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Algeriens mit sich selbst führte aber noch zu einer weiteren Frage: Kann man<br />

Algerier sein, wenn man weder Araber noch Moslem ist?<br />

Die Debatte um die Auslegung des Islam<br />

Wie bereits gesagt, sind die Algerier bis auf wenige Ausnahmen Muslime. Doch<br />

die schwere Krise, die das Land erschüttert hat, wirft die Frage nach der Auslegung<br />

des Islam auf.<br />

Im Rahmen dieses Exposés kann ich die Frage natürlich nicht in der ihr angemessenen<br />

Ausführlichkeit behandeln. Aber ich möchte als Beispiel für diese<br />

Debatte die letzte Ausgabe der algerischen Universitätszeitschrift „Insaniyat” zitieren.<br />

Das Thema dieser Ausgabe lautete „Das Sakrale und die Politik”. Es handelte sich<br />

dabei um eine akademische Antwort auf die politischen Auslegungen, die der<br />

Islamismus von der Religion gibt. Der Leitartikel dieser Ausgabe machte dies deutlich:<br />

„Die von ‚Insaniyat’ veröffentlichten 14 Texte thematisieren die gesellschaftlichen<br />

Praktiken der Geistlichen und den Diskurs, auf dem ihre Haltungen<br />

und Positionen gründen. Hinzu kommen weitere Texte, die diese Strategien<br />

untersuchen und sie analysieren. Es handelt sich um die Geistesgeschichte Algeriens,<br />

es geht um ein echtes Ereignis, da sich die Universitäten seit Beginn des<br />

20. Jahrhunderts still schweigend eine Selbstzensur auferlegt haben, die darauf<br />

abzielte, über die faulen Kompromisse der Geistlichen mit der Politik im Prozess<br />

ihrer gegenseitigen Legitimation Schweigen zu bewahren. […]<br />

Die extremen Gewaltausbrüche nach dem mehrmaligen Vortäuschen freier<br />

Wahlen haben der Gesellschaft gezeigt, dass eine autokratische Diktatur durch<br />

eine die Gesellschaft vernichtende Diktatur ersetzt werden könnte, deren erste<br />

Handlung es wäre, Wissenschaftler und Forscher umzubringen. […]<br />

Mit seiner Kritik am religiösen Diskurs zeigt Nasser Hamed Abou Zayd 1 , wie<br />

sich der Klerus das Wort Gottes angeeignet, sich seiner bemächtigt, es interpretiert<br />

und schließlich in kanonisches Recht umgewandelt hat. Diese Geistlichen,<br />

diese Mumifizierer des Diskurses und diese Hexenmeister, setzen sich selbst auf<br />

den Gottesthron und verschließen, was der koranische Text geöffnet hatte,<br />

bevor er selbst verriegelt wurde.<br />

Die geistliche Macht ist die Macht der Geistlichen. Sie ist eine Macht über<br />

Leben und Tod, eine Macht, die das Leben nimmt und den Tod bringt. […]<br />

Denken […] heißt die Religion vom Denken der Religion zu trennen: den<br />

Text vom Denken des Textes, den Text vom exegetischen Text. Der Klerus denkt<br />

nicht. Er erlässt Gesetze, legitimiert, legalisiert aus der Position absoluter Herrschaft<br />

von der Höhe seines usurpierten Thrones herab. Unter diesen Bedingungen<br />

wird alles Denken, alle Kritik, alle methodische Zweifel als Leugnung – Kufr –<br />

betrachtet. Und leugnen heißt, vom Glauben abfallen. Dies wird mit dem Tode<br />

bestraft.<br />

Hier sind also 14 Texte. 2 Und jeder soll wissen: Ihre radikale Impertinenz besteht<br />

darin, dass sie erstmals die verriegelten Türen des religiösen und politischen Denkens<br />

in Algerien aufstoßen. […]<br />

Im Gedenken an Farag Foda, Djilali Liabès, M’hammed Boukhobza, Abd El<br />

Kader Aloula, Tahar Djaout, Mahfoud Boucebci 3 , an die in ihren Moscheen<br />

ermordeten Imame, die sich geweigert hatten, Politisches und Religiöses zu vermischen;<br />

an S(e). Exz. Claverie, Bischof von Oran 4 , an die Sieben Schläfer von<br />

Tibhirines (Seb’aRgoud), an die Journalisten und die Zehntausende Opfer von<br />

Taghout, in Algerien und anderswo, soll hier gedacht werden. In Memoriam.”<br />

Ahmed Ben Naoum<br />

Man wird mir vielleicht entgegenhalten, dass es sich hierbei um Überlegungen<br />

von Akademikern handelt, die von den spontanen Reflexen des Volkes weit entfernt<br />

sind. Ich könnte jedoch beweisen, dass viele einfache Leute sich ähnliche<br />

Fragen stellen, wenn sie auch anders formuliert werden. In den vergangenen<br />

Jahren stellte auf anderer Ebene Professor Abdelmadjid Méziane, Präsidenten des<br />

HCI, eine offene, zeitgemäße und textgetreue Lektüre des Islam vor.<br />

Aber ich werde mich mit dem Hinweis auf ein anderes gesellschaftliches<br />

Ereignis begnügen, das das ganze Ausmaß einer wichtigen von der religiösen Krise<br />

ausgelösten Entwicklung zeigt. Seit drei, vier Jahren sind kleine Gruppen junger<br />

Männer und Frauen algerischer Abstammung, vornehmlich aus der Kabylei, zum<br />

Christentum konvertiert. Obwohl es sich um ein seltenes Phänomen in einem<br />

muslimischen Land handelt, wurden Dutzende von Artikeln in der Presse veröffentlicht,<br />

um dieses Phänomen objektiv darzustellen oder es zu kritisieren. Die<br />

Debatte ist bis zum Ministerium für Religion vorgedrungen. Auf die Frage, welche<br />

Maßnahmen er treffen wolle, um auf diese Konvertierungen zu reagieren, entgegnete<br />

der Minister lediglich: „Ich kann in die Entscheidung dieser Bürger nicht<br />

persönlich eingreifen, weil es sich um ein persönliches Recht handelt, das in den<br />

Bereich der individuellen und der Glaubensfreiheit fällt.” 5<br />

Die Debatte um die Stellung der Frau<br />

Bekanntlich hatte Algerien bei der Erlangung seiner Unabhängigkeit nicht das Glück,<br />

einen Staatschef zu haben, der wie Präsident Bourguiba in Tunesien gleich zu<br />

Beginn seiner Amtszeit ein modernes Familienrecht verabschieden ließ. Das Problem<br />

der Stellung der Frau blieb ungelöst, bis das Parlament 1984 ein Familienrecht<br />

verabschiedete, das im Vergleich zu dem tunesischen und sogar im Vergleich zu eini-

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