Adelbert von Chamisso - Leben und Werk im Bild - Bernd Lehmann

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endet in St. Petersburg. Die Ergebnisse seiner geographischen, geologischen, botanischen und ethnographischen Beobachtungen faßt Chamisso unter dem Titel „Bemerkungen und Ansichten“ zusammen. In seinem „Tagebuch“ der Weltreise notiert er, daß es ihm in seinen Verhältnissen auf dem Schiff wie überhaupt in der Welt ging, wo nur das Leben das Leben lehren kann. Er hat - so weit seine Stiefel reichten - die Erde, ihre Gestaltung, ihre Höhen, ihre Temperatur, ihre Atmosphäre und das Leben auf ihr, besonders im Pflanzenreich, gründlicher kennen gelernt, als vor ihm irgend ein Mensch. Lehmanns Radierung beinhaltet zwei Schichten: eine offenbare, die in der Lebensgeschichte des Dichters wurzelt und eine tieferliegende, die der Betrachter erst nach einigem Verweilen vor diesem Bild der Wissenschaften freilegt. Es ist die Thematik der Sehnsucht nach dem „Ganzen“, dem absoluten Erkennen und der niemals zur Erscheinung kommenden Vollendung, die dazu verdammt ist, für immer Sehnsucht zu bleiben. In seiner Studie Deutsche Klassik und Romantik (1922) wird das Problem auch von Fritz Strich aufgenommen. „Endlichkeit“, schreibt er, steht vor dem Tor der Romantik. Daraus „kam ihr Schmerz und ihre Sehnsucht, sich des unendlichen Lebens zu bemächtigen“. Möglich ist so etwas nur, wenn die Formen bzw. Dimensionen des Raumes und der Zeit zerbrechen, jene Formen also, „in welchen der klassische Geist seine Ewigkeit verwirklichte“. Freilich darf man nicht vergessen, daß schon das (früh) romantische Weltgefühl das Leben als „unauflösliches Rätsel“ erscheinen läßt und den Menschen entsprechend als „unerschöpflich“. So ist das Streben über alle Grenzen hinaus ins Unendliche, Höhere, Unbekannte, d.h. in die ins End- und Grenzenlose verlängerte Ding- und Raumwelt, schon ein Dauerthema von Friedrich Schlegel. Das „eigentlich Widersprechende in unserm Ich“ ist für ihn, „daß wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen.“ Dieser Widerspruch würde das Ich durchqueren, weil ihm die Möglichkeit fehlt, sich mit „einem einzigen Blick“ zu erfassen. _______________________________________________ 21 Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich. München 1922, S. 11. 22 Ludwig Tieck: Ludwig Tieck's Schriften. Bd. 11. Berlin 1828 ff., S. LXXXIX, XC. 23 Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. 12. Paderborn, München, Wien, Zürich 1956 ff., S. 334. 24 Ebd., S. 381.
In sein „Tagebuch“ der Weltreise notiert Chamisso: „Aber der Mensch ist ein geistiges Tier, und mit dem Feuer, das er sich geraubt, erkennt er auf der Erde keine Schranken.“ Mit dem Hinweis auf die Symbolfigur des modernen Titanismus ist eine Erfahrung beschrieben, die in Rahel Varnhagens Brief (5. Februar 1816) an ihren Bruder Ludwig Robert ihre Entsprechung findet: "Alte gebildete Völker hatten Säulen zu den Grenzen der Welt. Jetzt aber, wo die ganze Erde bereiset, gekannt, Kompaß, Teleskop, Druckerei, Menschenrechte, und wer weiß alles was erfunden ist, was allenthalben geschehen ist, und doch die Urbedürfnisse, Nahrung, Vermehrung, das höhere und höhere Wollen, fort-existieren: wie sollen die alten Sittenerfindungen noch vorhalten [...]? Daran, glaube ich, krankt die jetzige Welt, so mannigfaltig ausgebildet, groß und allgemein war diese Krankheit noch in keinem uns bekannt gewordenen Zeitpunkt, obgleich sie nur nach und nach diese Ausbreitung gewinnen konnte, wozu eine ewige Anlage da war." In dieser Radierung hat Bernd Lehmann die Thematik des wissenschaftlichen Wagemuts fortgeschrieben. Dabei setzt er dekorative und scharfsinnige Symbole als besonders typische Varianten seines künstlerischen Stils ein. Das Schiff, dessen Erbauung schon in der frühen Antike als Verletzung des Meeres galt, steht wiederholt im Zentrum des Bildes. Es verweist wie das Motiv der Siebenmeilenstiefel, das Chamissos Schlemihl-Dichtung entlehnt ist, auf die Nichtbeachtung göttlich gesetzter Grenzen. Stiefel und Schiff töten das Leben durch Geschäftigkeit gleichermaßen. Der Gelehrte, ob in Siebenmeilenstiefeln oder als Forschungsreisender auf dem Schiff, will mehr wissen, als er wissen dürfte. Eingebettet ist das Schiff zwischen zwei Säulen. Bernd Lehmann gibt hier die in antiker Zeit mit dem mythischen Namen belegten "Säulen des Herkules" wieder. Auch Chamisso hat den Anfang seiner Schlemihl-Dichtung (Gartenszenerie) in __________________________________________ 25 In: Adelbert von Chamisso: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hg. von Werner Feudel und Christel Laufer. Bd. 2. München 1982, S. 198. 26 Rahel Varnhagen: Briefe und Aufzeichnungen. Hg. von Dieter Bähtz. Frankfurt a. M. 1986, S. 260.
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