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AUSGABE NR.<br />
VORBLICK<br />
Woher wir kommen und wohin wir gehen ...<br />
P.Köppen: Erfahrungen, Ansichten und Mythen__B.Kluger: 1989 und die gesellschaftlich-kulturelle Überformung von Identitäten__S.-<br />
M.Knauf: Ein bisschen Wende__C.Mannewitz: The Igel has landed__A.Kellner: Das Li.Wu. sucht ein neues Zuhause__Henryk Janzen/0381<br />
im Interview__Umfrage zur OB-Neubesetzung__Stadtgestalten-Debatte: Energie in Bürgerhand__S.Bachmann: Zwei innerstädtische<br />
Museumszentren__R.Knisch: Demokratisierung der kommunalen Ausgaben – Eine Vision__I.-J. Dögüs: Unsere Stadt hat "Ja" gesagt__Sichelschmiede:<br />
Die Heide ist frei!__A.Möller: Vorgestellt: Courage!__J.Langer: Asche, Archive und Leben.<br />
<strong>Hier</strong> <strong>werden</strong> <strong>Sie</strong> <strong>Ihren</strong><br />
<strong>Lieblingsfehler</strong> <strong>los</strong>:<br />
GEDRUCKTE KÖRPERHALTUNG<br />
MAGAZIN<br />
FÜR BEWEGUNG,<br />
MOTIVATION UND<br />
DIE NACHHALTIGE<br />
KULTIVIERUNG<br />
DER REGION ROSTOCK<br />
stadtgespraeche- rostock.de<br />
ISSN 0948-8839<br />
ERSCHEINT<br />
QUARTALSWEISE<br />
SEIT SEIT 1994 1994<br />
Ostalgie<br />
Suchen<br />
15. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €
SOLIABO:<br />
Wer kann zahlt<br />
20€/Jahr<br />
Seit fast 15 Jahren begleiten wir<br />
die regionale Politik, Wirtschaft<br />
und Kultur kritisch, konstruktiv<br />
und offen. Das sichert unserem<br />
Leserkreis vier inspirierende Ausgaben<br />
pro Jahr. Wir arbeiten ausnahms<strong>los</strong><br />
ehrenamtlich, engagiert<br />
und unabhängig. Und das soll<br />
auch so bleiben. Durch die Insolvenz<br />
des druckenden Copy-Shops<br />
mussten wir auf eine neue Herstellung<br />
umstellen; das Ergebnis<br />
halten <strong>Sie</strong> in der Hand. Die daraus<br />
resultierenden Mehrkosten<br />
bitten wir <strong>Sie</strong> mitzutragen. Wenn<br />
<strong>Sie</strong> können ...<br />
<strong>Sie</strong> können ...<br />
bitten wir <strong>Sie</strong> mitzutragen. Wenn<br />
halten <strong>Sie</strong> in der Hand. Die daraus<br />
resultierenden Mehrkosten<br />
mussten wir auf eine neue Herstellung<br />
umstellen; das Ergebnis<br />
SICHERN SIE UNSERE UNABHÄNGIGKEIT
00.3 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />
Inhalt dieses Heftes<br />
Liebe Leserinnen<br />
und Leser,<br />
eigentlich sollte es – naheliegend zu diesem Erscheinungszeitpunkt<br />
– ein Heft über 1989<br />
bzw. das dazugehörige Jubiläum <strong>werden</strong>. Aber<br />
je weiter die Planungen voranschritten, desto<br />
weniger hatten wir das Gefühl, den vielen aktuell<br />
veröffentlichten Beiträgen noch wirklich<br />
Lesenswertes hinzufügen zu können. Mit drei<br />
Ausnahmen: Dem Artikel von Peter Köppen,<br />
der den derzeitigen öffentlichen Umgang mit<br />
dem Thema kritisch beleuchtet und die Frage<br />
nach Intentionen und, dementsprechend,<br />
Funktionalisierungen öffentlicher Darstellungen<br />
stellt. Und sehr persönliche Sichtweisen<br />
von Björn Kluger und Sven-Markus Knauf, die den Leser gerade wegen ihrer<br />
Perspektive zu eigener Reflexion zwingen.<br />
Die verbleibenden Heftseiten haben wir deshalb von oben genannten Redundanzen<br />
freigehalten und stattdessen mit Streitbarem und Wissenswertem aus<br />
<strong>Rostock</strong> gefüllt - und natürlich gibt’s auch Blicke über den Tellerrand, sonst<br />
wär’s ja gruselig. Neu ist, dass mehrere Beiträge im aktuellen Heft explizit aufs<br />
Weiterdiskutieren ausgelegt sind – hiermit meine ausdrückliche Ermunterung,<br />
dies zu tun.<br />
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />
Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />
Kurz notiert/Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />
Titelthema: 1989 2009<br />
P.Köppen: Erfahrungen, Ansichten und Mythen . 7<br />
B.Kluger: 1989 und die gesellschaftlich-kulturelle<br />
Überformung von Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />
S.-M.Knauf: Ein bisschen Wende ... . . . . . . . . . . . . 14<br />
Aktuelles<br />
C.Mannewitz: The Igel has landed . . . . . . . . . . . . 17<br />
A.Kellner: Das Li.Wu. sucht ein neues Zuhause . 18<br />
Henryk Janzen/0381 im Interview . . . . . . . . . . . . 20<br />
Umfrage zur OB-Neubesetzung . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />
Konzeptionelles/Stadtpolitik<br />
Stadtgestalten-Debatte: Energie in Bürgerhand . 24<br />
S.Bachmann: Zwei innerstädtische Museumszentren<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26<br />
R.Knisch: Demokratisierung der kommunalen Ausgaben<br />
– Eine Vision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />
Projekte<br />
I.-J. Dögüs: Unsere Stadt hat "Ja" gesagt . . . . . . . . 30<br />
Sichelschmiede: Die Heide ist frei! . . . . . . . . . . . . 33<br />
A.Möller: Vorgestellt: Courage! . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />
Rezensionen<br />
J.Langer: Asche, Archive und Leben. . . . . . . . . . . . 37<br />
In eigener Sache möchte ich <strong>Ihren</strong> Blick auf die Seite links neben dem Editorial<br />
lenken: Die optische Verbesserung unseres Heftes, eigentlich aus der Not<br />
geboren (unsere frühere Druckerei ist insolvent), wurde allgemein begrüßt –<br />
hat aber ihren Preis. An dieser Stelle an Dank an alle, die sich zu einer finanziellen<br />
Unterstützung der „<strong>Stadtgespräche</strong>“ durch Spende oder Soli-Abo bereitfinden.<br />
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende und anregende<br />
Lektüre und einen schönen Herbst<br />
Ihre Kristina Koebe<br />
FOTO: TOM MAERCKER<br />
Geplapper auch ...
00.4 __ //// LESERBRIEFE | GLOSSE | IMPRESSUM<br />
Leserbriefe<br />
Zum Beitrag von Ines Pawlowski „Hansa im Wandel“? (Heft 53)<br />
Hallo Frau Pawlowski,<br />
ich möchte nur einmal dezent andeuten, dass der FC Hansa <strong>Rostock</strong><br />
fast 10 Jahre in der ersten Bundesliga gespielt hat. In dieser<br />
Zeit wurden das moderne Stadion, das Nachwuchszentrum sowie<br />
gute Trainingseinrichtungen geschaffen. Das Problem ist<br />
einfach, dass Erstligafußball in einer der ärmsten und dünnbesiedelsten<br />
Regionen Deutschlands nicht nachhaltig möglich ist.<br />
Als Hansa auf dem fünften Tabellenplatz in der ersten Liga<br />
stand kamen oft nur 17.000 Zuschauer. In anderen Regionen<br />
gibt es einen Zuschauerdurchschnitt von 25.000 Leuten - in der<br />
zweiten Liga...<br />
Ich kenne kein Team das mit so wenigen Sponsorengeldern so<br />
lange am Limit der Möglichkeiten gespielt hat. Der Abstieg<br />
musste also zwangsläufig kommen. Das war eine Frage der Zeit.<br />
Nach Bosman haben gerade die kleineren Vereine die letzte<br />
Möglichkeiten verloren sich ein „wenig“ Geld dazu zu verdienen.<br />
Es ist bezeichnend, dass auf der Hansa Brust Scanhaus, Ospa<br />
usw. stand, während bei anderen Mannschaften Opel, VW, Bayer<br />
und andere Weltfirmen werben. Hallo? Da packt ein Hauptsponsor<br />
schon mal 20 Mille auf den Tisch. Bei Hansa waren es<br />
zuletzt nur 2,5 Milliönchen... Geld schießt und Geld verhindert<br />
Tore. Daran führt kein Weg vorbei.<br />
Kennen <strong>Sie</strong> irgendeinen Verein der mit einem so kleinen Etat<br />
über 10 Jahre in der Bundesliga spielen konnte?? Sehen <strong>Sie</strong> - den<br />
gibt es nämlich nicht. <strong>Sie</strong> haben mit Ihrem Artikel ein wenig für<br />
Unterhaltung gesorgt - nicht mehr. Weder wurden Hintergründe<br />
durchleuchtet noch haben <strong>Sie</strong> Fakten analysiert. Daher geht<br />
Ihr Artikel absolut an den Gegebenheiten in <strong>Rostock</strong> vorbei.<br />
M. f. G.<br />
Michael Thürke<br />
---<br />
Hallo Michael,<br />
es freut mich, dass mein Artikel etwas zu Deiner Unterhaltung beitragen<br />
konnte. Trotzdem muss ich mich fragen, ob Du meinen Artikel<br />
richtig verstanden hast. Hansa liegt mir am Herzen. Ich sehe<br />
das, was mir als Fan zugänglich gemacht wird. Ich kenne natürlich<br />
keine Interna, habe aber meine Meinung aufgeschrieben und<br />
einige Dinge aufgezählt, die ich schlecht nachvollziehen kann.<br />
In Ihrem Kommentar vermisse ich jegliche Hinweise auf das offensichtliche<br />
Missmanagement seitens des Vereins. Hansa hat einen<br />
kleinen Etat, das ist richtig. Doch dieser Gedanke muss fortgeführt<br />
<strong>werden</strong>. In diesem Zusammenhang fällt mir das Geld ein, das<br />
Hansa an ehemalige leitende Angestellte sowie ausgemusterte Profis<br />
zahlt. Und das nicht nur bis zum Ende der Saison.<br />
Auch einen weiteren Einwand über die Sponsoren kann ich schwer<br />
nachvollziehen. Die Sponsorensuche zeigte in meinen Augen die<br />
Unprofessionalität einiger leitender Angestellten und die Qualität<br />
des Vorstandes. Nicht umsonst wurde der Marketingleiter aufgrund<br />
mangelnder Aufgabenerfüllung entlassen. Natürlich kann<br />
sich Hansa nicht mit großen Vereinen der Bundesliga vergleichen,<br />
bei denen Sponsoren wie Opel, VW und Bayer Millionen in die<br />
Vereine investieren. Aber Hansa kann und muss sich mit anderen<br />
„kleinen“ Vereinen vergleichen, die vor ähnlichen Problemen stehen.<br />
Ich denke nicht, dass Hansa die schlechtesten Voraussetzungen hatte.<br />
Ja, der Verein kommt aus einer der ärmsten Regionen Deutschlands.<br />
Aber er war jahrelang der einzige Verein aus dem Osten, der<br />
sich in der Bundesliga etabliert hatte. Es ist schade, dass daraus<br />
nicht mehr Kapital geschlagen wurde. Man muss sagen, dass Energie<br />
Cottbus, die sicherlich eine schlechtere Ausgangsposition hatte,<br />
uns überholt hat. Und auch Union Berlin ist auf einem sehr guten<br />
Weg. Das sind zwei Vereine, die sicherlich auch nicht mehr Geld<br />
zur Verfügung haben.<br />
Noch ein Wort zu den Zuschauerzahlen. Auch das ist nicht alleiniges<br />
Problem von Hansa. Denn auch bei unserem Verein dürften<br />
die Zuschauereinnahmen bei Heimspielen von über 15.000 Fans<br />
keine fest eingeplante Größe im Etat eines Vereins sein, sondern<br />
nur ein Bonus. So war ich und wohl auch der Verein selbst letzte<br />
Saison oft überrascht, wie viele Zuschauer zu den Heimspielen kamen.<br />
Es ist richtig, dass der FC Hansa <strong>Rostock</strong> fast 10 Jahre in der ersten<br />
Bundesliga gespielt hat. Ohne die Leistung zu schmälern, bedeutet<br />
das nicht 10 Jahre Erstligaqualität. Und schon gar nicht<br />
Erstligaqualität im Vorstand. Mann muss weg von der stillschweigenden<br />
und abgeschotteten, alt gedienten Vereinsführung. Der<br />
Fußball ist im Wandel und erfordert nicht nur auf dem Platz ein<br />
modernes Management.<br />
Ines Pawlowski ¬
Kurz notiert<br />
Impressum<br />
<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 56:<br />
„Vorblick”<br />
Ausgabe Oktober 2009<br />
(Redaktionsschluss: 05. Oktober 2009)<br />
FRIEDA 23<br />
Am 9.9. hat die Bürgerschaft besch<strong>los</strong>sen, die für das Projekt FRIEDA 23 benötigten<br />
Zuschüsse aus dem <strong>Rostock</strong>er Haushalt doch schon im Jahr 2010 zur Verfügung zu<br />
stellen. Wir gratulieren herzlich zu diesem Erfolg nach jahrelangem zähem Ringen<br />
und halten <strong>Sie</strong> über den weiteren Fortgang auf dem Laufenden!<br />
Die Redaktion der „<strong>Stadtgespräche</strong>“ ¬<br />
Herausgeber:<br />
Bürgerinitiative für eine solidarische Gesellschaft e.V.<br />
<strong>Rostock</strong> in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt<br />
<strong>Rostock</strong> e.V.<br />
Redaktion und Abonnement:<br />
Redaktion »<strong>Stadtgespräche</strong>«<br />
Kröpeliner Tor<br />
18055 <strong>Rostock</strong><br />
Fax 01212-514072528<br />
E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />
Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />
Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />
Tom Maercker<br />
Dr. Kristina Koebe<br />
Redaktion:<br />
Dr. Kristina Koebe<br />
Tom Maercker<br />
Dr. Peter Koeppen<br />
Dr. Jens Langer<br />
Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />
und <strong>werden</strong> von den Autorinnen und Autoren<br />
selbst verantwortet.<br />
Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />
Mediadaten:<br />
Gründung: 1994<br />
Erscheinung: 15. Jahrgang<br />
ISSN: 0948-8839<br />
Auflage: 200 Exemplare<br />
Erscheinung: quartalsweise<br />
Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />
Herstellung: LASERLINE<br />
Anzeigenpreise (Kurzfassung) :<br />
(ermäßigt / gültig für 2009)<br />
3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />
4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />
Details auf unserer Website im Internet<br />
Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />
Unibuchhandlung Thalia, Breite Str. 15-17<br />
Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 80<br />
die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />
Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />
Kiosk am Neuen Markt<br />
Sequential Art, Peter-Weiss-Haus, Doberaner Str. 21<br />
Made by Mira, Neue Werderstr. 4-5<br />
FOTO: TOM MAERCKER<br />
Bankverbindung<br />
(für Abo-Überweisungen und Spenden)<br />
Kto.: 207350082<br />
BLZ: 52060410<br />
bei der Evangelischen Kreditgenossenschaft e.G.<br />
Nürnberg<br />
Abonnement:<br />
Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />
Jahressoliabo (4 Ausgaben): 20,00 €<br />
Einen Aboantrag finden <strong>Sie</strong> auf S. 10 (bzw. als<br />
PDF-Datei zum Ausdrucken und Ausfüllen auf<br />
unserer Website im Internet).
FOTO: TOM MAERCKER<br />
TITELTHEMA:<br />
1989 - 2009<br />
Wie bereits betont, geht es uns nicht darum, den Analysen und Pseudoanalysen dieser Tage<br />
eine weitere Chronologie der Wende zur Seite zu stellen. Vielmehr haben wir uns gefragt,<br />
was die Betrachtung des Themas heutzutage ausmacht. Historisch genau ist sie keinesfalls:<br />
Wird das Thema funktionalisiert? Geraten die Dinge einfach in Vergessenheit?
00.7 __ //// TITELTHEMA<br />
Erfahrungen,<br />
Ansichten und<br />
Mythen<br />
Die DDR und das Jahr 1989: Eine<br />
Betrachtung in drei Teilen.<br />
PETER KÖPPEN ______//REDAKTION<br />
„Schon bald <strong>werden</strong> wir Mühe haben,<br />
uns die DDR selber zu erklären.<br />
An die neuen Verhältnisse angepaßt,<br />
<strong>werden</strong> wir uns fragen,<br />
wieso wir uns damals derart anpassen konnten.“<br />
(Rosenlöcher, Thomas: Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch,<br />
Frankfurt am Main 1990, S.96.)
00.8 __ //// TITELTHEMA<br />
1. Über die Zwietracht von zwei edlen Damen und<br />
den Tod der Dedeèr. Ein urdeutsches Heldenepos,<br />
nacherzählt von Peter Köppen<br />
Überall auf der Welt verkündeten es die Trommler und Marktschreier,<br />
schrieben es die Mönche auf das Pergament und war es<br />
Gesprächsstoff in den Schlössern wie in den Katen: Die gerade<br />
40jährige Herrscherin Dedeèr die Große ist verstorben!<br />
<strong>Sie</strong> litt schon längere Zeit an Auszehrung und Überschätzung<br />
eigener Kraft und Stärke, an mangelnder Immunkraft und an<br />
Liebesverlust. Zu groß wurde die Kluft zwischen ihrem ursprünglichen<br />
Wollen, eine mit ihrem Volk verbundene und zu<br />
Wohlstand und Zufriedenheit führende Herrscherin zu sein<br />
und ihrem immer sichtbareren <strong>Sie</strong>chtum, ihrem wachsenden<br />
Starrsinn und ihrer Abweisung neuer, Erfolg versprechender<br />
Medikamente.<br />
<strong>Sie</strong> missbrauchte die ihr durch Götter des Ostens übergebene<br />
Macht und wandte vielfältige Formen der Gewalt gegen Aufmüpfige<br />
und der Aufmüpfigkeit Beschuldigte an, die viele<br />
Menschen zum Murren und Fluchen oder gar zur Flucht aus<br />
ihrer angestammten Heimat trieb. Der Zustand von Dedeèr<br />
verschlechterte sich, gefördert durch die Inkompetenz ihrer<br />
Chefärzte und die Schwäche der völlig überforderten und<br />
letztlich resignierenden Pflegekräfte und eine gehörige Portion<br />
Sterbehilfe auch durch viele der ihr ehemals mehrheitlich Nahestehenden<br />
und durch Außenstehende, die entweder selbst<br />
hilfsbedürftig an dieser tückischen Krankheit litten oder die<br />
die Ungeliebte schon immer <strong>los</strong><strong>werden</strong>, aber auch ihren Nachlass,<br />
ihre Ländereien mit all ihren Menschen und Gütern übernehmen<br />
wollten.<br />
Den arg ramponierten Nachlass erwarb die sehr viel stärkere<br />
und robustere, mit langjähriger Unterstützung vieler Familienangehörigen<br />
und äußerst potenter Bekannter aufgewachsene<br />
Dame Beerdé. Beerdé und Dedeèr waren nämlich die ungleichen<br />
Töchter der vor ihnen herrschenden Despotin Nazisse,<br />
die alle ihre Nachbarn mit furchtbaren Kriegen überzog, mit<br />
nicht vorstellbarer Grausamkeit ihre Gegner und aber- und<br />
abertausende Unschuldige hinmordete und letztlich nur durch<br />
gemeinsame Anstrengungen der Ostmacht und der Westmacht<br />
- den beiden damals größten und miteinander konkurrierenden<br />
Mächten mit ihren jeweiligen Verbündeten - niedergezwungen<br />
<strong>werden</strong> konnte. Die nach langem Kampf überwältigte Nazisse<br />
machte ihrem Leben selbst ein Ende. Die <strong>Sie</strong>ger – bald wieder<br />
uneins und verfeindet untereinander – teilten der Nazisses<br />
Land auf und gaben die eine, größere Hälfte an Beerdé, die andere,<br />
ärmere an Dedeèr als Lehen.<br />
Dedeèr versprach ihren neuen Untertanen mit großem Pathos:<br />
„Jetzt beginnt ein neues Leben, mit gemeinsamer Kraft <strong>werden</strong><br />
wir etwas völlig Neues errichten, denn die Ostmacht wird immerdar<br />
fest an unserer Seite stehen!“ Doch die Ostmacht war<br />
selbst arm, ließ Dedeèr viel und lange Zeit großen Tribut zahlen<br />
und mahnte sie immer wieder zu treuer Gefolgschaft.<br />
Beerdé war eng verbunden mit der langjährigen Geschichte all<br />
ihrer Ahnen und mit den Zielen und Vorhaben der Westmacht<br />
und ihrer Vasallen. <strong>Sie</strong> konnte es nicht verwinden, dass sie nach<br />
dem schmählichen Tod der Nazisse nicht alles Land erhielt und<br />
blieb zeitlebens erbitterte Gegnerin von Dedeèr, deren Umfeld<br />
sie nachhaltig beeinflusste und deren Anhänger sie auf unterschiedliche<br />
Art und Weise, aber in immer größerer Zahl auf ihre<br />
Seite zog.<br />
Beerdé und Dedeèr führten über vier Jahrzehnte einen heftigen<br />
Zwist mit Worten, in dem jede die andere der schlimmsten<br />
Missetaten bezichtigte. Mehrere Male war der Zeitpunkt nahe,<br />
dass sie ihre Heerscharen mit Kanonen und Musketen ausschickten<br />
zum Gefecht auf Leben oder Tod.<br />
Endlich, nach dem Tod von Dedeèr und der Übernahme ihres<br />
Reiches, konnte Beerdé stolz und absolut verkünden: „Ich habe<br />
gesiegt! Ich, die Reiche, Gute und Schöne, werde Euch in<br />
Ewigkeit Heimat geben und Wohlstand, Freiheit und Menschlichkeit<br />
bringen und garantieren. Vorbei ist es mit dem unmenschlichen<br />
und verbrecherischen Unrechtsregime der Dedeèr.<br />
Die ehemaligen Ländereien der Dedeér <strong>werden</strong> unter<br />
meiner Herrschaft herrlich erblühen, keinem meiner neuen<br />
Untertanen wird es schlechter gehen, sondern vielen besser.<br />
Und das müsst ihr alle preisen, aber die Zeit unter Dedeèr verachten<br />
und Euch schuldig bekennen, dass ihr Dedeèr so lange<br />
ertragen habt und ihre Anhänger ächten bis ins letzte Glied.“<br />
Und viele Menschen aus den ehemaligen Ländereien der Dedeèr<br />
jubelten, sch<strong>los</strong>sen sich der Partei der Beerdé oder einer<br />
der vielen neuen oder alten Zünfte an, aßen von nun an viele<br />
Bananen, eilten zu Urnen, um dort ein Kreuz für Beerdé auf<br />
dem Papier zu machen und freuten sich über die vielen neuen<br />
Dinge, die unter der Herrschaft der Beerdé über sie kamen.<br />
Aber seltsam: der Streit um das Erbe, um den Charakter und<br />
das Lebenswerk der Toten entflammte neu und dauert fort,<br />
aber das Lob auf Beerdé erscholl leiser oder verstummte ganz,<br />
sowohl in den ehemaligen Landen der Dedeèr als auch im<br />
Stammgebiet der Beerdé. So mancher, der ehemals der glanzund<br />
prunkvoll auftretenden und milde Gaben verteilenden<br />
Beerdé zugejubelt und die sterbende Dedeèr verdammt hatte,<br />
suchte vergeblich nach den blühenden Landschaften oder war<br />
bereits abgeschoben in die vierte Hartz-Wüste mit wenig Wasser<br />
und hartem Brot, verdingte sich für 1 Gulden oder werkte<br />
viel und litt doch Hunger. Ein Sitz am Hofe der Beerdé war<br />
nur wenigen ehemaligen Untertanen von Dedeèr gegeben und<br />
dann nur denjenigen, die demütig und reumütig der Beerdé<br />
dienten.<br />
Immer mehr Landeskinder, die einst – voll bunt blühender Illusionen<br />
- gehofft hatten, in einer „Keine-Gewalt-Kur“ Dedeèr<br />
radikal gesunden zu lassen, ihre Herrschaft von Grund auf zu<br />
verändern oder sie gar abzulösen und ihre Ländereien von<br />
Grund auf neu zu gestalten, misstrauten der Beerdé, ihrer Partei<br />
und den bestehenden Zünften. <strong>Sie</strong> zogen sich murrend auf<br />
ihre Ländereien zurück, bildeten eine eigene Zunft oder sch<strong>los</strong>sen<br />
sich in <strong>los</strong>en Bünden zusammen, die sich allerdings oft hef-
tig untereinander befehdeten. Es wuchs der Zweifel an der Unfehlbarkeit<br />
der Beerdé und der Ewigkeit ihrer Herrschaft und<br />
es wuchs das Verlangen, nach dem Tod der Dedeèr nun auch<br />
das Land der Beerdé zu verändern.<br />
Gar mancher fragte auch, ob denn wirklich alles unter Dedeèr<br />
verkehrt und schlecht gewesen und alles im Land der Beerdé<br />
gut und untadelig sei. Da nutzte es auch nichts, dass die hohen<br />
Priester der Beerdé ihnen ein ums andere Mal eindringlich erklärten:<br />
Das sind falsche Gedanken! Verdammt die Dedeèr,<br />
seid der Beerdé dankbar und preiset sie aus vollem Herzen! Ihr<br />
Reden erklang besonders laut im Jahr des 20. Todestages der<br />
Dedeèr und gleichzeitigen 20. Jubeltag des <strong>Sie</strong>ges von Beerdé.<br />
2. Von der Verführungskraft und der Gefahr von Mythen<br />
Mythen gehen hervor aus realen Ereignissen der vergangenen<br />
Zeit. <strong>Sie</strong> erheben den Anspruch auf Gültigkeit und geben eine<br />
Wirklichkeit vor, wie sie der Betrachter aus verschiedenen<br />
Gründen zu sehen vermeint. Das kann Phantasie anregend, interessant<br />
und ein literarischer Genuss sein. Nur: es ist nicht die<br />
vergangene Wirklichkeit und keine geschichtswissenschaftliche<br />
Analyse.<br />
Angewandt in der jeweiligen aktuellen, gar politischen Auseinandersetzung,<br />
wird der Mythos nicht selten zur Lüge, zur<br />
Halbwahrheit, zum Manipulationsmittel in der ideologischen<br />
Auseinandersetzung. Die große Gefahr ist, dass sich solche Mythen<br />
bei den nachfolgenden Generationen als Geschichtsbild<br />
einprägen. Immer weniger Menschen <strong>werden</strong> fragen, wie es<br />
denn wirklich war. Das darzustellen, ist schwer. Jeder historische<br />
Verlauf war tatsächlich um vieles komplizierter und vielfältiger<br />
als seine noch so detailgetreue Darstellung.<br />
Die optimale Annäherung an die vergangene Wirklichkeit ist<br />
jedoch nicht nur intellektuell schwer zu bewältigen. <strong>Sie</strong> wird<br />
auch behindert durch die eigene Sozialisation, durch die eigenen<br />
Erfahrungen und Sichten (und selbstverständlich Kenntnisse<br />
und Eignung) sowie die Bindung des Betrachters an seine<br />
konkrete Umwelt mit ihren verschiedenen Einflüssen, wie Erwartungshaltung<br />
der jeweiligen politischen Klasse, Erwartungsdruck<br />
der allgemein herrschenden Meinung, materielle<br />
Abhängigkeiten und so weiter.<br />
Und so ist es gar nicht so verwunderlich, dass Geschichtsdarstellungen<br />
in allen Jahrhunderten auch immer mythengeschwängert<br />
waren, immer wieder auf Mythen zurückgegriffen<br />
wurde und wird. Wir erleben es derzeit und erstaunlicherweise<br />
(oder auch nicht) wieder in einem stark mythengeschädigten<br />
Land. DDR-Historiker haben fleißig an allen möglichen Mythen<br />
mit gebastelt und mit dazu beigetragen, dass die Gesellschaft<br />
immer unehrlicher und immer oberflächlicher wurde.<br />
Die DDR-Geschichtswissenschaft war ideologieüberlastet. Insbesondere<br />
die Zeitgeschichtsforschung und -darstellung (da<br />
nimmt sich der Verfasser dieses Beitrags nicht aus) passte sich<br />
in der Regel in das vorgegebene Muster eines verinnerlichten,<br />
festen ideologischen Korsetts ein und befolgte allzu angepasst<br />
die Vorgaben der damals herrschenden politischen Klasse. Allerdings<br />
sind Historiker, die zu Zeiten der DDR wirkten, heute<br />
sehr rar geworden. Viele wurden 1990/91 aus ihren Ämtern<br />
entfernt, an ihre Stelle traten Historiker aus den alten Bundesländern.<br />
<strong>Sie</strong> besaßen nicht die Erfahrung des Scheiterns eines<br />
von ihnen unterstützten Gesellschaftssystems und die lebensnotwendige<br />
Aufgabe, zu grundsätzlich neuen Einsichten und<br />
Erkenntnissen zu gelangen.<br />
Viele Menschen aus der DDR stellten sich dieser Aufgabe.<br />
Helmut Bock beschreibt diesen Weg zu neuen Erkenntnissen<br />
in dem Artikel „Vom Elend historischer Selbstkritik“ (Auszüge.<br />
In: UTOPIE kreativ, H. 180 (Oktober 2005), S. 890-899) mit<br />
den Worten:<br />
„Versteckt und vereinzelt in Freundeskreisen, gefesselt von den Kontrollen<br />
der Staatssicherheit, beschränkt in den eigenen Vorsichten<br />
und den Skrupeln einer objektiv falschen Partei- und Staatsdisziplin,<br />
verpassten wir den entscheidenden historischen Auftritt. Nicht<br />
wir waren die Kraft, die 1989 das Volk mobilisierte […].<br />
Das arbeitende Volk hätte im Sozialismus seine Demokratie, seine<br />
Arbeit, seine Besitztümer durch eigene Willensbildung, produktive<br />
Selbsttätigkeit und politische Kontrolle bestimmen müssen. Stattdessen<br />
dominierte eine bürokratische Kaste den »Arbeiter-und-Bauern-Staat«<br />
und das geltende Recht – auch in der DDR. <strong>Sie</strong> rekrutierte<br />
sich durch ein elitäres System der Kaderauslese und der willkürlichen<br />
Ernennung von Amtspersonen. <strong>Sie</strong> besaß Entscheidungsmacht,<br />
Kommandogewalt und das Privileg der Meinungsbildung.<br />
<strong>Sie</strong> war behütet durch andauernde Zensur der Medien und der<br />
Produkte geistiger Kultur, durch das Fehlen verfassungsmäßiger Beschwerdeinstitutionen,<br />
durch die Verweigerung der Gesinnungs-,<br />
Versammlungs- und Lehrfreiheit. Und sie wurde kriminalpolitisch<br />
geschützt von der allgegenwärtigen Staatssicherheitspolizei. Weil die<br />
meisten Individuen dieser Kaste den werktätigen Klassen und<br />
Schichten entstammten, trugen sie ursprünglich gewiss die Absicht,<br />
Sachwalter des arbeitenden Volkes zu sein. Jedoch emporgehoben<br />
und zugleich gefangen in der <strong>Hier</strong>archie des Partei- und Staatsapparats,<br />
wurden sie letztlich zum Instrument der hohen Repräsentanten<br />
und Spitzenfunktionäre – darunter verdiente antifaschistische<br />
Kämpfer, die sich zu machtbeflissenen, selbstgefälligen Patriarchen<br />
mauserten. Diese geboten, das Volk gut zu hegen, aber auch materiell<br />
und geistig unter Kontrolle zu halten, und sie gewöhnten sich<br />
an, die jeweils nötige oder mögliche Erfüllung der Volksinteressen als<br />
»Geschenke von oben«, als obrigkeitlichen Akt zu vollziehen. Das<br />
Volk hingegen durfte mit vorgefertigten Dankadressen seine Begeisterung<br />
bekunden, obwohl es selbst doch gearbeitet hatte und die Kosten<br />
für den Staat zahlte, auch für immer dieselben auf den Tribünen.<br />
Das aber war noch nicht alles. Indem die Bürokratie ihre Verfügungsgewalt<br />
über das »Volkseigentum« ausübte und die Verteilung<br />
des Bruttosozialprodukts alljährlich entschied, besaß diese Kaste eine<br />
ökonomisch- soziale Fundierung. <strong>Sie</strong> verwandelte Gemeineigentum<br />
des werktätigen Volkes innerhalb des Systems der Nationalen<br />
Front der DDR, an dem auch Christdemokraten (CDU), Liberaldemokraten<br />
(LDPD), Nationaldemokraten (NDPD) partizipierten,<br />
in Parteien- und Staatseigentum – und sie war als Parteienund<br />
Staatsbürokratie dessen unmittelbarer Nutznießer.“
0.10 __ //// TITELTHEMA | ABOSCHEIN<br />
Zu dieser schonungs<strong>los</strong>en Kritik sind bei weitem nicht alle bereit<br />
und fähig, die sich aus innerer Überzeugung auf unterschiedliche<br />
Weise für ihren Staat DDR eingesetzt hatten. Gerade<br />
die Verteufelung dessen, was für viele Menschen ein wesentlicher<br />
Teil ihres Lebensinhalts war, die Plattheiten und Vereinfachungen,<br />
das schon absurde Vorgehen, allem was DDR bedeutete<br />
ein negatives Vorzeichen zu geben, die Verdrehungen<br />
und Lügen, all das provoziert geradezu das Entstehen neuer<br />
Mythen zur Verteidigung der DDR, zur Verteidigung des eigenen<br />
Lebens.<br />
Für einen „<strong>Sie</strong>ger“ war eindeutig: Die Niederlage der anderen<br />
Seite war der Beweis für die Richtigkeit der eigenen Auffassung<br />
und des eigenen Handelns. Er bastelt weiter an den alten Mythen,<br />
deren Grundlage (zumindest für die Zeitgeschichte) eine<br />
sehr vereinfachte, dem kalten Krieg adäquate und gleichzeitig<br />
märchengerechte Sicht auf die Geschichte als Kampf zwischen<br />
gut und böse ist, und, darauf basierend, auch an neue Mythen,<br />
die die alten Kriege fortführen.<br />
„Man kann auch stalinistisch gegen den Stalinismus sein, mit<br />
den gleichen, den stalinistischen Methoden, und zu diesen Methoden<br />
gehört es, sich den Gegner, den Abweichler immer nur<br />
als Feind und Feind der Menschheit denken zu können, ohne<br />
den die Menschheit besser aussähe, ohne den die Welt eigentlich<br />
in Ordnung wäre, der also mit allen Mitteln bekämpft <strong>werden</strong><br />
muss. Die totale Feindschaft, die Feindschaft, die den<br />
Feind nicht in seinem Recht anerkennt, die ihn entwertet und<br />
am liebsten aus der Menschheit ausschließen würde – wenigstens<br />
in Worten, wenn nun nicht in Taten mehr.“ (Florian Havemann<br />
in seinem Buch „Havemann“, Suhrkamp 2008)<br />
In den alten Bundesländern war 1976 ein Kompromiss zwischen<br />
den unterschiedlichen Strömungen in der politischen<br />
Bildung gefunden worden, der sogenannte Beutelsbacher Konsens.<br />
Er beinhaltet das Indoktrinations- oder auch Überwältigungsverbot,<br />
also das Verbot, dem Lernenden eine Meinung<br />
aufzuzwingen sowie die Forderung nach Ausgewogenheit der<br />
Darstellung, d.h. eine Abbildung kontroverser Debatten als<br />
ebensolche, was ein unvereingenommenes Kennenlernen aller<br />
Meinungen als. als Grundlage für die eigene Meinungsbildung<br />
ermöglicht.<br />
Dieser Konsens existiert ganz augenscheinlich nicht mehr. Die<br />
politische Bildung – und darin eingesch<strong>los</strong>sen die Vermittlung<br />
historischer Fakten und Erkenntnisse - ist weitgehend der Agitation<br />
und der Oktroyierung einer einzelnen, politisch motivierten<br />
Meinung gewichen. Die im Osten auftretenden Probleme<br />
<strong>werden</strong> der schon 20 Jahre lang toten DDR angelastet, heutige<br />
wirtschaftliche Krisen der planwirtschaftlich organisierten<br />
Misswirtschaft der DDR, Parteienverdrossenheit und Skepsis<br />
gegenüber dem praktizierten Parlamentarismus der aus der<br />
DDR-Zeit herrührenden Entwöhnung der Bürger von Entscheidungsfreiheit<br />
usw.<br />
Die vehement verbreitete These vom DDR-Unrechtssystem<br />
und der zweiten deutschen Diktatur neben dem Faschismus<br />
wird zum funktionalen Todschlagargument, darauf abzielend,<br />
die begründete Unzufriedenheit über den Status quo auf Jemanden<br />
zu lenken, der sich nicht mehr wehren und damit alternatives<br />
Denken und Handeln in der Gegenwart zu verhindern.<br />
Auch eine Form von Leichenfledderei.<br />
Material- und quellenmäßig gut belegte Untersuchungen und<br />
Veröffentlichungen, die eine andere, differenzierte, aber keineswegs<br />
unkritische Position zur DDR einnehmen, <strong>werden</strong> von<br />
vielen Journalisten, Politikern, Publizisten, Wissenschaftlern,<br />
darunter vielen Historikern, gar nicht erst zur Kenntnis genommen<br />
oder als Versuch der Verharm<strong>los</strong>ung des Regimes verdammt.<br />
3. 1989/90 und die neuen Mythen<br />
Die Grundaussage über die Zeit 1989/90 lautet bei der übergroßen<br />
Zahl aller Darstellungen: In einer friedlichen Revolution<br />
befreite sich die Bevölkerung der DDR von einer menschenverachtenden<br />
Diktatur und strebte zur Einheit Deutschlands.<br />
Die Einheit Deutschlands wird als neutraler Wert, als<br />
die zentrale Kategorie einer von Oktober 1989 bis Oktober<br />
1990 aufsteigend verlaufenden Revolution herausgehoben, die<br />
in der Einheit Deutschlands gipfelte, verbunden mit der damit<br />
erfolgten Befreiung von Willkür und Diktatur und dem Beginn<br />
eines Lebens in Demokratie, Freiheit und Wohlstand.<br />
Sehen wir uns diese Aussage etwas näher an:<br />
- Bis in den Dezember 1989 hinein war das Ziel der in der<br />
DDR in Opposition stehenden Kräfte ziemlich einheitlich,<br />
eine neue DDR mit einem neuen Sozialismus zu erstreiten,<br />
der Schluss machte mit dem bisher in der DDR<br />
(und anderen Staaten) praktizierten Sozialismus. So vertrat<br />
der im Oktober 1989 entstehende „Demokratische Aufbruch<br />
– sozial + ökologisch (DA)“ (damalige politische<br />
Heimat von Angela Merkel, Rainer Eppelmann, Günter<br />
Nooke, Wolfgang Schnur, zunächst auch Friedrich Schorlemmer<br />
und Daniela Dahn) bis in den Dezember hinein<br />
die Idee des demokratischen Sozialismus und forderte Reformen<br />
am DDR-System. Die Einheit Deutschlands spielte<br />
zunächst keine oder nur eine marginale Rolle. So entsetzlich<br />
kann es in der DDR und im Sozialismus nicht gewesen<br />
sein, wenn nach Meinung der Opposition auf dieser<br />
Basis nicht doch ein Neuanfang möglich gewesen wäre.<br />
- Das Streben nach deutscher Einheit blieb in der ehemaligen<br />
BRD immer Grundgesetzauftrag. Es war lange Zeit ein<br />
mit den verschiedensten Mittel und innerhalb des westlichen<br />
Bündnissystems geführter kalter Krieg gegen die<br />
nicht als Staat anerkannte DDR. Das veränderte sich in<br />
den 1970er und besonders in den 1980er Jahren. Die Realitäten<br />
wurden – unzählige Beispiele belegen es - zunehmend<br />
Grundlage westdeutscher Politik. Was lange Zeit undenkbar<br />
war, trat ein: Erich Honecker wird im September<br />
1987 vom Bundeskanzler Helmut Kohl als Staatsgast empfangen.<br />
- Die westlichen Partner der Bundesrepublik sahen sehr
skeptisch auf eine Vereinigung beider deutscher Staaten,<br />
denn sie befürchteten einen bedeutenden Machtzuwachs<br />
der Bundesrepublik. Der bis 1989 gewonnene Status quo<br />
garantierte ein austariertes Kräfteverhältnis in Europa, der<br />
Versuch einer Veränderung sch<strong>los</strong>s zahlreiche Gefahren in<br />
sich ein. Diese Befürchtungen wurden auch durch Gorbatschow<br />
nicht ausgeräumt, der bis in den Dezember hinein<br />
erklärte, dass an der Souveränität der DDR nicht zu rühren<br />
sei.<br />
- Im Herbst 1989 und den nachfolgenden Monaten setzte<br />
die DDR-Bevölkerung (und nicht Politiker aus der ehemaligen<br />
Bundesrepublik ) in sehr harten politischen Auseinandersetzungen<br />
wesentliche Grundrechte einer tatsächlichen<br />
Demokratie in der DDR durch, die deutlich über die<br />
in der Bundesrepublik praktizierte hinausging. Reisefreiheit,<br />
Organisationsfreiheit, Informations- und Pressefreiheit,<br />
Versammlungsfreiheit, ein neues Wahlrecht wurden<br />
geschaffen, das Widerstandsrecht in breitem Umfang in<br />
Anspruch genommen, ein neues Rechtssystem Schritt für<br />
Schritt aufgebaut usw. Eine mit Vertretern aller am Runden<br />
Tisch mitwirkenden Parteien und politischen Bewegungen<br />
unter Einbeziehung von Verfassungsexperten tätige<br />
Arbeitsgruppe erarbeitete in sehr kurzer Zeit den Entwurf<br />
eine der modernsten Verfassungen ihrer Zeit. Das geschah<br />
im sich allerdings rasant verändernden politischen System<br />
der juristisch selbständigen DDR, ob unter Krenz, Modrow<br />
oder de Maiziere, auch wenn die Souveränität dieses<br />
Staates von Monat zu Monat eingeschränkt und seit der<br />
am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Währungs-, Wirtschafts-<br />
und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik<br />
und der DDR faktisch nicht mehr bestand.<br />
Der Mythos vom aus der finsteren Unterdrückung in die Freiheit<br />
des einheitlichen, nach dem Bild der alten Bundesrepublik<br />
gestalteten Deutschlands strebenden Menschen verdrängt die<br />
soziale und politische Komponente der großen Volksbewegung<br />
in der DDR, überdeckt sie mit dem hauptsächlich emotional<br />
erfassbaren imaginären Willen zur Einheit, die gleichsam Synonym<br />
für Freiheit, Demokratie und Wohlstand darstellt.<br />
So kommt ein Referent auf der Tagung „Opposition und SED<br />
in der Friedlichen Revolution. Organisations-geschichte der alten<br />
und neuen politischen Gruppen 1989/90“ vom 25. -<br />
26.11.2008 in Berlin zu der Schlussfolgerung, dass die friedliche<br />
Revolution kaum Bedeutung für das vereinigte Deutschland<br />
habe und im geschichtlichen Bewusstsein der Bundesrepublik<br />
trotz ihrer hervorragenden Eignung als identitätsstiftendes<br />
Vorbild nicht verankert sei (http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/tagungsberichte/id=2565).<br />
Was nicht so bleiben muss. ¬<br />
AUSSCHNEIDEN, AUSFÜLLEN, UNTERSCHREIBEN UND BITTE PER POST/FAX AN DIE REDAKTIONSADRESSE (ODER SIE BESTELLEN IM INTERNET: WWW.STADTGESPRAECHE-ROSTOCK.DE)<br />
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FOTO: TOM MAERCKER<br />
1989<br />
und die gesellschaftlich-kulturelle<br />
Überformung von Identitäten
0.13 __ //// TITELTHEMA<br />
BJÖRN KLUGER<br />
„Der Norden wacht auf “, der Titel eines gleichnamigen Buches<br />
zu den aus der Ohnmacht erwachten Nordlichtern, schrieb<br />
1989 einen Teil der Geschichte über Aufbruch, Umbruch und<br />
Zuversicht. Gewusst hat niemand, wohin die Reise geht, aber<br />
klar schien der Wille zur Konstruktion einer neuen sozialen<br />
Wirklichkeit.<br />
Der Süden machte den Norden zur Hölle, verwünschte und<br />
verprügelte auch. Gut, wer dann kein ABC-Kennzeichen hatte.<br />
Woran niemand so recht dachte, war, dass, als Vieles seinen geordneten<br />
Lauf nahm, die Revolution im Norden forciert wurde,<br />
ohne sich mit den Apfelsinen und Bananen zu begnügen.<br />
Gar unwohl war die Nationalisierung des Südens. Aus dem<br />
„das“ zum „ein“, die geistig-moralische Anmaßung über Gewissen<br />
und Macht zu entscheiden.<br />
Auf der Straße lag die Macht und da stand eine Generation auf,<br />
die nicht bürgerlich, auch nicht reaktionär, sondern eine linke<br />
Opposition sein wollte und zugriff, selbst den Gang der Geschichte<br />
zu bestimmen. Es ging nicht ums Reformieren sondern<br />
um die Vollendung dessen, was man begonnen hatte.<br />
Theoretisch begann der Übergang vom Staatsfeudalismus zur<br />
bürgerlich-demokratischen Phase der Revolution. In dieser<br />
Etappe der Emanzipation befindet sich das kulturelle und politische<br />
Erbe der 1989 angetretenen politischen Generation<br />
noch immer.<br />
Da halfen auch keine blühenden Landschaften, Übernahmen,<br />
geplatzten Blasen und Dekonstruktionen von Wirklichkeiten,<br />
den Erziehungsprozess zu gesellschaftlich gewünschten Identitäten<br />
zu beschleunigen. Selbst die geistige Elite der 1968er<br />
muss inzwischen erkennen, dass ihre alte Bundesrepublik sich<br />
verändern muss und nicht mehr einer verfremdeten Sozialdemokratie<br />
folgen kann.<br />
Die Debatte um die Deutungshoheit<br />
Die Demokratisierung ist gescheitert, auch wenn Herr Reis<br />
dies in seinem Beitrag zum letzten Heft zu entkräften versucht.<br />
Gleichzeitig belegt er jedoch das „Unbehagen“ (Lechner) mit<br />
der Form und der Titulierung von Politik, der Verfassung und<br />
Verfassungswirklichkeit. Politisch opportun, ein gesellschaftliches<br />
Projekt aus den Angeln zu heben, glaubte damit das Gros<br />
den Geist der selbstdefinierten Freiheit in das Korsett der Genügsamkeit<br />
und Saturiertheit einfügen zu müssen.<br />
neue Form der Selbstentfremdung gekoppelt wurde. Es zeigt<br />
sich erneut, dass ein politisches Projekt der Emanzipation nicht<br />
von außen erzwungen und erzogen <strong>werden</strong> kann. Vor diesem<br />
Hintergrund verlaufen die derzeitigen Diskussionen um die<br />
„Einordnung der DDR“. Das Scharmützel zwischen Herrn<br />
Schröder und Herrn Maaz, um „heilsame Revolutionen“, Anpassungsprozesse<br />
statt Gestaltungsprozesse und den Verlust der<br />
eigenen Souveränität, Einschätzungen und Statements über<br />
„Sehnsucht nach Diktaturen“ (Wolle), Verharm<strong>los</strong>ung (Schroeder)<br />
etc. formen eine auf Deutungshoheit gerichtete Debatte.<br />
Zu Recht begreifen Menschen diese Debatte als einen Austausch<br />
Außenstehender über ihr Leben. <strong>Hier</strong> setzt die Akzentuierungsthese<br />
meines Erachtens an. Den Bruchsituationen,<br />
dem Identitätsverlust nicht nur einzelner folgte ein Vakuum<br />
und konnte auch nicht durch die Angebote der bürgerlich-liberalen<br />
Freiheit überwunden <strong>werden</strong>. Aus Mangel an wahrnehmbaren<br />
Alternativen, dem Vorwurf des Wertemangels ausgesetzt,<br />
blieb dem Ostdeutschen nur die Überformung seiner Biografie.<br />
Den Menschen blieb der Verlust haften, die Angst vor der Krise,<br />
um den Job, um die Befindlichkeit, um die Zukunft.<br />
In der Verweigerung, diese auch noch in die Vergangenheit<br />
treiben lassen zu müssen, das eigene Leben in die Mühlen des<br />
„Unrechtsstaates“ zu verlagern, verschoben sich die Akzente.<br />
Die Masse hat mitgebaut, aber nicht mittapeziert. Umso deutlicher<br />
äußert sich das „Unbehagen“ an den bestehenden Verhältnissen,<br />
in denen sich für sie nicht das Zuhause finden lässt.<br />
Um den Alltag zu überstehen, haben viele so auch die Vergangenheit<br />
liegen lassen.<br />
Klar war der Sprung über die Mauer als politischer Akt gefährlich.<br />
Gleichzeitig wusste jedoch jeder, dass wer der über die<br />
Mauer wollte, auch tot sein kann, „das stand da dran“ (Lorenz).<br />
Später trafen Ober- und Untertanen aufeinander, die Bestätigung<br />
durch eine Idee traf auf die Bestätigung durch Wohlstand<br />
und Geld (Maaz). Der „Gefühlsstau“ stand der Losung „Freiheit<br />
statt Sozialismus“ gegenüber, die Menschen waren euphorisch,<br />
beweglich, wurden jedoch wiederum ohnmächtig zurückgelassen.<br />
Der „Aufstand der Anständigen“, wie Herr Gauck es nannte,<br />
hat dementsprechend das Gefühl einer hohlen Maske hinterlassen.<br />
Der 1989 begonnene Aufbruch zur Basisdemokratisierung<br />
verläuft immer noch entlang der politischen Konstanten<br />
von Arbeit, Kapital, Mitbestimmung und Emanzipation. Dieser<br />
Umstand wird auch nicht durch die aktuelle Debatte außer<br />
Kraft gesetzt. Der selbstbestimmte Freiraum der Konstruktion<br />
politischer und kultureller Wirklichkeiten bleibt deshalb an<br />
der Tagesordnung, um die Revolution von 1989 zu vollenden.<br />
¬<br />
Vergessen wurde, dass mit der Schnellüberwindung des Staatsgebildes<br />
ein Mehr an Freiheit und Selbstbestimmung an eine
0.14 __ //// TITELTHEMA<br />
Ein bisschen<br />
Wende …<br />
SVEN-MARKUS KNAUF<br />
…ist diesmal Thema und Heftschwerpunkt. Und wirklich nur<br />
ein bisschen, hieß es, weil wir uns nicht in die Schar der<br />
(N)Ostalgiehudler einreihen möchten. Bitte, so sei es. Und in<br />
die Gefahr der (N)Ostalgiehudelei wäre ich als – dem Vernehmen<br />
nach allerdings passabel ossimilierter – Mensch süddeutscher<br />
Ursprungssozialisation mit großer Wahrscheinlichkeit<br />
ohnehin nicht geraten. Über die Wende und „das Seitdem“ zu<br />
schreiben, fühlt sich für mich – ist ja nun doch schon zwanzig<br />
Jahre und mein halbes Leben her – allerdings ein bisschen so<br />
an wie früher, wenn ich mich im Kindergarten versehentlich<br />
zum Kriegspielen hatte hinreißen lassen und die Erzieherin,<br />
Tante Liane also, verlangte: „Spielt doch mal Frieden!“ Liebgewonnene<br />
Normalität lässt sich so schlecht pointiert darstellen.<br />
Und die „Lindenstraße“ als Vorreiter eines pointiert pointenfreien<br />
Fernsehprogramms, in dem der normale Mensch normalen<br />
Menschen beim Normalsein zugucken konnte, hatten auch<br />
wir damals noch nicht.<br />
Also, was mache ich hier und wie geht es mir und was hat die<br />
Wende damit zu tun?<br />
Ich bin da, ein bisschen wie der freundliche Herr Schabowski,<br />
mehr so reingeschliddert. Ich habe nicht ganz besonders bewusst<br />
als „Ossi“ die „Wende“ mitbekommen, so dass ich jetzt<br />
meine Sicht der letzten Züge der Vorwendezeit im Osten vor<br />
der geneigten Leserschaft auftürmen könnte. Ich bin kein „Publizist“,<br />
der sich mit mindestens einer Hand im Gesicht in<br />
nachdenklicher Pose ablichten lässt und dann über viele Seiten<br />
darlegt, dass im Osten alles schlecht war.<br />
Ich bin aber auch kein „Publizist“, der sich mit mindestens einer<br />
Hand im Gesicht in nachdenklicher Pose ablichten lässt<br />
und dann über viele Seiten meint, dass im Osten n i c h t alles<br />
schlecht war. Ich war schlicht nicht dabei, also kann ich es<br />
nicht wissen, lasse mir aber bis heute fast täglich berichten und<br />
sehe mit Distanz zu, wie der Ossi selbst mit seiner Vergangenheit<br />
und insbesondere denjenigen umgeht, die für das vielleicht<br />
weniger Schöne an seiner Vergangenheit verantwortlich sind<br />
(dafür wird mich mancher im Westen ächten, das verschmerze<br />
ich, denn der weiß im Zweifel noch weniger als ich, wovon er<br />
redet).<br />
Und ein Glücksritter, also einer der im Westen um '90 herum<br />
Gescheiterten oder im Scheitern Begriffenen, die dann im<br />
Osten die in der Geschichte wohl fast einmalige Gelegenheit<br />
hatten, nicht nur neu anzufangen, sondern sich gleich noch ein<br />
bisschen als Held aufführen zu dürfen und in nicht wenigen<br />
Fällen das Bild des Besserwessi, des dilettantisch-klugscheißerischen<br />
Möchtegerns zu zementieren, mit dem noch mindestens<br />
eine Generation nun wird kämpfen müssen („der Fuchs ist<br />
schlau und stellt sich dumm, der Wessi macht es andersrum“), -<br />
so ein Glücksritter war ich auch nicht. Es war für mich altersbedingt<br />
einfach zeitlich gar nicht zu schaffen, 1989/90 schon<br />
einmal so richtig auf die Schn… gefallen zu sein.<br />
Tja, und schließlich bin ich auch kein aufs Polarisieren erpichter<br />
Journalist, der nun unbedingt seine höchst subjektive Sicht<br />
zum Ost-West-Thema verallgemeinern und dann verkaufen<br />
will. Ich war einfach jung, im tiefen Süden Deutschlands aufgewachsen<br />
und wollte ans Meer, am liebsten an ein Meer, das verlässlich<br />
da und nicht gezeitenbedingt immer zwischen Ebbe<br />
und Flut hin- und hergerissen und zu den Besuchszeiten nur als<br />
feiner Streifen am Horizont erkennbar sein würde. Und deshalb<br />
(zunächst einmal nur deshalb - man könnte schlicht von<br />
einem weder historisch noch politisch, sondern allein gezeitenbedingten<br />
Zufall sprechen) zog ich 1996 in Deutschlands<br />
Osten. Aber ja, ich überschritt im Zuge dessen auch eine Grenze,<br />
die zuvor für eine gewisse Zeit deutsch-deutsche Grenze gewesen<br />
war. Na wenn schon!?<br />
Von einem guten Gast wird Höflichkeit verlangt und dass er<br />
erstmal etwas Positives sagt. Ich fühle mich aber längst nicht<br />
mehr als Gast hier und möchte dem Schönen anschließend<br />
möglichst viel Raum gewähren, ohne dann mit dem unvermeidlichen<br />
„Aber“ zu kommen. Also das Negative vorweg. Die<br />
folgende Erfahrung ist erst wenige Wochen her:<br />
Wir waren am Kummerower See gewandert. Schließlich teilten<br />
sich gleichsam die Bäume, und vor uns stand ein in dieser Gewaltigkeit<br />
hier nicht erwartetes Gebäude mit spitzem Dachgiebel,<br />
Schweizer Landhausstil im großen Stil, viel Holz für Balkone<br />
und Terrassen. Auf der glaswandbewehrten Seeterrasse
stand kein benutzter Stuhl, wir sahen im Eingangsbereich unter<br />
dem „Hotel“-Schild eine einzige Person (in kellnertypischem<br />
Schwarzweiß) – oh weia. Das war das Ausflugsziel. Wir<br />
strebten dem Sportboothafen zu. <strong>Hier</strong> standen tatsächlich einige<br />
Boote, und auch am Imbiss war Leben. Meine Frau, eine von<br />
hier, fiel in einen Jungbrunnen. <strong>Sie</strong> meinte, hier sei alles noch<br />
„wie damals“: die Gebäude, die Ruhebänke, die einzeln stehenden<br />
Ferienbungalows, deren Typennummer nach DDR-Plattenhausbestellkatalog<br />
sie noch aufsagen konnte, ja, sie meinte<br />
sogar die Softeismaschine als ein bereits „früher“ vorzufindendes<br />
Modell wiederzuerkennen, und den Geschmack des Eises<br />
sowieso. Ob das ein Vorteil war, wollte sie nicht sagen. „<strong>Hier</strong> ist<br />
wirklich alles stehengeblieben!“ sagte sie zusehends entrückend<br />
und bezog das offensichtlich auf die Gebäude, die Zeit, eben alles.<br />
Einige verstreute Gestalten tranken Bier, saßen zusammen, sahen<br />
das vermutlich genau so, und beklagten, dass der Fortschritt<br />
sie auslasse. Dann gingen sie allerdings zu Audis oder<br />
Toyotas statt Trabants und holten Funktelefone heraus. Vermutlich<br />
um irgendwen vollzuschimpfen, dass seit der Wende<br />
genau genommen sogar alles nur schlechter geworden sei, früher<br />
hätte man ja nicht wochentags rumsitzen und Hartz IV<br />
vertrinken müssen, sondern Arbeit gehabt. Die Dinge sind<br />
eben komplex. Und Eigeninitiative besonders. Vor allem, wenn<br />
man zur Wendezeit vielleicht fünfzehn Jahre alt war, so dass<br />
sich die Chance, sie sich anzueignen, ganz vielleicht noch hätte<br />
ergeben können. Und immer irgendwen sucht (und folglich<br />
findet), dem man für irgendwas die Schuld geben kann, so dass<br />
die Überlegung, dass die DDR ja nicht überfallen oder gekauft<br />
wurde, sondern einfach an Altersschwäche wie von selbst einging,<br />
von diesen Menschen wahrscheinlich bis heute nicht ein<br />
einziges Mal angestellt wurde. Das würde einfache Dinge („alle<br />
doof außer ich“) unnötig kompliziert machen.<br />
Diese Gedanken sind nicht unreflektiert, auch sie sind das Ergebnis<br />
jahrelanger Beobachtungen. Allerdings richten sie sich<br />
gegen keinen sehr großen Personenkreis. Und sie bedeuten<br />
nicht zuletzt: es wird weiterhin Landstriche geben, die sich<br />
noch weiter gesundschrumpfen <strong>werden</strong> nach der schlichten<br />
Faustregel, je östlicher und stadtferner, desto schonungs<strong>los</strong>er.<br />
Das kann man beklagen, aber ob man auch nur den Versuch<br />
machen sollte, diesen Zustand aufzuhalten, anstatt ihn als notwendiges<br />
Übergangsstadium zu akzeptieren und anzugehen,<br />
stand für mich an diesem sonnigen Morgen am Nordostufer<br />
des Kummerower Sees sehr in Frage. Bis „es“ vorbei ist, das<br />
Zwischenstadium, und das Leben zurück kommt. Orte, die<br />
nach landläufiger Auffassung zunächst einmal „nichts“ haben,<br />
gibt es schließlich überall. Aber anderswo leben sie auch trotz<br />
allem, weil dort Menschen sind, die das Leben gerade dort wollen<br />
und befruchten. Noch zwanzig Jahre bis zu diesem Punkt?<br />
Ich lasse da ja auch mit mir diskutieren. Denn trotzdem war die<br />
Frage eines Nachbarn meiner nach wie vor im tiefen Süden der<br />
Republik beheimateten Eltern einer der besten unfreiwilligen<br />
Witze, die mir in den letzten Jahren unterkamen. Der gute<br />
Mann, ein Doktor der Psychologie, fragte mich bei einem Besuch<br />
mit dem Timbre, das man sonst bei Kranken in die Frage<br />
nach dem Befinden legt, wenn man nicht allzu sehr am Schlimmen<br />
rühren möchte, ob ich denn „da oben“ nicht die Lebensqualität<br />
vermisse. Weil ich erstmal lachen musste, beschied ich<br />
ihn mit einem eher kurz angebundenen „Ach lassen <strong>Sie</strong> mal,<br />
ich lebe ganz gern am Meer!“, das er schon als das verstand, was<br />
es heißen sollte: „Ein letztes verbliebenes Problem ist vielleicht<br />
noch, dass der Westen sich so wenig interessiert, dass einem<br />
selbst intelligente Leute knapp zwanzig Jahre danach noch derart<br />
provinzidiotische Fragen stellen. Wir haben nicht nur immer<br />
öfter Strom, wir haben auch morgens zwei Stunden lang<br />
Internet. Bestimmt denken <strong>Sie</strong> auch immer noch, den Soli<br />
zahlt nur der Westen.“<br />
Was dann kam, ähnelte einem stillen Gebet und hatte ungefähr<br />
diesen Inhalt: Nein, Herr Nachbar, auch wenn ich gar nicht<br />
wüsste, wo ich bei Ihnen mit dem Erklären anfangen soll, ich<br />
kann sagen, dass es mir dort sehr gut geht. Schnell gewöhnte<br />
ich mich daran, dass zwei schriftliche Anträge in jeweils dreifacher<br />
Ausfertigung genügen, damit die Menschen im Nordosten<br />
mit einem sprechen (bei drei Anträgen auch in ganzen Sätzen...!),<br />
gut komme ich mit dem Wetter klar, schließlich weiß<br />
jedes Kind, dass die Natur den vielen Regen braucht, und geradezu<br />
spielerisch beherrsche ich inzwischen den Umgang damit,<br />
dass der Einheimische sich von März bis Mitte November ausschließlich<br />
von unter freiem Himmel zubereitetem Grillfleisch<br />
ernährt.<br />
Was noch nicht klappt, ist der Umgang mit der Natur. Denn<br />
noch immer bringt mich an den Rand der Fassungs<strong>los</strong>igkeit,<br />
dass sie von allem nur das Beste gerade in meinem neuen Zuhause<br />
versammelt haben (erwähnte ich, dass ich absolut nicht<br />
die Absicht habe, zurückzukommen?). Gerade hier haben sie<br />
ein Meer hingeschüttet, das verlässlich da ist. Gerade hier findet<br />
sich im Gefolge dieses Meeres eine Boddenlandschaft, die<br />
anderswo als Natur- und Freizeiterlebnis selbst eine Riesenattraktion<br />
wäre und hier einfach Pech hat, dass sie ihr Dasein immer<br />
im Schatten der Ostsee fristen wird. Die Landschaft ist<br />
nicht wie nebenan einfach platt und Gegend, sondern gewellt<br />
und aufgeworfen, damit ihre Farbenpracht und die einmalig sie<br />
gliedernden Allen auch wirklich allerbestens zur Geltung kommen.<br />
Selbstredend haben wir auch neben ungefähr 1234 kleineren<br />
den größten Binnensee Deutschlands. Und die Städte:<br />
nun ja, reichlich Backsteingotik zum Schwärmen, Unesco-<br />
Weltkulturerbe gleich mehrfach und auch darüber hinaus ein<br />
paar wirklich großartig wieder auferstandene Innenstädte. Also,<br />
damit ist schwer klarzukommen, da hapert‘s noch mit dem<br />
Einleben.<br />
Und ohne die Wende wäre ich in diesen Genuss nie gekommen!<br />
¬
FOTO: TOM MAERCKER
0.17 __ //// AKTUELLES: PRAXISBERICHT<br />
Wir haben seinerzeit darüber berichtet: Ende April 2009 machte sich eine Gruppe von <strong>Rostock</strong>ern in einem Reisebus auf den Weg in Richtung<br />
Strasbourg, um sich an den Protesten gegen den Nato-Gipfel zu beteiligen. Was sich aus dieser Wahrnehmung ihrer demokratischen Grundrechte<br />
ergeben würde, hätten sie sich damals sicher nie träumen lassen.<br />
The Igel has landed<br />
CORNELIA MANNEWITZ<br />
Ganz stimmt das ja nicht. Aber man muss schon den Eindruck<br />
haben, dass der norddeutsche Igel auch dort sein möchte, wo<br />
der Adler schon ist. Was soll man denn auch denken, wenn<br />
man Folgendes erlebt:<br />
Für eine öffentliche Busfahrt der Friedensbewegung von MV<br />
zur internationalen Großdemonstration gegen die NATO am<br />
4. April 2009, anlässlich ihres Geburtstagsgipfels in Strasbourg,<br />
deren Teilnehmer sich zu einem Großteil nicht kannten und<br />
von der zwei <strong>Rostock</strong>er am 4.4. nicht zurückkamen, gibt es drei<br />
Monate später in <strong>Rostock</strong> mehrere „Zeugen“vorladungen. Dabei<br />
wird einmal für Aussageverweigerung Ordnungsgeld von<br />
300 Euro verhängt. In meinem Fall (ich war Mieter des Busses)<br />
sind es 500 Euro; vorausgegangen ist eine Vernehmung beim<br />
Landeskriminalamt, die eher ein Verhör ist, bei der Dinge gefragt<br />
<strong>werden</strong>, die ich nicht wissen kann (ich stand am 4.4. nicht<br />
in Strasbourg, sondern zusammen mit dem baden-württembergischen<br />
Ostermarsch hinter der Polizeisperre vor der Europabrücke<br />
in Kehl), es ansonsten um die Arbeitsweise des Rostokker<br />
Friedensbündnisses geht, kollektive Unternehmungen auf<br />
mich persönlich projiziert <strong>werden</strong> und mein Rechtsbeistand als<br />
„Verteidiger“ tituliert wird – in der Kriminallogik: ein Täternest<br />
wird ausgehoben, einigen wird gedroht und einer soll hängen,<br />
oder sollte das nicht die Attitüde gewesen sein? - ; ich halte<br />
etliche Fragen für sinn<strong>los</strong> und nenne keinerlei Namen; zwei<br />
Wochen später bei der Staatsanwaltschaft, dort kein Sichaufhalten<br />
mit der Feststellung von Personalien, gleich die Frage<br />
nach einer Namensliste der Busteilnehmer, Ignorieren des<br />
Zeugnisverweigerungsrechts, Verhängung der Kosten für das<br />
Suchen der Liste, sofort Hausdurchsuchungsbefehl (ob er inzwischen<br />
schriftlich vorliegt, ist nicht bekannt), Personenkontrolle<br />
inklusive Abtasten nach Waffen, Hausdurchsuchung, ohne<br />
mir den Zugang zur eigenen Wohnung zu gestatten, auf die<br />
Idee eines der Durchsuchungsbeamten hin Beschlagnahmung<br />
meines Computers, Androhung von Beugehaft, Vorbehalt der<br />
Eröffnung eines Verfahrens wegen Strafvereitelung.<br />
Den Hergang und die Bewertung dieses Vorgehens aus der<br />
Sicht des <strong>Rostock</strong>er Friedensbündnisses haben wir hier geschildert:<br />
http://www.rostocker-friedensbuendnis.de/antimilitaristischer-blog/204.<br />
Wir bewerten dieses Vorgehen,<br />
abgesehen vom Offensichtlichen – dass Kritik an der<br />
NATO nicht mehr geduldet <strong>werden</strong> soll - als eine Intervention<br />
zugunsten der umstrittenen Kriegführung der BRD in Afghanistan<br />
und als einen Angriff auf die Friedensbewegung im Eurofighter-<br />
und Korvettenland MV, der ihr Anliegen diskreditieren,<br />
Daten „sichern“ und die Aktiven zum Schweigen bringen<br />
soll.<br />
Alles das hat mir eine ganz persönliche Perspektive auf das beschert,<br />
was Mancher kaum glauben will: Ja, es wird gar nicht<br />
damit gerechnet, dass man die Absicht haben könnte, friedlich<br />
zu demonstrieren. Politische Motive interessieren nicht. Es<br />
wird sich nicht vorbereitet: Man fragt über Strasbourg zur Gipfelzeit<br />
und streitet über die Schreibung von Toponymen. Es<br />
wird agiert, teils ad hoc und ohne die eigenen Regeln zu beachten.<br />
Die Vorgänge haben bundesweite Beachtung gefunden. Zeitungen<br />
berichten überregional, Webseiten, Blogs und Mailinglisten<br />
nehmen Bezug auf sie. Dies ist nur ein Fall, nicht einmal<br />
besonders spektakulär, trotz seines exemplarischen Charakters,<br />
den wohl viele fühlen. Für mich ist er trotzdem eine neue Erfahrung.<br />
Aber mir helfen frühere, sie einzuordnen: ein dreiundfünfzig<br />
Jahre langes Leben; meine grundsätzliche Rationalität,<br />
die mich Wissenschaftler hat <strong>werden</strong> lassen; Jahre im Ausland,<br />
mit zum Teil behinderter und trotzdem nur ungeliebter<br />
Arbeit; Funktionen gerade in Krisenzeiten mit Zwang zur auch<br />
öffentlichen Auseinandersetzung mit Strukturen und ihren Exponenten;<br />
nicht zuletzt meine Arbeit im <strong>Rostock</strong>er Friedensbündnis,<br />
wo wir uns mindestens zu den Themen Hans Joachim<br />
Pabst von Ohain und Ilja Ehrenburg Fachkompetenz erarbeitet<br />
haben, die auch von außen nachgefragt wird. Deshalb ist es für<br />
mich leichter als für die jungen Leute, die ebenfalls als Zeugen<br />
geladen waren. Und überhaupt keinen Vergleich hält alles das<br />
aus mit der Situation der beiden jungen <strong>Rostock</strong>er, die in Strasbourg<br />
seit Anfang April bis heute in Untersuchungshaft sitzen.<br />
<strong>Sie</strong> <strong>werden</strong> nach wie vor nur VERDÄCHTIGT, an Ausschreitungen<br />
teilgenommen zu haben.<br />
Und ich habe eine weitere Erfahrung gemacht: Solidarität. Für<br />
den Mainstream klingt das Wort altbacken. Aber es lebt. Ich<br />
bin kein in der Wolle gefärbter Bewegungsorientierter und gebe<br />
eine gewisse Reserviertheit im Umgang mit potenziellen<br />
Bündnispartnern zu. Aber was ich jetzt an Solidarität erlebt habe,<br />
lässt mich anders denken: Zuspruch und Hilfeangebote gehen<br />
ein. Bedeutende Summen Geld <strong>werden</strong> gespendet, manchmal<br />
stillschweigend bar auf die Hand. Herzlichen Dank an alle!<br />
Liebe Freundinnen und Freunde, jetzt erst recht: Wir machen<br />
weiter, ganz bestimmt. ¬
0.18 __ //// AKTUELLES<br />
Das Li.Wu. sucht ein neues Zuhause<br />
Viele Besucher ahnten es schon seit Jahren, manche sind noch immer überrascht. „Was, Ihr müsst ausziehen?“, wird abends oft gefragt, wenn<br />
die Eintrittskarte am Tresen den Besitzer wechselt. Diesmal ist es tatsächlich zutreffend. Unsere Spiel-Zeit in der Stephanstraße 7 nähert sich<br />
nach 16 Jahren dem Ende.<br />
ANNE KELLNER<br />
Die Vorgeschichte dazu ist schnell erzählt: Das Gebäude gehört<br />
der Französischen Botschaft bzw. der Republik Frankreich.<br />
Bei der Auflösung des Institut Français im vergangenen<br />
Sommer und der Gründung des Centre franco-allemand de<br />
<strong>Rostock</strong> im September 2008 hat es der damalige Kulturattaché<br />
der Botschaft angekündigt: Das Gebäude solle noch etwa 2<br />
Jahre im Besitz der Behörde bleiben und dann verkauft <strong>werden</strong>.<br />
Nun hat sich noch vor Ablauf dieser Zeit ein Käufer gefunden,<br />
die Kaufabwicklung ist im Gange. Die Anfrage von Kultursenatorin<br />
Dr. Melzer bei der Finanzabteilung der Botschaft ergab<br />
die Aussage, dass die Kündigung an uns gehen solle, sobald der<br />
Kauf abgesch<strong>los</strong>sen sei. Nach Anwalts-Auskunft steht uns eine<br />
Kündigungsfrist von 6 Monaten zu. Noch ist keine Kündigung<br />
bei uns eingetroffen; der Eigentümer in spe hat aber seit einem<br />
ersten Gespräch im Sommer signalisiert, dass ein Kino im Haus<br />
nicht in seine Pläne passe. Da nichts darauf hindeutet, dass der<br />
Verkauf nicht zustande kommen könnte, schauen wir uns nach<br />
neuen Spielmöglichkeiten um. Und nach Lagerfläche, denn<br />
noch bewahren wir die alten Stühle auf, die uns bis zum letzten<br />
Dezember treue Dienste geleistet haben.<br />
„Da könnt Ihr ja jetzt in die Frieda umziehen“, heißt es dann<br />
genauso oft, wenn die Gäste die Lage geschildert bekommen.<br />
Schließlich hat die Bürgerschaft am 9. September grünes Licht<br />
für die Förderung des Projektes Friedrichstraße 23 gegeben.<br />
Aber wer den Plattenbau in der Friedrichstraße kennt, der<br />
weiß: Da ist kein Platz für ein Kino. Noch nicht mal provisorisch.<br />
Erst muss gebaut <strong>werden</strong>, und damit 2010 schon begonnen<br />
<strong>werden</strong> kann mit den Um- und Neubauten, laufen die Vorbereitungsgespräche<br />
mit allen beteiligten Partnern auf Hochtouren.<br />
Frühestens ist mit unserem Umzug aber erst Ende<br />
2011/Anfang 2012 zu rechnen. Dann möchten wir in der Frieda<br />
23 zwei Säle bewirtschaften – einen größeren als den jetzigen,<br />
der 88 Plätze hat, und einen kleineren mit etwa halb so<br />
vielen Sitzen. Dafür bewahren wir übrigens die alten Stühle<br />
auf.<br />
An dieser Stelle wird häufig gefragt: Was wir denn mit zwei Sälen<br />
machen, wenn doch schon in unserem jetzigen Saal die Zuschauer<br />
manchmal ganz unter sich sind? Darauf muss deutlich<br />
gesagt <strong>werden</strong>: Es gibt wiederum so viele ausverkaufte Vorstellungen,<br />
dass wir zunächst einen größeren Saal planen, damit<br />
künftig keine Besucher mehr weggeschickt <strong>werden</strong> müssen. Zumindest<br />
nur noch selten. Denn volle Vorstellungen wünschen<br />
wir uns natürlich auch bei mehr Plätzen. Dann soll im großen<br />
Saal der Schwerpunkt liegen auf Filmen, die mehr Besucher anziehen,<br />
also neueren europäischen Filmen in deutscher Fassung,<br />
und natürlich auch deutschen Filmen, die relativ zeitnah<br />
zum Bundesstart gespielt <strong>werden</strong>. Das heißt nicht unbedingt:<br />
mehr Filme, sondern deren bessere Auswertung, wie es im<br />
Fachjargon heißt. Den zweiten Saal möchten wir haben, um<br />
auch künftig solche „Cineastenfilme“ spielen zu können – ob<br />
es Originalfassungen mit Untertiteln sind, spezielle Autorenfilme<br />
oder Dokumentarfilme –, die ein zahlenmäßig geringeres<br />
Publikum haben, aber dennoch wichtig für unsere Kino-Provinz<br />
sind und die in den vergangenen 16 Jahren das Profil des<br />
Li.Wu. geprägt haben.<br />
Auch für das Schul- und Ferienprogramm ist jetzt eine Erweiterung<br />
möglich. Wir brauchen diese Absicherung. Denn wirtschaftlich<br />
kommt auf uns eine große Veränderung und Herausforderung<br />
zu – auch wenn die Frieda ein gemeinnütziges Projekt<br />
ist und die Mieten dauerhaft stabil sein <strong>werden</strong>. Dank der<br />
langjährigen Vereinbarung mit der Französischen Botschaft<br />
waren unsere monatlichen Zahlungen bisher sehr niedrig. <strong>Sie</strong><br />
ermöglichten die stabilen Eintrittspreise über viele Jahre. <strong>Sie</strong> ermöglichten<br />
zahlreiche Kooperationen für eine geringe Saalmiete<br />
sowie zahlreiche Extras. Wir möchten so viel wie möglich<br />
von dem erhalten, was unser Kino ausmacht. Aber auch wenn<br />
wir kommunale und Landesförderung erhalten: Die wird perspektivisch<br />
nicht steigen, und wir müssen absichern, dass wir finanziell<br />
überleben, ohne unser Profil zu verlieren.<br />
Der erste Sprung ins kalte Wasser steht uns aber direkt bevor:<br />
Bis zum Umzug in die Frieda, der also noch mindestens 2 Jahre<br />
dauern wird, müssen wir eine Interimslösung finden. Noch gibt<br />
es keine befriedigende Lösung, die bezahlbar ist und den Dauer-Spielbetrieb<br />
am Abend und auch das Schulprogramm ermöglicht.<br />
Wir haben verschiedene Objekte besichtigt und Gespräche<br />
geführt; die optimale Variante war noch nicht dabei.<br />
Vorschläge sind also nach wie vor willkommen und können per<br />
E-Mail, telefonisch oder auch persönlich an uns herangetragen<br />
<strong>werden</strong>. Gute Ideen entstehen ja sowieso meist in der Kommunikation.<br />
Auch ein preiswerter Lagerraum, der für Mobiliar geeignet<br />
ist, wird noch gesucht. ¬<br />
Kontakt: mail@liwu.de
FOTO: TOM MAERCKER
0.20 __ //// AKTUELLES: INTERVIEW<br />
„Wir wollten kein<br />
Anzeigenblatt machen“<br />
Die <strong>Stadtgespräche</strong> im Gespräch mit Henryk Janzen, Initiator und Herausgeber des Stadtmagazins 0381<br />
DAS INTERVIEW FÜHRTE KRISTINA KOEBE<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Henryk, vor drei Jahren seid Ihr zu zweit mit<br />
dem Anspruch gestartet, den bis dato existierenden Stadtmagazinen<br />
ein lokalbezogeneres mit gut recherchierten Beiträgen und einem<br />
breiter gefassten Veranstaltungskalender entgegenzusetzen.<br />
Inwieweit konntet Ihr dieses Konzept umsetzen, wo habt Ihr im<br />
Redaktionsalltag (und -stress) „Federn gelassen“?<br />
Henryk Janzen: Durch den Zuspruch unserer Leser fühlen wir<br />
uns in unserem Konzept bestätigt. Natürlich passiert es schon,<br />
dass wir mit dem Kopf schütteln, wenn wir unsere ersten Ausgaben<br />
noch einmal zur Hand nehmen. Bei diesen erkennt man<br />
schon, dass die Produktion eines Magazins für uns alle Neuland<br />
war. Doch wenn man den Weg, den wir beschritten haben,<br />
verfolgt, wird deutlich, dass wir gelernt haben und dass wir<br />
schnell gelernt haben. Dieser Prozess hört natürlich bis heute<br />
nicht auf und er darf auch nicht aufhören, schließlich möchten<br />
wir unseren Lesern ein modernes Magazin in die Hand geben<br />
und für unsere Kunden ein modernes Kommunikationsmedium<br />
sein. Na klar, es sind uns auch ein paar Flausen vom Alltag<br />
ausgetrieben wurden, doch die für so ein Projekt notwendige<br />
Portion Idealismus spüren wir noch immer. Zum Glück!<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie hat sich Eure Arbeit in diesen drei Jahren<br />
verändert - in punkto Arbeitsweise, Struktur und auch „Professionalisierung“?<br />
Henryk Janzen: Angefangen haben wir als kleines Team mit einem<br />
Grafiker und einigen „freien Redakteuren“. Mittlerweile<br />
wurden weitere Stellen geschaffen. Eine Stelle mit einer festen<br />
Redakteurin, ein Kreis von 8 bis 10 „freien Schreibern“ - und<br />
ein zusätzlicher Medienberater ist nun auch noch für uns tätig.<br />
Das 0381-Team wurde also in allen Bereichen erweitert. In unserer<br />
neu geschaffenen Onlineredaktion (seit 2008) arbeiten<br />
weitere 3 Mitarbeiter mit Schwerpunkt Administration, Foto<br />
und Redaktion. Außerdem reichten schon 2008 unsere Büroräume<br />
nicht mehr aus und so mussten wir uns vergrößern.<br />
In Sachen Professionalität mussten wir uns natürlich weiterentwickeln.<br />
In der Anfangszeit zählten noch Nachtschichten,<br />
kurz vor dem Drucktermin zum Alltag. <strong>Hier</strong> haben wir uns<br />
vermutlich mit unserer internen Ablaufplanung innerhalb der<br />
Redaktion am meisten weiterentwickelt. Wir treffen uns zu<br />
wöchentlichen Redaktionskonferenzen, in denen wir alle Themen<br />
der nächsten Ausgabe besprechen und uns auf dem Laufenden<br />
halten. Dort entstehen auch immer wieder neuen Ideen<br />
für Reportagen und Interviews.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie hat sich die Resonanz auf Euer Heft entwickelt:<br />
Ist 0381 in <strong>Rostock</strong> angekommen oder läuft die Etablierung<br />
noch?<br />
Henryk Janzen: Das 0381-Magazin hat sich fest etabliert in <strong>Rostock</strong><br />
und Umgebung. Wir konnten eine breite Leserschaft von<br />
unserem Magazin überzeugen, in allen Altersgruppen. Das<br />
rührt sicherlich von den vielfältigen Themen, die wir im Magazin<br />
beleuchten. Natürlich können wir uns nicht darauf ausruhen.<br />
Es gibt immer wieder Leute, die man neu ansprechen<br />
möchte.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Was waren Dein/Euer schönstes Erfolgserlebnis<br />
und Dein/Euer größter Rückschlag in diesen 3 Jahren?<br />
Henryk Janzen: Unser größtes Erfolgserlebnis ist sicherlich,<br />
dass wir für das Projekt 0381-Magazin spannende Mitstreiter<br />
gewinnen konnten, die am Magazin mitwirken und es so gemeinsam<br />
mit uns weiterentwickeln. Genauso wichtig sind für<br />
uns zuverlässige Partner, die wir unterstützen und die uns unterstützen<br />
wie Empor <strong>Rostock</strong>, die freie Kulturszene <strong>Rostock</strong>s,<br />
<strong>Rostock</strong>er Künstler oder das Volkstheater.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Wenn man das Heft liest, fällt der überdurchschnittlich<br />
hohe Anteil lokaler Werbekunde auf - ein sympathischer Aspekt, der<br />
sicher aber auch viel Zeit und Kraft kostet - ?<br />
Henryk Janzen: Oft kommen lokale Anzeigenkunden auf uns
zu. Da wir ein Magazin von <strong>Rostock</strong>ern für <strong>Rostock</strong>er sind, erreichen<br />
wir durch unseren großen redaktionellen Anteil mit lokalem<br />
und regionalem Bezug (ohne dabei den Blick über den<br />
berühmten Tellerrand hinaus zu vergessen), die Zielgruppe der<br />
hier ansässigen Unternehmen recht gut. Mit Glaubwürdigkeit<br />
durch die geschriebenen Beiträge und einem umfangreichen,<br />
aber trotzdem kompakten Veranstaltungskalender ist der Identifikationsgrad<br />
der Leser mit dem 0381-Magazin sehr hoch.<br />
Dies kommt natürlich den Anzeigenkunden zugute, da sie so<br />
ihre Zielgruppe in der Region gut erreichen. Was nicht bedeutet,<br />
dass wir für nationale Werbeagenturen uninteressant sind.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Stichwort „Wirtschaftskrise“: Macht sie Euch<br />
zu schaffen?<br />
Henryk Janzen: Natürlich hat die Krise nicht vor den Toren unserer<br />
Stadt halt gemacht. Dem tragen wir Rechnung, indem wir<br />
noch enger mit unseren Werbepartnern zusammenarbeiten.<br />
Der gute alte Spruch aus der Werbebranche „Wer nicht wirbt,<br />
der stirbt“ scheint auch in der Wirtschaftskrise Bestand zu haben.<br />
Unseren Partnern ist wichtig, wo sie ihre Produkte bzw.<br />
Dienstleistungen kommunizieren. Schließlich wissen sie, wen<br />
man mit dem 0381-Magazin erreicht. Eine Leserschaft zwischen<br />
16 und 75 Jahren ist nun mal für alle Branchen interessant.<br />
Für uns war immer klar, wir machen ein Stadt- und Kulturmagazin<br />
und benötigen Anzeigenkunden, um das Magazin<br />
zu finanzieren. Wir wollten kein Anzeigenblatt machen! Ich<br />
denke, dies wird auch der Grund für unsere starke Akzeptanz<br />
bei den Lesern sein.<br />
<strong>Stadtgespräche</strong>: Wie geht’s perspektivisch weiter: Wollt Ihr an-,<br />
aus- oder umbauen oder dem bewährten Pfad folgen? Was können<br />
wir in den nächsten 3 Jahren von „0381“ erwarten?<br />
Henryk Janzen: Die Qualität soll in erster Linie erhalten bleiben<br />
und nach Möglichkeit ausgebaut <strong>werden</strong>. Dafür suchen<br />
wir natürlich immer wieder weitere „Stadtschreiber“, die sich in<br />
ihrem Bereich auskennen und objektiv aus ihrer Szene berichten<br />
können. Außerdem möchten wir auch unser zweites Medium,<br />
die Webpräsenz www.0381.info weiter ausbauen und alle<br />
Möglichkeiten der digitalen Welt nutzen, um Information<br />
möglichst schnell und glaubwürdig zu transportieren. ¬
Roland<br />
FOTO: TOM MAERCKER
0.23 __ //// AKTUELLES: UMFRAGE<br />
Die aktuelle „<strong>Stadtgespräche</strong>“-Umfrage:<br />
Wen hältst Du derzeit für am fähigsten,<br />
Oberbürgermeister von <strong>Rostock</strong><br />
zu sein. Warum?<br />
Ohne langes Nachdenken fällt mir dafür sofort Wolfgang<br />
Methling, DIE LINKE, ein. Er hat sich über viele Jahre hinweg<br />
als glaubwürdiger und kompetenter Politiker profiliert, ist <strong>Rostock</strong>er<br />
und kennt somit die Stadt mit allen Stärken und<br />
Schwächen. Für Wolfgang Methling spricht außerdem, dass er<br />
sozusagen „von außen“ kommt, also weder durch langjährige<br />
Bürgerschaft noch Verwaltungsarbeit in der Hansestadt vorbelastet<br />
ist. Ein Oberbürgermeister von <strong>Rostock</strong> muss sich mit<br />
der Stadt verbunden fühlen, politische Erfahrung haben und<br />
eine starke Fraktion innerhalb der Bürgerschaft repräsentieren.<br />
Darüber hinaus sollte er selbstverständlich Führungsqualitäten<br />
haben und auch parteiübergreifend Akzeptanz sowie Respekt<br />
genießen. Alle diese Qualitäten vereint Wolfgang Methling aus<br />
meiner Sicht auf sich.<br />
Sabine, selbständig, <strong>Rostock</strong>erin seit 1987<br />
Meinen Wunschkandidaten gibt es nicht. Der muss wahrscheinlich<br />
erst geboren <strong>werden</strong>, oder man stellt sich der Herausforderung<br />
selbst. Aber ich kann ihn definieren: eine Person<br />
mit genug Rückgrat und Selbstbewusstsein, die sich für soziale,<br />
ökonomische und wirtschaftliche Ideale einer bürgerlichen<br />
Mehrheit einsetzt, Transparenz zwischen Politik und Bürger<br />
schafft, sich ganz klar und deutlich positioniert und sich für eine<br />
Stadt mit Bildung, Kultur und Sport einsetzt, die bürokratischen<br />
Wege optimiert und kanalisiert, wichtige Anliegen vom<br />
Unwichtigen trennt, Korruption unterwandert und ausschließt<br />
und sich seiner Aufgabe und seines Amtes in jeder Hinsicht bewusst<br />
ist.<br />
Kathrin, 27, Studentin Wirtschaftsingenieurwesen<br />
Sehr schwierig – seit Steffen Bockhahn sich für die Bundespolitik<br />
entschieden hat, fällt mir keiner mehr ein. Sebastian Schröder<br />
fand ich glaubwürdig, aber er ist SPD-Kandidat und brächte<br />
wahrscheinlich den alten Filz zurück. Und die SPD ist ohnehin<br />
gerade nicht so angesagt. ;-) Sibylle Bachmann macht gute<br />
Politik, schafft es aber zu wenig, Mehrheiten zu bilden und damit<br />
ihre guten Ideen auch auf eine breite Basis zu heben. Mal<br />
abwarten, was die Bürgerschaftsneulinge so zeigen und bringen,<br />
von denen habe ich noch nicht viel mitbekommen.<br />
Katharina, 34, Ärztin<br />
Ich sehe keinen besseren Kandidaten als den Herrn Amtsinhaber.<br />
Wo gehobelt wir, fallen Späne, und ich kann mir kaum<br />
Herrn Pöker zurückwünschen, auch wenn ich es manchmal<br />
wollte, denn damals wollte ich den auch nicht mehr. Sollen mir<br />
also die, die Herrn Methling das Leben meinen so schwer machen<br />
zu müssen (und damit <strong>Rostock</strong> faktisch lahmlegen) doch<br />
mal erklären, wie eine Stadt vorankommen soll, in der sich die<br />
Gremien munter gegenseitig neutralisieren. Die Zustimmung,<br />
die Herr Methling bei seiner Wahl bekommen hat, muss ihm<br />
erstmal einer nachmachen. Nun versucht er Mut und Durchsetzungskraft<br />
zu demonstrieren - mehr, als ich ihm damals zugetraut<br />
hatte - und macht deutlich, dass er bereit ist, für auch<br />
mutige Entscheidungen einzustehen (all das, was von Politikern<br />
doch immer verlangt wird), und dann schmeißt man ihm<br />
Knüppel um Knüppel zwischen die Beine. Methling: find' ich<br />
gut!<br />
Sven-Markus, Rechtsanwalt<br />
Guido Westerwelle. Das offenbar so schwierige Amt des <strong>Rostock</strong>er<br />
Oberbürgermeisters könnte seinem zu erwartenden<br />
Bundesministerposten vorgeschaltet <strong>werden</strong>. Besteht er die<br />
Eignungsprüfung und bringt <strong>Rostock</strong> innerhalb von zwei Jahren<br />
in schwarze Zahlen, darf er wieder nach Berlin wechseln.<br />
Volker, 42, Bibliotheksassistent<br />
Ich habe keine spontane Antwort parat, also keine konkrete<br />
Namensnennung. Aber ich schlage vor, endlich mal eine kompetente<br />
OBERBÜRGERMEISTERIN ins Spiel zu bringen<br />
(gab es so etwas - außer als Interimsfigur - schon mal in <strong>Rostock</strong>???).<br />
Dazu gibt es doch ermutigende Beispiele aus Wismar<br />
und jetzt seit kurzem auch aus Schwerin. Ich denke, dass die<br />
viel beschworene „weibliche soziale Kompetenz“ (das soll jetzt<br />
um Himmels Willen nicht sexistisch klingen), gepaart mit diplomatischem<br />
Geschick und strategischer Klarheit, enorm zur<br />
Auflockerung scheinbar heil<strong>los</strong> festgefahrener Strukturen äußerst<br />
dienlich sein dürfte - quasi als Gegengift zu gewissen zwischenmenschlichen<br />
Inkompetenzen im - nicht nur - maskulinen<br />
Machtgerangel, die hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.<br />
Matze, 47, Musiker<br />
Die Diskussionsbeiträge zeigen vor allem Eines: Auch Kritikern des amtierenden<br />
Oberbürgermeisters fällt es schwer, geeignete Alternativen zu<br />
benennen. Diskutieren <strong>Sie</strong> mit: www.stadtgespraeche-rostock.de ¬
0.24 __ //// KONZEPTIONELLES: STADTGESTALTEN<br />
Am 4.10.2009 hat unter stadtgestalten.org eine neue und neuartige,<br />
unabhängige Plattform für <strong>Rostock</strong> ihre Arbeit aufgenommen.<br />
Der nachfolgende Beitrag gibt nur eine der dort<br />
derzeit geführten Diskussionen von Bürgern für die Bürger<br />
unserer Stadt wieder. Mehr zur Plattform auf der hinteren<br />
Umschlagseite dieses Heftes und natürlich auf der Seite<br />
selbst: stadtgestalten.org<br />
Aktuelle „Stadtgestalten“-Debatte<br />
Energie in<br />
Bürger(innen)-<br />
Wir<br />
sind<br />
stadt<br />
hand<br />
VON REINHARD KNISCH, JOHANN-GEORG JAEGER UND KRISTINA KOEBE<br />
Stadtgestalt 1:<br />
In Freiburg hat sich eine neue Initiative, „Energie in Bürgerhand“,<br />
gegründet, die so toll klingt, dass ich mir Gleiches auch<br />
für <strong>Rostock</strong> wünschen würde. Lest mal:<br />
„Mit schon 500 Euro bist Du Miteigentümer von 90 Stadtwerken<br />
mit 7,5 Millionen Kunden. Du kannst mitbestimmen, ob<br />
diese mit Atomstrom oder grünem Strom versorgt <strong>werden</strong>. Du<br />
kannst dafür sorgen, dass Millionenbeträge nicht länger in<br />
Konzernkassen versickern, sondern zurück in die Taschen der<br />
Bürger vor Ort fließen. Freiburger Bürger haben die „Genossenschaft<br />
Energie in Bürgerhand“ gegründet, um gemeinsam<br />
mit vielen anderen die Idee einer ökologischen und zukunftsweisenden<br />
Energiewirtschaft zu verwirklichen. Jeder kann als<br />
gleichberechtigtes Mitglied der Genossenschaft beitreten. Er<br />
erhält unabhängig von der Höhe seines Anteils eine Stimme.<br />
So ist auch ausgesch<strong>los</strong>sen, dass sich Investmentgesellschaften<br />
einkaufen können, um unsere Ziele zu beeinflussen! (Mehr Infos:<br />
www.energie-in-buergerhand.de)<br />
Warum geht so etwas nicht auch hier? Damit bekämen die <strong>Rostock</strong>er<br />
dann auch Mitspracherecht, welche Formen der Energiegewinnung<br />
sie nicht wollen und welche sie bevorzugen. Und<br />
könnten damit einen wichtigen Bereich ihrer Stadt mit gestalten.<br />
Stadtgestalt 2:<br />
Ja tolle Idee, aber der Stadt und damit ihren Bürgern gehören<br />
doch schon die <strong>Rostock</strong>er Stadtwerke zu immerhin noch ca.<br />
80% (sofern Methling nicht den Rest verscheuert) und es ist<br />
sogar eine Aktiengesellschaft. Es gibt einen Aufsichtsrat aus<br />
Abgeordneten und Arbeitnehmern, also alle Einflussmöglichkeiten<br />
auf die Unternehmenspolitik. Eines der wichtigsten Ziele<br />
ist, jährlich 10 Mio € zu verdienen, um die Straßenbahn in<br />
<strong>Rostock</strong> zu finanzieren. Wenn die Bürgerschaft will, kann sie
Aktien an die <strong>Rostock</strong>er Einwohner verkaufen! Aber was<br />
könnten die Aktienkäufer dafür erwarten? Der Eigenkapitalanteil<br />
der Hansestadt <strong>Rostock</strong> an den Stadtwerken beträgt<br />
knapp 100 Mio €, bei einem Jahresumsatz von 217 Mio €<br />
(2008). Würden nach oben vorgeschlagenem Verfahren 500-<br />
Euro-Anteile verkauft, so bräuchte man dafür 200 000 Käufer,<br />
gerade mal die Einwohnerzahl <strong>Rostock</strong>s vom Säugling bis zum<br />
Greis. Die könnten dann den Gewinn von 10 Mio € unter sich<br />
verteilen, um ihn dann anschließend beim Straßenbahn fahren<br />
gleich wieder auszugeben.<br />
Stadtgestalt 1:<br />
Aber die Initiative „Energie in Bürgerhand“ will doch mitbestimmen,<br />
wie der Strom erzeugt und verkauft wird, dabei geht<br />
es vorrangig darum, keinen Atomstrom mehr zu verwenden<br />
und den aus fossilen Energieträgern gewonnenen Strom zugunsten<br />
der erneuerbaren Energien zurückzudrängen. Damit haben<br />
die Eigentümer etwas Nachhaltiges für das Klima durch<br />
CO2-Einsparung getan.<br />
Stadtgestalt 2:<br />
Auf der Internetseite der Bürgerinitiative findet sich die Aufklärung,<br />
dass eine Genossenschaft keine Basisdemokratie ist,<br />
sondern die gesetzlich vorgeschriebenen Organe (Vollversammlung,<br />
Aufsichtsrat und Vorstand) klare Aufgaben und<br />
Verantwortung haben. Die Eigentümervollversammlung gibt<br />
die Unternehmenspolitik vor, der Vorstand setzt um und der<br />
Aufsichtsrat kontrolliert. Die Kunst dürfte darin bestehen, zwischen<br />
den altruistischen Zielen und der Rentabilität des Unternehmens<br />
einen Spagat zu machen, der auch akzeptiert wird!<br />
Ein schlechtes Beispiel habe ich parat:<br />
Lichtblick- eine Alternative?<br />
Da kam doch Hoffnung auf - ein Stromversorger der aus erneuerbarer<br />
Energie gewonnenen Strom anbietet und dann auch<br />
noch zu einem Preis der praktisch kaum teurer ist. So wurden<br />
wir dann auch Kunden, die Ummeldung geht problem<strong>los</strong> und<br />
birgt kein Risiko, allein das gute Gefühl mit Ökostrom zu leben….<br />
Nach einem halben Jahr habe ich mich über meine Kontoabbuchungen<br />
gewundert, eine unbekannte Summe tauchte da<br />
auf, ach so Lichtblick, aber das war doch vorher weniger?<br />
Die Erklärung: Die Ankündigung der Preiserhöhung hatte<br />
mich, aus welchem Grund auch immer, nicht erreicht, es war<br />
global gerade der Ölpreis durch die Decke gegangen und da<br />
zog Lichtblick eben nach. Aber warum eigentlich? Wasser,<br />
Wind, Sonne sind doch nicht teurer geworden? Eine Diskussion<br />
im Deutschlandfunk brachte die verblüffende Erklärung:<br />
Lichtblick ist ein Wirtschaftsunternehmen und schon alleine<br />
aus wirtschaftlichen und steuerlichen Gründen könne man<br />
nicht auf Einnahmen verzichten, wenn sich am Markt höhere<br />
Preise für Strom erzielen lassen. Und darum müsse auch der<br />
Ökostrom teurer <strong>werden</strong>!<br />
Ich glaube nicht, dass diese Begründung stimmt. Vermutlich<br />
wollen die Eigentümer eben auch nur Kohle (wenn sie schon<br />
zur Stromerzeugung keine verwenden) machen. Wir stellen<br />
uns vor, das wäre anders gelaufen, dann wäre der Ökostromanteil<br />
in Deutschland heute wesentlich größer, was allerdings zur<br />
Folge hätte, dass die großen Stromkonzerne ihrem gesetzlich<br />
vorgeschriebenen Strommix weniger teuren Ökostrom beimischen<br />
müssten. Das wiederum bringt nicht automatisch eine<br />
Senkung des Stromtarifs, sondern erstmal eine Steigerung des<br />
Gewinns<br />
Zurück zu unseren Stadtwerken: Nach gesetzlich zu veröffentlichenden<br />
Angaben haben die Stadtwerke 2008 für 2,1 Mio €<br />
von den Anlagenbetreibern für aus Wind, Sonne und Biomasse<br />
erzeugten Strom gekauft. Das ist zwar nur 1% des Jahresumsatzes<br />
von 217 Mio €, aber der Energiemix hat sich seit 2008 verändert.<br />
Wie die 99.000 Stromkunden der Stadtwerke auf ihren<br />
Rechnungen lesen können, wird der Strom zu 40% aus fossiler<br />
Energie (durch das eigene Gaskraftwerk erzeugt) und 60% erneuerbare<br />
Energie (lt. Aussage der Stadtwerke Wasserkraft aus<br />
Skandinavien) erzeugt. Die 6% Kernenergie, die früher angegeben<br />
wurden, tauchen nicht mehr auf!<br />
Hat also doch der Aufsichtsrat als Vertreter der Bürgerschaft<br />
und damit der unterschiedlichen politischen Richtungen den<br />
richtigen Einfluss auf die Unternehmensentwicklung genommen?<br />
Minderheitsgesellschafter bei den Stadtwerken ist Vattenfall<br />
und die betreiben ja nun nicht nur Wasserkraftwerke in Skandinavien<br />
sondern auch Atomkraftwerke! Ob der Strom dann<br />
wirklich wie angegeben in unsere Steckdosen fließt? Aber sicher<br />
kommt er nicht vom Pannenreaktor Krümmel, denn der<br />
ist ja immer abgeschaltet.<br />
Zu den Stadtwerken müsste ich mehr schreiben, aber grundsätzlich:<br />
Ich will sie möglichst nicht privatisieren! Auch 500<br />
Euro Aktien sind klar eine Privatisierung - sie gehören dann<br />
nicht mehr der Gemeinschaft. Du kannst auch bei E.on Aktien<br />
für 500 Euro kaufen und Dich dann auf der Jahreshauptversammlung<br />
für Ökostrom einsetzen.<br />
Ob Stadtwerke <strong>Rostock</strong> oder Lichtblickstrom ist in Bezug auf<br />
den Regenerativstromanteil in Deutschland völlig schnuppe!<br />
Beide kaufen Zertifikate zur „Stromveredelung“ - das ist praktisch<br />
nur Ablasshandel, der keine einzige zusätzliche kWh aus<br />
Ökostrom erzeugt. Im Gegensatz zu den Stadtwerken steckt<br />
Lichtblick einen kleinen Teil der Gewinne in regenerative<br />
Stromerzeugungsanlagen, die allerdings auch ohne Lichtblick<br />
gebaut worden wären. Die Stadtwerke unterstützen mit 70%<br />
ihrer Gewinne praktisch den städtischen Haushalt (über den<br />
Umweg der RVV). Wer bei E.on ist, kann mit dem Wechsel zu<br />
Lichtblick ein wichtiges politisches Zeichen setzen. Wer bei<br />
den Stadtwerken bleibt, setzt dieses Zeichen auch und kann<br />
sich an den Gewinnen auch als Bürger/in dieser Stadt freuen.<br />
<strong>Sie</strong> möchten weiterdiskutieren? www.stadtgestalten.org ¬
0.26 __ //// KONZEPTIONELLES: STADTPOLITIK<br />
Vorschlag:<br />
Zwei innerstädtische<br />
Museumszentren<br />
Die Zukunft der <strong>Rostock</strong>er Museen im Einzelnen und als Ganzes wird derzeit in Ausschüssen, Fraktionen<br />
und der Bürgerschaft heißt diskutiert. Nachfolgend stellen wir einen der derzeitigen Vorschläge vor - in<br />
den folgenden Heften <strong>werden</strong> wir über andere Vorstellungen und den weiteren Verlauf der Debatte berichten.<br />
DR. SIBYLLE BACHMANN<br />
Der nachfolgende Konzeptumriss für zwei innerstädtische Museumszentren erschien am 21.08., vor Veröffentlichung des Konzeptes<br />
der Hansestadt <strong>Rostock</strong> am 24.08.09. Die Stadt strebt einen Grundsatzbeschluss zur Museumslandschaft mit vier Schwerpunkten<br />
an: Kunst- und Kulturgeschichte, Moderne Kunst, Maritime Technik, Volkskunde. Dem städtischen Konzept fehlt es an einer<br />
Zukunftsvision für eine Kultur- und Museumslandschaft, ebenso wie an einer Einbettung in Nordeuropa- und Landesentwicklungen.<br />
Daran soll in den kommenden Monaten gearbeitet <strong>werden</strong>. Das von mir vorgelegte Konzept widmet sich einigen Punkten,<br />
die das städtische Konzept nicht beinhaltet: Eine mögliche Entscheidung zum Traditionsschiff und zur Neugestaltung des IGA-<br />
Parks, dem Erfordernis eines umfassenden Museumskonzeptes sowie eines Marketingkonzeptes. Die Positionen zu zwei innerstädtischen<br />
Zentren stimmen weitgehend mit den städtischen Ideen überein. Die Debatte mit allen Interessierten ist somit eröffnet:<br />
Neugestaltung des IGA-Parks mit Traditionsschiff zu einem Erholungs- und Freizeitpark ohne Traditionsschiff<br />
Vorteile:<br />
- Verbindung von aktiver Erholung und Freizeit anstelle von Erholung und Museum<br />
- keine Lärmbelästigung durch Freizeitaktivitäten aufgrund der Lage<br />
- attraktive Freizeitaktivitäten wie Wasserski, Wintereisbahn, Fahrgestelle, Minigolf, Konzerte etc.<br />
- Erhöhung der Einnahmen durch größere Attraktivität<br />
Voraussetzungen:<br />
- Verlagerung aller Museumsbestandteile<br />
- Abklärung der Bindung der Fördergelder (rd. 1,3 Millionen Euro) für die Museumsbestandteile an den Standort (bisher bis<br />
2031 gebunden) beim Wirtschaftsministerium M-V<br />
- Gewinnung des Wirtschaftsministeriums für ein integriertes Museumskonzept an einem anderen Standort, der mehr Einnahmen<br />
verspricht<br />
Tausch der Liegeplätze von Georg Büchner und Traditionsschiff<br />
Vorteile:<br />
- Einhaltung des Rahmenplans Stadthafen, der nur eine einzige dauerhafte Verankerung auf dem Wasser gestattet (bisher Georg<br />
Büchner)<br />
- Nutzung der landseitigen Medienanbindung durch den Tausch der Schiffe (kostengünstigere geringe Veränderungen anstelle<br />
einer kompletten Neuanbindung)<br />
- Nichtüberlastung des innerstädtischen Standortes mit zwei großen Schiffen<br />
Voraussetzungen:<br />
- Akzeptanz des Liegeplatzwechsels bei den Eignern/Nutzern der Georg Büchner<br />
- finanzielle Unterstützung des Liegeplatztausches durch die Stadt<br />
- Zustimmung des Wirtschaftsministeriums (siehe 1.)
Aufbau zweier innerstädtischer Museumszentren<br />
3.1 Schifffahrts-/Schiffbau-/Technikmuseum am Wasser<br />
Vorteile:<br />
- Herstellung einer räumlichen Nähe von Museumsschiffen bzw. Ausstellungsstücken im Außenbereich mit einem Museum an<br />
Land<br />
- Verbindung von Schifffahrts- und Schiffbaumuseum, Werftentwicklung, Technikgeschichte (auch Heinkel und Arado) sowie<br />
neuesten Entwicklungen (Offshore)<br />
- Einnahmeerhöhung durch Attraktivitätssteigerung<br />
Voraussetzungen<br />
- Festlegung eines Standortes (vorzugsweise Kabutzenhof/Werftgelände unter Einbeziehung der Heinkel-Mauer und des freien<br />
Geländes; möglichst nicht Innenstadthafen wegen Beeinflussung der Sicht auf/von Gehlsdorf und fehlendem Gelände für einen<br />
landseitigen Museumsbau)<br />
- Übereinkunft mit Grundstücks-/Immobilieneignern<br />
- inhaltliches Museumskonzept<br />
3.2 Kunsthistorisches, Kultur- und Stadtgeschichtliches Museum Rosengarten an zwei Standorten<br />
Vorteile:<br />
- inhaltliche Verbindung der Standorte K<strong>los</strong>ter und August-Bebel-Straße<br />
- räumliche Nähe der beiden Standorte<br />
- Erweiterung der Ausstellungsfläche gegenüber den bisherigen Möglichkeiten<br />
- Präsentierung des vorhandenen Fundus<br />
- Einnahmeerhöhung durch Attraktivitätssteigerung<br />
Voraussetzungen:<br />
- Sanierung des Gebäudes in der August-Bebel-Straße<br />
- inhaltliches Museumskonzept<br />
Umfassendes Museumskonzept<br />
Vorteile:<br />
- Erfassung räumlicher, inhaltlicher, finanzieller und anderer Voraussetzungen<br />
- Ermöglichung einer mittel- und langfristigen Planung<br />
- Einbeziehung aller Beteiligten und Erschließen neuer Partner (z.B. Schulen, Vereine, die außerschulisch für Schüler/Jugendliche<br />
tätig sind)<br />
- gezielte Steuerung zukünftiger Prozesse<br />
Voraussetzung:<br />
- Entscheidung über Inhalte und Standorte der <strong>Rostock</strong>er Museen<br />
- Beibehaltung der Museen in kommunalem Eigentum zum Erhalt der Steuerungsfähigkeit und Einheitlichkeit des Handelns<br />
bei gleichzeitiger Ermöglichung einer privaten Betreibung (der Stadt gehören die Immobilien und Kunstwerke, das Personal<br />
selbst bei privater Betreibung wird derzeit ebenfalls durch die Stadt finanziert, die auch Verwaltungsdienstleistungen übernimmt)<br />
Einheitliches Museums- und Kulturmarketing<br />
Vorteile:<br />
- Vereinheitlichung des Auftritts aller <strong>Rostock</strong>er Museen und Kultureinrichtungen<br />
- Heraushebung aus allgemeinem Stadt- und Wirtschaftsmarketing<br />
- Gewinnung neuer Partner und Sponsoren<br />
Voraussetzungen:<br />
- Vorliegen eines einheitlichen Museums- bzw. Kulturkonzeptes<br />
- umfassendes Marketingkonzept mit Markenname, integrierter Kommunikation, einheitlichem Auftritt usw.<br />
- Personalkapazität ¬
0.28 __ //// KONZEPTIONELLES: STADTPOLITIK<br />
Demokratisierung der<br />
kommunalen Ausgaben<br />
– Eine Vision<br />
In Bezug auf die sogenannten freiwilligen Leistungen der Stadt, darunter Theater, Museen und Zoo gilt: Etwa<br />
20% der <strong>Rostock</strong>erInnen verbrauchen 80 % der freiwilligen Ausgaben, die übrigen 80% der <strong>Rostock</strong>erInnen<br />
lediglich 20%. – Ungerecht, findet unser Autor Reinhard Knisch. Und macht einen Veränderungsvorschlag.<br />
REINHARD KNISCH<br />
1.Situationsbeschreibung:<br />
Die städtischen Ausgaben für so genannte freiwillige Leistungen<br />
<strong>werden</strong> von den Einwohnern der Stadt höchst unterschiedlich<br />
in Anspruch genommen. Es wird eingeschätzt, dass auch<br />
hier der 80:20-Grundsatz zutrifft: Etwa 20% der <strong>Rostock</strong>erInnen<br />
verbrauchen 80 % der freiwilligen Ausgaben, die übrigen<br />
80% der <strong>Rostock</strong>erInnen lediglich 20%. Warum das so ist und<br />
wie das mit dem Ziel einer möglichst gerechten Inanspruchnahme<br />
der Angebote durch alle Einwohner geändert <strong>werden</strong><br />
kann, wird im Folgenden erläutert.<br />
2. Welche Kommunalen Angebote sind das?<br />
Freiwillige Leistungen sind all jene, die nicht zu den Pflichtaufgaben<br />
gehören, darunter beispielsweise die für Museen, Kunsthalle,<br />
Theater, Konservatorium, Zoo, Stadthalle, Jugendclubs,<br />
Messe, Stadtbibliothek, Schwimmhalle, Volkshochschule,<br />
IGA-Gelände.<br />
Die städtischen Pflichtaufgaben sind Unterhalt und Zuschüsse<br />
für Schulen, Kitas und Nahverkehr, auch Sozialhilfeleistungen<br />
gehören dazu. Einige der oben genannten Aufgaben sind zwar<br />
Pflichtleistungen (z B. die Volkshochschule), doch ihr Umfang<br />
ist von der kommunalen Entscheidung abhängig und damit eigentlich<br />
Ermessenssache.<br />
3. Dimension der Ungerechtigkeit:<br />
Wenn die Ausgaben der Stadt für den gesamten freiwilligen Bereich<br />
etwa 50 Mio € (einschließlich der enthaltenen Landeszuschüsse)<br />
betragen, also pro Einwohner etwa 250 €, erhalten im<br />
Falle der o. g. 80:20 Verteilung 20% der <strong>Rostock</strong>erInnen etwa<br />
1000 €, jedoch 80% der <strong>Rostock</strong>erInnen nur etwa 60 €. Ist das<br />
demokratisch und gerecht? Es sind bestimmte Einwohnergruppen,<br />
die ins Theater gehen, Sprachkurse in der Volkshochschule<br />
belegen, ihre Kinder ins Konservatorium oder die Kunstschule<br />
schicken und am Sonntag gemeinsam in den Zoo gehen.<br />
Natürlich könnte die Mehrheit der <strong>Rostock</strong>er Bevölkerung, die<br />
alle diese Angebote wenig oder gar nicht nutzt, es ebenso tun.<br />
Aber aus vielerlei Gründen tut sie es nicht! Alle gut gemeinten<br />
öffentlichen Aufforderungen haben nichts daran geändert. Die<br />
Kosten würden bei vielen Einrichtungen noch nicht einmal<br />
steigen, wenn sie mehr genutzt würden (Zoo, Museen usw.).<br />
Wenn die Stadtbibliothek fast 40.000 Leser für ihr wirklich gutes<br />
Angebot interessiert hat, ist das trotzdem, auswärtige Leser<br />
abgerechnet, höchstens jeder 6. Mensch im Lesealter. In das<br />
Theater mit jährlich 180.000 Besuchern geht gerade nicht jeder<br />
<strong>Rostock</strong>er Einwohner einmal jährlich. Stattdessen setzt sich<br />
die Summe aus einem noch kleineren Bevölkerungsanteil von<br />
etwa 5% regelmäßiger Theaterbesucher und einem nicht viel<br />
größeren Anteil gelegentlicher Besucher zusammen. Die übergroße<br />
Mehrheit der <strong>Rostock</strong>er Bevölkerung war entweder noch<br />
nie oder seit der Wende nicht mehr oder allenfalls beim Weihnachtsmärchen<br />
oder dem Schulprojekttag im Theater. Das<br />
Theater ist jedoch der größte finanzielle Posten des Kulturhaushalts!<br />
Die Hörer der Volkshochschule sind mit Ausnahme des kleinen<br />
Bereichs „Schulabschlüsse“ eine ganz klar eingrenzbare Bevölkerungsgruppe<br />
von unter 10% der Einwohner. Da diese kleinen<br />
privilegierten Gruppen weitgehend übereinstimmen, ist<br />
die oben getroffene 20:80-Einschätzung realistisch, möglicherweise<br />
sogar noch untertrieben.
Kinogänger und Besucher von Discos und Rockkonzerten bekommen<br />
keinerlei öffentliche Zuschüsse sondern zahlen kostendeckende<br />
Eintrittspreise und finanzieren, z. B. mit der<br />
Filmabgabe, den geförderten Kulturbereich mit.<br />
4. Wie kann das geändert <strong>werden</strong>?<br />
Jede/r <strong>Rostock</strong>erIn (mit Hauptwohnsitz in <strong>Rostock</strong> gemeldet,<br />
auch für Einwohner ohne deutsche Staatsangehörigkeit) erhält<br />
eine nichtübertragbare Jahresbonuskarte, auf der die auf jeden<br />
Einwohner entfallende Durchschnittssumme der freiwilligen<br />
kommunalen Finanzausgaben gutgeschrieben wird. Abhängig<br />
von der Festlegung, was dazugehört (mit oder ohne Nahverkehr?),<br />
kommen da für jeden <strong>Rostock</strong>er schon ein paar hundert<br />
Euro zusammen, ohne dass die Bürger einen Cent mehr als<br />
bisher an städtischen Abgaben zahlen müssen. Die kommunalen<br />
Einrichtungen kalkulieren kostendeckende Preise für ihre<br />
Angebote und die Einwohner zahlen die Eintrittspreise mit ihrer<br />
Bonuskarte. Diese sind dann deutlich höher als bisher, dafür<br />
müssen die Bürger, solange sie ihren Bonus nicht verbraucht<br />
haben, keinen zusätzlichen „echten“ Euro zahlen.<br />
Wenn der Bonus des Einwohners verbraucht ist, muss mit<br />
„echten“ Euro gezahlt <strong>werden</strong>, allerdings gelten dann andere,<br />
niedrigere, marktfähige Preise, die auch Touristen, Nichtrostokker<br />
und Menschen mit Nebenwohnung in <strong>Rostock</strong> zahlen.<br />
7. Warum wird es dieses Konzept schwer haben?<br />
Weil alle politischen Entscheidungsträger ihre jetzigen Privilegien<br />
verlieren. Die Bonuskarte reicht für die 20% der Bevölkerung<br />
die kommunale Dienstleistungen überdurchschnittlich in<br />
Anspruch nehmen nicht aus, wenn alle Einwohner das gleiche<br />
Recht bekommen. Darum müssen diese Einwohner einen Teil<br />
der bisher stark subventionierten Angebote kostendeckend bezahlen.<br />
Besonders stark wird es die im <strong>Rostock</strong>er Umland wohnenden<br />
Eigenheimbesitzer treffen - denn sie bekommen keine<br />
Bonuskarte, wenn sich Gemeinden und Landkreis nicht am<br />
Bonussystem beteiligen.<br />
Da diese Gruppe jedoch die öffentliche Meinung und die politischen<br />
Strukturen dominiert, wird es schwierig <strong>werden</strong>, dieses<br />
Konzept umzusetzen, auch wenn es für 80% der <strong>Rostock</strong>er<br />
Einwohner eine deutliche Verbesserung ihrer Lebenssituation<br />
erbringt. Dabei <strong>werden</strong> die Bedenken der Juristen und Kommunalaufseher<br />
nur einen kleinen Teil der Widerstände ausmachen.<br />
Viel schwerer wird die Keule des Populismus geschwungen<br />
<strong>werden</strong>. „Dann bleibt nur die Schwimmhalle und das<br />
Theater geht ein!“ Die Antwort kann nur lauten: Das Theater<br />
wird bleiben, wenn genügend <strong>Rostock</strong>er mit ihrer Bonuskarte<br />
und echten Euro Theaterkarten kaufen. ¬<br />
5. Wo bleibt das Haushaltsrecht der Bürgerschaft?<br />
Die Einführung der <strong>Rostock</strong>er Bonuskarte müsste über einen<br />
Zeitraum von mindestens 5 Jahren erfolgen. Im ersten Jahr<br />
<strong>werden</strong> nur 20% der freiwilligen Ausgaben an die <strong>Rostock</strong>er<br />
per Bonuskarte ausgegeben. Im Ergebnis der Nachfrage und<br />
der finanziellen Situation der betroffenen kommunalen Einrichtungen<br />
wird dieser Anteil jährlich gesteigert.<br />
Aufgabe der Stadtverwaltung und der Bürgerschaft ist es hierbei,<br />
politisch verantwortlich zu entscheiden, welche Angebote<br />
auch bei dauerhaft nicht ausreichender Finanzierung trotzdem<br />
erhalten <strong>werden</strong> sollen und dafür zu sorgen, dass der Anteil der<br />
freiwilligen Leistungen am Gesamthaushalt mindestens gleich<br />
groß bleibt. Wobei anzumerken ist, dass auch die Entscheidungen<br />
über Investitionen eine weitere Demokratisierung vertragen<br />
könnten - Stichwort „Bürgerhaushalt“.<br />
6. Was können wir mit der <strong>Rostock</strong>er Bonuskarte erreichen?<br />
Die freiwilligen kommunalen Leistungen bei Bildung, Kultur<br />
und Freizeit sind es, die wesentlich dazu beitragen, dass eine<br />
Stadt lebenswert ist. In der gegenwärtigen Situation einer mittelfristig<br />
stark schrumpfenden Einwohnerzahl, eines unterfinanzierten<br />
Haushaltes, den nicht einmal die Streichung sämtlicher<br />
freiwilligen Leistungen sanieren könnte, kann dieses Konzept<br />
zu einer wesentlichen Verbesserung der Teilhabe der Einwohner<br />
am Leben in ihrer Stadt und vor allem zu einer Bindungswirkung<br />
als privilegierte Einwohner der Hansestadt <strong>Rostock</strong><br />
führen.
0.30 __ //// PROJEKTE<br />
UNSERE STADT HAT „JA“ GESAGT<br />
WIRD AUCH MV „JA“ SAGEN?<br />
Oder: „Der postmoderne Kapitalismus verursacht bei mir multiple Persönlichkeitsstörungen“<br />
„Save me - Eine Stadt sagt Ja“ zur Aufnahme von Flüchtlingen – diese Initiative wurde schon im Vorfeld des<br />
entsprechenden Bürgerschaftsbeschlusses viel beachtet. Imam-Jonas Dögüs, Initiator von Save me <strong>Rostock</strong>,<br />
berichtet über Entstehung, Erfolge, weitere Pläne und seinen ganz persönlichen Bezug zum Thema.<br />
IMAM-JONAS DÖGÜS<br />
Die Idee der Save-me-Kampagne ist in München aus Anlass des<br />
850. Gründungsjahres der Stadt entstanden. Im Vorfeld des Jubiläums<br />
gründeten MünchnerInnen die Initiative, um in einem<br />
ersten Schritt 850 symbolische PatInnen zu gewinnen, die Ihre<br />
Bereitschaft in der Öffentlichkeit erklären, nach Deutschland<br />
kommende Flüchtlinge zu unterstützen. <strong>Sie</strong> sollen darüber hinaus<br />
die Forderung an die Bundesregierung richten, jährlich und<br />
kontinuierlich hilfsbedürftige Flüchtlinge aus Krisenregionen<br />
aufzunehmen. Diese Idee ist nicht neu – seit Jahren läuft unter<br />
der Regie des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen<br />
(UNHCR) ein Programm unter dem Namen „Resettlement“,<br />
über das Flüchtlinge in sicheren Regionen „neu angesiedelt“<br />
<strong>werden</strong>. Deutschland beteiligte sich bislang daran nicht.<br />
Die Kampagne „Save Me“ setzt aber neue Akzente, wie aus einer<br />
Veröffentlichung von Pro Asyl hervorgeht. Ziel ist demnach<br />
„[...]eine Bewegung von unten zu initiieren, aus den Städten<br />
und Gemeinden heraus. In lokalen Bündnissen <strong>werden</strong> die<br />
Themen Resettlement und Flüchtlingsschutz in die Öffentlichkeit<br />
getragen und eine möglichst breite gesellschaftliche Basis<br />
gewonnen. Kreativ und konkret wird für die Aufnahme von<br />
Flüchtlingen geworben – mit dem Ziel eines Bekenntnisses des<br />
Stadt- bzw. Gemeinderats zur Aufnahme von Flüchtlingen vor<br />
Ort.“<br />
Wir als Antirassistische Initiative <strong>Rostock</strong> haben in der Hansestadt<br />
im Herbst 2008 die Kampagne gestartet und in relativ<br />
kurzer Zeit – bis zum Mai 2009 – unser lokales Ziel erreicht:<br />
Eine einstimmige Erklärung der <strong>Rostock</strong>er Bürgerschaft, das<br />
Ziel unserer Kanpagne zu unterstützen und die Beteiligung<br />
Deutschlands am Resettlement-Programm zu fordern. Gleich<br />
nach dem Start unserer Kampagne, haben wir viele Vereine und<br />
Institutionen als Unterstützer gewonnen, auch viele PatInnen.<br />
Wir haben Infoveranstaltungen durchgeführt, wie z.B. bei der<br />
Nacht der Kulturen, bei Sobi e.V. Während der Antirassistischen<br />
Filmwoche haben wir im Rathaus einen Aktionstag mit<br />
Norbert Trosien, UNHCR-Referent für Deutschland, veranstaltet,<br />
der unter der Schirmherrschaft der Bürgerschaftspräsidentin<br />
Frau Dr. Bacher stand.<br />
Inzwischen hat sich die Kampagne in mehr als 40 Städten der<br />
Bundesrepublik verbreitet. Davon haben mehr als 10 Städte,<br />
wie auch <strong>Rostock</strong>, einen positiven Beschluss bzw. eine Erklärung<br />
der Kommunalvertretungen erreicht. Gefreut hat uns als<br />
Initiative, dass <strong>Rostock</strong> die erste Stadt in M-V war, in der eine<br />
positive Erklärung verabschiedet wurde – mit Zustimmung aller<br />
Abgeordneten. Inzwischen haben Schwerin und Greifswald<br />
auch positive Beschlüsse erreicht, in Neubrandenburg erwarten<br />
wir das für die nächste Zeit.<br />
Wir als Save-Me-Initiativen aus M-V haben uns als Ziel gesetzt,<br />
den Landtag ebenfalls zu einer positiven Entscheidung zu bewegen,<br />
um Flüchtlinge aus Krisenregionen aufzunehmen und<br />
das Thema letztlich auch auf Bundesebene zu tragen.<br />
Was will die Save-Me-Kampagne erreichen?<br />
Kurz gesagt: Die Aufnahme von Flüchtlingen aus Drittländern.<br />
Konkreter heißt das: Die Umsetzung des Konzeptvorschlags<br />
des UNHCR, welcher im Januar 2008 veröffentlich<br />
wurde. Zentrales Ziel darin ist es „Personen, die aus begründeter<br />
Furcht vor Verfolgung ihren Herkunftsstaat verlassen mussten“<br />
eine neue Heimat zu bieten. Laut Paragraf 1 des Statuts 1<br />
ist das UNHCR von der Generalversammlung der Vereinten<br />
Nationen damit beauftragt worden, „für den internationalen<br />
Schutz der Flüchtlinge zu sorgen […] und Dauerlösungen für<br />
Flüchtlingsprobleme zu finden.“
Dazu aus dem Auszug: „Als Dauerlösungen <strong>werden</strong> im<br />
UNHCR-Statut die freiwillige Rückkehr, - die Eingliederung von<br />
Flüchtlingen in neue staatliche Gemeinschaften sowie das „Resettlement“<br />
ausdrücklich benannt. Die drei dauerhaften Lösungen<br />
stehen grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander. Die Entscheidung,<br />
welche der drei Lösungen letztlich den Bedürfnissen<br />
der Betroffenen am ehesten gerecht wird, muss immer im Einzelfall<br />
unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Faktoren getroffen<br />
<strong>werden</strong>. <strong>Hier</strong>zu zählen vor allem die Entwicklungen im Herkunftsland<br />
sowie die allgemeine Schutzsituation im Zufluchtstaat,<br />
aber auch die individuelle Situation des Betroffenen.“ Und<br />
weiter: „In solchen schwierigen Situationen können adäquater<br />
Schutz und eine dauerhafte Lebensperspektive für die Betroffenen<br />
und ihre Familien nur durch Aufnahme in einem Drittstaat gewährleistet<br />
<strong>werden</strong>, in dem ihnen der Flüchtlingsstatus zuerkannt<br />
und die Integration ermöglicht wird.“ 2<br />
In derselben Konzeption für die Regierung <strong>werden</strong> Personen in<br />
folgenden Situationen und Zuständen als bevorzugt für einen<br />
Aufnahme in einem Aufnahmestaat vorgeschlagen:<br />
- Personen mit besonderen rechtlichen oder physischen Schutzbedürfnissen;<br />
- Folteropfer und traumatisierte Flüchtlinge;<br />
- kranke Personen, deren Behandlung im Erstzufluchtsstaat<br />
nicht gewährleistet ist;<br />
- Frauen, die in den Erstzufluchtsstaaten häufig besonderen<br />
Risiken ausgesetzt sind, insbesondere wenn sie allein stehend<br />
oder allein erziehend sind;<br />
- Minderjährige oder ältere Flüchtlinge sowie<br />
- Personen, die bereits Familienangehörige in den Resettlement-Staaten<br />
haben. 3<br />
Einige der vielschichtigen Gründe, warum wir es für notwendig<br />
erachten, diese Kampagne zu unterstützen, finden sich<br />
auch in diesen beispielhaften Statements der <strong>Rostock</strong>er PatInnen<br />
wieder, die sich auf unserer Internetseite positioniert haben:<br />
„Ich mache mit, weil wir ein Zeichen FÜR Solidarität und GE-<br />
GEN Fremdenfeindlichkeit setzen müssen. In einem demokratischen<br />
Rechts- und Sozialstaat dürfen Flüchtlinge nicht wie Kriminelle<br />
in Untersuchungshaft abgefertigt <strong>werden</strong>.“,<br />
„Ich mache mit, weil Menscherechte auch für alle Menschen gelten<br />
sollten.“,<br />
„Ich mache mit, weil alle Menschen schnell zu Flüchtlingen <strong>werden</strong><br />
können.“,<br />
„Ich mache mit, weil ich als Christ immer die gemeinsame Verantwortung<br />
für unsere Welt und für die Ärmsten der Armen sehe.<br />
Ich möchte nie Flüchtling sein! Generationen haben dies auch in<br />
Europa nach zwei Weltkriegen spüren müssen. Wir sollten gelernt<br />
haben!“,<br />
„Ich mache mit, weil wir uns gegenseitig helfen müssen.“, und „Ich<br />
mache mit, weil jeder Mensch die Chance auf ein Leben ohne Gewalt<br />
und Verfolgung bekommen sollte.“ 4<br />
Ich denke, auch die Menschen, die diese Kampagne nicht unterstützen<br />
wollen, haben nachvollziehbare Begründungen. Abgesehen<br />
von rechtsgerichteten und/oder konservativen Gedanken,<br />
die sich sowieso gegen die Unterstützung von Menschen,<br />
die sich in Notlagen befinden, aus chauvinistischen oder nationalistischen<br />
Gründen aussprechen, gibt es auch in der fortschrittlichen<br />
Linken bzw. in der Menschenrechtsbewegung<br />
Vorbehalte. Wie lässt sich denn ein Resettlement-Programm,<br />
an dem von Vorneherein aufgrund der Auswahlmöglichkeiten<br />
der Herrschenden nicht alle hilfsbedürftigen Menschen teilhaben<br />
können, mit den Zielen vereinbaren, die immer wieder<br />
durch die Menschenrechtsbewegung und auch progressive Linke<br />
gefordert <strong>werden</strong>? Was ist dann mit den Mottos „No Border,<br />
no Nation“, „Gleiche Rechte für alle!“ oder „Bewegungsfreiheit<br />
für alle“? - Alles nur noch Utopie?<br />
Und ich selber befinde mich genau in diesem Zwiespalt. Bevor<br />
ich von der Kampagne erfuhr, habe ich mich mit den Themen<br />
Machtausübung und totale Verweigerung beschäftigt. Da ging<br />
es mir um die Formen von Machtübergabe und -nahme, aber<br />
auch um die so genannte Staatsgewalt. Um Gottes Willen, es<br />
geht mir nicht um die Zeit des Dritten Reichs; es geht auch<br />
nicht um die Stalinzeit. Für mich ging es darum, das so genannte<br />
„freiwillige Entscheidungsrecht“ wegzugeben, was wir heutzutage<br />
ganz selbstverständlich durch die Wahlen oder ähnliche<br />
Tricks tun. Ähnlich verhält es sich oftmals im Leser-Autor-Verhältnis.<br />
Wird auf dieser Ebene nicht ebenso manipuliert? Der<br />
Autor versucht, uns seine eigenen Meinungen nahe zu bringen<br />
und uns auch von deren Richtigkeit zu überzeugen. Also bin<br />
ich als Leser der Verbraucher, der alles akzeptiert und verbraucht?<br />
Wenn etwas mir schwer verdaulich ist, kann ich mich<br />
beschweren. Dann bekomme ich meist von den Herrschenden<br />
oder dem Autor etwas Leichteres. Habe ich das Recht als Individuum<br />
dieses Spiel zu verweigern? Ja, dachte ich damals, wenn<br />
ich all das ignoriere. Also vielleicht könnte ich dann in meiner<br />
Wirklichkeit wahrnehmen, dass es keine Staaten und auch keinen<br />
Grenzen gibt, die uns Menschen trennen. Letztlich wollte<br />
ich keine Bücher mehr lesen, um mich nicht mehr manipulieren<br />
zu lassen und wollte auch nicht mehr schreiben, um andere<br />
zu überzeugen.<br />
Genau in diesem Moment habe ich mit anderen <strong>Rostock</strong>erInnen<br />
an einer Veranstaltung teilgenommen, auf der die Save-me-<br />
Kampagne vorgestellt wurde – ein Jahr nach dem G8-Gipfel in<br />
<strong>Rostock</strong>. Ich hatte vorher ein bisschen Ahnung davon, was<br />
„Resettlement“ bedeutet. Bei dieser Veranstaltung in der VHS<br />
wurde mein Wissen vertieft und bestätigt. Aber ich habe mich<br />
schon vorher entschieden, dass ich diese Kampagne hier in <strong>Rostock</strong><br />
initiieren möchte. Der wichtigste Beweggrund war für<br />
mich, dass ich menschliches Leben wichtiger finde als meine<br />
politischen und ethischen Überzeugungen sowie meine Bauchschmerzen<br />
und „Persönlichkeitsstörungen“.<br />
Ein weiterer Grund ist, dass ich durch meine eigene Flucht und<br />
die Erfahrungen anderer Flüchtlinge weiß, wie schwierig es ist,<br />
an einen sicheren Ort zu kommen. Das ist oft schwer zu verstehen<br />
für Menschen, die staatliche Gewalt nie am eigenen Leib<br />
erfahren haben. Um das zu verstehen, möchte ich einige meiner<br />
Erlebnisse als politisch Verfolgter in der Türkei deutlich<br />
darstellen: Am Anfang, als ich in der Türkei zum ersten Mal
0.32 __ //// PROJEKTE<br />
festgenommen und gefoltert wurde, fiel mir alles sehr schwer.<br />
Vorher hatte ich mir niemals solche Situationen vorstellen können<br />
und konnte bald nicht mehr durchhalten. Aber ich wollte<br />
auch keine Aussagen machen. In diesen ersten Tagen habe ich<br />
eine „Lösung“ für mich gefunden. Diese Höllenwächter können<br />
durch Folter meinen Körper beherrschen. <strong>Sie</strong> können mit<br />
meinem Körper machen, was sie wollen. Ich kann denen nur<br />
zeigen, dass ich das nicht akzeptiere und nicht mitmache. Aber<br />
meine Träume!! Die gehören nur mir. Die Höllenwächter <strong>werden</strong><br />
sie niemals zur Geisel nehmen können. „Ihr armen Höllenwächter,<br />
eure Folter aller Art, wie z.B. die Elektroschocks beim<br />
sog. Palästinensischen Hängen (Strappado) oder die Schläge an<br />
meinen Fußsohlen <strong>werden</strong> niemals meine würdigen Gedanken<br />
berühren. <strong>Sie</strong> <strong>werden</strong> sich niemals vor euch verbeugen. Weil sie<br />
in die blauen Augen einer Frau verliebt waren, als ihr mich gekreuzigt<br />
habt. Meine Träume wurden zu einem Wasserfall, als<br />
ihr meinen Körper an einen Eisblock gefesselt habt.“<br />
Vielleicht habe ich damals gelernt, all diese Grausamkeit zu<br />
überleben. Aber ich will mit solcher Staatsgewalt und Macht<br />
sowie mit der Bestimmung über mein und auch das Leben Anderer<br />
gar nichts zu tun haben. Trotzdem habe ich die Kampagne<br />
mitgestaltet und mache mit. Weil ich von diesen Bedingungen<br />
weiß, habe ich keine andere Möglichkeit. Und ich<br />
möchte, dass ich irgendwann in Istanbul mit meiner Geliebten<br />
die nackten Füße im Goldenen Horn des Bosporus im Wasser<br />
spielen lasse und unsere Sesamringe, die wir von einem zehnjährigen<br />
Jungen gekauft haben, mit den Möwen am Ufer teilen.<br />
Einer der Höhepunkte im Widerstand gegen<br />
das Bombodrom war die Besiedelung des Geländes<br />
durch 500 Menschen am 1. Juni 2007<br />
Und ich möchte, dass jeder, der hier oder in einer anderen europäischen<br />
Stadt leben will, dort einfach leben kann, ohne dies<br />
und das. Ich stehe für eine freie Welt ohne Grenzen. Jeder soll<br />
sich niederlassen und wohnen, wo er/sie möchte. Ich weiß<br />
nicht, wie wir das erreichen können. Rettet mich vor multiplen<br />
Persönlichkeitsstörungen im postmodernen Kapitalismus – für<br />
eine gewalt- und hierarchiefreie Welt.<br />
Mehr über Save me <strong>Rostock</strong>: www.save-me-rostock.de<br />
Save me bundesweit: www.save-me-kampagne.de ¬<br />
1 aus der Resolution der UN-Generalversammlung 428 (V)<br />
vom 14. Dezember 1950, UN-Doc. A71775 (1950)<br />
2 Auszug aus dem UNHCR-Vorschlag: Konzeption für die<br />
Regierung in Deutschland, 2008<br />
3 ebd.<br />
4 Bisher finden sich auf unserer Internetseite 90 Pat_inn_en<br />
mit 90 Gründen (Stand 28.09.2009) unsere Kampagne zu<br />
unterstützen: www.save-me-rostock.de<br />
FOTO: SICHELSCHMIEDE
Die Heide ist frei!<br />
Am 9. Juli 2009 hat Kriegsminister Jung verkündet: Die Bundeswehr verzichtet auf die Nutzung der Kyritz-<br />
Ruppiner Heide als Luft-Boden-Schießplatz. 17 Jahre hartnäckiger Kampf gegen das Bombodrom haben<br />
sich ausgezahlt. Die Mitarbeiter der „Sichelschmiede“ haben diese Kampf über lange Zeit mit geführt und<br />
auch dokumentiert – im nachfolgenden Beitrag ziehen <strong>Sie</strong> ein Resümee und berichten, wie es nun weitergeht.<br />
SICHELSCHMIEDE<br />
Auf der juristischen Ebene wurde der entscheidende Erfolg am<br />
27.3. errungen: Das Oberverwaltungsgericht Berlin bestätigte,<br />
dass die Bundeswehr in der Kyritz-Ruppiner Heide nicht üben<br />
darf, weil sie die Beeinträchtigungen für die AnliegerInnen bei<br />
ihren Planungen nicht ausreichend berücksichtigt hat. Bis zu<br />
diesem Zeitpunkt hatten die Bundeswehr-Juristen offensichtlich<br />
geglaubt, sich auf Sonderrechte wie das Landbeschaffungsgesetz<br />
aus dem Jahr 1935 berufen zu können, mit dessen Hilfe<br />
das Militär jederzeit Land für sich reklamieren kann. Das Gericht<br />
meldete jedoch Zweifel an, ob ein solches Gesetz heute<br />
noch verfassungskonform ist. Für den Fall einer Revision stellte<br />
der Vorsitzende Richter in Aussicht, vor dem Bundesverwaltungsgericht<br />
würde die Bundeswehr noch deutlicher ins<br />
Stammbuch geschrieben bekommen, dass auch sie sich an<br />
Recht und Gesetz halten muss. So überrascht es nicht, dass die<br />
Bundeswehr auf die Revision verzichtet hat.<br />
Überraschen kann dagegen, dass Jung am 9. Juli darüber hinaus<br />
auch den Verzicht auf die Nutzung als Luft-Boden-Schießplatz<br />
erklärt hat. <strong>Hier</strong>für haben wir aber nichts als sein Wort. Jung<br />
selber oder seine Nachfolger kann es sich jederzeit anders überlegen<br />
und einen neuen Beschluss zur Inbetriebnahme bekannt<br />
geben, der dann in einem neuen Gerichtsverfahren überprüft<br />
<strong>werden</strong> könnte. Und die Sache hat noch einen Pferdefuß: Die<br />
Bundeswehr hat bisher nicht auf das Gelände an sich verzichtet.<br />
<strong>Sie</strong> prüft derzeit, ob sie es anderweitig nutzen will. Mit dieser<br />
Prüfung will sie sich bis nach der Bundestagswahl Zeit lassen.<br />
Dies ist rechtlich fragwürdig: Wenn eine Behörde ein Grundstück<br />
des Bundes in Besitz hat und nicht nutzt, dann muss sie -<br />
so das Verwaltungsrecht - unverzüglich prüfen, ob sie es zu einem<br />
anderen Zweck braucht, und es ansonsten an die Bundesanstalt<br />
für Immobilienaufgaben (BIMA) zurückgeben. Dazu<br />
kommt: Seit 1992 haben zahlreiche Bürgerinnen und Bürger in<br />
Petitionen gefordert, die Heide für eine zivile Nutzung freizugeben.<br />
Der Bundestag hat am 2. Juli diesen Jahres diese Petitionen<br />
der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen. Wenn die<br />
Regierung nun lediglich auf die Nutzung als Luft-Boden-<br />
Schießplatz verzichtet, ist sie der Forderung des Bundestags<br />
noch nicht gefolgt. Cornelia Behm (MdB Bündnis 90/Die<br />
Grünen) hat deshalb gegen die Beendigung des Petitionsverfahrens<br />
Einspruch eingelegt.<br />
FREIe HEIDe - was nun?<br />
Auch wenn bei der Bundeswehr noch nachgedacht wird - bei<br />
denen, die 17 Jahre lang für eine FREIe HEIDe gekämpft haben,<br />
ist die Frage längst beantwortet. Die Heide muss zivil <strong>werden</strong>.<br />
Am 14.9. fand in Rheinsberg eine Tourismuskonferenz<br />
unter Beteiligung von ca. 200 VertreterInnen von Kommunen,<br />
Hotel- und Gaststättengewerbe, den Ländern Mecklenburg-<br />
Vorpommern und Brandenburg und den Bürgerinitiativen<br />
statt. Dabei waren sich alle einig, dass einzig eine rein zivile<br />
Nutzung in Frage kommt. Jetzt geschehen parallel zwei Prozesse:<br />
Zum einen wird intensiv diskutiert, wie die Heide in Zukunft<br />
zivil genutzt <strong>werden</strong> soll. Zum anderen gibt es Überlegungen<br />
und Aktivitäten, um Rechtssicherheit herzustellen und<br />
das Gelände endgültig aus den Fängen der Bundeswehr zu befreien.<br />
Munitionsbelastung<br />
Ein Dreh- und Angelpunkt der Debatte um die zivile Nutzung<br />
ist die Frage der Munitionsbelastung und Munitionsräumung.<br />
Durch die ca. 40-jährische Nutzung als Heeresschießplatz und<br />
Luft-Boden-Schießplatz der Sowjetarmee ist das Gelände mit<br />
zahlreichen Blindgängern belastet. Die Bundeswehr unterscheidet<br />
eine Zone A (geringe Blindgängerbelastung) von<br />
6500 ha, eine Zone B (mittlere Blindgängerbelastung ) von<br />
1820 ha und eine Zone C (hohe Blindgängerbelastung
0.34 __ //// PROJEKTE<br />
oder/und Blindgänger mit sensibler Zünd-Auslösung) von<br />
3680 ha. Im Gelände sind die Grenzen dieser Zonen inzwischen<br />
mit kleinen farbigen Dreiecken an den Wegrändern markiert<br />
(A = weiß. B = blau, C = rot.). Im weißen Bereich gestattet<br />
die Bundeswehr z.B. Jägern, Imkern usw. den Zutritt, das<br />
Gelände gilt als nicht stärker belastet als die Umgebung. Die<br />
Zonen geben aber nur eine sehr grobe Orientierung. In der Zone<br />
C ist nie eine komplette Munitionssondierung durchgeführt<br />
worden; es ist davon auszugehen, dass es auch dort große unbelastete<br />
Flächen gibt.<br />
Die Munitionsräumung wird viel Geld kosten, und weder der<br />
Bund noch das Land wollen diese Kosten tragen. Dabei wird es<br />
umso teurer, je mehr Zeit man verstreichen lässt, da die Blindgängerortung<br />
umso mehr kostet, je mehr die Landschaft zuwächst.<br />
Eigentumsfragen<br />
Es ist nicht ganz eindeutig, wer für das Gelände zuständig ist,<br />
wenn es nicht mehr militärisch genutzt wird. Es gibt ein Verwaltungsabkommen<br />
zwischen Land Brandenburg und Bundesrepublik<br />
Deutschland aus dem Jahr 1994, demzufolge bis auf<br />
wenige Liegenschaften auf einer „Giftliste“ alle ehemaligen Militärflächen<br />
in das Eigentum des Landes übergegangen sind.<br />
Das Land hat auf Ansprüche an den Bund wegen Altlasten verzichtet.<br />
Unklar ist, ob unter dieses Abkommen auch Flächen<br />
fallen, die der Bund zwischenzeitlich für sich beansprucht hatte.<br />
Deutlich ist aber: Brandenburg will das Gelände mit seinen<br />
Altlasten nicht erben. Das Land sieht die Bundesregierung in<br />
der Pflicht, sich um das Gelände - und die Munitionsentsorgung<br />
- zu kümmern. Die Bürgerinitiativen Freie Heide und<br />
Freier Himmel haben sich bei der Tourismuskonferenz dafür<br />
ausgesprochen, das Gelände zum Nationalen Naturerbe zu erklären<br />
und von einer Stiftung verwalten zu lassen. <strong>Hier</strong>für wurden<br />
schon im Jahr 2003 Konzepte für eine naturschutzgerechte<br />
und ökonomisch tragfähige Bewirtschaftung erstellt.<br />
Tourismusunternehmer und Naturschützer sind sich darin einig,<br />
dass die Heide auf jeden Fall als zusammenhängende Fläche<br />
erhalten <strong>werden</strong> soll. Wenn sie einmal so weit beräumt ist,<br />
dass sie per Fahrrad, per Kremser, zu Pferd oder zu Fuß erlebbar<br />
ist, kann sie ein großer Anziehungspunkt <strong>werden</strong>. Die Lüneburger<br />
Heide ist durch Hermann Löns und die durch seine<br />
Gedichte inspirierten Heimatfilme bekannt und beliebt geworden.<br />
Die Kyritz-Ruppiner Heide hat eine Legende, die uns heute<br />
viel mehr zu sagen hat: Die Geschichte einer Region, die sich<br />
in 17-jähriger Auseinandersetzung hartnäckig und gewaltfrei<br />
gegen die Bundesregierung und ihre Pläne zur Wehr gesetzt<br />
hat. Erfolgreich. Teil eines touristischen Konzepts für die freie<br />
Heide sollte es sein, diese Erfolgsgeschichte zu dokumentieren<br />
und erlebbar zu machen. Es war eine gute Mischung von Protesten,<br />
Lobbyarbeit, Prozessen und direkten Aktionen zivilen<br />
Ungehorsams, die zu diesem großen Erfolg geführt hat. Wir<br />
<strong>werden</strong> in Zukunft noch viele solche Geschichten brauchen,<br />
wenn unser Planet auch für zukünftige Generationen bewohnbar<br />
sein soll. Die Geschichte der FREIen HEIDe muss weiter<br />
erzählt <strong>werden</strong>.<br />
Weitere Infos. www.sichelschmiede.org ¬<br />
Geschützte Heidelandschaft<br />
Ein großer Teil des ehemaligen Bombodrom-Geländes ist nach<br />
einer EU-Richtlinie als Flora-Fauna-Habitat (kurz: FFH) geschützt.<br />
Es ist im europäischen Kontext ein wichtiger Baustein<br />
für den Heideschutz. Das heißt, die Heide muss als zusammenhängende<br />
Fläche erhalten bleiben, und sie muss gepflegt <strong>werden</strong>.<br />
Wenn eine Heidelandschaft sich selbst überlassen bleibt,<br />
wächst sie zu. Ein dauerhafter Erhalt der Heideflächen wäre<br />
möglich durch Beweidung mit Schafherden. Im Gespräch ist<br />
auch die Idee, in einem großen Gehege Wildpferde oder Wisente<br />
anzusiedeln. Nötig ist vor jeder weiteren Nutzungsplanung<br />
eine von kompetenten Stellen durchgeführte naturschutzfachliche<br />
Bestandsaufnahme. Im Anschluss an eine solche<br />
Bestandsaufnahme wäre ein FFH-Management-Plan zu erstellen,<br />
um sagen zu können, welche Nutzung möglich ist.
Vorgestellt: Courage!<br />
Netzwerk für Demokratie und Courage<br />
ANNE MÖLLER<br />
zu einem Erfolgsprojekt entwickelt. Mittlerweile ist es in neun<br />
Bundesländern vertreten. Die jugendgemäße Form der im Projekt<br />
praktizierten antirassistischen, demokratiefördernden Jugendbildungsarbeit,<br />
die eingesetzten Methoden und das Prinzip<br />
'Jugend für Jugend' kommen bei der Zielgruppe – Jugendliche<br />
ab 8. Klasse – sehr gut an. Allein in Mecklenburg-Vorpommern<br />
wurden im vergangenen Jahr 178 Projekttage durchgeführt,<br />
dazu kamen Workshops und „Gastauftritte“ bei Veranstaltungen<br />
anderer Träger.<br />
Geschichtliches<br />
Hervorgegangen ist das Netzwerk für Demokratie und Courage<br />
(NDC) aus der Idee, mit<br />
Projekttagen antirassistische Arbeit am Lernort Schule, Berufsschule<br />
und in Jugendeinrichtungen<br />
zu verorten. Ziel ist es Mut zu machen, nicht wegzusehen wenn<br />
Diskriminierung geschieht. Es<br />
wird eine emanzipatorische und damit nicht-rechte Gegenkultur<br />
durch die Stärkung von<br />
antirassistischen Positionen und das Aufzeigen alternativer<br />
Handlungsoptionen unterstützt. Dazu<br />
gehört die Achtung jedes einzelnen Menschen, unabhängig von<br />
Herkunft, Sprache, Religion oder<br />
Geschlecht.<br />
Dafür gehen vom Netzwerk für Demokratie und Courage ausgebildete<br />
junge Menschen in Schulen in ganz M-V und der<br />
Bundesrepublik und führen auf Augenhöhe mit den Jugendlichen<br />
Projekttage durch. Spaß und Beteiligung stehen dabei im<br />
Mittelpunkt. Das in Sachsen entstandene Projekt Für Demokratie<br />
Courage zeigen hat sich seit seinem Start im Jahr 1999<br />
Das NDC bildet den Rahmen, in dem die Projektträger in den<br />
einzelnen Ländern zusammenarbeiten. <strong>Hier</strong> <strong>werden</strong> Absprachen<br />
über einheitliche Bildungs- und Qualitätsstandards getroffen,<br />
die Weiterentwicklung des Projekts vorangetrieben<br />
und eine Plattform für den Austausch der Teamenden aus den<br />
verschiedenen Regionen geschaffen. In Mecklenburg-Vorpommern<br />
kooperieren wir mit der DGB-Jugend. Die Finanzierung<br />
der verschiedenen Projekte stellen uns das Land aus ESF-Mitteln,<br />
der Bund und verschiedene einzelne Stiftungen wie Heinrich-Böll,<br />
Friedrich-Ebert- und Otto-Brenner-Stiftung oder<br />
Bildungsvereine wie Arbeit und Leben zur Verfügung. In diesem<br />
Jahr konnten bisher 181 Projekttage an Schulen und außerschulischen<br />
Bildungseinrichtungen in ganz Mecklenburg-<br />
Vorpommern realisiert <strong>werden</strong>.<br />
Projekttage<br />
In den Projekttagen <strong>werden</strong> zusammen mit den Jugendlichen<br />
verschiedene Aspekte von Demokratie, Mitbestimmung, Rassismus,<br />
Fremdenfeindlichkeit, Gewalt, Europa, Medien und Jugendkultur<br />
beleuchtet, Widersprüche aufgezeigt und zum<br />
Nachdenken angeregt, um Vorurteilen entgegenzutreten.
0.36 __ //// PROJEKTE | REZENSIONEN<br />
Tagesbericht einer Teamenden<br />
Es ist 5.30 Uhr, verdammt früh, aber <strong>los</strong> aufstehen, gleich werde<br />
ich abgeholt, um nach Schwerin zu fahren. Gestern die Vorbereitung<br />
war nicht schlecht. Ich habe Lust, mit Lars zusammen<br />
den Projekttag zum Thema „Schublade offen – Am Anfang<br />
war das Vorurteil“ zu gestalten, aber was wird uns da erwarten?<br />
Eine 8. Klasse auf dem Dresch. Schnell noch einen<br />
Kaffee und Frühstück auf die Hand. Da klingelt er schon, sehr<br />
pünktlich.<br />
Wir fahren direkt zur Schule. Die Wegbeschreibung ist ausnahmsweise<br />
mal ziemlich genau und wir sind 20 min vor Unterrichtsbeginn<br />
da, um in Ruhe aufzubauen und die Materialien<br />
zurechtzulegen. Mit der Lehrerin klären wir kurz, ob und<br />
wann sie mit dabei sein möchte. Nach dem Klingeln kommen<br />
die 23 AchtklässlerInnen in den Raum. Nun kommt das erste<br />
Hindernis, trotz vorherigen Absprachen am Telefon gibt es natürlich<br />
keinen Stuhlkreis, also motivieren wir jetzt alle, mit uns<br />
gemeinsam einen aufzubauen. Das ist nach kurzem Murren<br />
schnell geschafft. Nun geht es <strong>los</strong>.<br />
Wir stellen uns und das Projekt „Netzwerk für Demokratie<br />
und Courage“ vor und erklären den Ablauf des Projekttages<br />
„Schublade offen, am Anfang war das Vorurteil“. Darauf folgt<br />
eine Kennenlernrunde.<br />
Die SchülerInnen nähern sich mit einem spielerischen Einstieg<br />
dem Thema Klischees an und wie sich daraus Vorurteile entwikkeln<br />
können. Wir versuchen zu verdeutlichen, dass aus Vorurteilen<br />
leicht Diskriminierung entstehen kann. Nachdem die<br />
SchülerInnen ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen reflektiert<br />
haben, wird auf mögliche Diskriminierungsmerkmale,<br />
damit verbundene zugeschriebene Eigenschaften und die Folgen<br />
für die Betroffenen von Diskriminierung eingegangen.<br />
Rassismus wird gemeinsam mit den SchülerInnen als eine besondere<br />
Form der Diskriminierung definiert. Die ersten beiden<br />
Stunden sind vorbei und wir genießen erstmal den Kaffee, der<br />
uns von einer Lehrerin gebracht wurde. Es ist eine ruhige aufmerksame<br />
Klasse, die bisher nicht besonders viel diskutiert hat.<br />
Mal sehen, was wir da noch machen können.<br />
Lippen hängen, Nachfragen stellten und sich empörten, dass<br />
jemand nicht nach Deutschland ziehen darf, weil in der Heimat<br />
Krieg herrscht oder Menschen Opfer einer Naturkatastrophe<br />
wurden.<br />
Den Abschluss des heutigen Tages bildet die Auseinandersetzung<br />
mit dem Thema couragiertes Handeln. Im Courage<br />
Theater, einem Rollenspiel in dem Handlungsoptionen geübt<br />
<strong>werden</strong>, haben die SchülerInnen die Notwendigkeit erkannt,<br />
selbst couragiert zu handeln und sich gegenseitig ermutigt, in<br />
brenzligen Situationen einzugreifen. Die Auswertungskarten,<br />
die uns die SchülerInnen mitgegeben haben, lasen wir uns dann<br />
auf der Rückfahrt ins Büro durch. Aussagen, wie „Danke, dass<br />
Ihr da wart“, „Ich fand gut, dass ihr so jung seid“, „Über die<br />
Ausländer habe ich Einiges dazu gelernt“, motivieren uns wieder<br />
früh aufzustehen und uns ins nächste Erlebnisabenteuer<br />
Klasse zu wagen.<br />
Nachtrag<br />
Nicht immer laufen die Projekttage ohne Widerstände ab.<br />
Manchmal sind wir den SchülerInnen zu links, manchmal zu<br />
leise, zu klein, zu dick, zu laut, zu anmaßend. Aber was wir ohne<br />
Scheu sagen können: Wir erreichen auf diese Weise tausende<br />
junge Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, die zum<br />
Nachdenken und Reflektieren ihrer eigenen Meinungen und<br />
Werte angeregt <strong>werden</strong> und einige davon sind jetzt auch als<br />
freiwillig Engagierte bei uns tätig und haben ihre Freunde und<br />
Freundinnen mit in das Projekt geholt. ¬<br />
Anhand des Films „Schwarzfahrer“ benennen wir rassistische<br />
Vorurteile und hinterfragen sie gemeinsam mit den SchülerInnen<br />
anschließend in einem Rollenspiel und einer Diskussion.<br />
Außerdem erfolgt im Zuge einer Vorstellung verschiedener<br />
Menschen, die hier in Deutschland leben die Dekonstruktion<br />
des Begriffs „AusländerInnen“. Es sind auch Touristen, Studierende,<br />
GastarbeiterInnen und eingebürgerte Menschen, die besonders<br />
in der Mediendarstellungen unter dem Begriff AusländerInnen<br />
zusammengefasst <strong>werden</strong>.<br />
Nach der großen Pause widmen wir uns dem Schwerpunkt<br />
Freiwillige und Unfreiwillige Migration mit Fokus auf der<br />
Gruppe der Asylsuchenden, deren Lebensbedingungen mit denen<br />
der SchülerInnen verglichen <strong>werden</strong>, um auf diese Weise<br />
ein empathisches Verständnis bei den SchülerInnen zu wecken.<br />
In diesem Teil merken wir, wie die Teilnehmenden uns an den
Asche, Archive und Leben.<br />
Memory nach 20 Jahren - Ein abgebrochener Rundgang<br />
JENS LANGER<br />
Während die dicken Wälzer noch nach Jahrzehnten als Monumente<br />
und Grabsteine an die Ereigniszeit 1989 erinnern <strong>werden</strong>,<br />
gibt es Zeugnisse der historischen und belletristischen Erinnerungskultur,<br />
die zum Teil schon beim Erscheinen in ihren<br />
meist kleinen Verlagen mehr verheimlicht als veröffentlicht<br />
worden sind. Einige sollen hier genannt <strong>werden</strong>, damit sie<br />
nicht auch noch vom Übersehen<strong>werden</strong> untergepflügt <strong>werden</strong>.<br />
Vollständigkeit kann nicht einmal angedeutet <strong>werden</strong> auf<br />
Grund der oft klandestinen Präsenz solcher Werke auf dem Büchermarkt.<br />
In der historischen Fachliteratur wird gelegentlich sacht diskutiert,<br />
ob die Entwicklung 1989/90 vom Charisma einzelner<br />
Akteure abhing oder sich selbstorganisatorisch auf der Straße<br />
aus der Überreife der Zeit entwickelte. Die Mehrheit der Autorenschaft<br />
neigt der zweiten Erklärung zu und ich als deren Leser<br />
auch. Jan Schönfelder (Der Mut der Einzelnen. Die Revolution<br />
in Arnstadt, 29. 978-3-932906-93-000) nennt aber die<br />
Frau und den Mann, die in ihrer thüringischen Heimatstadt ihre<br />
Nasen in den Wind gehalten haben. Dann gibt es noch einen<br />
Zimmermann mit Promille, der durch die Szene läuft und<br />
anscheinend nicht namentlich fixiert <strong>werden</strong> will, weil er zufällig<br />
ins Geschehen eingriff. Der Verfasser eines wichtigen Flugblattes<br />
outet sich erst ganz am Schluss, auch erschrocken über<br />
das, was er auslöste. Also, dann bleibt es wohl am Ende der 159<br />
Seiten nach dieser Ortslage dabei, dass die Zeit einfach reif war.<br />
Aber jemand musste die Birnen vom Baum abstreifen.<br />
Gerhardt Gröschke (1948-1995) war ein sensibler Beobachter<br />
des Landes, Dramaturg in Stendal und Frankfurt (Oder), erzählt<br />
ganz unspektakulär, wie es sich lebte, bis sich vieles änderte<br />
(Im Gehäuse. Eine East-Side-Geschichte, 2007.978-3-<br />
933416-73-5). Der Nachwuchs kommt in den kirchlichen<br />
Kindergarten, weil es dort musisch zugeht, wenn auch etwas<br />
betulich. „Mich interessiert, welchen Freiraum der einzelne<br />
Mensch mit seiner bestimmten Geschichte in einem großen gesellschaftlichen<br />
Gefüge hat und wie er ihn erweitern kann.“<br />
(Gröschke)<br />
Den Namen der S-Bahn-Station Lehnitz kennen die meisten,<br />
den Roman von Christine Anlauff vermutlich nicht, die diesen<br />
Ort vielleicht nicht gerade verewigt, aber jedenfalls in die Literatur<br />
geholt hat. Bis jetzt hat keine Jury das Buch mit einem<br />
Preis gewürdigt, und dabei wird es wohl bleiben. Ich behaupte,<br />
niemand war dichter an der Realität als die 1989 gerade achtzehnjährige<br />
Potsdamerin: Eine Abiturklasse im Sommer 1990<br />
auf dem ehemaligen NVA-Stützpunkt Lehnitz, ein turbulentes<br />
Lebensgefühl zwischen Zusammenbruch und Aufbruch unter<br />
dem Schatten eines schrecklichen Verlustes (Good morning,<br />
Lehnitz, 2005.3-378--00661-7).<br />
Wolfgang Hegewald lehrt kreatives Schreiben im Department<br />
Gestaltung der FH Hamburg. In den Sechzigern und <strong>Sie</strong>bzigern<br />
studierte er in Dresden und Leipzig Informatik und Evangelische<br />
Theologie. Jenseits aller Nachreden gehört er zu den<br />
persönlichen Opfern des so genannten Bücherministers Klaus<br />
Höpcke, der ihm keine Chance zum Veröffentlichen gab, eher<br />
schon ein Stipendium fürs Nichtpublizieren. Die vergangene<br />
Gesellschaft ist bei H. voll präsent, jedoch nicht zum Nachtreten;<br />
das aktuelle System kennt er bestens, aber nicht zum Glorifizieren.<br />
Es wird zum Nachdenken eingeladen. Die Ereignisse<br />
von 1989 erlebt der Protagonist im exquisiten Loccum, als<br />
Mieter im Evangelischen K<strong>los</strong>ter. Er versucht, sich durch sein<br />
Schreibbüro die Existenz zu sichern. Aus der Kenntnis beider<br />
Staaten, über die der Autor verfügt, zieht die Leserschaft den<br />
Gewinn, das Geschehen noch einmal mit Erkenntniszuwachs<br />
an sich vorüberziehen zu lassen. Wie H. auf zwei Seiten zur<br />
Vorgeschichte des Systemwechsels den 21.8.1968 heranzieht,<br />
wie er ihn auf einer Rüstzeit der Schülerarbeit des Bundes der<br />
Evangelischen Kirchen in der DDR auf dem Fischland lokali-
0.38 __ //// REZENSION<br />
siert, stellt in Verdichtung und Überhöhung spitzzüngig und<br />
einfühlsam ein Lebensgefühl unter der Schwere des Tages und<br />
in himmlischer Freiheit dar. Kein Kabinettstück, aber ein<br />
Glanzstück von sprachlichem Ernst (Ein obskures Nest, 1997.<br />
3-378-00604-8).<br />
Der Professor für Rhetorik und Poetik legt nun Neues vor (Fegefeuernachmittag.<br />
Mein Leben. Von ihm selbst erzählt. Kolportageroman,<br />
2009. 978-3-882211-647-9). In 42 kurzen Kapiteln<br />
erzählt der Schriftsteller Nathan Niedlich seine Entwicklung<br />
vom Dresdner Schlingel zum Verfasser, dem der Durchbruch<br />
nicht gelingen will. Ein mühsames Leben heute, wieder<br />
mit der Erfahrung aus zwei Gesellschaften, Vorgeschichte und<br />
Geschichte von Veränderungen. Leser stoßen unversehens auf<br />
Bekanntes und Bekannte, auf ungewohnte Einschätzung der<br />
Evangelischen Studentengemeinde in der DDR beispielsweise,<br />
und doch ist es kein Schlüsselroman, wenngleich ein Leben zu<br />
entschlüsseln gesucht wird.<br />
Als sich Oskar Brüsewitz am 18.August 1976 vor St. Michael<br />
in Zeit verbrannte, war diese Tat ein Vorzeichen verheerender<br />
Zustände im Lande, das eine Ahnung vom Kommenden entstehen<br />
ließ. Die Anklage auf dem Plakat von Brüsewitz lautete:<br />
Funkspruch an alle: Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus<br />
an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern<br />
und Jugendlichen. Die politischen und kirchlichen Hintergründe<br />
sind von zahlreichen AutorInnen untersucht worden.<br />
Ein missing link blieb zunächst unbekannt und wurde später<br />
verdrängt. Jetzt hat sich die erstgeborene Tochter aus einer geschiedenen<br />
Ehe selbst zu Wort gemeldet. <strong>Sie</strong> schreibt in Trauer<br />
darüber, dass ihr Vater sie anscheinend vergaß, obwohl er z.B.<br />
Kindergeld für sie ausbezahlt kam. Eine doppelt traurige Geschichte<br />
über fehlende, jedenfalls nicht artikulierte Liebe. Die<br />
Tochter drückt sie in ihrer Sprache heftig aus, ohne eigentlich<br />
anzuklagen. Der Schmerz über den doppelten Verlust aber ist<br />
vehement. Geschichte der Zeit und des Privaten <strong>werden</strong> künftig<br />
aufeinander bezogen <strong>werden</strong> müssen (Renate Brüsewitz-<br />
Fecht, Das Kreuz und die Flamme. Der Fall Oskar Brüsewitz,<br />
2009. 978-3-86634-697-0).<br />
Werner Braune leitete die mecklenburgische Diakonie zu<br />
DDR-Zeiten und später die Stephanus-Stiftung in Berlin-Weißensee,<br />
einen Ort täglicher Ost-West-Begegnungen. Er hat die<br />
Schnauze oft voll gehabt wegen der Gängeleien, des Denunziantentums<br />
und der Schikanen gegen die Kirchen und ihre Leute.<br />
Jetzt schreibt er sich diesen Ballast von der Seele. Aber natürlich<br />
gibt es auch Freuden und Erfolge. Aber der genannte<br />
Grundton stach mir ins Auge. Braune war auch derjenige, der<br />
Freya Klier und Stephan Krawczyk offiziös in den Westen<br />
chauffierte. Darüber informiert er präzise, d.h. auch über Bredouillen,<br />
in die ein Makler geraten kann. Mir hat sich unauslöschlich<br />
eingeprägt, wie er John Ukule, einem Zimmermann<br />
aus Namibia, hilfreich unter die Arme gegriffen hat. Von solchen<br />
Kleinigkeiten kein Wort bei diesem Diakon im Wortsinn.<br />
Ukule hatte sich im Auftrag der SWAPO um seine Landsleute<br />
in der DDR zu kümmern. In den Achtzigern soll er in Harare<br />
bei einem Bombenattentat auf die Botschaft der SWAPO ums<br />
Leben gekommen sein. Ich gedenke seiner ehrerbietig. (Abseits<br />
der Protokollstrecke. Erinnerungen eines Pfarrers an die DDR,<br />
2009. 978-3-8898-266-7).<br />
Alles, was sich an Hoffnungen und Verwerfungen in den genannten<br />
Büchern gesammelt hat, ist bereits 1987 vorweggenommen<br />
und überboten in einem der ganz großartigen Romane<br />
über den unvermeidbaren künftigen Zusammenbruch. Wer<br />
damals las, was Alfred Wellm (1927-2001) über die Restaurierung<br />
des Güstrower Sch<strong>los</strong>ses schrieb, der spürte das Beben im<br />
Tragwerk des Systems (Morisco, 1987. 3-351-00362-5). Zwiespältigkeit<br />
und fragile Beziehungen zwischen Personen und<br />
Strukturen und immer wieder die Begegnung mit dem edlen<br />
Pferd Morisco, Sinnbild des Gezähmten und Unbändigen, wie<br />
der Wanderer es in Wellms Lohmen auf der Koppel ahnen<br />
mochte.<br />
Der Historiker Hartmut Zwahr nennt es Selbstzerstörung (Das<br />
Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der<br />
DDR, 1993. 2.Aufl.3-525-01344-2). Sein Buch ist schmal,<br />
steckt aber voller Ideen und Vergleiche zwischen Leipzig und<br />
anderen Orten, erstaunlich viele Zitate aus <strong>Rostock</strong>er Reden<br />
1989, die die Volkstribunen von damals manchmal staunen<br />
oder auch erschrecken lassen könnten. Der Fotografiker <strong>Sie</strong>gfried<br />
Wittenburg hat seine Fotos von 1989 mit Wortbeiträgen<br />
herausgegeben (Die friedliche, freiheitliche und demokratische<br />
Revolution <strong>Rostock</strong> '89. Erlebnisberichte der Akteure und Photographien<br />
von <strong>Sie</strong>gfried Wittenburg, 2009. Keine ISBN). Einige<br />
der Fotos habe ich mir bereits 1989 für teures Ostgeld in der<br />
herrlichen Kunstgalerie in der Kröpeliner Straße gekauft. Ich<br />
mag sie. Was ihnen jetzt fehlt, ist der Link in die Zukunft. Da<br />
<strong>werden</strong> die ehrwürdigen Damen und die alten Säcke zitiert -<br />
und das nun schon 20 Jahre. Aber die heutige Pastorin Cornelia<br />
Ogilvie, die als Theologiestudentin nicht nur den Einband<br />
ziert mit ihrer mutigen Wachgefährtin zur Seite, hat nach zwei<br />
Jahrzehnten ebenso wie diese immer noch keinen Namen. Da<br />
gehen über Doppelseiten die phantastisch jungen Leute, die<br />
Diskutanten von Marktplatz und St. Michaelis, die Kindmänner<br />
und -frauen als Anführer der Demonstrationen - was ist aus<br />
ihnen geworden? Leben sie noch? Keine Antwort. Vielleicht in<br />
20 Jahren eine.<br />
Da bleibt uns immerhin der Griff zur Materialsammlung „Gewaltfrei<br />
für Demokratie! Der Herbst 1989 in Mecklenburg-Vorpommern.<br />
<strong>Rostock</strong> 2009, Neubearbeitung von 1999 durch Peter<br />
Köppen (www.friedliche-revolution-<br />
1989.de/downloads/Gewaltfrei_Demokratie_MV_1989.pdf).<br />
Die erste Auflage hat natürlich nicht alle aufgezählten Wünsche<br />
von heute erfüllt, aber auf Ergänzungen und Korrekturen<br />
darf die Leserschaft doch gespannt sein. Muss sie auch bleiben;<br />
denn es ist schwer, an die Dokumentation heranzukommen.<br />
Distributionsprobleme? Anscheinend. Aber ich kriege sie;<br />
denn das wird die Vicke-Schorler-Rolle des 21. Jahrhunderts,<br />
mit Motiven von 1989, aufgerollt 1999 und nochmals 2009.