missio Aachen
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• Die dritte Organisation dieser Art ist die ebenfalls 1991 gegründete „Vereinigung<br />
für Menschenrechte und Solidarität mit Unterdrückten” (Ìnsan<br />
Hakları ve Mazlumlarla Dayanığma Derneği). Sie ist in einem religiösen-muslimischen-Umfeld<br />
entstanden und befasste sich ursprünglich mit Fragen der<br />
Religionsfreiheit. Ein zentraler Punkt zu dieser Zeit war das Kopftuchverbot<br />
(„Turban”) in den offiziellen staatlichen Verwaltungsbüros und schulischen<br />
Einrichtungen, aber recht schnell hat sich ihr Aktionsfeld auf alle die Menschenrechte<br />
in irgendeiner Weise betreffenden Bereiche ausgeweitet. All diese<br />
Organisationen haben oft Konflikte und Schwierigkeiten mit den staatlichen<br />
Behörden, weil jede Kritik am Staat, an seinen Repräsentanten oder<br />
an deren Verhalten als mangelnder Patriotismus gewertet wird, als ein Verstoß<br />
gegen die nationale Gesinnung oder gar als Handlung, die den Terrorismus<br />
unterstützt, kommunistische Propaganda betreibt oder im Dienst<br />
ausländischer Mächte steht, die sich auf diesem Wege in die inneren Angelegenheiten<br />
der Türkei einmischen könnten.<br />
Man sieht also schon anhand dieser wenigen die Menschenrechtsorganisationen<br />
betreffenden Beispiele, dass zwischen der Theorie beziehungsweise den<br />
gesetzlich festgelegten Grundsätzen und ihrer praktischen Anwendung oft eine<br />
Kluft besteht, die mehr oder weniger tief und damit auch mehr oder weniger<br />
schwer zu überwinden ist.<br />
Wenn die Anwendung dieser Grundsätze oft zu wünschen übrig lässt, dann<br />
ist dies zum großen Teil den Unstimmigkeiten innerhalb der Regierung selbst<br />
geschuldet. Diese setzt sich aus einer Drei-Parteien-Koalition zusammen, die das<br />
Land seit drei Jahren regiert. Doch diese drei Parteien haben ziemlich divergierende<br />
Grundsätze oder Weltanschauungen, was sich schon bei mehreren Gelegenheiten<br />
gezeigt hat, so z. B. erst kürzlich wieder bei den Debatten über die<br />
Abschaffung der Todesstrafe. Die sozialdemokratische Partei setzt sich für die<br />
Abschaffung der Todesstrafe ein. „Überlassen wir es Gott, über den Zeitpunkt des<br />
Todes eines jeden Menschen zu entscheiden,” erklärte ihr politischer Führer. Die<br />
nationalistische Partei dagegen will absolut nichts von einer Abschaffung hören.<br />
Die Todesstrafe solle wenigstens für Verbrechen gegen die Nation, also für Hochverrat<br />
zur Anwendung kommen, erklärte sie. Aber eines der wichtigsten Motive,<br />
warum diese Partei so strikt gegen die Abschaffung der Todesstrafe ist, liegt<br />
in der Tatsache, dass dann auch der Führer und Organisator der langjährigen<br />
Revolten der Kurden im Südosten des Landes am Leben bliebe. Er wurde unter<br />
ziemlich abenteuerlichen Umständen gefangen genommen, wurde zum Tode verurteilt<br />
und wird seit vielen, vielen Monaten auf einer kleinen Insel im Golf von<br />
Izmit gefangen gehalten. Die nationalistische Partei hatte aber in ihrem Wahl-<br />
kampf versprochen, dass Öçalan gehängt würde. Die dritte Minderheitengruppe<br />
schlägt einen Mittelweg vor: Zuerst soll Öçalan gehängt und dann für die<br />
Abschaffung der Todesstrafe votiert werden. Im Augenblick sind die Debatten<br />
an einem toten Punkt angelangt.<br />
Ein anderes Problem, das die Frage der Menschenrechte direkt berührt, ist<br />
das der Aleviten. Diese nicht unbeträchtliche Gruppe türkischer Staatsbürger –<br />
ungefähr 20 % der Bevölkerung – wird von den anderen sunnitischen Muslimen<br />
als nonkonformistisch, d. h. nicht als echte Muslime angesehen. Bis Ende der<br />
80er Jahre wurde dieses Thema in der Türkei praktisch nicht angerührt. Der türkische<br />
Staat ließ in den Dörfern der Aleviten sunnitische Moscheen errichten und<br />
setzte dort sunnitische Imame ein; er zwang vor allem die Kinder der Aleviten,<br />
den Religionsunterricht zu besuchen, in dem der sunnitische Islam gelehrt<br />
wurde. Der Staat betreibt also eine Politik der langsamen aber beständigen, auf<br />
lange Sicht sehr wirkungsvollen Assimilation, die dem verfassungsrechtlichen<br />
Grundsatz der Religionsfreiheit zu widersprechen scheint und die vaterländische<br />
Loyalität der Aleviten unterminieren könnte.<br />
Seit Ende der 80er Jahre haben sich die türkischen Aleviten in Vereinen und<br />
Stiftungen unter ganz unterschiedlichen Namen wie Folklorezentrum, Kulturstiftung,<br />
Gebetshaus usw. organisiert. Eine dieser Organisationen wurde sogar<br />
vom Staat unterstützt, der damit den zu starken Einfluss der anderen ausgleichen<br />
wollte. Im vergangenen Februar (2002) wurden jedoch all diese Einrichtungen<br />
geschlossen bzw. mit der Begründung verboten, ihre Existenz stelle eine Gefahr<br />
für die nationale Einheit dar. Gegen diese Maßnahme protestierten nicht nur die<br />
Aleviten, sondern auch alle Massenmedien, die den Staat aufforderten, eine liberalere<br />
Haltung an den Tag zu legen und die Verfassungsgrundsätze der Laizität<br />
und Religionsfreiheit einzuhalten. Die Aleviten haben natürlich gegen diese Entscheidung<br />
Berufung eingelegt.<br />
Ein andere Frage, die heftige Debatten auslöst und seit Jahrzehnten regelmäßig<br />
auf der Tagesordnung erscheint, ist die der kurdischen Sprache. Für rund<br />
15 % der türkischen Bevölkerung ist sie die Muttersprache, und viele von ihnen<br />
kennen die türkische Sprache nicht einmal. Dies gilt vor allem für Frauen, denn<br />
die Männer, für die Türkisch nicht die Muttersprache ist, lernen Türkisch während<br />
der langen Monate des Militärdienstes. Diese Kurdisch sprechende Bevölkerungsgruppe<br />
wünscht sich seit Jahren eine eigene Presse, Zeitungen, einen Fernsehsender<br />
usw. in ihrer Sprache. Über das Problem wird regelmäßig sowohl in<br />
der Presse als auch im Parlament debattiert, bisher jedoch ergebnislos. Sogar die<br />
politischen Parteien, die sich diesen Forderungen angeblich nicht verschließen,<br />
werden dann immer schwankend. Der stärkste Widerstand kommt auch hier von<br />
der nationalistischen Partei – aber nicht nur von ihr. Das am häufigsten wieder-