oft hef-


tig untereinander befehdeten. Es wuchs der Zweifel an der Unfehlbarkeit<br />

der Beerdé und der Ewigkeit ihrer Herrschaft und<br />

es wuchs das Verlangen, nach dem Tod der Dedeèr nun auch<br />

das Land der Beerdé zu verändern.<br />

Gar mancher fragte auch, ob denn wirklich alles unter Dedeèr<br />

verkehrt und schlecht gewesen und alles im Land der Beerdé<br />

gut und untadelig sei. Da nutzte es auch nichts, dass die hohen<br />

Priester der Beerdé ihnen ein ums andere Mal eindringlich erklärten:<br />

Das sind falsche Gedanken! Verdammt die Dedeèr,<br />

seid der Beerdé dankbar und preiset sie aus vollem Herzen! Ihr<br />

Reden erklang besonders laut im Jahr des 20. Todestages der<br />

Dedeèr und gleichzeitigen 20. Jubeltag des <strong>Sie</strong>ges von Beerdé.<br />

2. Von der Verführungskraft und der Gefahr von Mythen<br />

Mythen gehen hervor aus realen Ereignissen der vergangenen<br />

Zeit. <strong>Sie</strong> erheben den Anspruch auf Gültigkeit und geben eine<br />

Wirklichkeit vor, wie sie der Betrachter aus verschiedenen<br />

Gründen zu sehen vermeint. Das kann Phantasie anregend, interessant<br />

und ein literarischer Genuss sein. Nur: es ist nicht die<br />

vergangene Wirklichkeit und keine geschichtswissenschaftliche<br />

Analyse.<br />

Angewandt in der jeweiligen aktuellen, gar politischen Auseinandersetzung,<br />

wird der Mythos nicht selten zur Lüge, zur<br />

Halbwahrheit, zum Manipulationsmittel in der ideologischen<br />

Auseinandersetzung. Die große Gefahr ist, dass sich solche Mythen<br />

bei den nachfolgenden Generationen als Geschichtsbild<br />

einprägen. Immer weniger Menschen <strong>werden</strong> fragen, wie es<br />

denn wirklich war. Das darzustellen, ist schwer. Jeder historische<br />

Verlauf war tatsächlich um vieles komplizierter und vielfältiger<br />

als seine noch so detailgetreue Darstellung.<br />

Die optimale Annäherung an die vergangene Wirklichkeit ist<br />

jedoch nicht nur intellektuell schwer zu bewältigen. <strong>Sie</strong> wird<br />

auch behindert durch die eigene Sozialisation, durch die eigenen<br />

Erfahrungen und Sichten (und selbstverständlich Kenntnisse<br />

und Eignung) sowie die Bindung des Betrachters an seine<br />

konkrete Umwelt mit ihren verschiedenen Einflüssen, wie Erwartungshaltung<br />

der jeweiligen politischen Klasse, Erwartungsdruck<br />

der allgemein herrschenden Meinung, materielle<br />

Abhängigkeiten und so weiter.<br />

Und so ist es gar nicht so verwunderlich, dass Geschichtsdarstellungen<br />

in allen Jahrhunderten auch immer mythengeschwängert<br />

waren, immer wieder auf Mythen zurückgegriffen<br />

wurde und wird. Wir erleben es derzeit und erstaunlicherweise<br />

(oder auch nicht) wieder in einem stark mythengeschädigten<br />

Land. DDR-Historiker haben fleißig an allen möglichen Mythen<br />

mit gebastelt und mit dazu beigetragen, dass die Gesellschaft<br />

immer unehrlicher und immer oberflächlicher wurde.<br />

Die DDR-Geschichtswissenschaft war ideologieüberlastet. Insbesondere<br />

die Zeitgeschichtsforschung und -darstellung (da<br />

nimmt sich der Verfasser dieses Beitrags nicht aus) passte sich<br />

in der Regel in das vorgegebene Muster eines verinnerlichten,<br />

festen ideologischen Korsetts ein und befolgte allzu angepasst<br />

die Vorgaben der damals herrschenden politischen Klasse. Allerdings<br />

sind Historiker, die zu Zeiten der DDR wirkten, heute<br />

sehr rar geworden. Viele wurden 1990/91 aus ihren Ämtern<br />

entfernt, an ihre Stelle traten Historiker aus den alten Bundesländern.<br />

<strong>Sie</strong> besaßen nicht die Erfahrung des Scheiterns eines<br />

von ihnen unterstützten Gesellschaftssystems und die lebensnotwendige<br />

Aufgabe, zu grundsätzlich neuen Einsichten und<br />

Erkenntnissen zu gelangen.<br />

Viele Menschen aus der DDR stellten sich dieser Aufgabe.<br />

Helmut Bock beschreibt diesen Weg zu neuen Erkenntnissen<br />

in dem Artikel „Vom Elend historischer Selbstkritik“ (Auszüge.<br />

In: UTOPIE kreativ, H. 180 (Oktober 2005), S. 890-899) mit<br />

den Worten:<br />

„Versteckt und vereinzelt in Freundeskreisen, gefesselt von den Kontrollen<br />

der Staatssicherheit, beschränkt in den eigenen Vorsichten<br />

und den Skrupeln einer objektiv falschen Partei- und Staatsdisziplin,<br />

verpassten wir den entscheidenden historischen Auftritt. Nicht<br />

wir waren die Kraft, die 1989 das Volk mobilisierte […].<br />

Das arbeitende Volk hätte im Sozialismus seine Demokratie, seine<br />

Arbeit, seine Besitztümer durch eigene Willensbildung, produktive<br />

Selbsttätigkeit und politische Kontrolle bestimmen müssen. Stattdessen<br />

dominierte eine bürokratische Kaste den »Arbeiter-und-Bauern-Staat«<br />

und das geltende Recht – auch in der DDR. <strong>Sie</strong> rekrutierte<br />

sich durch ein elitäres System der Kaderauslese und der willkürlichen<br />

Ernennung von Amtspersonen. <strong>Sie</strong> besaß Entscheidungsmacht,<br />

Kommandogewalt und das Privileg der Meinungsbildung.<br />

<strong>Sie</strong> war behütet durch andauernde Zensur der Medien und der<br />

Produkte geistiger Kultur, durch das Fehlen verfassungsmäßiger Beschwerdeinstitutionen,<br />

durch die Verweigerung der Gesinnungs-,<br />

Versammlungs- und Lehrfreiheit. Und sie wurde kriminalpolitisch<br />

geschützt von der allgegenwärtigen Staatssicherheitspolizei. Weil die<br />

meisten Individuen dieser Kaste den werktätigen Klassen und<br />

Schichten entstammten, trugen sie ursprünglich gewiss die Absicht,<br />

Sachwalter des arbeitenden Volkes zu sein. Jedoch emporgehoben<br />

und zugleich gefangen in der <strong>Hier</strong>archie des Partei- und Staatsapparats,<br />

wurden sie letztlich zum Instrument der hohen Repräsentanten<br />

und Spitzenfunktionäre – darunter verdiente antifaschistische<br />

Kämpfer, die sich zu machtbeflissenen, selbstgefälligen Patriarchen<br />

mauserten. Diese geboten, das Volk gut zu hegen, aber auch materiell<br />

und geistig unter Kontrolle zu halten, und sie gewöhnten sich<br />

an, die jeweils nötige oder mögliche Erfüllung der Volksinteressen als<br />

»Geschenke von oben«, als obrigkeitlichen Akt zu vollziehen. Das<br />

Volk hingegen durfte mit vorgefertigten Dankadressen seine Begeisterung<br />

bekunden, obwohl es selbst doch gearbeitet hatte und die Kosten<br />

für den Staat zahlte, auch für immer dieselben auf den Tribünen.<br />

Das aber war noch nicht alles. Indem die Bürokratie ihre Verfügungsgewalt<br />

über das »Volkseigentum« ausübte und die Verteilung<br />

des Bruttosozialprodukts alljährlich entschied, besaß diese Kaste eine<br />

ökonomisch- soziale Fundierung. <strong>Sie</strong> verwandelte Gemeineigentum<br />

des werktätigen Volkes innerhalb des Systems der Nationalen<br />

Front der DDR, an dem auch Christdemokraten (CDU), Liberaldemokraten<br />

(LDPD), Nationaldemokraten (NDPD) partizipierten,<br />

in Parteien- und Staatseigentum – und sie war als Parteienund<br />

Staatsbürokratie dessen unmittelbarer Nutznießer.“


0.10 __ //// TITELTHEMA | ABOSCHEIN<br />

Zu dieser schonungs<strong>los</strong>en Kritik sind bei weitem nicht alle bereit<br />

und fähig, die sich aus innerer Überzeugung auf unterschiedliche<br />

Weise für ihren Staat DDR eingesetzt hatten. Gerade<br />

die Verteufelung dessen, was für viele Menschen ein wesentlicher<br />

Teil ihres Lebensinhalts war, die Plattheiten und Vereinfachungen,<br />

das schon absurde Vorgehen, allem was DDR bedeutete<br />

ein negatives Vorzeichen zu geben, die Verdrehungen<br />

und Lügen, all das provoziert geradezu das Entstehen neuer<br />

Mythen zur Verteidigung der DDR, zur Verteidigung des eigenen<br />

Lebens.<br />

Für einen „<strong>Sie</strong>ger“ war eindeutig: Die Niederlage der anderen<br />

Seite war der Beweis für die Richtigkeit der eigenen Auffassung<br />

und des eigenen Handelns. Er bastelt weiter an den alten Mythen,<br />

deren Grundlage (zumindest für die Zeitgeschichte) eine<br />

sehr vereinfachte, dem kalten Krieg adäquate und gleichzeitig<br />

märchengerechte Sicht auf die Geschichte als Kampf zwischen<br />

gut und böse ist, und, darauf basierend, auch an neue Mythen,<br />

die die alten Kriege fortführen.<br />

„Man kann auch stalinistisch gegen den Stalinismus sein, mit<br />

den gleichen, den stalinistischen Methoden, und zu diesen Methoden<br />

gehört es, sich den Gegner, den Abweichler immer nur<br />

als Feind und Feind der Menschheit denken zu können, ohne<br />

den die Menschheit besser aussähe, ohne den die Welt eigentlich<br />

in Ordnung wäre, der also mit allen Mitteln bekämpft <strong>werden</strong><br />

muss. Die totale Feindschaft, die Feindschaft, die den<br />

Feind nicht in seinem Recht anerkennt, die ihn entwertet und<br />

am liebsten aus der Menschheit ausschließen würde – wenigstens<br />

in Worten, wenn nun nicht in Taten mehr.“ (Florian Havemann<br />

in seinem Buch „Havemann“, Suhrkamp 2008)<br />

In den alten Bundesländern war 1976 ein Kompromiss zwischen<br />

den unterschiedlichen Strömungen in der politischen<br />

Bildung gefunden worden, der sogenannte Beutelsbacher Konsens.<br />

Er beinhaltet das Indoktrinations- oder auch Überwältigungsverbot,<br />

also das Verbot, dem Lernenden eine Meinung<br />

aufzuzwingen sowie die Forderung nach Ausgewogenheit der<br />

Darstellung, d.h. eine Abbildung kontroverser Debatten als<br />

ebensolche, was ein unvereingenommenes Kennenlernen aller<br />

Meinungen als. als Grundlage für die eigene Meinungsbildung<br />

ermöglicht.<br />

Dieser Konsens existiert ganz augenscheinlich nicht mehr. Die<br />

politische Bildung – und darin eingesch<strong>los</strong>sen die Vermittlung<br />

historischer Fakten und Erkenntnisse - ist weitgehend der Agitation<br />

und der Oktroyierung einer einzelnen, politisch motivierten<br />

Meinung gewichen. Die im Osten auftretenden Probleme<br />

<strong>werden</strong> der schon 20 Jahre lang toten DDR angelastet, heutige<br />

wirtschaftliche Krisen der planwirtschaftlich organisierten<br />

Misswirtschaft der DDR, Parteienverdrossenheit und Skepsis<br />

gegenüber dem praktizierten Parlamentarismus der aus der<br />

DDR-Zeit herrührenden Entwöhnung der Bürger von Entscheidungsfreiheit<br />

usw.<br />

Die vehement verbreitete These vom DDR-Unrechtssystem<br />

und der zweiten deutschen Diktatur neben dem Faschismus<br />

wird zum funktionalen Todschlagargument, darauf abzielend,<br />

die begründete Unzufriedenheit über den Status quo auf Jemanden<br />

zu lenken, der sich nicht mehr wehren und damit alternatives<br />

Denken und Handeln in der Gegenwart zu verhindern.<br />

Auch eine Form von Leichenfledderei.<br />

Material- und quellenmäßig gut belegte Untersuchungen und<br />

Veröffentlichungen, die eine andere, differenzierte, aber keineswegs<br />

unkritische Position zur DDR einnehmen, <strong>werden</strong> von<br />

vielen Journalisten, Politikern, Publizisten, Wissenschaftlern,<br />

darunter vielen Historikern, gar nicht erst zur Kenntnis genommen<br />

oder als Versuch der Verharm<strong>los</strong>ung des Regimes verdammt.<br />

3. 1989/90 und die neuen Mythen<br />

Die Grundaussage über die Zeit 1989/90 lautet bei der übergroßen<br />

Zahl aller Darstellungen: In einer friedlichen Revolution<br />

befreite sich die Bevölkerung der DDR von einer menschenverachtenden<br />

Diktatur und strebte zur Einheit Deutschlands.<br />

Die Einheit Deutschlands wird als neutraler Wert, als<br />

die zentrale Kategorie einer von Oktober 1989 bis Oktober<br />

1990 aufsteigend verlaufenden Revolution herausgehoben, die<br />

in der Einheit Deutschlands gipfelte, verbunden mit der damit<br />

erfolgten Befreiung von Willkür und Diktatur und dem Beginn<br />

eines Lebens in Demokratie, Freiheit und Wohlstand.<br />

Sehen wir uns diese Aussage etwas näher an:<br />

- Bis in den Dezember 1989 hinein war das Ziel der in der<br />

DDR in Opposition stehenden Kräfte ziemlich einheitlich,<br />

eine neue DDR mit einem neuen Sozialismus zu erstreiten,<br />

der Schluss machte mit dem bisher in der DDR<br />

(und anderen Staaten) praktizierten Sozialismus. So vertrat<br />

der im Oktober 1989 entstehende „Demokratische Aufbruch<br />

– sozial + ökologisch (DA)“ (damalige politische<br />

Heimat von Angela Merkel, Rainer Eppelmann, Günter<br />

Nooke, Wolfgang Schnur, zunächst auch Friedrich Schorlemmer<br />

und Daniela Dahn) bis in den Dezember hinein<br />

die Idee des demokratischen Sozialismus und forderte Reformen<br />

am DDR-System. Die Einheit Deutschlands spielte<br />

zunächst keine oder nur eine marginale Rolle. So entsetzlich<br />

kann es in der DDR und im Sozialismus nicht gewesen<br />

sein, wenn nach Meinung der Opposition auf dieser<br />

Basis nicht doch ein Neuanfang möglich gewesen wäre.<br />

- Das Streben nach deutscher Einheit blieb in der ehemaligen<br />

BRD immer Grundgesetzauftrag. Es war lange Zeit ein<br />

mit den verschiedensten Mittel und innerhalb des westlichen<br />

Bündnissystems geführter kalter Krieg gegen die<br />

nicht als Staat anerkannte DDR. Das veränderte sich in<br />

den 1970er und besonders in den 1980er Jahren. Die Realitäten<br />

wurden – unzählige Beispiele belegen es - zunehmend<br />

Grundlage westdeutscher Politik. Was lange Zeit undenkbar<br />

war, trat ein: Erich Honecker wird im September<br />

1987 vom Bundeskanzler Helmut Kohl als Staatsgast empfangen.<br />

- Die westlichen Partner der Bundesrepublik sahen sehr


skeptisch auf eine Vereinigung beider deutscher Staaten,<br />

denn sie befürchteten einen bedeutenden Machtzuwachs<br />

der Bundesrepublik. Der bis 1989 gewonnene Status quo<br />

garantierte ein austariertes Kräfteverhältnis in Europa, der<br />

Versuch einer Veränderung sch<strong>los</strong>s zahlreiche Gefahren in<br />

sich ein. Diese Befürchtungen wurden auch durch Gorbatschow<br />

nicht ausgeräumt, der bis in den Dezember hinein<br />

erklärte, dass an der Souveränität der DDR nicht zu rühren<br />

sei.<br />

- Im Herbst 1989 und den nachfolgenden Monaten setzte<br />

die DDR-Bevölkerung (und nicht Politiker aus der ehemaligen<br />

Bundesrepublik ) in sehr harten politischen Auseinandersetzungen<br />

wesentliche Grundrechte einer tatsächlichen<br />

Demokratie in der DDR durch, die deutlich über die<br />

in der Bundesrepublik praktizierte hinausging. Reisefreiheit,<br />

Organisationsfreiheit, Informations- und Pressefreiheit,<br />

Versammlungsfreiheit, ein neues Wahlrecht wurden<br />

geschaffen, das Widerstandsrecht in breitem Umfang in<br />

Anspruch genommen, ein neues Rechtssystem Schritt für<br />

Schritt aufgebaut usw. Eine mit Vertretern aller am Runden<br />

Tisch mitwirkenden Parteien und politischen Bewegungen<br />

unter Einbeziehung von Verfassungsexperten tätige<br />

Arbeitsgruppe erarbeitete in sehr kurzer Zeit den Entwurf<br />

eine der modernsten Verfassungen ihrer Zeit. Das geschah<br />

im sich allerdings rasant verändernden politischen System<br />

der juristisch selbständigen DDR, ob unter Krenz, Modrow<br />

oder de Maiziere, auch wenn die Souveränität dieses<br />

Staates von Monat zu Monat eingeschränkt und seit der<br />

am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Währungs-, Wirtschafts-<br />

und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik<br />

und der DDR faktisch nicht mehr bestand.<br />

Der Mythos vom aus der finsteren Unterdrückung in die Freiheit<br />

des einheitlichen, nach dem Bild der alten Bundesrepublik<br />

gestalteten Deutschlands strebenden Menschen verdrängt die<br />

soziale und politische Komponente der großen Volksbewegung<br />

in der DDR, überdeckt sie mit dem hauptsächlich emotional<br />

erfassbaren imaginären Willen zur Einheit, die gleichsam Synonym<br />

für Freiheit, Demokratie und Wohlstand darstellt.<br />

So kommt ein Referent auf der Tagung „Opposition und SED<br />

in der Friedlichen Revolution. Organisations-geschichte der alten<br />

und neuen politischen Gruppen 1989/90“ vom 25. -<br />

26.11.2008 in Berlin zu der Schlussfolgerung, dass die friedliche<br />

Revolution kaum Bedeutung für das vereinigte Deutschland<br />

habe und im geschichtlichen Bewusstsein der Bundesrepublik<br />

trotz ihrer hervorragenden Eignung als identitätsstiftendes<br />

Vorbild nicht verankert sei (http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=2565).<br />

Was nicht so bleiben muss. ¬<br />

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FOTO: TOM MAERCKER<br />

1989<br />

und die gesellschaftlich-kulturelle<br />

Überformung von Identitäten


0.13 __ //// TITELTHEMA<br />

BJÖRN KLUGER<br />

„Der Norden wacht auf “, der Titel eines gleichnamigen Buches<br />

zu den aus der Ohnmacht erwachten Nordlichtern, schrieb<br />

1989 einen Teil der Geschichte über Aufbruch, Umbruch und<br />

Zuversicht. Gewusst hat niemand, wohin die Reise geht, aber<br />

klar schien der Wille zur Konstruktion einer neuen sozialen<br />

Wirklichkeit.<br />

Der Süden machte den Norden zur Hölle, verwünschte und<br />

verprügelte auch. Gut, wer dann kein ABC-Kennzeichen hatte.<br />

Woran niemand so recht dachte, war, dass, als Vieles seinen geordneten<br />

Lauf nahm, die Revolution im Norden forciert wurde,<br />

ohne sich mit den Apfelsinen und Bananen zu begnügen.<br />

Gar unwohl war die Nationalisierung des Südens. Aus dem<br />

„das“ zum „ein“, die geistig-moralische Anmaßung über Gewissen<br />

und Macht zu entscheiden.<br />

Auf der Straße lag die Macht und da stand eine Generation auf,<br />

die nicht bürgerlich, auch nicht reaktionär, sondern eine linke<br />

Opposition sein wollte und zugriff, selbst den Gang der Geschichte<br />

zu bestimmen. Es ging nicht ums Reformieren sondern<br />

um die Vollendung dessen, was man begonnen hatte.<br />

Theoretisch begann der Übergang vom Staatsfeudalismus zur<br />

bürgerlich-demokratischen Phase der Revolution. In dieser<br />

Etappe der Emanzipation befindet sich das kulturelle und politische<br />

Erbe der 1989 angetretenen politischen Generation<br />

noch immer.<br />

Da halfen auch keine blühenden Landschaften, Übernahmen,<br />

geplatzten Blasen und Dekonstruktionen von Wirklichkeiten,<br />

den Erziehungsprozess zu gesellschaftlich gewünschten Identitäten<br />

zu beschleunigen. Selbst die geistige Elite der 1968er<br />

muss inzwischen erkennen, dass ihre alte Bundesrepublik sich<br />

verändern muss und nicht mehr einer verfremdeten Sozialdemokratie<br />

folgen kann.<br />

Die Debatte um die Deutungshoheit<br />

Die Demokratisierung ist gescheitert, auch wenn Herr Reis<br />

dies in seinem Beitrag zum letzten Heft zu entkräften versucht.<br />

Gleichzeitig belegt er jedoch das „Unbehagen“ (Lechner) mit<br />

der Form und der Titulierung von Politik, der Verfassung und<br />

Verfassungswirklichkeit. Politisch opportun, ein gesellschaftliches<br />

Projekt aus den Angeln zu heben, glaubte damit das Gros<br />

den Geist der selbstdefinierten Freiheit in das Korsett der Genügsamkeit<br />

und Saturiertheit einfügen zu müssen.<br />

neue Form der Selbstentfremdung gekoppelt wurde. Es zeigt<br />

sich erneut, dass ein politisches Projekt der Emanzipation nicht<br />

von außen erzwungen und erzogen <strong>werden</strong> kann. Vor diesem<br />

Hintergrund verlaufen die derzeitigen Diskussionen um die<br />

„Einordnung der DDR“. Das Scharmützel zwischen Herrn<br />

Schröder und Herrn Maaz, um „heilsame Revolutionen“, Anpassungsprozesse<br />

statt Gestaltungsprozesse und den Verlust der<br />

eigenen Souveränität, Einschätzungen und Statements über<br />

„Sehnsucht nach Diktaturen“ (Wolle), Verharm<strong>los</strong>ung (Schroeder)<br />

etc. formen eine auf Deutungshoheit gerichtete Debatte.<br />

Zu Recht begreifen Menschen diese Debatte als einen Austausch<br />

Außenstehender über ihr Leben. <strong>Hier</strong> setzt die Akzentuierungsthese<br />

meines Erachtens an. Den Bruchsituationen,<br />

dem Identitätsverlust nicht nur einzelner folgte ein Vakuum<br />

und konnte auch nicht durch die Angebote der bürgerlich-liberalen<br />

Freiheit überwunden <strong>werden</strong>. Aus Mangel an wahrnehmbaren<br />

Alternativen, dem Vorwurf des Wertemangels ausgesetzt,<br />

blieb dem Ostdeutschen nur die Überformung seiner Biografie.<br />

Den Menschen blieb der Verlust haften, die Angst vor der Krise,<br />

um den Job, um die Befindlichkeit, um die Zukunft.<br />

In der Verweigerung, diese auch noch in die Vergangenheit<br />

treiben lassen zu müssen, das eigene Leben in die Mühlen des<br />

„Unrechtsstaates“ zu verlagern, verschoben sich die Akzente.<br />

Die Masse hat mitgebaut, aber nicht mittapeziert. Umso deutlicher<br />

äußert sich das „Unbehagen“ an den bestehenden Verhältnissen,<br />

in denen sich für sie nicht das Zuhause finden lässt.<br />

Um den Alltag zu überstehen, haben viele so auch die Vergangenheit<br />

liegen lassen.<br />

Klar war der Sprung über die Mauer als politischer Akt gefährlich.<br />

Gleichzeitig wusste jedoch jeder, dass wer der über die<br />

Mauer wollte, auch tot sein kann, „das stand da dran“ (Lorenz).<br />

Später trafen Ober- und Untertanen aufeinander, die Bestätigung<br />

durch eine Idee traf auf die Bestätigung durch Wohlstand<br />

und Geld (Maaz). Der „Gefühlsstau“ stand der Losung „Freiheit<br />

statt Sozialismus“ gegenüber, die Menschen waren euphorisch,<br />

beweglich, wurden jedoch wiederum ohnmächtig zurückgelassen.<br />

Der „Aufstand der Anständigen“, wie Herr Gauck es nannte,<br />

hat dementsprechend das Gefühl einer hohlen Maske hinterlassen.<br />

Der 1989 begonnene Aufbruch zur Basisdemokratisierung<br />

verläuft immer noch entlang der politischen Konstanten<br />

von Arbeit, Kapital, Mitbestimmung und Emanzipation. Dieser<br />

Umstand wird auch nicht durch die aktuelle Debatte außer<br />

Kraft gesetzt. Der selbstbestimmte Freiraum der Konstruktion<br />

politischer und kultureller Wirklichkeiten bleibt deshalb an<br />

der Tagesordnung, um die Revolution von 1989 zu vollenden.<br />

¬<br />

Vergessen wurde, dass mit der Schnellüberwindung des Staatsgebildes<br />

ein Mehr an Freiheit und Selbstbestimmung an eine


0.14 __ //// TITELTHEMA<br />

Ein bisschen<br />

Wende …<br />

SVEN-MARKUS KNAUF<br />

…ist diesmal Thema und Heftschwerpunkt. Und wirklich nur<br />

ein bisschen, hieß es, weil wir uns nicht in die Schar der<br />

(N)Ostalgiehudler einreihen möchten. Bitte, so sei es. Und in<br />

die Gefahr der (N)Ostalgiehudelei wäre ich als – dem Vernehmen<br />

nach allerdings passabel ossimilierter – Mensch süddeutscher<br />

Ursprungssozialisation mit großer Wahrscheinlichkeit<br />

ohnehin nicht geraten. Über die Wende und „das Seitdem“ zu<br />

schreiben, fühlt sich für mich – ist ja nun doch schon zwanzig<br />

Jahre und mein halbes Leben her – allerdings ein bisschen so<br />

an wie früher, wenn ich mich im Kindergarten versehentlich<br />

zum Kriegspielen hatte hinreißen lassen und die Erzieherin,<br />

Tante Liane also, verlangte: „Spielt doch mal Frieden!“ Liebgewonnene<br />

Normalität lässt sich so schlecht pointiert darstellen.<br />

Und die „Lindenstraße“ als Vorreiter eines pointiert pointenfreien<br />

Fernsehprogramms, in dem der normale Mensch normalen<br />

Menschen beim Normalsein zugucken konnte, hatten auch<br />

wir damals noch nicht.<br />

Also, was mache ich hier und wie geht es mir und was hat die<br />

Wende damit zu tun?<br />

Ich bin da, ein bisschen wie der freundliche Herr Schabowski,<br />

mehr so reingeschliddert. Ich habe nicht ganz besonders bewusst<br />

als „Ossi“ die „Wende“ mitbekommen, so dass ich jetzt<br />

meine Sicht der letzten Züge der Vorwendezeit im Osten vor<br />

der geneigten Leserschaft auftürmen könnte. Ich bin kein „Publizist“,<br />

der sich mit mindestens einer Hand im Gesicht in<br />

nachdenklicher Pose ablichten lässt und dann über viele Seiten<br />

darlegt, dass im Osten alles schlecht war.<br />

Ich bin aber auch kein „Publizist“, der sich mit mindestens einer<br />

Hand im Gesicht in nachdenklicher Pose ablichten lässt<br />

und dann über viele Seiten meint, dass im Osten n i c h t alles<br />

schlecht war. Ich war schlicht nicht dabei, also kann ich es<br />

nicht wissen, lasse mir aber bis heute fast täglich berichten und<br />

sehe mit Distanz zu, wie der Ossi selbst mit seiner Vergangenheit<br />

und insbesondere denjenigen umgeht, die für das vielleicht<br />

weniger Schöne an seiner Vergangenheit verantwortlich sind<br />

(dafür wird mich mancher im Westen ächten, das verschmerze<br />

ich, denn der weiß im Zweifel noch weniger als ich, wovon er<br />

redet).<br />

Und ein Glücksritter, also einer der im Westen um '90 herum<br />

Gescheiterten oder im Scheitern Begriffenen, die dann im<br />

Osten die in der Geschichte wohl fast einmalige Gelegenheit<br />

hatten, nicht nur neu anzufangen, sondern sich gleich noch ein<br />

bisschen als Held aufführen zu dürfen und in nicht wenigen<br />

Fällen das Bild des Besserwessi, des dilettantisch-klugscheißerischen<br />

Möchtegerns zu zementieren, mit dem noch mindestens<br />

eine Generation nun wird kämpfen müssen („der Fuchs ist<br />

schlau und stellt sich dumm, der Wessi macht es andersrum“), -<br />

so ein Glücksritter war ich auch nicht. Es war für mich altersbedingt<br />

einfach zeitlich gar nicht zu schaffen, 1989/90 schon<br />

einmal so richtig auf die Schn… gefallen zu sein.<br />

Tja, und schließlich bin ich auch kein aufs Polarisieren erpichter<br />

Journalist, der nun unbedingt seine höchst subjektive Sicht<br />

zum Ost-West-Thema verallgemeinern und dann verkaufen<br />

will. Ich war einfach jung, im tiefen Süden Deutschlands aufgewachsen<br />

und wollte ans Meer, am liebsten an ein Meer, das verlässlich<br />

da und nicht gezeitenbedingt immer zwischen Ebbe<br />

und Flut hin- und hergerissen und zu den Besuchszeiten nur als<br />

feiner Streifen am Horizont erkennbar sein würde. Und deshalb<br />

(zunächst einmal nur deshalb - man könnte schlicht von<br />

einem weder historisch noch politisch, sondern allein gezeitenbedingten<br />

Zufall sprechen) zog ich 1996 in Deutschlands<br />

Osten. Aber ja, ich überschritt im Zuge dessen auch eine Grenze,<br />

die zuvor für eine gewisse Zeit deutsch-deutsche Grenze gewesen<br />

war. Na wenn schon!?<br />

Von einem guten Gast wird Höflichkeit verlangt und dass er<br />

erstmal etwas Positives sagt. Ich fühle mich aber längst nicht<br />

mehr als Gast hier und möchte dem Schönen anschließend<br />

möglichst viel Raum gewähren, ohne dann mit dem unvermeidlichen<br />

„Aber“ zu kommen. Also das Negative vorweg. Die<br />

folgende Erfahrung ist erst wenige Wochen her:<br />

Wir waren am Kummerower See gewandert. Schließlich teilten<br />

sich gleichsam die Bäume, und vor uns stand ein in dieser Gewaltigkeit<br />

hier nicht erwartetes Gebäude mit spitzem Dachgiebel,<br />

Schweizer Landhausstil im großen Stil, viel Holz für Balkone<br />

und Terrassen. Auf der glaswandbewehrten Seeterrasse


stand kein benutzter Stuhl, wir sahen im Eingangsbereich unter<br />

dem „Hotel“-Schild eine einzige Person (in kellnertypischem<br />

Schwarzweiß) – oh weia. Das war das Ausflugsziel. Wir<br />

strebten dem Sportboothafen zu. <strong>Hier</strong> standen tatsächlich einige<br />

Boote, und auch am Imbiss war Leben. Meine Frau, eine von<br />

hier, fiel in einen Jungbrunnen. <strong>Sie</strong> meinte, hier sei alles noch<br />

„wie damals“: die Gebäude, die Ruhebänke, die einzeln stehenden<br />

Ferienbungalows, deren Typennummer nach DDR-Plattenhausbestellkatalog<br />

sie noch aufsagen konnte, ja, sie meinte<br />

sogar die Softeismaschine als ein bereits „früher“ vorzufindendes<br />

Modell wiederzuerkennen, und den Geschmack des Eises<br />

sowieso. Ob das ein Vorteil war, wollte sie nicht sagen. „<strong>Hier</strong> ist<br />

wirklich alles stehengeblieben!“ sagte sie zusehends entrückend<br />

und bezog das offensichtlich auf die Gebäude, die Zeit, eben alles.<br />

Einige verstreute Gestalten tranken Bier, saßen zusammen, sahen<br />

das vermutlich genau so, und beklagten, dass der Fortschritt<br />

sie auslasse. Dann gingen sie allerdings zu Audis oder<br />

Toyotas statt Trabants und holten Funktelefone heraus. Vermutlich<br />

um irgendwen vollzuschimpfen, dass seit der Wende<br />

genau genommen sogar alles nur schlechter geworden sei, früher<br />

hätte man ja nicht wochentags rumsitzen und Hartz IV<br />

vertrinken müssen, sondern Arbeit gehabt. Die Dinge sind<br />

eben komplex. Und Eigeninitiative besonders. Vor allem, wenn<br />

man zur Wendezeit vielleicht fünfzehn Jahre alt war, so dass<br />

sich die Chance, sie sich anzueignen, ganz vielleicht noch hätte<br />

ergeben können. Und immer irgendwen sucht (und folglich<br />

findet), dem man für irgendwas die Schuld geben kann, so dass<br />

die Überlegung, dass die DDR ja nicht überfallen oder gekauft<br />

wurde, sondern einfach an Altersschwäche wie von selbst einging,<br />

von diesen Menschen wahrscheinlich bis heute nicht ein<br />

einziges Mal angestellt wurde. Das würde einfache Dinge („alle<br />

doof außer ich“) unnötig kompliziert machen.<br />

Diese Gedanken sind nicht unreflektiert, auch sie sind das Ergebnis<br />

jahrelanger Beobachtungen. Allerdings richten sie sich<br />

gegen keinen sehr großen Personenkreis. Und sie bedeuten<br />

nicht zuletzt: es wird weiterhin Landstriche geben, die sich<br />

noch weiter gesundschrumpfen <strong>werden</strong> nach der schlichten<br />

Faustregel, je östlicher und stadtferner, desto schonungs<strong>los</strong>er.<br />

Das kann man beklagen, aber ob man auch nur den Versuch<br />

machen sollte, diesen Zustand aufzuhalten, anstatt ihn als notwendiges<br />

Übergangsstadium zu akzeptieren und anzugehen,<br />

stand für mich an diesem sonnigen Morgen am Nordostufer<br />

des Kummerower Sees sehr in Frage. Bis „es“ vorbei ist, das<br />

Zwischenstadium, und das Leben zurück kommt. Orte, die<br />

nach landläufiger Auffassung zunächst einmal „nichts“ haben,<br />

gibt es schließlich überall. Aber anderswo leben sie auch trotz<br />

allem, weil dort Menschen sind, die das Leben gerade dort wollen<br />

und befruchten. Noch zwanzig Jahre bis zu diesem Punkt?<br />

Ich lasse da ja auch mit mir diskutieren. Denn trotzdem war die<br />

Frage eines Nachbarn meiner nach wie vor im tiefen Süden der<br />

Republik beheimateten Eltern einer der besten unfreiwilligen<br />

Witze, die mir in den letzten Jahren unterkamen. Der gute<br />

Mann, ein Doktor der Psychologie, fragte mich bei einem Besuch<br />

mit dem Timbre, das man sonst bei Kranken in die Frage<br />

nach dem Befinden legt, wenn man nicht allzu sehr am Schlimmen<br />

rühren möchte, ob ich denn „da oben“ nicht die Lebensqualität<br />

vermisse. Weil ich erstmal lachen musste, beschied ich<br />

ihn mit einem eher kurz angebundenen „Ach lassen <strong>Sie</strong> mal,<br />

ich lebe ganz gern am Meer!“, das er schon als das verstand, was<br />

es heißen sollte: „Ein letztes verbliebenes Problem ist vielleicht<br />

noch, dass der Westen sich so wenig interessiert, dass einem<br />

selbst intelligente Leute knapp zwanzig Jahre danach noch derart<br />

provinzidiotische Fragen stellen. Wir haben nicht nur immer<br />

öfter Strom, wir haben auch morgens zwei Stunden lang<br />

Internet. Bestimmt denken <strong>Sie</strong> auch immer noch, den Soli<br />

zahlt nur der Westen.“<br />

Was dann kam, ähnelte einem stillen Gebet und hatte ungefähr<br />

diesen Inhalt: Nein, Herr Nachbar, auch wenn ich gar nicht<br />

wüsste, wo ich bei Ihnen mit dem Erklären anfangen soll, ich<br />

kann sagen, dass es mir dort sehr gut geht. Schnell gewöhnte<br />

ich mich daran, dass zwei schriftliche Anträge in jeweils dreifacher<br />

Ausfertigung genügen, damit die Menschen im Nordosten<br />

mit einem sprechen (bei drei Anträgen auch in ganzen Sätzen...!),<br />

gut komme ich mit dem Wetter klar, schließlich weiß<br />

jedes Kind, dass die Natur den vielen Regen braucht, und geradezu<br />

spielerisch beherrsche ich inzwischen den Umgang damit,<br />

dass der Einheimische sich von März bis Mitte November ausschließlich<br />

von unter freiem Himmel zubereitetem Grillfleisch<br />

ernährt.<br />

Was noch nicht klappt, ist der Umgang mit der Natur. Denn<br />

noch immer bringt mich an den Rand der Fassungs<strong>los</strong>igkeit,<br />

dass sie von allem nur das Beste gerade in meinem neuen Zuhause<br />

versammelt haben (erwähnte ich, dass ich absolut nicht<br />

die Absicht habe, zurückzukommen?). Gerade hier haben sie<br />

ein Meer hingeschüttet, das verlässlich da ist. Gerade hier findet<br />

sich im Gefolge dieses Meeres eine Boddenlandschaft, die<br />

anderswo als Natur- und Freizeiterlebnis selbst eine Riesenattraktion<br />

wäre und hier einfach Pech hat, dass sie ihr Dasein immer<br />

im Schatten der Ostsee fristen wird. Die Landschaft ist<br />

nicht wie nebenan einfach platt und Gegend, sondern gewellt<br />

und aufgeworfen, damit ihre Farbenpracht und die einmalig sie<br />

gliedernden Allen auch wirklich allerbestens zur Geltung kommen.<br />

Selbstredend haben wir auch neben ungefähr 1234 kleineren<br />

den größten Binnensee Deutschlands. Und die Städte:<br />

nun ja, reichlich Backsteingotik zum Schwärmen, Unesco-<br />

Weltkulturerbe gleich mehrfach und auch darüber hinaus ein<br />

paar wirklich großartig wieder auferstandene Innenstädte. Also,<br />

damit ist schwer klarzukommen, da hapert‘s noch mit dem<br />

Einleben.<br />

Und ohne die Wende wäre ich in diesen Genuss nie gekommen!<br />

¬


FOTO: TOM MAERCKER


0.17 __ //// AKTUELLES: PRAXISBERICHT<br />

Wir haben seinerzeit darüber berichtet: Ende April 2009 machte sich eine Gruppe von <strong>Rostock</strong>ern in einem Reisebus auf den Weg in Richtung<br />

Strasbourg, um sich an den Protesten gegen den Nato-Gipfel zu beteiligen. Was sich aus dieser Wahrnehmung ihrer demokratischen Grundrechte<br />

ergeben würde, hätten sie sich damals sicher nie träumen lassen.<br />

The Igel has landed<br />

CORNELIA MANNEWITZ<br />

Ganz stimmt das ja nicht. Aber man muss schon den Eindruck<br />

haben, dass der norddeutsche Igel auch dort sein möchte, wo<br />

der Adler schon ist. Was soll man denn auch denken, wenn<br />

man Folgendes erlebt:<br />

Für eine öffentliche Busfahrt der Friedensbewegung von MV<br />

zur internationalen Großdemonstration gegen die NATO am<br />

4. April 2009, anlässlich ihres Geburtstagsgipfels in Strasbourg,<br />

deren Teilnehmer sich zu einem Großteil nicht kannten und<br />

von der zwei <strong>Rostock</strong>er am 4.4. nicht zurückkamen, gibt es drei<br />

Monate später in <strong>Rostock</strong> mehrere „Zeugen“vorladungen. Dabei<br />

wird einmal für Aussageverweigerung Ordnungsgeld von<br />

300 Euro verhängt. In meinem Fall (ich war Mieter des Busses)<br />

sind es 500 Euro; vorausgegangen ist eine Vernehmung beim<br />

Landeskriminalamt, die eher ein Verhör ist, bei der Dinge gefragt<br />

<strong>werden</strong>, die ich nicht wissen kann (ich stand am 4.4. nicht<br />

in Strasbourg, sondern zusammen mit dem baden-württembergischen<br />

Ostermarsch hinter der Polizeisperre vor der Europabrücke<br />

in Kehl), es ansonsten um die Arbeitsweise des Rostokker<br />

Friedensbündnisses geht, kollektive Unternehmungen auf<br />

mich persönlich projiziert <strong>werden</strong> und mein Rechtsbeistand als<br />

„Verteidiger“ tituliert wird – in der Kriminallogik: ein Täternest<br />

wird ausgehoben, einigen wird gedroht und einer soll hängen,<br />

oder sollte das nicht die Attitüde gewesen sein? - ; ich halte<br />

etliche Fragen für sinn<strong>los</strong> und nenne keinerlei Namen; zwei<br />

Wochen später bei der Staatsanwaltschaft, dort kein Sichaufhalten<br />

mit der Feststellung von Personalien, gleich die Frage<br />

nach einer Namensliste der Busteilnehmer, Ignorieren des<br />

Zeugnisverweigerungsrechts, Verhängung der Kosten für das<br />

Suchen der Liste, sofort Hausdurchsuchungsbefehl (ob er inzwischen<br />

schriftlich vorliegt, ist nicht bekannt), Personenkontrolle<br />

inklusive Abtasten nach Waffen, Hausdurchsuchung, ohne<br />

mir den Zugang zur eigenen Wohnung zu gestatten, auf die<br />

Idee eines der Durchsuchungsbeamten hin Beschlagnahmung<br />

meines Computers, Androhung von Beugehaft, Vorbehalt der<br />

Eröffnung eines Verfahrens wegen Strafvereitelung.<br />

Den Hergang und die Bewertung dieses Vorgehens aus der<br />

Sicht des <strong>Rostock</strong>er Friedensbündnisses haben wir hier geschildert:<br />

http://www.rostocker-friedensbuendnis.de/antimilitaristischer-blog/204.<br />

Wir bewerten dieses Vorgehen,<br />

abgesehen vom Offensichtlichen – dass Kritik an der<br />

NATO nicht mehr geduldet <strong>werden</strong> soll - als eine Intervention<br />

zugunsten der umstrittenen Kriegführung der BRD in Afghanistan<br />

und als einen Angriff auf die Friedensbewegung im Eurofighter-<br />

und Korvettenland MV, der ihr Anliegen diskreditieren,<br />

Daten „sichern“ und die Aktiven zum Schweigen bringen<br />

soll.<br />

Alles das hat mir eine ganz persönliche Perspektive auf das beschert,<br />

was Mancher kaum glauben will: Ja, es wird gar nicht<br />

damit gerechnet, dass man die Absicht haben könnte, friedlich<br />

zu demonstrieren. Politische Motive interessieren nicht. Es<br />

wird sich nicht vorbereitet: Man fragt über Strasbourg zur Gipfelzeit<br />

und streitet über die Schreibung von Toponymen. Es<br />

wird agiert, teils ad hoc und ohne die eigenen Regeln zu beachten.<br />

Die Vorgänge haben bundesweite Beachtung gefunden. Zeitungen<br />

berichten überregional, Webseiten, Blogs und Mailinglisten<br />

nehmen Bezug auf sie. Dies ist nur ein Fall, nicht einmal<br />

besonders spektakulär, trotz seines exemplarischen Charakters,<br />

den wohl viele fühlen. Für mich ist er trotzdem eine neue Erfahrung.<br />

Aber mir helfen frühere, sie einzuordnen: ein dreiundfünfzig<br />

Jahre langes Leben; meine grundsätzliche Rationalität,<br />

die mich Wissenschaftler hat <strong>werden</strong> lassen; Jahre im Ausland,<br />

mit zum Teil behinderter und trotzdem nur ungeliebter<br />

Arbeit; Funktionen gerade in Krisenzeiten mit Zwang zur auch<br />

öffentlichen Auseinandersetzung mit Strukturen und ihren Exponenten;<br />

nicht zuletzt meine Arbeit im <strong>Rostock</strong>er Friedensbündnis,<br />

wo wir uns mindestens zu den Themen Hans Joachim<br />

Pabst von Ohain und Ilja Ehrenburg Fachkompetenz erarbeitet<br />

haben, die auch von außen nachgefragt wird. Deshalb ist es für<br />

mich leichter als für die jungen Leute, die ebenfalls als Zeugen<br />

geladen waren. Und überhaupt keinen Vergleich hält alles das<br />

aus mit der Situation der beiden jungen <strong>Rostock</strong>er, die in Strasbourg<br />

seit Anfang April bis heute in Untersuchungshaft sitzen.<br />

<strong>Sie</strong> <strong>werden</strong> nach wie vor nur VERDÄCHTIGT, an Ausschreitungen<br />

teilgenommen zu haben.<br />

Und ich habe eine weitere Erfahrung gemacht: Solidarität. Für<br />

den Mainstream klingt das Wort altbacken. Aber es lebt. Ich<br />

bin kein in der Wolle gefärbter Bewegungsorientierter und gebe<br />

eine gewisse Reserviertheit im Umgang mit potenziellen<br />

Bündnispartnern zu. Aber was ich jetzt an Solidarität erlebt habe,<br />

lässt mich anders denken: Zuspruch und Hilfeangebote gehen<br />

ein. Bedeutende Summen Geld <strong>werden</strong> gespendet, manchmal<br />

stillschweigend bar auf die Hand. Herzlichen Dank an alle!<br />

Liebe Freundinnen und Freunde, jetzt erst recht: Wir machen<br />

weiter, ganz bestimmt. ¬


0.18 __ //// AKTUELLES<br />

Das Li.Wu. sucht ein neues Zuhause<br />

Viele Besucher ahnten es schon seit Jahren, manche sind noch immer überrascht. „Was, Ihr müsst ausziehen?“, wird abends oft gefragt, wenn<br />

die Eintrittskarte am Tresen den Besitzer wechselt. Diesmal ist es tatsächlich zutreffend. Unsere Spiel-Zeit in der Stephanstraße 7 nähert sich<br />

nach 16 Jahren dem Ende.<br />

ANNE KELLNER<br />

Die Vorgeschichte dazu ist schnell erzählt: Das Gebäude gehört<br />

der Französischen Botschaft bzw. der Republik Frankreich.<br />

Bei der Auflösung des Institut Français im vergangenen<br />

Sommer und der Gründung des Centre franco-allemand de<br />

<strong>Rostock</strong> im September 2008 hat es der damalige Kulturattaché<br />

der Botschaft angekündigt: Das Gebäude solle noch etwa 2<br />

Jahre im Besitz der Behörde bleiben und dann verkauft <strong>werden</strong>.<br />

Nun hat sich noch vor Ablauf dieser Zeit ein Käufer gefunden,<br />

die Kaufabwicklung ist im Gange. Die Anfrage von Kultursenatorin<br />

Dr. Melzer bei der Finanzabteilung der Botschaft ergab<br />

die Aussage, dass die Kündigung an uns gehen solle, sobald der<br />

Kauf abgesch<strong>los</strong>sen sei. Nach Anwalts-Auskunft steht uns eine<br />

Kündigungsfrist von 6 Monaten zu. Noch ist keine Kündigung<br />

bei uns eingetroffen; der Eigentümer in spe hat aber seit einem<br />

ersten Gespräch im Sommer signalisiert, dass ein Kino im Haus<br />

nicht in seine Pläne passe. Da nichts darauf hindeutet, dass der<br />

Verkauf nicht zustande kommen könnte, schauen wir uns nach<br />

neuen Spielmöglichkeiten um. Und nach Lagerfläche, denn<br />

noch bewahren wir die alten Stühle auf, die uns bis zum letzten<br />

Dezember treue Dienste geleistet haben.<br />

„Da könnt Ihr ja jetzt in die Frieda umziehen“, heißt es dann<br />

genauso oft, wenn die Gäste die Lage geschildert bekommen.<br />

Schließlich hat die Bürgerschaft am 9. September grünes Licht<br />

für die Förderung des Projektes Friedrichstraße 23 gegeben.<br />

Aber wer den Plattenbau in der Friedrichstraße kennt, der<br />

weiß: Da ist kein Platz für ein Kino. Noch nicht mal provisorisch.<br />

Erst muss gebaut <strong>werden</strong>, und damit 2010 schon begonnen<br />

<strong>werden</strong> kann mit den Um- und Neubauten, laufen die Vorbereitungsgespräche<br />

mit allen beteiligten Partnern auf Hochtouren.<br />

Frühestens ist mit unserem Umzug aber erst Ende<br />

2011/Anfang 2012 zu rechnen. Dann möchten wir in der Frieda<br />

23 zwei Säle bewirtschaften – einen größeren als den jetzigen,<br />

der 88 Plätze hat, und einen kleineren mit etwa halb so<br />

vielen Sitzen. Dafür bewahren wir übrigens die alten Stühle<br />

auf.<br />

An dieser Stelle wird häufig gefragt: Was wir denn mit zwei Sälen<br />

machen, wenn doch schon in unserem jetzigen Saal die Zuschauer<br />

manchmal ganz unter sich sind? Darauf muss deutlich<br />

gesagt <strong>werden</strong>: Es gibt wiederum so viele ausverkaufte Vorstellungen,<br />

dass wir zunächst einen größeren Saal planen, damit<br />

künftig keine Besucher mehr weggeschickt <strong>werden</strong> müssen. Zumindest<br />

nur noch selten. Denn volle Vorstellungen wünschen<br />

wir uns natürlich auch bei mehr Plätzen. Dann soll im großen<br />

Saal der Schwerpunkt liegen auf Filmen, die mehr Besucher anziehen,<br />

also neueren europäischen Filmen in deutscher Fassung,<br />

und natürlich auch deutschen Filmen, die relativ zeitnah<br />

zum Bundesstart gespielt <strong>werden</strong>. Das heißt nicht unbedingt:<br />

mehr Filme, sondern deren bessere Auswertung, wie es im<br />

Fachjargon heißt. Den zweiten Saal möchten wir haben, um<br />

auch künftig solche „Cineastenfilme“ spielen zu können – ob<br />

es Originalfassungen mit Untertiteln sind, spezielle Autorenfilme<br />

oder Dokumentarfilme –, die ein zahlenmäßig geringeres<br />

Publikum haben, aber dennoch wichtig für unsere Kino-Provinz<br />

sind und die in den vergangenen 16 Jahren das Profil des<br />

Li.Wu. geprägt haben.<br />

Auch für das Schul- und Ferienprogramm ist jetzt eine Erweiterung<br />

möglich. Wir brauchen diese Absicherung. Denn wirtschaftlich<br />

kommt auf uns eine große Veränderung und Herausforderung<br />

zu – auch wenn die Frieda ein gemeinnütziges Projekt<br />

ist und die Mieten dauerhaft stabil sein <strong>werden</strong>. Dank der<br />

langjährigen Vereinbarung mit der Französischen Botschaft<br />

waren unsere monatlichen Zahlungen bisher sehr niedrig. <strong>Sie</strong><br />

ermöglichten die stabilen Eintrittspreise über viele Jahre. <strong>Sie</strong> ermöglichten<br />

zahlreiche Kooperationen für eine geringe Saalmiete<br />

sowie zahlreiche Extras. Wir möchten so viel wie möglich<br />

von dem erhalten, was unser Kino ausmacht. Aber auch wenn<br />

wir kommunale und Landesförderung erhalten: Die wird perspektivisch<br />

nicht steigen, und wir müssen absichern, dass wir finanziell<br />

überleben, ohne unser Profil zu verlieren.<br />

Der erste Sprung ins kalte Wasser steht uns aber direkt bevor:<br />

Bis zum Umzug in die Frieda, der also noch mindestens 2 Jahre<br />

dauern wird, müssen wir eine Interimslösung finden. Noch gibt<br />

es keine befriedigende Lösung, die bezahlbar ist und den Dauer-Spielbetrieb<br />

am Abend und auch das Schulprogramm ermöglicht.<br />

Wir haben verschiedene Objekte besichtigt und Gespräche<br />

geführt; die optimale Variante war noch nicht dabei.<br />

Vorschläge sind also nach wie vor willkommen und können per<br />

E-Mail, telefonisch oder auch persönlich an uns herangetragen<br />

<strong>werden</strong>. Gute Ideen entstehen ja sowieso meist in der Kommunikation.<br />

Auch ein preiswerter Lagerraum, der für Mobiliar geeignet<br />

ist, wird noch gesucht. ¬<br />

Kontakt: mail@liwu.de


FOTO: TOM MAERCKER


0.20 __ //// AKTUELLES: INTERVIEW<br />

„Wir wollten kein<br />

Anzeigenblatt machen“<br />

Die <strong>Stadtgespräche</strong> im Gespräch mit Henryk Janzen, Initiator und Herausgeber des Stadtmagazins 0381<br />

DAS INTERVIEW FÜHRTE KRISTINA KOEBE<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Henryk, vor drei Jahren seid Ihr zu zweit mit<br />

dem Anspruch gestartet, den bis dato existierenden Stadtmagazinen<br />

ein lokalbezogeneres mit gut recherchierten Beiträgen und einem<br />

breiter gefassten Veranstaltungskalender entgegenzusetzen.<br />

Inwieweit konntet Ihr dieses Konzept umsetzen, wo habt Ihr im<br />

Redaktionsalltag (und -stress) „Federn gelassen“?<br />

Henryk Janzen: Durch den Zuspruch unserer Leser fühlen wir<br />

uns in unserem Konzept bestätigt. Natürlich passiert es schon,<br />

dass wir mit dem Kopf schütteln, wenn wir unsere ersten Ausgaben<br />

noch einmal zur Hand nehmen. Bei diesen erkennt man<br />

schon, dass die Produktion eines Magazins für uns alle Neuland<br />

war. Doch wenn man den Weg, den wir beschritten haben,<br />

verfolgt, wird deutlich, dass wir gelernt haben und dass wir<br />

schnell gelernt haben. Dieser Prozess hört natürlich bis heute<br />

nicht auf und er darf auch nicht aufhören, schließlich möchten<br />

wir unseren Lesern ein modernes Magazin in die Hand geben<br />

und für unsere Kunden ein modernes Kommunikationsmedium<br />

sein. Na klar, es sind uns auch ein paar Flausen vom Alltag<br />

ausgetrieben wurden, doch die für so ein Projekt notwendige<br />

Portion Idealismus spüren wir noch immer. Zum Glück!<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie hat sich Eure Arbeit in diesen drei Jahren<br />

verändert - in punkto Arbeitsweise, Struktur und auch „Professionalisierung“?<br />

Henryk Janzen: Angefangen haben wir als kleines Team mit einem<br />

Grafiker und einigen „freien Redakteuren“. Mittlerweile<br />

wurden weitere Stellen geschaffen. Eine Stelle mit einer festen<br />

Redakteurin, ein Kreis von 8 bis 10 „freien Schreibern“ - und<br />

ein zusätzlicher Medienberater ist nun auch noch für uns tätig.<br />

Das 0381-Team wurde also in allen Bereichen erweitert. In unserer<br />

neu geschaffenen Onlineredaktion (seit 2008) arbeiten<br />

weitere 3 Mitarbeiter mit Schwerpunkt Administration, Foto<br />

und Redaktion. Außerdem reichten schon 2008 unsere Büroräume<br />

nicht mehr aus und so mussten wir uns vergrößern.<br />

In Sachen Professionalität mussten wir uns natürlich weiterentwickeln.<br />

In der Anfangszeit zählten noch Nachtschichten,<br />

kurz vor dem Drucktermin zum Alltag. <strong>Hier</strong> haben wir uns<br />

vermutlich mit unserer internen Ablaufplanung innerhalb der<br />

Redaktion am meisten weiterentwickelt. Wir treffen uns zu<br />

wöchentlichen Redaktionskonferenzen, in denen wir alle Themen<br />

der nächsten Ausgabe besprechen und uns auf dem Laufenden<br />

halten. Dort entstehen auch immer wieder neuen Ideen<br />

für Reportagen und Interviews.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie hat sich die Resonanz auf Euer Heft entwickelt:<br />

Ist 0381 in <strong>Rostock</strong> angekommen oder läuft die Etablierung<br />

noch?<br />

Henryk Janzen: Das 0381-Magazin hat sich fest etabliert in <strong>Rostock</strong><br />

und Umgebung. Wir konnten eine breite Leserschaft von<br />

unserem Magazin überzeugen, in allen Altersgruppen. Das<br />

rührt sicherlich von den vielfältigen Themen, die wir im Magazin<br />

beleuchten. Natürlich können wir uns nicht darauf ausruhen.<br />

Es gibt immer wieder Leute, die man neu ansprechen<br />

möchte.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Was waren Dein/Euer schönstes Erfolgserlebnis<br />

und Dein/Euer größter Rückschlag in diesen 3 Jahren?<br />

Henryk Janzen: Unser größtes Erfolgserlebnis ist sicherlich,<br />

dass wir für das Projekt 0381-Magazin spannende Mitstreiter<br />

gewinnen konnten, die am Magazin mitwirken und es so gemeinsam<br />

mit uns weiterentwickeln. Genauso wichtig sind für<br />

uns zuverlässige Partner, die wir unterstützen und die uns unterstützen<br />

wie Empor <strong>Rostock</strong>, die freie Kulturszene <strong>Rostock</strong>s,<br />

<strong>Rostock</strong>er Künstler oder das Volkstheater.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Wenn man das Heft liest, fällt der überdurchschnittlich<br />

hohe Anteil lokaler Werbekunde auf - ein sympathischer Aspekt, der<br />

sicher aber auch viel Zeit und Kraft kostet - ?<br />

Henryk Janzen: Oft kommen lokale Anzeigenkunden auf uns


zu. Da wir ein Magazin von <strong>Rostock</strong>ern für <strong>Rostock</strong>er sind, erreichen<br />

wir durch unseren großen redaktionellen Anteil mit lokalem<br />

und regionalem Bezug (ohne dabei den Blick über den<br />

berühmten Tellerrand hinaus zu vergessen), die Zielgruppe der<br />

hier ansässigen Unternehmen recht gut. Mit Glaubwürdigkeit<br />

durch die geschriebenen Beiträge und einem umfangreichen,<br />

aber trotzdem kompakten Veranstaltungskalender ist der Identifikationsgrad<br />

der Leser mit dem 0381-Magazin sehr hoch.<br />

Dies kommt natürlich den Anzeigenkunden zugute, da sie so<br />

ihre Zielgruppe in der Region gut erreichen. Was nicht bedeutet,<br />

dass wir für nationale Werbeagenturen uninteressant sind.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Stichwort „Wirtschaftskrise“: Macht sie Euch<br />

zu schaffen?<br />

Henryk Janzen: Natürlich hat die Krise nicht vor den Toren unserer<br />

Stadt halt gemacht. Dem tragen wir Rechnung, indem wir<br />

noch enger mit unseren Werbepartnern zusammenarbeiten.<br />

Der gute alte Spruch aus der Werbebranche „Wer nicht wirbt,<br />

der stirbt“ scheint auch in der Wirtschaftskrise Bestand zu haben.<br />

Unseren Partnern ist wichtig, wo sie ihre Produkte bzw.<br />

Dienstleistungen kommunizieren. Schließlich wissen sie, wen<br />

man mit dem 0381-Magazin erreicht. Eine Leserschaft zwischen<br />

16 und 75 Jahren ist nun mal für alle Branchen interessant.<br />

Für uns war immer klar, wir machen ein Stadt- und Kulturmagazin<br />

und benötigen Anzeigenkunden, um das Magazin<br />

zu finanzieren. Wir wollten kein Anzeigenblatt machen! Ich<br />

denke, dies wird auch der Grund für unsere starke Akzeptanz<br />

bei den Lesern sein.<br />

<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie geht’s perspektivisch weiter: Wollt Ihr an-,<br />

aus- oder umbauen oder dem bewährten Pfad folgen? Was können<br />

wir in den nächsten 3 Jahren von „0381“ erwarten?<br />

Henryk Janzen: Die Qualität soll in erster Linie erhalten bleiben<br />

und nach Möglichkeit ausgebaut <strong>werden</strong>. Dafür suchen<br />

wir natürlich immer wieder weitere „Stadtschreiber“, die sich in<br />

ihrem Bereich auskennen und objektiv aus ihrer Szene berichten<br />

können. Außerdem möchten wir auch unser zweites Medium,<br />

die Webpräsenz www.0381.info weiter ausbauen und alle<br />

Möglichkeiten der digitalen Welt nutzen, um Information<br />

möglichst schnell und glaubwürdig zu transportieren. ¬


Roland<br />

FOTO: TOM MAERCKER


0.23 __ //// AKTUELLES: UMFRAGE<br />

Die aktuelle „<strong>Stadtgespräche</strong>“-Umfrage:<br />

Wen hältst Du derzeit für am fähigsten,<br />

Oberbürgermeister von <strong>Rostock</strong><br />

zu sein. Warum?<br />

Ohne langes Nachdenken fällt mir dafür sofort Wolfgang<br />

Methling, DIE LINKE, ein. Er hat sich über viele Jahre hinweg<br />

als glaubwürdiger und kompetenter Politiker profiliert, ist <strong>Rostock</strong>er<br />

und kennt somit die Stadt mit allen Stärken und<br />

Schwächen. Für Wolfgang Methling spricht außerdem, dass er<br />

sozusagen „von außen“ kommt, also weder durch langjährige<br />

Bürgerschaft noch Verwaltungsarbeit in der Hansestadt vorbelastet<br />

ist. Ein Oberbürgermeister von <strong>Rostock</strong> muss sich mit<br />

der Stadt verbunden fühlen, politische Erfahrung haben und<br />

eine starke Fraktion innerhalb der Bürgerschaft repräsentieren.<br />

Darüber hinaus sollte er selbstverständlich Führungsqualitäten<br />

haben und auch parteiübergreifend Akzeptanz sowie Respekt<br />

genießen. Alle diese Qualitäten vereint Wolfgang Methling aus<br />

meiner Sicht auf sich.<br />

Sabine, selbständig, <strong>Rostock</strong>erin seit 1987<br />

Meinen Wunschkandidaten gibt es nicht. Der muss wahrscheinlich<br />

erst geboren <strong>werden</strong>, oder man stellt sich der Herausforderung<br />

selbst. Aber ich kann ihn definieren: eine Person<br />

mit genug Rückgrat und Selbstbewusstsein, die sich für soziale,<br />

ökonomische und wirtschaftliche Ideale einer bürgerlichen<br />

Mehrheit einsetzt, Transparenz zwischen Politik und Bürger<br />

schafft, sich ganz klar und deutlich positioniert und sich für eine<br />

Stadt mit Bildung, Kultur und Sport einsetzt, die bürokratischen<br />

Wege optimiert und kanalisiert, wichtige Anliegen vom<br />

Unwichtigen trennt, Korruption unterwandert und ausschließt<br />

und sich seiner Aufgabe und seines Amtes in jeder Hinsicht bewusst<br />

ist.<br />

Kathrin, 27, Studentin Wirtschaftsingenieurwesen<br />

Sehr schwierig – seit Steffen Bockhahn sich für die Bundespolitik<br />

entschieden hat, fällt mir keiner mehr ein. Sebastian Schröder<br />

fand ich glaubwürdig, aber er ist SPD-Kandidat und brächte<br />

wahrscheinlich den alten Filz zurück. Und die SPD ist ohnehin<br />

gerade nicht so angesagt. ;-) Sibylle Bachmann macht gute<br />

Politik, schafft es aber zu wenig, Mehrheiten zu bilden und damit<br />

ihre guten Ideen auch auf eine breite Basis zu heben. Mal<br />

abwarten, was die Bürgerschaftsneulinge so zeigen und bringen,<br />

von denen habe ich noch nicht viel mitbekommen.<br />

Katharina, 34, Ärztin<br />

Ich sehe keinen besseren Kandidaten als den Herrn Amtsinhaber.<br />

Wo gehobelt wir, fallen Späne, und ich kann mir kaum<br />

Herrn Pöker zurückwünschen, auch wenn ich es manchmal<br />

wollte, denn damals wollte ich den auch nicht mehr. Sollen mir<br />

also die, die Herrn Methling das Leben meinen so schwer machen<br />

zu müssen (und damit <strong>Rostock</strong> faktisch lahmlegen) doch<br />

mal erklären, wie eine Stadt vorankommen soll, in der sich die<br />

Gremien munter gegenseitig neutralisieren. Die Zustimmung,<br />

die Herr Methling bei seiner Wahl bekommen hat, muss ihm<br />

erstmal einer nachmachen. Nun versucht er Mut und Durchsetzungskraft<br />

zu demonstrieren - mehr, als ich ihm damals zugetraut<br />

hatte - und macht deutlich, dass er bereit ist, für auch<br />

mutige Entscheidungen einzustehen (all das, was von Politikern<br />

doch immer verlangt wird), und dann schmeißt man ihm<br />

Knüppel um Knüppel zwischen die Beine. Methling: find' ich<br />

gut!<br />

Sven-Markus, Rechtsanwalt<br />

Guido Westerwelle. Das offenbar so schwierige Amt des <strong>Rostock</strong>er<br />

Oberbürgermeisters könnte seinem zu erwartenden<br />

Bundesministerposten vorgeschaltet <strong>werden</strong>. Besteht er die<br />

Eignungsprüfung und bringt <strong>Rostock</strong> innerhalb von zwei Jahren<br />

in schwarze Zahlen, darf er wieder nach Berlin wechseln.<br />

Volker, 42, Bibliotheksassistent<br />

Ich habe keine spontane Antwort parat, also keine konkrete<br />

Namensnennung. Aber ich schlage vor, endlich mal eine kompetente<br />

OBERBÜRGERMEISTERIN ins Spiel zu bringen<br />

(gab es so etwas - außer als Interimsfigur - schon mal in <strong>Rostock</strong>???).<br />

Dazu gibt es doch ermutigende Beispiele aus Wismar<br />

und jetzt seit kurzem auch aus Schwerin. Ich denke, dass die<br />

viel beschworene „weibliche soziale Kompetenz“ (das soll jetzt<br />

um Himmels Willen nicht sexistisch klingen), gepaart mit diplomatischem<br />

Geschick und strategischer Klarheit, enorm zur<br />

Auflockerung scheinbar heil<strong>los</strong> festgefahrener Strukturen äußerst<br />

dienlich sein dürfte - quasi als Gegengift zu gewissen zwischenmenschlichen<br />

Inkompetenzen im - nicht nur - maskulinen<br />

Machtgerangel, die hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.<br />

Matze, 47, Musiker<br />

Die Diskussionsbeiträge zeigen vor allem Eines: Auch Kritikern des amtierenden<br />

Oberbürgermeisters fällt es schwer, geeignete Alternativen zu<br />

benennen. Diskutieren <strong>Sie</strong> mit: www.stadtgespraeche-rostock.de ¬


0.24 __ //// KONZEPTIONELLES: STADTGESTALTEN<br />

Am 4.10.2009 hat unter stadtgestalten.org eine neue und neuartige,<br />

unabhängige Plattform für <strong>Rostock</strong> ihre Arbeit aufgenommen.<br />

Der nachfolgende Beitrag gibt nur eine der dort<br />

derzeit geführten Diskussionen von Bürgern für die Bürger<br />

unserer Stadt wieder. Mehr zur Plattform auf der hinteren<br />

Umschlagseite dieses Heftes und natürlich auf der Seite<br />

selbst: stadtgestalten.org<br />

Aktuelle „Stadtgestalten“-Debatte<br />

Energie in<br />

Bürger(innen)-<br />

Wir<br />

sind<br />

stadt<br />

hand<br />

VON REINHARD KNISCH, JOHANN-GEORG JAEGER UND KRISTINA KOEBE<br />

Stadtgestalt 1:<br />

In Freiburg hat sich eine neue Initiative, „Energie in Bürgerhand“,<br />

gegründet, die so toll klingt, dass ich mir Gleiches auch<br />

für <strong>Rostock</strong> wünschen würde. Lest mal:<br />

„Mit schon 500 Euro bist Du Miteigentümer von 90 Stadtwerken<br />

mit 7,5 Millionen Kunden. Du kannst mitbestimmen, ob<br />

diese mit Atomstrom oder grünem Strom versorgt <strong>werden</strong>. Du<br />

kannst dafür sorgen, dass Millionenbeträge nicht länger in<br />

Konzernkassen versickern, sondern zurück in die Taschen der<br />

Bürger vor Ort fließen. Freiburger Bürger haben die „Genossenschaft<br />

Energie in Bürgerhand“ gegründet, um gemeinsam<br />

mit vielen anderen die Idee einer ökologischen und zukunftsweisenden<br />

Energiewirtschaft zu verwirklichen. Jeder kann als<br />

gleichberechtigtes Mitglied der Genossenschaft beitreten. Er<br />

erhält unabhängig von der Höhe seines Anteils eine Stimme.<br />

So ist auch ausgesch<strong>los</strong>sen, dass sich Investmentgesellschaften<br />

einkaufen können, um unsere Ziele zu beeinflussen! (Mehr Infos:<br />

www.energie-in-buergerhand.de)<br />

Warum geht so etwas nicht auch hier? Damit bekämen die <strong>Rostock</strong>er<br />

dann auch Mitspracherecht, welche Formen der Energiegewinnung<br />

sie nicht wollen und welche sie bevorzugen. Und<br />

könnten damit einen wichtigen Bereich ihrer Stadt mit gestalten.<br />

Stadtgestalt 2:<br />

Ja tolle Idee, aber der Stadt und damit ihren Bürgern gehören<br />

doch schon die <strong>Rostock</strong>er Stadtwerke zu immerhin noch ca.<br />

80% (sofern Methling nicht den Rest verscheuert) und es ist<br />

sogar eine Aktiengesellschaft. Es gibt einen Aufsichtsrat aus<br />

Abgeordneten und Arbeitnehmern, also alle Einflussmöglichkeiten<br />

auf die Unternehmenspolitik. Eines der wichtigsten Ziele<br />

ist, jährlich 10 Mio € zu verdienen, um die Straßenbahn in<br />

<strong>Rostock</strong> zu finanzieren. Wenn die Bürgerschaft will, kann sie


Aktien an die <strong>Rostock</strong>er Einwohner verkaufen! Aber was<br />

könnten die Aktienkäufer dafür erwarten? Der Eigenkapitalanteil<br />

der Hansestadt <strong>Rostock</strong> an den Stadtwerken beträgt<br />

knapp 100 Mio €, bei einem Jahresumsatz von 217 Mio €<br />

(2008). Würden nach oben vorgeschlagenem Verfahren 500-<br />

Euro-Anteile verkauft, so bräuchte man dafür 200 000 Käufer,<br />

gerade mal die Einwohnerzahl <strong>Rostock</strong>s vom Säugling bis zum<br />

Greis. Die könnten dann den Gewinn von 10 Mio € unter sich<br />

verteilen, um ihn dann anschließend beim Straßenbahn fahren<br />

gleich wieder auszugeben.<br />

Stadtgestalt 1:<br />

Aber die Initiative „Energie in Bürgerhand“ will doch mitbestimmen,<br />

wie der Strom erzeugt und verkauft wird, dabei geht<br />

es vorrangig darum, keinen Atomstrom mehr zu verwenden<br />

und den aus fossilen Energieträgern gewonnenen Strom zugunsten<br />

der erneuerbaren Energien zurückzudrängen. Damit haben<br />

die Eigentümer etwas Nachhaltiges für das Klima durch<br />

CO2-Einsparung getan.<br />

Stadtgestalt 2:<br />

Auf der Internetseite der Bürgerinitiative findet sich die Aufklärung,<br />

dass eine Genossenschaft keine Basisdemokratie ist,<br />

sondern die gesetzlich vorgeschriebenen Organe (Vollversammlung,<br />

Aufsichtsrat und Vorstand) klare Aufgaben und<br />

Verantwortung haben. Die Eigentümervollversammlung gibt<br />

die Unternehmenspolitik vor, der Vorstand setzt um und der<br />

Aufsichtsrat kontrolliert. Die Kunst dürfte darin bestehen, zwischen<br />

den altruistischen Zielen und der Rentabilität des Unternehmens<br />

einen Spagat zu machen, der auch akzeptiert wird!<br />

Ein schlechtes Beispiel habe ich parat:<br />

Lichtblick- eine Alternative?<br />

Da kam doch Hoffnung auf - ein Stromversorger der aus erneuerbarer<br />

Energie gewonnenen Strom anbietet und dann auch<br />

noch zu einem Preis der praktisch kaum teurer ist. So wurden<br />

wir dann auch Kunden, die Ummeldung geht problem<strong>los</strong> und<br />

birgt kein Risiko, allein das gute Gefühl mit Ökostrom zu leben….<br />

Nach einem halben Jahr habe ich mich über meine Kontoabbuchungen<br />

gewundert, eine unbekannte Summe tauchte da<br />

auf, ach so Lichtblick, aber das war doch vorher weniger?<br />

Die Erklärung: Die Ankündigung der Preiserhöhung hatte<br />

mich, aus welchem Grund auch immer, nicht erreicht, es war<br />

global gerade der Ölpreis durch die Decke gegangen und da<br />

zog Lichtblick eben nach. Aber warum eigentlich? Wasser,<br />

Wind, Sonne sind doch nicht teurer geworden? Eine Diskussion<br />

im Deutschlandfunk brachte die verblüffende Erklärung:<br />

Lichtblick ist ein Wirtschaftsunternehmen und schon alleine<br />

aus wirtschaftlichen und steuerlichen Gründen könne man<br />

nicht auf Einnahmen verzichten, wenn sich am Markt höhere<br />

Preise für Strom erzielen lassen. Und darum müsse auch der<br />

Ökostrom teurer <strong>werden</strong>!<br />

Ich glaube nicht, dass diese Begründung stimmt. Vermutlich<br />

wollen die Eigentümer eben auch nur Kohle (wenn sie schon<br />

zur Stromerzeugung keine verwenden) machen. Wir stellen<br />

uns vor, das wäre anders gelaufen, dann wäre der Ökostromanteil<br />

in Deutschland heute wesentlich größer, was allerdings zur<br />

Folge hätte, dass die großen Stromkonzerne ihrem gesetzlich<br />

vorgeschriebenen Strommix weniger teuren Ökostrom beimischen<br />

müssten. Das wiederum bringt nicht automatisch eine<br />

Senkung des Stromtarifs, sondern erstmal eine Steigerung des<br />

Gewinns<br />

Zurück zu unseren Stadtwerken: Nach gesetzlich zu veröffentlichenden<br />

Angaben haben die Stadtwerke 2008 für 2,1 Mio €<br />

von den Anlagenbetreibern für aus Wind, Sonne und Biomasse<br />

erzeugten Strom gekauft. Das ist zwar nur 1% des Jahresumsatzes<br />

von 217 Mio €, aber der Energiemix hat sich seit 2008 verändert.<br />

Wie die 99.000 Stromkunden der Stadtwerke auf ihren<br />

Rechnungen lesen können, wird der Strom zu 40% aus fossiler<br />

Energie (durch das eigene Gaskraftwerk erzeugt) und 60% erneuerbare<br />

Energie (lt. Aussage der Stadtwerke Wasserkraft aus<br />

Skandinavien) erzeugt. Die 6% Kernenergie, die früher angegeben<br />

wurden, tauchen nicht mehr auf!<br />

Hat also doch der Aufsichtsrat als Vertreter der Bürgerschaft<br />

und damit der unterschiedlichen politischen Richtungen den<br />

richtigen Einfluss auf die Unternehmensentwicklung genommen?<br />

Minderheitsgesellschafter bei den Stadtwerken ist Vattenfall<br />

und die betreiben ja nun nicht nur Wasserkraftwerke in Skandinavien<br />

sondern auch Atomkraftwerke! Ob der Strom dann<br />

wirklich wie angegeben in unsere Steckdosen fließt? Aber sicher<br />

kommt er nicht vom Pannenreaktor Krümmel, denn der<br />

ist ja immer abgeschaltet.<br />

Zu den Stadtwerken müsste ich mehr schreiben, aber grundsätzlich:<br />

Ich will sie möglichst nicht privatisieren! Auch 500<br />

Euro Aktien sind klar eine Privatisierung - sie gehören dann<br />

nicht mehr der Gemeinschaft. Du kannst auch bei E.on Aktien<br />

für 500 Euro kaufen und Dich dann auf der Jahreshauptversammlung<br />

für Ökostrom einsetzen.<br />

Ob Stadtwerke <strong>Rostock</strong> oder Lichtblickstrom ist in Bezug auf<br />

den Regenerativstromanteil in Deutschland völlig schnuppe!<br />

Beide kaufen Zertifikate zur „Stromveredelung“ - das ist praktisch<br />

nur Ablasshandel, der keine einzige zusätzliche kWh aus<br />

Ökostrom erzeugt. Im Gegensatz zu den Stadtwerken steckt<br />

Lichtblick einen kleinen Teil der Gewinne in regenerative<br />

Stromerzeugungsanlagen, die allerdings auch ohne Lichtblick<br />

gebaut worden wären. Die Stadtwerke unterstützen mit 70%<br />

ihrer Gewinne praktisch den städtischen Haushalt (über den<br />

Umweg der RVV). Wer bei E.on ist, kann mit dem Wechsel zu<br />

Lichtblick ein wichtiges politisches Zeichen setzen. Wer bei<br />

den Stadtwerken bleibt, setzt dieses Zeichen auch und kann<br />

sich an den Gewinnen auch als Bürger/in dieser Stadt freuen.<br />

<strong>Sie</strong> möchten weiterdiskutieren? www.stadtgestalten.org ¬


0.26 __ //// KONZEPTIONELLES: STADTPOLITIK<br />

Vorschlag:<br />

Zwei innerstädtische<br />

Museumszentren<br />

Die Zukunft der <strong>Rostock</strong>er Museen im Einzelnen und als Ganzes wird derzeit in Ausschüssen, Fraktionen<br />

und der Bürgerschaft heißt diskutiert. Nachfolgend stellen wir einen der derzeitigen Vorschläge vor - in<br />

den folgenden Heften <strong>werden</strong> wir über andere Vorstellungen und den weiteren Verlauf der Debatte berichten.<br />

DR. SIBYLLE BACHMANN<br />

Der nachfolgende Konzeptumriss für zwei innerstädtische Museumszentren erschien am 21.08., vor Veröffentlichung des Konzeptes<br />

der Hansestadt <strong>Rostock</strong> am 24.08.09. Die Stadt strebt einen Grundsatzbeschluss zur Museumslandschaft mit vier Schwerpunkten<br />

an: Kunst- und Kulturgeschichte, Moderne Kunst, Maritime Technik, Volkskunde. Dem städtischen Konzept fehlt es an einer<br />

Zukunftsvision für eine Kultur- und Museumslandschaft, ebenso wie an einer Einbettung in Nordeuropa- und Landesentwicklungen.<br />

Daran soll in den kommenden Monaten gearbeitet <strong>werden</strong>. Das von mir vorgelegte Konzept widmet sich einigen Punkten,<br />

die das städtische Konzept nicht beinhaltet: Eine mögliche Entscheidung zum Traditionsschiff und zur Neugestaltung des IGA-<br />

Parks, dem Erfordernis eines umfassenden Museumskonzeptes sowie eines Marketingkonzeptes. Die Positionen zu zwei innerstädtischen<br />

Zentren stimmen weitgehend mit den städtischen Ideen überein. Die Debatte mit allen Interessierten ist somit eröffnet:<br />

Neugestaltung des IGA-Parks mit Traditionsschiff zu einem Erholungs- und Freizeitpark ohne Traditionsschiff<br />

Vorteile:<br />

- Verbindung von aktiver Erholung und Freizeit anstelle von Erholung und Museum<br />

- keine Lärmbelästigung durch Freizeitaktivitäten aufgrund der Lage<br />

- attraktive Freizeitaktivitäten wie Wasserski, Wintereisbahn, Fahrgestelle, Minigolf, Konzerte etc.<br />

- Erhöhung der Einnahmen durch größere Attraktivität<br />

Voraussetzungen:<br />

- Verlagerung aller Museumsbestandteile<br />

- Abklärung der Bindung der Fördergelder (rd. 1,3 Millionen Euro) für die Museumsbestandteile an den Standort (bisher bis<br />

2031 gebunden) beim Wirtschaftsministerium M-V<br />

- Gewinnung des Wirtschaftsministeriums für ein integriertes Museumskonzept an einem anderen Standort, der mehr Einnahmen<br />

verspricht<br />

Tausch der Liegeplätze von Georg Büchner und Traditionsschiff<br />

Vorteile:<br />

- Einhaltung des Rahmenplans Stadthafen, der nur eine einzige dauerhafte Verankerung auf dem Wasser gestattet (bisher Georg<br />

Büchner)<br />

- Nutzung der landseitigen Medienanbindung durch den Tausch der Schiffe (kostengünstigere geringe Veränderungen anstelle<br />

einer kompletten Neuanbindung)<br />

- Nichtüberlastung des innerstädtischen Standortes mit zwei großen Schiffen<br />

Voraussetzungen:<br />

- Akzeptanz des Liegeplatzwechsels bei den Eignern/Nutzern der Georg Büchner<br />

- finanzielle Unterstützung des Liegeplatztausches durch die Stadt<br />

- Zustimmung des Wirtschaftsministeriums (siehe 1.)


Aufbau zweier innerstädtischer Museumszentren<br />

3.1 Schifffahrts-/Schiffbau-/Technikmuseum am Wasser<br />

Vorteile:<br />

- Herstellung einer räumlichen Nähe von Museumsschiffen bzw. Ausstellungsstücken im Außenbereich mit einem Museum an<br />

Land<br />

- Verbindung von Schifffahrts- und Schiffbaumuseum, Werftentwicklung, Technikgeschichte (auch Heinkel und Arado) sowie<br />

neuesten Entwicklungen (Offshore)<br />

- Einnahmeerhöhung durch Attraktivitätssteigerung<br />

Voraussetzungen<br />

- Festlegung eines Standortes (vorzugsweise Kabutzenhof/Werftgelände unter Einbeziehung der Heinkel-Mauer und des freien<br />

Geländes; möglichst nicht Innenstadthafen wegen Beeinflussung der Sicht auf/von Gehlsdorf und fehlendem Gelände für einen<br />

landseitigen Museumsbau)<br />

- Übereinkunft mit Grundstücks-/Immobilieneignern<br />

- inhaltliches Museumskonzept<br />

3.2 Kunsthistorisches, Kultur- und Stadtgeschichtliches Museum Rosengarten an zwei Standorten<br />

Vorteile:<br />

- inhaltliche Verbindung der Standorte K<strong>los</strong>ter und August-Bebel-Straße<br />

- räumliche Nähe der beiden Standorte<br />

- Erweiterung der Ausstellungsfläche gegenüber den bisherigen Möglichkeiten<br />

- Präsentierung des vorhandenen Fundus<br />

- Einnahmeerhöhung durch Attraktivitätssteigerung<br />

Voraussetzungen:<br />

- Sanierung des Gebäudes in der August-Bebel-Straße<br />

- inhaltliches Museumskonzept<br />

Umfassendes Museumskonzept<br />

Vorteile:<br />

- Erfassung räumlicher, inhaltlicher, finanzieller und anderer Voraussetzungen<br />

- Ermöglichung einer mittel- und langfristigen Planung<br />

- Einbeziehung aller Beteiligten und Erschließen neuer Partner (z.B. Schulen, Vereine, die außerschulisch für Schüler/Jugendliche<br />

tätig sind)<br />

- gezielte Steuerung zukünftiger Prozesse<br />

Voraussetzung:<br />

- Entscheidung über Inhalte und Standorte der <strong>Rostock</strong>er Museen<br />

- Beibehaltung der Museen in kommunalem Eigentum zum Erhalt der Steuerungsfähigkeit und Einheitlichkeit des Handelns<br />

bei gleichzeitiger Ermöglichung einer privaten Betreibung (der Stadt gehören die Immobilien und Kunstwerke, das Personal<br />

selbst bei privater Betreibung wird derzeit ebenfalls durch die Stadt finanziert, die auch Verwaltungsdienstleistungen übernimmt)<br />

Einheitliches Museums- und Kulturmarketing<br />

Vorteile:<br />

- Vereinheitlichung des Auftritts aller <strong>Rostock</strong>er Museen und Kultureinrichtungen<br />

- Heraushebung aus allgemeinem Stadt- und Wirtschaftsmarketing<br />

- Gewinnung neuer Partner und Sponsoren<br />

Voraussetzungen:<br />

- Vorliegen eines einheitlichen Museums- bzw. Kulturkonzeptes<br />

- umfassendes Marketingkonzept mit Markenname, integrierter Kommunikation, einheitlichem Auftritt usw.<br />

- Personalkapazität ¬


0.28 __ //// KONZEPTIONELLES: STADTPOLITIK<br />

Demokratisierung der<br />

kommunalen Ausgaben<br />

– Eine Vision<br />

In Bezug auf die sogenannten freiwilligen Leistungen der Stadt, darunter Theater, Museen und Zoo gilt: Etwa<br />

20% der <strong>Rostock</strong>erInnen verbrauchen 80 % der freiwilligen Ausgaben, die übrigen 80% der <strong>Rostock</strong>erInnen<br />

lediglich 20%. – Ungerecht, findet unser Autor Reinhard Knisch. Und macht einen Veränderungsvorschlag.<br />

REINHARD KNISCH<br />

1.Situationsbeschreibung:<br />

Die städtischen Ausgaben für so genannte freiwillige Leistungen<br />

<strong>werden</strong> von den Einwohnern der Stadt höchst unterschiedlich<br />

in Anspruch genommen. Es wird eingeschätzt, dass auch<br />

hier der 80:20-Grundsatz zutrifft: Etwa 20% der <strong>Rostock</strong>erInnen<br />

verbrauchen 80 % der freiwilligen Ausgaben, die übrigen<br />

80% der <strong>Rostock</strong>erInnen lediglich 20%. Warum das so ist und<br />

wie das mit dem Ziel einer möglichst gerechten Inanspruchnahme<br />

der Angebote durch alle Einwohner geändert <strong>werden</strong><br />

kann, wird im Folgenden erläutert.<br />

2. Welche Kommunalen Angebote sind das?<br />

Freiwillige Leistungen sind all jene, die nicht zu den Pflichtaufgaben<br />

gehören, darunter beispielsweise die für Museen, Kunsthalle,<br />

Theater, Konservatorium, Zoo, Stadthalle, Jugendclubs,<br />

Messe, Stadtbibliothek, Schwimmhalle, Volkshochschule,<br />

IGA-Gelände.<br />

Die städtischen Pflichtaufgaben sind Unterhalt und Zuschüsse<br />

für Schulen, Kitas und Nahverkehr, auch Sozialhilfeleistungen<br />

gehören dazu. Einige der oben genannten Aufgaben sind zwar<br />

Pflichtleistungen (z B. die Volkshochschule), doch ihr Umfang<br />

ist von der kommunalen Entscheidung abhängig und damit eigentlich<br />

Ermessenssache.<br />

3. Dimension der Ungerechtigkeit:<br />

Wenn die Ausgaben der Stadt für den gesamten freiwilligen Bereich<br />

etwa 50 Mio € (einschließlich der enthaltenen Landeszuschüsse)<br />

betragen, also pro Einwohner etwa 250 €, erhalten im<br />

Falle der o. g. 80:20 Verteilung 20% der <strong>Rostock</strong>erInnen etwa<br />

1000 €, jedoch 80% der <strong>Rostock</strong>erInnen nur etwa 60 €. Ist das<br />

demokratisch und gerecht? Es sind bestimmte Einwohnergruppen,<br />

die ins Theater gehen, Sprachkurse in der Volkshochschule<br />

belegen, ihre Kinder ins Konservatorium oder die Kunstschule<br />

schicken und am Sonntag gemeinsam in den Zoo gehen.<br />

Natürlich könnte die Mehrheit der <strong>Rostock</strong>er Bevölkerung, die<br />

alle diese Angebote wenig oder gar nicht nutzt, es ebenso tun.<br />

Aber aus vielerlei Gründen tut sie es nicht! Alle gut gemeinten<br />

öffentlichen Aufforderungen haben nichts daran geändert. Die<br />

Kosten würden bei vielen Einrichtungen noch nicht einmal<br />

steigen, wenn sie mehr genutzt würden (Zoo, Museen usw.).<br />

Wenn die Stadtbibliothek fast 40.000 Leser für ihr wirklich gutes<br />

Angebot interessiert hat, ist das trotzdem, auswärtige Leser<br />

abgerechnet, höchstens jeder 6. Mensch im Lesealter. In das<br />

Theater mit jährlich 180.000 Besuchern geht gerade nicht jeder<br />

<strong>Rostock</strong>er Einwohner einmal jährlich. Stattdessen setzt sich<br />

die Summe aus einem noch kleineren Bevölkerungsanteil von<br />

etwa 5% regelmäßiger Theaterbesucher und einem nicht viel<br />

größeren Anteil gelegentlicher Besucher zusammen. Die übergroße<br />

Mehrheit der <strong>Rostock</strong>er Bevölkerung war entweder noch<br />

nie oder seit der Wende nicht mehr oder allenfalls beim Weihnachtsmärchen<br />

oder dem Schulprojekttag im Theater. Das<br />

Theater ist jedoch der größte finanzielle Posten des Kulturhaushalts!<br />

Die Hörer der Volkshochschule sind mit Ausnahme des kleinen<br />

Bereichs „Schulabschlüsse“ eine ganz klar eingrenzbare Bevölkerungsgruppe<br />

von unter 10% der Einwohner. Da diese kleinen<br />

privilegierten Gruppen weitgehend übereinstimmen, ist<br />

die oben getroffene 20:80-Einschätzung realistisch, möglicherweise<br />

sogar noch untertrieben.


Kinogänger und Besucher von Discos und Rockkonzerten bekommen<br />

keinerlei öffentliche Zuschüsse sondern zahlen kostendeckende<br />

Eintrittspreise und finanzieren, z. B. mit der<br />

Filmabgabe, den geförderten Kulturbereich mit.<br />

4. Wie kann das geändert <strong>werden</strong>?<br />

Jede/r <strong>Rostock</strong>erIn (mit Hauptwohnsitz in <strong>Rostock</strong> gemeldet,<br />

auch für Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit) erhält<br />

eine nichtübertragbare Jahresbonuskarte, auf der die auf jeden<br />

Einwohner entfallende Durchschnittssumme der freiwilligen<br />

kommunalen Finanzausgaben gutgeschrieben wird. Abhängig<br />

von der Festlegung, was dazugehört (mit oder ohne Nahverkehr?),<br />

kommen da für jeden <strong>Rostock</strong>er schon ein paar hundert<br />

Euro zusammen, ohne dass die Bürger einen Cent mehr als<br />

bisher an städtischen Abgaben zahlen müssen. Die kommunalen<br />

Einrichtungen kalkulieren kostendeckende Preise für ihre<br />

Angebote und die Einwohner zahlen die Eintrittspreise mit ihrer<br />

Bonuskarte. Diese sind dann deutlich höher als bisher, dafür<br />

müssen die Bürger, solange sie ihren Bonus nicht verbraucht<br />

haben, keinen zusätzlichen „echten“ Euro zahlen.<br />

Wenn der Bonus des Einwohners verbraucht ist, muss mit<br />

„echten“ Euro gezahlt <strong>werden</strong>, allerdings gelten dann andere,<br />

niedrigere, marktfähige Preise, die auch Touristen, Nichtrostokker<br />

und Menschen mit Nebenwohnung in <strong>Rostock</strong> zahlen.<br />

7. Warum wird es dieses Konzept schwer haben?<br />

Weil alle politischen Entscheidungsträger ihre jetzigen Privilegien<br />

verlieren. Die Bonuskarte reicht für die 20% der Bevölkerung<br />

die kommunale Dienstleistungen überdurchschnittlich in<br />

Anspruch nehmen nicht aus, wenn alle Einwohner das gleiche<br />

Recht bekommen. Darum müssen diese Einwohner einen Teil<br />

der bisher stark subventionierten Angebote kostendeckend bezahlen.<br />

Besonders stark wird es die im <strong>Rostock</strong>er Umland wohnenden<br />

Eigenheimbesitzer treffen - denn sie bekommen keine<br />

Bonuskarte, wenn sich Gemeinden und Landkreis nicht am<br />

Bonussystem beteiligen.<br />

Da diese Gruppe jedoch die öffentliche Meinung und die politischen<br />

Strukturen dominiert, wird es schwierig <strong>werden</strong>, dieses<br />

Konzept umzusetzen, auch wenn es für 80% der <strong>Rostock</strong>er<br />

Einwohner eine deutliche Verbesserung ihrer Lebenssituation<br />

erbringt. Dabei <strong>werden</strong> die Bedenken der Juristen und Kommunalaufseher<br />

nur einen kleinen Teil der Widerstände ausmachen.<br />

Viel schwerer wird die Keule des Populismus geschwungen<br />

<strong>werden</strong>. „Dann bleibt nur die Schwimmhalle und das<br />

Theater geht ein!“ Die Antwort kann nur lauten: Das Theater<br />

wird bleiben, wenn genügend <strong>Rostock</strong>er mit ihrer Bonuskarte<br />

und echten Euro Theaterkarten kaufen. ¬<br />

5. Wo bleibt das Haushaltsrecht der Bürgerschaft?<br />

Die Einführung der <strong>Rostock</strong>er Bonuskarte müsste über einen<br />

Zeitraum von mindestens 5 Jahren erfolgen. Im ersten Jahr<br />

<strong>werden</strong> nur 20% der freiwilligen Ausgaben an die <strong>Rostock</strong>er<br />

per Bonuskarte ausgegeben. Im Ergebnis der Nachfrage und<br />

der finanziellen Situation der betroffenen kommunalen Einrichtungen<br />

wird dieser Anteil jährlich gesteigert.<br />

Aufgabe der Stadtverwaltung und der Bürgerschaft ist es hierbei,<br />

politisch verantwortlich zu entscheiden, welche Angebote<br />

auch bei dauerhaft nicht ausreichender Finanzierung trotzdem<br />

erhalten <strong>werden</strong> sollen und dafür zu sorgen, dass der Anteil der<br />

freiwilligen Leistungen am Gesamthaushalt mindestens gleich<br />

groß bleibt. Wobei anzumerken ist, dass auch die Entscheidungen<br />

über Investitionen eine weitere Demokratisierung vertragen<br />

könnten - Stichwort „Bürgerhaushalt“.<br />

6. Was können wir mit der <strong>Rostock</strong>er Bonuskarte erreichen?<br />

Die freiwilligen kommunalen Leistungen bei Bildung, Kultur<br />

und Freizeit sind es, die wesentlich dazu beitragen, dass eine<br />

Stadt lebenswert ist. In der gegenwärtigen Situation einer mittelfristig<br />

stark schrumpfenden Einwohnerzahl, eines unterfinanzierten<br />

Haushaltes, den nicht einmal die Streichung sämtlicher<br />

freiwilligen Leistungen sanieren könnte, kann dieses Konzept<br />

zu einer wesentlichen Verbesserung der Teilhabe der Einwohner<br />

am Leben in ihrer Stadt und vor allem zu einer Bindungswirkung<br />

als privilegierte Einwohner der Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />

führen.


0.30 __ //// PROJEKTE<br />

UNSERE STADT HAT „JA“ GESAGT<br />

WIRD AUCH MV „JA“ SAGEN?<br />

Oder: „Der postmoderne Kapitalismus verursacht bei mir multiple Persönlichkeitsstörungen“<br />

„Save me - Eine Stadt sagt Ja“ zur Aufnahme von Flüchtlingen – diese Initiative wurde schon im Vorfeld des<br />

entsprechenden Bürgerschaftsbeschlusses viel beachtet. Imam-Jonas Dögüs, Initiator von Save me <strong>Rostock</strong>,<br />

berichtet über Entstehung, Erfolge, weitere Pläne und seinen ganz persönlichen Bezug zum Thema.<br />

IMAM-JONAS DÖGÜS<br />

Die Idee der Save-me-Kampagne ist in München aus Anlass des<br />

850. Gründungsjahres der Stadt entstanden. Im Vorfeld des Jubiläums<br />

gründeten MünchnerInnen die Initiative, um in einem<br />

ersten Schritt 850 symbolische PatInnen zu gewinnen, die Ihre<br />

Bereitschaft in der Öffentlichkeit erklären, nach Deutschland<br />

kommende Flüchtlinge zu unterstützen. <strong>Sie</strong> sollen darüber hinaus<br />

die Forderung an die Bundesregierung richten, jährlich und<br />

kontinuierlich hilfsbedürftige Flüchtlinge aus Krisenregionen<br />

aufzunehmen. Diese Idee ist nicht neu – seit Jahren läuft unter<br />

der Regie des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen<br />

(UNHCR) ein Programm unter dem Namen „Resettlement“,<br />

über das Flüchtlinge in sicheren Regionen „neu angesiedelt“<br />

<strong>werden</strong>. Deutschland beteiligte sich bislang daran nicht.<br />

Die Kampagne „Save Me“ setzt aber neue Akzente, wie aus einer<br />

Veröffentlichung von Pro Asyl hervorgeht. Ziel ist demnach<br />

„[...]eine Bewegung von unten zu initiieren, aus den Städten<br />

und Gemeinden heraus. In lokalen Bündnissen <strong>werden</strong> die<br />

Themen Resettlement und Flüchtlingsschutz in die Öffentlichkeit<br />

getragen und eine möglichst breite gesellschaftliche Basis<br />

gewonnen. Kreativ und konkret wird für die Aufnahme von<br />

Flüchtlingen geworben – mit dem Ziel eines Bekenntnisses des<br />

Stadt- bzw. Gemeinderats zur Aufnahme von Flüchtlingen vor<br />

Ort.“<br />

Wir als Antirassistische Initiative <strong>Rostock</strong> haben in der Hansestadt<br />

im Herbst 2008 die Kampagne gestartet und in relativ<br />

kurzer Zeit – bis zum Mai 2009 – unser lokales Ziel erreicht:<br />

Eine einstimmige Erklärung der <strong>Rostock</strong>er Bürgerschaft, das<br />

Ziel unserer Kanpagne zu unterstützen und die Beteiligung<br />

Deutschlands am Resettlement-Programm zu fordern. Gleich<br />

nach dem Start unserer Kampagne, haben wir viele Vereine und<br />

Institutionen als Unterstützer gewonnen, auch viele PatInnen.<br />

Wir haben Infoveranstaltungen durchgeführt, wie z.B. bei der<br />

Nacht der Kulturen, bei Sobi e.V. Während der Antirassistischen<br />

Filmwoche haben wir im Rathaus einen Aktionstag mit<br />

Norbert Trosien, UNHCR-Referent für Deutschland, veranstaltet,<br />

der unter der Schirmherrschaft der Bürgerschaftspräsidentin<br />

Frau Dr. Bacher stand.<br />

Inzwischen hat sich die Kampagne in mehr als 40 Städten der<br />

Bundesrepublik verbreitet. Davon haben mehr als 10 Städte,<br />

wie auch <strong>Rostock</strong>, einen positiven Beschluss bzw. eine Erklärung<br />

der Kommunalvertretungen erreicht. Gefreut hat uns als<br />

Initiative, dass <strong>Rostock</strong> die erste Stadt in M-V war, in der eine<br />

positive Erklärung verabschiedet wurde – mit Zustimmung aller<br />

Abgeordneten. Inzwischen haben Schwerin und Greifswald<br />

auch positive Beschlüsse erreicht, in Neubrandenburg erwarten<br />

wir das für die nächste Zeit.<br />

Wir als Save-Me-Initiativen aus M-V haben uns als Ziel gesetzt,<br />

den Landtag ebenfalls zu einer positiven Entscheidung zu bewegen,<br />

um Flüchtlinge aus Krisenregionen aufzunehmen und<br />

das Thema letztlich auch auf Bundesebene zu tragen.<br />

Was will die Save-Me-Kampagne erreichen?<br />

Kurz gesagt: Die Aufnahme von Flüchtlingen aus Drittländern.<br />

Konkreter heißt das: Die Umsetzung des Konzeptvorschlags<br />

des UNHCR, welcher im Januar 2008 veröffentlich<br />

wurde. Zentrales Ziel darin ist es „Personen, die aus begründeter<br />

Furcht vor Verfolgung ihren Herkunftsstaat verlassen mussten“<br />

eine neue Heimat zu bieten. Laut Paragraf 1 des Statuts 1<br />

ist das UNHCR von der Generalversammlung der Vereinten<br />

Nationen damit beauftragt worden, „für den internationalen<br />

Schutz der Flüchtlinge zu sorgen […] und Dauerlösungen für<br />

Flüchtlingsprobleme zu finden.“


Dazu aus dem Auszug: „Als Dauerlösungen <strong>werden</strong> im<br />

UNHCR-Statut die freiwillige Rückkehr, - die Eingliederung von<br />

Flüchtlingen in neue staatliche Gemeinschaften sowie das „Resettlement“<br />

ausdrücklich benannt. Die drei dauerhaften Lösungen<br />

stehen grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander. Die Entscheidung,<br />

welche der drei Lösungen letztlich den Bedürfnissen<br />

der Betroffenen am ehesten gerecht wird, muss immer im Einzelfall<br />

unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Faktoren getroffen<br />

<strong>werden</strong>. <strong>Hier</strong>zu zählen vor allem die Entwicklungen im Herkunftsland<br />

sowie die allgemeine Schutzsituation im Zufluchtstaat,<br />

aber auch die individuelle Situation des Betroffenen.“ Und<br />

weiter: „In solchen schwierigen Situationen können adäquater<br />

Schutz und eine dauerhafte Lebensperspektive für die Betroffenen<br />

und ihre Familien nur durch Aufnahme in einem Drittstaat gewährleistet<br />

<strong>werden</strong>, in dem ihnen der Flüchtlingsstatus zuerkannt<br />

und die Integration ermöglicht wird.“ 2<br />

In derselben Konzeption für die Regierung <strong>werden</strong> Personen in<br />

folgenden Situationen und Zuständen als bevorzugt für einen<br />

Aufnahme in einem Aufnahmestaat vorgeschlagen:<br />

- Personen mit besonderen rechtlichen oder physischen Schutzbedürfnissen;<br />

- Folteropfer und traumatisierte Flüchtlinge;<br />

- kranke Personen, deren Behandlung im Erstzufluchtsstaat<br />

nicht gewährleistet ist;<br />

- Frauen, die in den Erstzufluchtsstaaten häufig besonderen<br />

Risiken ausgesetzt sind, insbesondere wenn sie allein stehend<br />

oder allein erziehend sind;<br />

- Minderjährige oder ältere Flüchtlinge sowie<br />

- Personen, die bereits Familienangehörige in den Resettlement-Staaten<br />

haben. 3<br />

Einige der vielschichtigen Gründe, warum wir es für notwendig<br />

erachten, diese Kampagne zu unterstützen, finden sich<br />

auch in diesen beispielhaften Statements der <strong>Rostock</strong>er PatInnen<br />

wieder, die sich auf unserer Internetseite positioniert haben:<br />

„Ich mache mit, weil wir ein Zeichen FÜR Solidarität und GE-<br />

GEN Fremdenfeindlichkeit setzen müssen. In einem demokratischen<br />

Rechts- und Sozialstaat dürfen Flüchtlinge nicht wie Kriminelle<br />

in Untersuchungshaft abgefertigt <strong>werden</strong>.“,<br />

„Ich mache mit, weil Menscherechte auch für alle Menschen gelten<br />

sollten.“,<br />

„Ich mache mit, weil alle Menschen schnell zu Flüchtlingen <strong>werden</strong><br />

können.“,<br />

„Ich mache mit, weil ich als Christ immer die gemeinsame Verantwortung<br />

für unsere Welt und für die Ärmsten der Armen sehe.<br />

Ich möchte nie Flüchtling sein! Generationen haben dies auch in<br />

Europa nach zwei Weltkriegen spüren müssen. Wir sollten gelernt<br />

haben!“,<br />

„Ich mache mit, weil wir uns gegenseitig helfen müssen.“, und „Ich<br />

mache mit, weil jeder Mensch die Chance auf ein Leben ohne Gewalt<br />

und Verfolgung bekommen sollte.“ 4<br />

Ich denke, auch die Menschen, die diese Kampagne nicht unterstützen<br />

wollen, haben nachvollziehbare Begründungen. Abgesehen<br />

von rechtsgerichteten und/oder konservativen Gedanken,<br />

die sich sowieso gegen die Unterstützung von Menschen,<br />

die sich in Notlagen befinden, aus chauvinistischen oder nationalistischen<br />

Gründen aussprechen, gibt es auch in der fortschrittlichen<br />

Linken bzw. in der Menschenrechtsbewegung<br />

Vorbehalte. Wie lässt sich denn ein Resettlement-Programm,<br />

an dem von Vorneherein aufgrund der Auswahlmöglichkeiten<br />

der Herrschenden nicht alle hilfsbedürftigen Menschen teilhaben<br />

können, mit den Zielen vereinbaren, die immer wieder<br />

durch die Menschenrechtsbewegung und auch progressive Linke<br />

gefordert <strong>werden</strong>? Was ist dann mit den Mottos „No Border,<br />

no Nation“, „Gleiche Rechte für alle!“ oder „Bewegungsfreiheit<br />

für alle“? - Alles nur noch Utopie?<br />

Und ich selber befinde mich genau in diesem Zwiespalt. Bevor<br />

ich von der Kampagne erfuhr, habe ich mich mit den Themen<br />

Machtausübung und totale Verweigerung beschäftigt. Da ging<br />

es mir um die Formen von Machtübergabe und -nahme, aber<br />

auch um die so genannte Staatsgewalt. Um Gottes Willen, es<br />

geht mir nicht um die Zeit des Dritten Reichs; es geht auch<br />

nicht um die Stalinzeit. Für mich ging es darum, das so genannte<br />

„freiwillige Entscheidungsrecht“ wegzugeben, was wir heutzutage<br />

ganz selbstverständlich durch die Wahlen oder ähnliche<br />

Tricks tun. Ähnlich verhält es sich oftmals im Leser-Autor-Verhältnis.<br />

Wird auf dieser Ebene nicht ebenso manipuliert? Der<br />

Autor versucht, uns seine eigenen Meinungen nahe zu bringen<br />

und uns auch von deren Richtigkeit zu überzeugen. Also bin<br />

ich als Leser der Verbraucher, der alles akzeptiert und verbraucht?<br />

Wenn etwas mir schwer verdaulich ist, kann ich mich<br />

beschweren. Dann bekomme ich meist von den Herrschenden<br />

oder dem Autor etwas Leichteres. Habe ich das Recht als Individuum<br />

dieses Spiel zu verweigern? Ja, dachte ich damals, wenn<br />

ich all das ignoriere. Also vielleicht könnte ich dann in meiner<br />

Wirklichkeit wahrnehmen, dass es keine Staaten und auch keinen<br />

Grenzen gibt, die uns Menschen trennen. Letztlich wollte<br />

ich keine Bücher mehr lesen, um mich nicht mehr manipulieren<br />

zu lassen und wollte auch nicht mehr schreiben, um andere<br />

zu überzeugen.<br />

Genau in diesem Moment habe ich mit anderen <strong>Rostock</strong>erInnen<br />

an einer Veranstaltung teilgenommen, auf der die Save-me-<br />

Kampagne vorgestellt wurde – ein Jahr nach dem G8-Gipfel in<br />

<strong>Rostock</strong>. Ich hatte vorher ein bisschen Ahnung davon, was<br />

„Resettlement“ bedeutet. Bei dieser Veranstaltung in der VHS<br />

wurde mein Wissen vertieft und bestätigt. Aber ich habe mich<br />

schon vorher entschieden, dass ich diese Kampagne hier in <strong>Rostock</strong><br />

initiieren möchte. Der wichtigste Beweggrund war für<br />

mich, dass ich menschliches Leben wichtiger finde als meine<br />

politischen und ethischen Überzeugungen sowie meine Bauchschmerzen<br />

und „Persönlichkeitsstörungen“.<br />

Ein weiterer Grund ist, dass ich durch meine eigene Flucht und<br />

die Erfahrungen anderer Flüchtlinge weiß, wie schwierig es ist,<br />

an einen sicheren Ort zu kommen. Das ist oft schwer zu verstehen<br />

für Menschen, die staatliche Gewalt nie am eigenen Leib<br />

erfahren haben. Um das zu verstehen, möchte ich einige meiner<br />

Erlebnisse als politisch Verfolgter in der Türkei deutlich<br />

darstellen: Am Anfang, als ich in der Türkei zum ersten Mal


0.32 __ //// PROJEKTE<br />

festgenommen und gefoltert wurde, fiel mir alles sehr schwer.<br />

Vorher hatte ich mir niemals solche Situationen vorstellen können<br />

und konnte bald nicht mehr durchhalten. Aber ich wollte<br />

auch keine Aussagen machen. In diesen ersten Tagen habe ich<br />

eine „Lösung“ für mich gefunden. Diese Höllenwächter können<br />

durch Folter meinen Körper beherrschen. <strong>Sie</strong> können mit<br />

meinem Körper machen, was sie wollen. Ich kann denen nur<br />

zeigen, dass ich das nicht akzeptiere und nicht mitmache. Aber<br />

meine Träume!! Die gehören nur mir. Die Höllenwächter <strong>werden</strong><br />

sie niemals zur Geisel nehmen können. „Ihr armen Höllenwächter,<br />

eure Folter aller Art, wie z.B. die Elektroschocks beim<br />

sog. Palästinensischen Hängen (Strappado) oder die Schläge an<br />

meinen Fußsohlen <strong>werden</strong> niemals meine würdigen Gedanken<br />

berühren. <strong>Sie</strong> <strong>werden</strong> sich niemals vor euch verbeugen. Weil sie<br />

in die blauen Augen einer Frau verliebt waren, als ihr mich gekreuzigt<br />

habt. Meine Träume wurden zu einem Wasserfall, als<br />

ihr meinen Körper an einen Eisblock gefesselt habt.“<br />

Vielleicht habe ich damals gelernt, all diese Grausamkeit zu<br />

überleben. Aber ich will mit solcher Staatsgewalt und Macht<br />

sowie mit der Bestimmung über mein und auch das Leben Anderer<br />

gar nichts zu tun haben. Trotzdem habe ich die Kampagne<br />

mitgestaltet und mache mit. Weil ich von diesen Bedingungen<br />

weiß, habe ich keine andere Möglichkeit. Und ich<br />

möchte, dass ich irgendwann in Istanbul mit meiner Geliebten<br />

die nackten Füße im Goldenen Horn des Bosporus im Wasser<br />

spielen lasse und unsere Sesamringe, die wir von einem zehnjährigen<br />

Jungen gekauft haben, mit den Möwen am Ufer teilen.<br />

Einer der Höhepunkte im Widerstand gegen<br />

das Bombodrom war die Besiedelung des Geländes<br />

durch 500 Menschen am 1. Juni 2007<br />

Und ich möchte, dass jeder, der hier oder in einer anderen europäischen<br />

Stadt leben will, dort einfach leben kann, ohne dies<br />

und das. Ich stehe für eine freie Welt ohne Grenzen. Jeder soll<br />

sich niederlassen und wohnen, wo er/sie möchte. Ich weiß<br />

nicht, wie wir das erreichen können. Rettet mich vor multiplen<br />

Persönlichkeitsstörungen im postmodernen Kapitalismus – für<br />

eine gewalt- und hierarchiefreie Welt.<br />

Mehr über Save me <strong>Rostock</strong>: www.save-me-rostock.de<br />

Save me bundesweit: www.save-me-kampagne.de ¬<br />

1 aus der Resolution der UN-Generalversammlung 428 (V)<br />

vom 14. Dezember 1950, UN-Doc. A71775 (1950)<br />

2 Auszug aus dem UNHCR-Vorschlag: Konzeption für die<br />

Regierung in Deutschland, 2008<br />

3 ebd.<br />

4 Bisher finden sich auf unserer Internetseite 90 Pat_inn_en<br />

mit 90 Gründen (Stand 28.09.2009) unsere Kampagne zu<br />

unterstützen: www.save-me-rostock.de<br />

FOTO: SICHELSCHMIEDE


Die Heide ist frei!<br />

Am 9. Juli 2009 hat Kriegsminister Jung verkündet: Die Bundeswehr verzichtet auf die Nutzung der Kyritz-<br />

Ruppiner Heide als Luft-Boden-Schießplatz. 17 Jahre hartnäckiger Kampf gegen das Bombodrom haben<br />

sich ausgezahlt. Die Mitarbeiter der „Sichelschmiede“ haben diese Kampf über lange Zeit mit geführt und<br />

auch dokumentiert – im nachfolgenden Beitrag ziehen <strong>Sie</strong> ein Resümee und berichten, wie es nun weitergeht.<br />

SICHELSCHMIEDE<br />

Auf der juristischen Ebene wurde der entscheidende Erfolg am<br />

27.3. errungen: Das Oberverwaltungsgericht Berlin bestätigte,<br />

dass die Bundeswehr in der Kyritz-Ruppiner Heide nicht üben<br />

darf, weil sie die Beeinträchtigungen für die AnliegerInnen bei<br />

ihren Planungen nicht ausreichend berücksichtigt hat. Bis zu<br />

diesem Zeitpunkt hatten die Bundeswehr-Juristen offensichtlich<br />

geglaubt, sich auf Sonderrechte wie das Landbeschaffungsgesetz<br />

aus dem Jahr 1935 berufen zu können, mit dessen Hilfe<br />

das Militär jederzeit Land für sich reklamieren kann. Das Gericht<br />

meldete jedoch Zweifel an, ob ein solches Gesetz heute<br />

noch verfassungskonform ist. Für den Fall einer Revision stellte<br />

der Vorsitzende Richter in Aussicht, vor dem Bundesverwaltungsgericht<br />

würde die Bundeswehr noch deutlicher ins<br />

Stammbuch geschrieben bekommen, dass auch sie sich an<br />

Recht und Gesetz halten muss. So überrascht es nicht, dass die<br />

Bundeswehr auf die Revision verzichtet hat.<br />

Überraschen kann dagegen, dass Jung am 9. Juli darüber hinaus<br />

auch den Verzicht auf die Nutzung als Luft-Boden-Schießplatz<br />

erklärt hat. <strong>Hier</strong>für haben wir aber nichts als sein Wort. Jung<br />

selber oder seine Nachfolger kann es sich jederzeit anders überlegen<br />

und einen neuen Beschluss zur Inbetriebnahme bekannt<br />

geben, der dann in einem neuen Gerichtsverfahren überprüft<br />

<strong>werden</strong> könnte. Und die Sache hat noch einen Pferdefuß: Die<br />

Bundeswehr hat bisher nicht auf das Gelände an sich verzichtet.<br />

<strong>Sie</strong> prüft derzeit, ob sie es anderweitig nutzen will. Mit dieser<br />

Prüfung will sie sich bis nach der Bundestagswahl Zeit lassen.<br />

Dies ist rechtlich fragwürdig: Wenn eine Behörde ein Grundstück<br />

des Bundes in Besitz hat und nicht nutzt, dann muss sie -<br />

so das Verwaltungsrecht - unverzüglich prüfen, ob sie es zu einem<br />

anderen Zweck braucht, und es ansonsten an die Bundesanstalt<br />

für Immobilienaufgaben (BIMA) zurückgeben. Dazu<br />

kommt: Seit 1992 haben zahlreiche Bürgerinnen und Bürger in<br />

Petitionen gefordert, die Heide für eine zivile Nutzung freizugeben.<br />

Der Bundestag hat am 2. Juli diesen Jahres diese Petitionen<br />

der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen. Wenn die<br />

Regierung nun lediglich auf die Nutzung als Luft-Boden-<br />

Schießplatz verzichtet, ist sie der Forderung des Bundestags<br />

noch nicht gefolgt. Cornelia Behm (MdB Bündnis 90/Die<br />

Grünen) hat deshalb gegen die Beendigung des Petitionsverfahrens<br />

Einspruch eingelegt.<br />

FREIe HEIDe - was nun?<br />

Auch wenn bei der Bundeswehr noch nachgedacht wird - bei<br />

denen, die 17 Jahre lang für eine FREIe HEIDe gekämpft haben,<br />

ist die Frage längst beantwortet. Die Heide muss zivil <strong>werden</strong>.<br />

Am 14.9. fand in Rheinsberg eine Tourismuskonferenz<br />

unter Beteiligung von ca. 200 VertreterInnen von Kommunen,<br />

Hotel- und Gaststättengewerbe, den Ländern Mecklenburg-<br />

Vorpommern und Brandenburg und den Bürgerinitiativen<br />

statt. Dabei waren sich alle einig, dass einzig eine rein zivile<br />

Nutzung in Frage kommt. Jetzt geschehen parallel zwei Prozesse:<br />

Zum einen wird intensiv diskutiert, wie die Heide in Zukunft<br />

zivil genutzt <strong>werden</strong> soll. Zum anderen gibt es Überlegungen<br />

und Aktivitäten, um Rechtssicherheit herzustellen und<br />

das Gelände endgültig aus den Fängen der Bundeswehr zu befreien.<br />

Munitionsbelastung<br />

Ein Dreh- und Angelpunkt der Debatte um die zivile Nutzung<br />

ist die Frage der Munitionsbelastung und Munitionsräumung.<br />

Durch die ca. 40-jährische Nutzung als Heeresschießplatz und<br />

Luft-Boden-Schießplatz der Sowjetarmee ist das Gelände mit<br />

zahlreichen Blindgängern belastet. Die Bundeswehr unterscheidet<br />

eine Zone A (geringe Blindgängerbelastung) von<br />

6500 ha, eine Zone B (mittlere Blindgängerbelastung ) von<br />

1820 ha und eine Zone C (hohe Blindgängerbelastung


0.34 __ //// PROJEKTE<br />

oder/und Blindgänger mit sensibler Zünd-Auslösung) von<br />

3680 ha. Im Gelände sind die Grenzen dieser Zonen inzwischen<br />

mit kleinen farbigen Dreiecken an den Wegrändern markiert<br />

(A = weiß. B = blau, C = rot.). Im weißen Bereich gestattet<br />

die Bundeswehr z.B. Jägern, Imkern usw. den Zutritt, das<br />

Gelände gilt als nicht stärker belastet als die Umgebung. Die<br />

Zonen geben aber nur eine sehr grobe Orientierung. In der Zone<br />

C ist nie eine komplette Munitionssondierung durchgeführt<br />

worden; es ist davon auszugehen, dass es auch dort große unbelastete<br />

Flächen gibt.<br />

Die Munitionsräumung wird viel Geld kosten, und weder der<br />

Bund noch das Land wollen diese Kosten tragen. Dabei wird es<br />

umso teurer, je mehr Zeit man verstreichen lässt, da die Blindgängerortung<br />

umso mehr kostet, je mehr die Landschaft zuwächst.<br />

Eigentumsfragen<br />

Es ist nicht ganz eindeutig, wer für das Gelände zuständig ist,<br />

wenn es nicht mehr militärisch genutzt wird. Es gibt ein Verwaltungsabkommen<br />

zwischen Land Brandenburg und Bundesrepublik<br />

Deutschland aus dem Jahr 1994, demzufolge bis auf<br />

wenige Liegenschaften auf einer „Giftliste“ alle ehemaligen Militärflächen<br />

in das Eigentum des Landes übergegangen sind.<br />

Das Land hat auf Ansprüche an den Bund wegen Altlasten verzichtet.<br />

Unklar ist, ob unter dieses Abkommen auch Flächen<br />

fallen, die der Bund zwischenzeitlich für sich beansprucht hatte.<br />

Deutlich ist aber: Brandenburg will das Gelände mit seinen<br />

Altlasten nicht erben. Das Land sieht die Bundesregierung in<br />

der Pflicht, sich um das Gelände - und die Munitionsentsorgung<br />

- zu kümmern. Die Bürgerinitiativen Freie Heide und<br />

Freier Himmel haben sich bei der Tourismuskonferenz dafür<br />

ausgesprochen, das Gelände zum Nationalen Naturerbe zu erklären<br />

und von einer Stiftung verwalten zu lassen. <strong>Hier</strong>für wurden<br />

schon im Jahr 2003 Konzepte für eine naturschutzgerechte<br />

und ökonomisch tragfähige Bewirtschaftung erstellt.<br />

Tourismusunternehmer und Naturschützer sind sich darin einig,<br />

dass die Heide auf jeden Fall als zusammenhängende Fläche<br />

erhalten <strong>werden</strong> soll. Wenn sie einmal so weit beräumt ist,<br />

dass sie per Fahrrad, per Kremser, zu Pferd oder zu Fuß erlebbar<br />

ist, kann sie ein großer Anziehungspunkt <strong>werden</strong>. Die Lüneburger<br />

Heide ist durch Hermann Löns und die durch seine<br />

Gedichte inspirierten Heimatfilme bekannt und beliebt geworden.<br />

Die Kyritz-Ruppiner Heide hat eine Legende, die uns heute<br />

viel mehr zu sagen hat: Die Geschichte einer Region, die sich<br />

in 17-jähriger Auseinandersetzung hartnäckig und gewaltfrei<br />

gegen die Bundesregierung und ihre Pläne zur Wehr gesetzt<br />

hat. Erfolgreich. Teil eines touristischen Konzepts für die freie<br />

Heide sollte es sein, diese Erfolgsgeschichte zu dokumentieren<br />

und erlebbar zu machen. Es war eine gute Mischung von Protesten,<br />

Lobbyarbeit, Prozessen und direkten Aktionen zivilen<br />

Ungehorsams, die zu diesem großen Erfolg geführt hat. Wir<br />

<strong>werden</strong> in Zukunft noch viele solche Geschichten brauchen,<br />

wenn unser Planet auch für zukünftige Generationen bewohnbar<br />

sein soll. Die Geschichte der FREIen HEIDe muss weiter<br />

erzählt <strong>werden</strong>.<br />

Weitere Infos. www.sichelschmiede.org ¬<br />

Geschützte Heidelandschaft<br />

Ein großer Teil des ehemaligen Bombodrom-Geländes ist nach<br />

einer EU-Richtlinie als Flora-Fauna-Habitat (kurz: FFH) geschützt.<br />

Es ist im europäischen Kontext ein wichtiger Baustein<br />

für den Heideschutz. Das heißt, die Heide muss als zusammenhängende<br />

Fläche erhalten bleiben, und sie muss gepflegt <strong>werden</strong>.<br />

Wenn eine Heidelandschaft sich selbst überlassen bleibt,<br />

wächst sie zu. Ein dauerhafter Erhalt der Heideflächen wäre<br />

möglich durch Beweidung mit Schafherden. Im Gespräch ist<br />

auch die Idee, in einem großen Gehege Wildpferde oder Wisente<br />

anzusiedeln. Nötig ist vor jeder weiteren Nutzungsplanung<br />

eine von kompetenten Stellen durchgeführte naturschutzfachliche<br />

Bestandsaufnahme. Im Anschluss an eine solche<br />

Bestandsaufnahme wäre ein FFH-Management-Plan zu erstellen,<br />

um sagen zu können, welche Nutzung möglich ist.


Vorgestellt: Courage!<br />

Netzwerk für Demokratie und Courage<br />

ANNE MÖLLER<br />

zu einem Erfolgsprojekt entwickelt. Mittlerweile ist es in neun<br />

Bundesländern vertreten. Die jugendgemäße Form der im Projekt<br />

praktizierten antirassistischen, demokratiefördernden Jugendbildungsarbeit,<br />

die eingesetzten Methoden und das Prinzip<br />

'Jugend für Jugend' kommen bei der Zielgruppe – Jugendliche<br />

ab 8. Klasse – sehr gut an. Allein in Mecklenburg-Vorpommern<br />

wurden im vergangenen Jahr 178 Projekttage durchgeführt,<br />

dazu kamen Workshops und „Gastauftritte“ bei Veranstaltungen<br />

anderer Träger.<br />

Geschichtliches<br />

Hervorgegangen ist das Netzwerk für Demokratie und Courage<br />

(NDC) aus der Idee, mit<br />

Projekttagen antirassistische Arbeit am Lernort Schule, Berufsschule<br />

und in Jugendeinrichtungen<br />

zu verorten. Ziel ist es Mut zu machen, nicht wegzusehen wenn<br />

Diskriminierung geschieht. Es<br />

wird eine emanzipatorische und damit nicht-rechte Gegenkultur<br />

durch die Stärkung von<br />

antirassistischen Positionen und das Aufzeigen alternativer<br />

Handlungsoptionen unterstützt. Dazu<br />

gehört die Achtung jedes einzelnen Menschen, unabhängig von<br />

Herkunft, Sprache, Religion oder<br />

Geschlecht.<br />

Dafür gehen vom Netzwerk für Demokratie und Courage ausgebildete<br />

junge Menschen in Schulen in ganz M-V und der<br />

Bundesrepublik und führen auf Augenhöhe mit den Jugendlichen<br />

Projekttage durch. Spaß und Beteiligung stehen dabei im<br />

Mittelpunkt. Das in Sachsen entstandene Projekt Für Demokratie<br />

Courage zeigen hat sich seit seinem Start im Jahr 1999<br />

Das NDC bildet den Rahmen, in dem die Projektträger in den<br />

einzelnen Ländern zusammenarbeiten. <strong>Hier</strong> <strong>werden</strong> Absprachen<br />

über einheitliche Bildungs- und Qualitätsstandards getroffen,<br />

die Weiterentwicklung des Projekts vorangetrieben<br />

und eine Plattform für den Austausch der Teamenden aus den<br />

verschiedenen Regionen geschaffen. In Mecklenburg-Vorpommern<br />

kooperieren wir mit der DGB-Jugend. Die Finanzierung<br />

der verschiedenen Projekte stellen uns das Land aus ESF-Mitteln,<br />

der Bund und verschiedene einzelne Stiftungen wie Heinrich-Böll,<br />

Friedrich-Ebert- und Otto-Brenner-Stiftung oder<br />

Bildungsvereine wie Arbeit und Leben zur Verfügung. In diesem<br />

Jahr konnten bisher 181 Projekttage an Schulen und außerschulischen<br />

Bildungseinrichtungen in ganz Mecklenburg-<br />

Vorpommern realisiert <strong>werden</strong>.<br />

Projekttage<br />

In den Projekttagen <strong>werden</strong> zusammen mit den Jugendlichen<br />

verschiedene Aspekte von Demokratie, Mitbestimmung, Rassismus,<br />

Fremdenfeindlichkeit, Gewalt, Europa, Medien und Jugendkultur<br />

beleuchtet, Widersprüche aufgezeigt und zum<br />

Nachdenken angeregt, um Vorurteilen entgegenzutreten.


0.36 __ //// PROJEKTE | REZENSIONEN<br />

Tagesbericht einer Teamenden<br />

Es ist 5.30 Uhr, verdammt früh, aber <strong>los</strong> aufstehen, gleich werde<br />

ich abgeholt, um nach Schwerin zu fahren. Gestern die Vorbereitung<br />

war nicht schlecht. Ich habe Lust, mit Lars zusammen<br />

den Projekttag zum Thema „Schublade offen – Am Anfang<br />

war das Vorurteil“ zu gestalten, aber was wird uns da erwarten?<br />

Eine 8. Klasse auf dem Dresch. Schnell noch einen<br />

Kaffee und Frühstück auf die Hand. Da klingelt er schon, sehr<br />

pünktlich.<br />

Wir fahren direkt zur Schule. Die Wegbeschreibung ist ausnahmsweise<br />

mal ziemlich genau und wir sind 20 min vor Unterrichtsbeginn<br />

da, um in Ruhe aufzubauen und die Materialien<br />

zurechtzulegen. Mit der Lehrerin klären wir kurz, ob und<br />

wann sie mit dabei sein möchte. Nach dem Klingeln kommen<br />

die 23 AchtklässlerInnen in den Raum. Nun kommt das erste<br />

Hindernis, trotz vorherigen Absprachen am Telefon gibt es natürlich<br />

keinen Stuhlkreis, also motivieren wir jetzt alle, mit uns<br />

gemeinsam einen aufzubauen. Das ist nach kurzem Murren<br />

schnell geschafft. Nun geht es <strong>los</strong>.<br />

Wir stellen uns und das Projekt „Netzwerk für Demokratie<br />

und Courage“ vor und erklären den Ablauf des Projekttages<br />

„Schublade offen, am Anfang war das Vorurteil“. Darauf folgt<br />

eine Kennenlernrunde.<br />

Die SchülerInnen nähern sich mit einem spielerischen Einstieg<br />

dem Thema Klischees an und wie sich daraus Vorurteile entwikkeln<br />

können. Wir versuchen zu verdeutlichen, dass aus Vorurteilen<br />

leicht Diskriminierung entstehen kann. Nachdem die<br />

SchülerInnen ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen reflektiert<br />

haben, wird auf mögliche Diskriminierungsmerkmale,<br />

damit verbundene zugeschriebene Eigenschaften und die Folgen<br />

für die Betroffenen von Diskriminierung eingegangen.<br />

Rassismus wird gemeinsam mit den SchülerInnen als eine besondere<br />

Form der Diskriminierung definiert. Die ersten beiden<br />

Stunden sind vorbei und wir genießen erstmal den Kaffee, der<br />

uns von einer Lehrerin gebracht wurde. Es ist eine ruhige aufmerksame<br />

Klasse, die bisher nicht besonders viel diskutiert hat.<br />

Mal sehen, was wir da noch machen können.<br />

Lippen hängen, Nachfragen stellten und sich empörten, dass<br />

jemand nicht nach Deutschland ziehen darf, weil in der Heimat<br />

Krieg herrscht oder Menschen Opfer einer Naturkatastrophe<br />

wurden.<br />

Den Abschluss des heutigen Tages bildet die Auseinandersetzung<br />

mit dem Thema couragiertes Handeln. Im Courage<br />

Theater, einem Rollenspiel in dem Handlungsoptionen geübt<br />

<strong>werden</strong>, haben die SchülerInnen die Notwendigkeit erkannt,<br />

selbst couragiert zu handeln und sich gegenseitig ermutigt, in<br />

brenzligen Situationen einzugreifen. Die Auswertungskarten,<br />

die uns die SchülerInnen mitgegeben haben, lasen wir uns dann<br />

auf der Rückfahrt ins Büro durch. Aussagen, wie „Danke, dass<br />

Ihr da wart“, „Ich fand gut, dass ihr so jung seid“, „Über die<br />

Ausländer habe ich Einiges dazu gelernt“, motivieren uns wieder<br />

früh aufzustehen und uns ins nächste Erlebnisabenteuer<br />

Klasse zu wagen.<br />

Nachtrag<br />

Nicht immer laufen die Projekttage ohne Widerstände ab.<br />

Manchmal sind wir den SchülerInnen zu links, manchmal zu<br />

leise, zu klein, zu dick, zu laut, zu anmaßend. Aber was wir ohne<br />

Scheu sagen können: Wir erreichen auf diese Weise tausende<br />

junge Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, die zum<br />

Nachdenken und Reflektieren ihrer eigenen Meinungen und<br />

Werte angeregt <strong>werden</strong> und einige davon sind jetzt auch als<br />

freiwillig Engagierte bei uns tätig und haben ihre Freunde und<br />

Freundinnen mit in das Projekt geholt. ¬<br />

Anhand des Films „Schwarzfahrer“ benennen wir rassistische<br />

Vorurteile und hinterfragen sie gemeinsam mit den SchülerInnen<br />

anschließend in einem Rollenspiel und einer Diskussion.<br />

Außerdem erfolgt im Zuge einer Vorstellung verschiedener<br />

Menschen, die hier in Deutschland leben die Dekonstruktion<br />

des Begriffs „AusländerInnen“. Es sind auch Touristen, Studierende,<br />

GastarbeiterInnen und eingebürgerte Menschen, die besonders<br />

in der Mediendarstellungen unter dem Begriff AusländerInnen<br />

zusammengefasst <strong>werden</strong>.<br />

Nach der großen Pause widmen wir uns dem Schwerpunkt<br />

Freiwillige und Unfreiwillige Migration mit Fokus auf der<br />

Gruppe der Asylsuchenden, deren Lebensbedingungen mit denen<br />

der SchülerInnen verglichen <strong>werden</strong>, um auf diese Weise<br />

ein empathisches Verständnis bei den SchülerInnen zu wecken.<br />

In diesem Teil merken wir, wie die Teilnehmenden uns an den


Asche, Archive und Leben.<br />

Memory nach 20 Jahren - Ein abgebrochener Rundgang<br />

JENS LANGER<br />

Während die dicken Wälzer noch nach Jahrzehnten als Monumente<br />

und Grabsteine an die Ereigniszeit 1989 erinnern <strong>werden</strong>,<br />

gibt es Zeugnisse der historischen und belletristischen Erinnerungskultur,<br />

die zum Teil schon beim Erscheinen in ihren<br />

meist kleinen Verlagen mehr verheimlicht als veröffentlicht<br />

worden sind. Einige sollen hier genannt <strong>werden</strong>, damit sie<br />

nicht auch noch vom Übersehen<strong>werden</strong> untergepflügt <strong>werden</strong>.<br />

Vollständigkeit kann nicht einmal angedeutet <strong>werden</strong> auf<br />

Grund der oft klandestinen Präsenz solcher Werke auf dem Büchermarkt.<br />

In der historischen Fachliteratur wird gelegentlich sacht diskutiert,<br />

ob die Entwicklung 1989/90 vom Charisma einzelner<br />

Akteure abhing oder sich selbstorganisatorisch auf der Straße<br />

aus der Überreife der Zeit entwickelte. Die Mehrheit der Autorenschaft<br />

neigt der zweiten Erklärung zu und ich als deren Leser<br />

auch. Jan Schönfelder (Der Mut der Einzelnen. Die Revolution<br />

in Arnstadt, 29. 978-3-932906-93-000) nennt aber die<br />

Frau und den Mann, die in ihrer thüringischen Heimatstadt ihre<br />

Nasen in den Wind gehalten haben. Dann gibt es noch einen<br />

Zimmermann mit Promille, der durch die Szene läuft und<br />

anscheinend nicht namentlich fixiert <strong>werden</strong> will, weil er zufällig<br />

ins Geschehen eingriff. Der Verfasser eines wichtigen Flugblattes<br />

outet sich erst ganz am Schluss, auch erschrocken über<br />

das, was er auslöste. Also, dann bleibt es wohl am Ende der 159<br />

Seiten nach dieser Ortslage dabei, dass die Zeit einfach reif war.<br />

Aber jemand musste die Birnen vom Baum abstreifen.<br />

Gerhardt Gröschke (1948-1995) war ein sensibler Beobachter<br />

des Landes, Dramaturg in Stendal und Frankfurt (Oder), erzählt<br />

ganz unspektakulär, wie es sich lebte, bis sich vieles änderte<br />

(Im Gehäuse. Eine East-Side-Geschichte, 2007.978-3-<br />

933416-73-5). Der Nachwuchs kommt in den kirchlichen<br />

Kindergarten, weil es dort musisch zugeht, wenn auch etwas<br />

betulich. „Mich interessiert, welchen Freiraum der einzelne<br />

Mensch mit seiner bestimmten Geschichte in einem großen gesellschaftlichen<br />

Gefüge hat und wie er ihn erweitern kann.“<br />

(Gröschke)<br />

Den Namen der S-Bahn-Station Lehnitz kennen die meisten,<br />

den Roman von Christine Anlauff vermutlich nicht, die diesen<br />

Ort vielleicht nicht gerade verewigt, aber jedenfalls in die Literatur<br />

geholt hat. Bis jetzt hat keine Jury das Buch mit einem<br />

Preis gewürdigt, und dabei wird es wohl bleiben. Ich behaupte,<br />

niemand war dichter an der Realität als die 1989 gerade achtzehnjährige<br />

Potsdamerin: Eine Abiturklasse im Sommer 1990<br />

auf dem ehemaligen NVA-Stützpunkt Lehnitz, ein turbulentes<br />

Lebensgefühl zwischen Zusammenbruch und Aufbruch unter<br />

dem Schatten eines schrecklichen Verlustes (Good morning,<br />

Lehnitz, 2005.3-378--00661-7).<br />

Wolfgang Hegewald lehrt kreatives Schreiben im Department<br />

Gestaltung der FH Hamburg. In den Sechzigern und <strong>Sie</strong>bzigern<br />

studierte er in Dresden und Leipzig Informatik und Evangelische<br />

Theologie. Jenseits aller Nachreden gehört er zu den<br />

persönlichen Opfern des so genannten Bücherministers Klaus<br />

Höpcke, der ihm keine Chance zum Veröffentlichen gab, eher<br />

schon ein Stipendium fürs Nichtpublizieren. Die vergangene<br />

Gesellschaft ist bei H. voll präsent, jedoch nicht zum Nachtreten;<br />

das aktuelle System kennt er bestens, aber nicht zum Glorifizieren.<br />

Es wird zum Nachdenken eingeladen. Die Ereignisse<br />

von 1989 erlebt der Protagonist im exquisiten Loccum, als<br />

Mieter im Evangelischen K<strong>los</strong>ter. Er versucht, sich durch sein<br />

Schreibbüro die Existenz zu sichern. Aus der Kenntnis beider<br />

Staaten, über die der Autor verfügt, zieht die Leserschaft den<br />

Gewinn, das Geschehen noch einmal mit Erkenntniszuwachs<br />

an sich vorüberziehen zu lassen. Wie H. auf zwei Seiten zur<br />

Vorgeschichte des Systemwechsels den 21.8.1968 heranzieht,<br />

wie er ihn auf einer Rüstzeit der Schülerarbeit des Bundes der<br />

Evangelischen Kirchen in der DDR auf dem Fischland lokali-


0.38 __ //// REZENSION<br />

siert, stellt in Verdichtung und Überhöhung spitzzüngig und<br />

einfühlsam ein Lebensgefühl unter der Schwere des Tages und<br />

in himmlischer Freiheit dar. Kein Kabinettstück, aber ein<br />

Glanzstück von sprachlichem Ernst (Ein obskures Nest, 1997.<br />

3-378-00604-8).<br />

Der Professor für Rhetorik und Poetik legt nun Neues vor (Fegefeuernachmittag.<br />

Mein Leben. Von ihm selbst erzählt. Kolportageroman,<br />

2009. 978-3-882211-647-9). In 42 kurzen Kapiteln<br />

erzählt der Schriftsteller Nathan Niedlich seine Entwicklung<br />

vom Dresdner Schlingel zum Verfasser, dem der Durchbruch<br />

nicht gelingen will. Ein mühsames Leben heute, wieder<br />

mit der Erfahrung aus zwei Gesellschaften, Vorgeschichte und<br />

Geschichte von Veränderungen. Leser stoßen unversehens auf<br />

Bekanntes und Bekannte, auf ungewohnte Einschätzung der<br />

Evangelischen Studentengemeinde in der DDR beispielsweise,<br />

und doch ist es kein Schlüsselroman, wenngleich ein Leben zu<br />

entschlüsseln gesucht wird.<br />

Als sich Oskar Brüsewitz am 18.August 1976 vor St. Michael<br />

in Zeit verbrannte, war diese Tat ein Vorzeichen verheerender<br />

Zustände im Lande, das eine Ahnung vom Kommenden entstehen<br />

ließ. Die Anklage auf dem Plakat von Brüsewitz lautete:<br />

Funkspruch an alle: Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus<br />

an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern<br />

und Jugendlichen. Die politischen und kirchlichen Hintergründe<br />

sind von zahlreichen AutorInnen untersucht worden.<br />

Ein missing link blieb zunächst unbekannt und wurde später<br />

verdrängt. Jetzt hat sich die erstgeborene Tochter aus einer geschiedenen<br />

Ehe selbst zu Wort gemeldet. <strong>Sie</strong> schreibt in Trauer<br />

darüber, dass ihr Vater sie anscheinend vergaß, obwohl er z.B.<br />

Kindergeld für sie ausbezahlt kam. Eine doppelt traurige Geschichte<br />

über fehlende, jedenfalls nicht artikulierte Liebe. Die<br />

Tochter drückt sie in ihrer Sprache heftig aus, ohne eigentlich<br />

anzuklagen. Der Schmerz über den doppelten Verlust aber ist<br />

vehement. Geschichte der Zeit und des Privaten <strong>werden</strong> künftig<br />

aufeinander bezogen <strong>werden</strong> müssen (Renate Brüsewitz-<br />

Fecht, Das Kreuz und die Flamme. Der Fall Oskar Brüsewitz,<br />

2009. 978-3-86634-697-0).<br />

Werner Braune leitete die mecklenburgische Diakonie zu<br />

DDR-Zeiten und später die Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee,<br />

einen Ort täglicher Ost-West-Begegnungen. Er hat die<br />

Schnauze oft voll gehabt wegen der Gängeleien, des Denunziantentums<br />

und der Schikanen gegen die Kirchen und ihre Leute.<br />

Jetzt schreibt er sich diesen Ballast von der Seele. Aber natürlich<br />

gibt es auch Freuden und Erfolge. Aber der genannte<br />

Grundton stach mir ins Auge. Braune war auch derjenige, der<br />

Freya Klier und Stephan Krawczyk offiziös in den Westen<br />

chauffierte. Darüber informiert er präzise, d.h. auch über Bredouillen,<br />

in die ein Makler geraten kann. Mir hat sich unauslöschlich<br />

eingeprägt, wie er John Ukule, einem Zimmermann<br />

aus Namibia, hilfreich unter die Arme gegriffen hat. Von solchen<br />

Kleinigkeiten kein Wort bei diesem Diakon im Wortsinn.<br />

Ukule hatte sich im Auftrag der SWAPO um seine Landsleute<br />

in der DDR zu kümmern. In den Achtzigern soll er in Harare<br />

bei einem Bombenattentat auf die Botschaft der SWAPO ums<br />

Leben gekommen sein. Ich gedenke seiner ehrerbietig. (Abseits<br />

der Protokollstrecke. Erinnerungen eines Pfarrers an die DDR,<br />

2009. 978-3-8898-266-7).<br />

Alles, was sich an Hoffnungen und Verwerfungen in den genannten<br />

Büchern gesammelt hat, ist bereits 1987 vorweggenommen<br />

und überboten in einem der ganz großartigen Romane<br />

über den unvermeidbaren künftigen Zusammenbruch. Wer<br />

damals las, was Alfred Wellm (1927-2001) über die Restaurierung<br />

des Güstrower Sch<strong>los</strong>ses schrieb, der spürte das Beben im<br />

Tragwerk des Systems (Morisco, 1987. 3-351-00362-5). Zwiespältigkeit<br />

und fragile Beziehungen zwischen Personen und<br />

Strukturen und immer wieder die Begegnung mit dem edlen<br />

Pferd Morisco, Sinnbild des Gezähmten und Unbändigen, wie<br />

der Wanderer es in Wellms Lohmen auf der Koppel ahnen<br />

mochte.<br />

Der Historiker Hartmut Zwahr nennt es Selbstzerstörung (Das<br />

Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der<br />

DDR, 1993. 2.Aufl.3-525-01344-2). Sein Buch ist schmal,<br />

steckt aber voller Ideen und Vergleiche zwischen Leipzig und<br />

anderen Orten, erstaunlich viele Zitate aus <strong>Rostock</strong>er Reden<br />

1989, die die Volkstribunen von damals manchmal staunen<br />

oder auch erschrecken lassen könnten. Der Fotografiker <strong>Sie</strong>gfried<br />

Wittenburg hat seine Fotos von 1989 mit Wortbeiträgen<br />

herausgegeben (Die friedliche, freiheitliche und demokratische<br />

Revolution <strong>Rostock</strong> '89. Erlebnisberichte der Akteure und Photographien<br />

von <strong>Sie</strong>gfried Wittenburg, 2009. Keine ISBN). Einige<br />

der Fotos habe ich mir bereits 1989 für teures Ostgeld in der<br />

herrlichen Kunstgalerie in der Kröpeliner Straße gekauft. Ich<br />

mag sie. Was ihnen jetzt fehlt, ist der Link in die Zukunft. Da<br />

<strong>werden</strong> die ehrwürdigen Damen und die alten Säcke zitiert -<br />

und das nun schon 20 Jahre. Aber die heutige Pastorin Cornelia<br />

Ogilvie, die als Theologiestudentin nicht nur den Einband<br />

ziert mit ihrer mutigen Wachgefährtin zur Seite, hat nach zwei<br />

Jahrzehnten ebenso wie diese immer noch keinen Namen. Da<br />

gehen über Doppelseiten die phantastisch jungen Leute, die<br />

Diskutanten von Marktplatz und St. Michaelis, die Kindmänner<br />

und -frauen als Anführer der Demonstrationen - was ist aus<br />

ihnen geworden? Leben sie noch? Keine Antwort. Vielleicht in<br />

20 Jahren eine.<br />

Da bleibt uns immerhin der Griff zur Materialsammlung „Gewaltfrei<br />

für Demokratie! Der Herbst 1989 in Mecklenburg-Vorpommern.<br />

<strong>Rostock</strong> 2009, Neubearbeitung von 1999 durch Peter<br />

Köppen (www.friedliche-revolution-<br />

1989.de/downloads/Gewaltfrei_Demokratie_MV_1989.pdf).<br />

Die erste Auflage hat natürlich nicht alle aufgezählten Wünsche<br />

von heute erfüllt, aber auf Ergänzungen und Korrekturen<br />

darf die Leserschaft doch gespannt sein. Muss sie auch bleiben;<br />

denn es ist schwer, an die Dokumentation heranzukommen.<br />

Distributionsprobleme? Anscheinend. Aber ich kriege sie;<br />

denn das wird die Vicke-Schorler-Rolle des 21. Jahrhunderts,<br />

mit Motiven von 1989, aufgerollt 1999 und nochmals 2009.

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