Galerien der Stadt Esslingen am Neckar Villa Merkel ... - Sonnendeck
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Männer, Häuser, Laterne und Schiebkarren,<br />
1918, Holzschnitt, © VG Bild-Kunst, Bonn<br />
16 – LANDGANG<br />
Blatt, in dem Feininger die komplexen<br />
Gestaltungsmöglichkeiten des<br />
Raums im Wechselspiel von Linie<br />
und Fläche auslotet. Der Holzschnitt<br />
ist eine Hommage an die <strong>Stadt</strong>, in <strong>der</strong><br />
Feininger um 1911 mit dem Kubismus<br />
in Berührung gekommen war.<br />
Aus ihm hatte er seinen unverkennbaren<br />
kristallinen Stil entwickelt, den<br />
er selbst „Prismaismus“ nannte.<br />
Mehr als die Großstadt interessierte<br />
den gebürtigen New Yorker<br />
aber das ländliche Thüringen. Hier<br />
entdeckte er die Kirchen, denen er<br />
in zahlreichen Arbeiten eine monumentale<br />
Präsenz verlieh. Neben<br />
<strong>der</strong> sogenannten Kathedrale des<br />
Sozialismus (1919), die das erste<br />
Bauhaus-Manifest ziert, gehören verschiedene<br />
Versionen <strong>der</strong> Kirche von<br />
Gelmeroda dazu. So auch das Blatt<br />
von 1920, das Hermann Klumpp in<br />
seinem Buch über die Abstraktion<br />
reproduzierte. Vergleicht man es<br />
mit dem früheren Gelmeroda VII<br />
(1918), lässt sich eine signifikante<br />
Verän<strong>der</strong>ung feststellen: Während<br />
Gelmeroda VII mit seinen effektvollen<br />
Hell-Dunkel-Kontrasten auf<br />
den expressionistischen Holzschnitt<br />
rekurriert, sind die Stege in <strong>der</strong> späteren<br />
Darstellung ausgedünnt und<br />
licht, als würde sich die Materie des<br />
Gotteshauses darin auflösen. Im<br />
Gegenzug erscheint <strong>der</strong> Himmel<br />
„verfestigt“, insofern er in die rhythmisch-konstruktive<br />
Ges<strong>am</strong>tstruktur<br />
des Blattes eingebettet ist.<br />
Ein von Feininger gebautes Modellsegelboot<br />
verweist im 2. Obergeschoss<br />
auf eine Lieblingsbeschäftigung<br />
des Künstlers – und auf das<br />
zweite große Thema seiner Malerei<br />
und Grafik. Offenbar brauchte Feininger<br />
den vertrauten Gegenstand,<br />
um sich von einer abbildhaften<br />
Wie<strong>der</strong>gabe zu lösen. In Barke und<br />
Brigg auf See (1918) geht er sogar<br />
bis an die Grenze zur Ungegenständlichkeit.<br />
Doch dann pendelt er<br />
wie<strong>der</strong> zurück, sucht Halt in den fest<br />
umrissenen Formen <strong>der</strong> Kriegsflotte<br />
1 (1919). Die pointierte Gegenüberstellung<br />
dieser beiden Drucke verwehrt<br />
die Annahme einer linearen<br />
Stilentwicklung Feiningers. Seine<br />
formalen Experimente verlaufen<br />
oftmals sprunghaft, auch zwischen<br />
den Gattungen. Letzteres macht das<br />
einzige in <strong>der</strong> Ausstellung gezeigte<br />
Ölbild Ohne Titel (Segelschiff mit<br />
blauem Angler) (1933) augenfällig:<br />
Feininger überträgt hier den 14<br />
Jahre zuvor entstandenen Holzschnitt<br />
Ohne Titel (Dreimaster vor<br />
Anker) (1919) ganz unmittelbar in<br />
das Medium <strong>der</strong> Malerei.<br />
Dass Feininger bevorzugt Kirchen<br />
und Schiffe darstellte, ist zweifellos<br />
auch ihrer transzendenten Bedeutung<br />
geschuldet. Es geht um Aufbruch, um<br />
die Sehnsucht nach einer Vereinigung<br />
des Disparaten. Diese Metaphorik<br />
entspricht Feiningers Anliegen, durch<br />
die Wahl seiner Mittel eine durchgeistigte<br />
Kunst zu schaffen, o<strong>der</strong><br />
wie Klumpp es einmal formulierte:<br />
„ein Sinnbild höherer Wirklichkeit“.<br />
Wenn sich Erde und Wasser, Luft und<br />
Stein in Feiningers Holzschnitten zu<br />
einem kristallinen Amalg<strong>am</strong> verbinden,<br />
dann macht es tatsächlich den<br />
Anschein, als habe <strong>der</strong> Kosmos seine<br />
Hände zum Gebet gefaltet.<br />
Dem Reutlinger Spendhaus ist eine<br />
didaktisch klug durchdachte und<br />
ansprechend gestaltete Schau gelungen.<br />
Wer sie mit Muße betritt, wird<br />
um einige Erkenntnisse reicher aus<br />
ihr herausgehen können. Prädikat:<br />
Beson<strong>der</strong>s wertvoll.<br />
Sebastian Borkhardt<br />
POOL – 17