missio Aachen
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ihrer Quelle, und sie sagte mir, ihr Bruder habe die Geschichte erzählt. Als ich<br />
jedoch ihren Bruder in Anwesenheit seiner Mutter und eines Pfarrers befragte,<br />
wusste er von nichts. Ich übergab dem Bischof eine Kopie der Aufzeichnung meiner<br />
Unterhaltung. Dem Bischof gefiel es ganz offensichtlich nicht, dass ich in seinem<br />
Bericht etwas gefunden hatte, das nicht der Wahrheit entsprach. Jemand<br />
muss mit dem Jungen gesprochen haben, und von dem Moment an begann er,<br />
Journalisten zu erzählen, die Polizei habe ihn auf diese sehr unwahrscheinliche<br />
Art und Weise gefoltert.<br />
Aus all diesen Gründen sollte man jeglichen Informationen gegenüber skeptisch<br />
sein. Das habe ich auch meinen Studenten an der Amerikanischen Universität<br />
in Kairo beigebracht. Wer ist die Quelle einer Information? Hat die<br />
Quelle das Ereignis selbst erlebt oder war es Hörensagen? Enthält der Bericht<br />
Widersprüche? Warum? Könnten dahinter bestimmte Interessen stehen? Bedeutet<br />
das, dass man Informationen überhaupt nicht trauen kann? Nein, aber bei der<br />
Berichterstattung muss größte Sorgfalt walten.<br />
Die oben beschriebenen Schwierigkeiten stehen im Zusammenhang mit der<br />
ägyptischen Zivilgesellschaft. In Vorbereitung auf diesen Vortrag habe ich einige<br />
Kirchenführer und Gelehrte gefragt, wie sie Zivilgesellschaft, Menschenrechte,<br />
Religionsfreiheit und Verfolgung definieren würden. Dabei bin ich auf einige sehr<br />
interessante Ergebnisse gestoßen.<br />
Zunächst zur Definition der Zivilgesellschaft. Die meisten Ägypter wüssten<br />
gar nicht, wovon die Rede ist. Das Interesse an einer Zivilgesellschaft ist auf eine<br />
kleine Gruppe von Intellektuellen und Aktivisten beschränkt. Der wahrscheinlich<br />
bekannteste Befürworter einer Zivilgesellschaft in Ägypten ist Dr. Saad Eddin Ibrahim,<br />
der kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er war beschuldigt worden,<br />
das Ansehen Ägyptens im Ausland geschädigt und Mittel der Europäischen<br />
Union zweckentfremdet zu haben. Menschenrechtsaktivisten im Ausland sind<br />
der Ansicht, dass diese Beschuldigungen frei erfunden sind.<br />
Einige Tage vor dieser Konferenz habe ich mit Ibrahim gesprochen. Er definiert<br />
die Zivilgesellschaft als die Gesamtheit der Initiativen und Einrichtungen, die<br />
nicht mit der Regierung und der Familie in Zusammenhang stehen. Diese Initiativen<br />
und Einrichtungen sind unabhängig von der Regierung und basieren auf<br />
dem freien Willen der Bürger, eine Sache zu verteidigen, ein Interesse zu vertreten<br />
oder einem Gemeinschaftsgefühl Ausdruck zu geben. Die Zivilgesellschaft ist der<br />
Freiraum, den sich Menschen außerhalb der staatlichen Institutionen aus freiem<br />
Willen schaffen, um bestimmte Interessen oder Ziele zu verfolgen oder einer Meinung<br />
Ausdruck zu geben.<br />
Ibrahim ist zusammen mit den meisten anderen ägyptischen Intellektuellen<br />
der Ansicht, dass der Freiraum für eine Zivilgesellschaft in Ägypten heute deutlich<br />
größer ist als vor 30 Jahren, am Ende der Nasser-Ära. Der ehemalige Präsident<br />
Nasser, der durch die Revolution von 1952 an die Macht kam, verstaatlichte private<br />
Unternehmen und baute einen starken Sicherheitsapparat auf, der einer Zivilgesellschaft<br />
kaum Freiraum ließ. Damals war der Staat allmächtig. Nasser war der Ansicht,<br />
das Beste für sein Land zu tun, und der Großteil der Bevölkerung verehrte ihn.<br />
Die ersten Veränderungen hin zu einer stärker ausgeprägten Zivilgesellschaft<br />
gab es mit der Politik der offenen Tür unter Präsident Sadat im Jahre 1974. Damals<br />
entstand mehr Freiraum für eine Zivilgesellschaft. Politische Parteien wurden zugelassen,<br />
die Pressefreiheit wurde ausgeweitet und viele Nichtregierungsorganisationen,<br />
unter anderem auch Ibrahims Ibn-Khaldoun-Institut, wurden gegründet.<br />
Ibrahim ist der Ansicht, dass das Jahr 1994 einen Wendepunkt darstellt. In<br />
diesem Jahr organisierte er, der über so gute Verbindungen zu hohen Regierungsbeamten<br />
verfügte, eine Konferenz über Minderheiten im Nahen Osten. Als<br />
erster Kritiker der Konferenz tat sich der bekannte Journalist Mohammed Hassanein<br />
Heikal hervor, dann stimmten auch Shenouda, das Oberhaupt der koptisch-orthodoxen<br />
Kirche, und viele andere in die Kritik ein. Die Kritik in den Medien wurde<br />
so heftig, dass Ibrahim die Konferenz nach Zypern verlegen musste. Das hatte aber<br />
nichts mit der Regierung zu tun – oder etwa doch? Heikal stand den früheren<br />
Präsidenten Nasser und Sadat nahe. Hatte die Regierung ihn zum Verfassen des<br />
ersten Artikels ermuntert? Aber warum schlossen sich dann so viele der Kritik<br />
an? Handelte es sich nicht um den Ausdruck einer in der Bevölkerung weit verbreiteten<br />
Stimmung? Von diesem Moment an wurde es fast zu einer Mode, von<br />
der Einheit der Kopten und Muslime als einem Gewebe zu sprechen.<br />
Dr. Abdel Monem Sa’id, Direktor des Al-Ahram-Institutes für strategische Studien<br />
und enger Freund von Ibrahim, ist sich nicht so sicher, ob 1994 als Wendepunkt<br />
betrachtet werden kann. Beide Wissenschaftler sind sich jedoch einig, dass<br />
das Wachstum der Zivilgesellschaft in Schüben stattfindet. Es geht immer zwei<br />
Schritte vorwärts, einen Schritt zurück. Es gibt Rückschläge, aber insgesamt hat<br />
sich der Freiraum für die Zivilgesellschaft vergrößert.<br />
Menschenrechtsorganisationen sind nur ein kleiner Teil der Zivilgesellschaft.<br />
Die Mehrzahl der privaten Organisationen in Ägypten beschäftigt sich<br />
mit Entwicklung, Gesundheit und anderen Fragen des täglichen Lebens.<br />
Die meisten Menschen im Westen sind der Ansicht, die Menschenrechte seien<br />
allgemein gültige Werte, die in allen Kulturen und unter allen Umständen<br />
anwendbar seien. Diese Werte sind in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte<br />
der Vereinten Nationen und zahlreichen weiteren Abkommen und<br />
Erklärungen verankert.<br />
Länder wie China, Saudi-Arabien und Libyen hingegen behaupten, es handele<br />
sich um ein westliches Konvolut, das auf ihr Land und ihre Bevölkerung nicht