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Galerien der Stadt Esslingen am Neckar Villa Merkel ... - Sonnendeck

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„Singing for Sex“ ist ihm zu wenig:<br />

Der Autor Winfried Menninghaus<br />

Winfried Menninghaus:<br />

Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin<br />

Suhrk<strong>am</strong>p Verlag,<br />

318 Seiten, 24,90 Euro<br />

4 – BRISE<br />

WER SCHÖNES HERVORBRINGT,<br />

WILL NICHT AUTOMATISCH AUCH SEX<br />

Kunst und sonstige kulturelle Begleiterscheinungen<br />

des menschlichen Daseins im Lichte <strong>der</strong> Evolutionstheorie.<br />

Es gehört zum Wesen <strong>der</strong> ernsten<br />

Wissenschaften, Fragen zu stellen,<br />

<strong>der</strong>en Beantwortung niemandem<br />

unter den Nägeln brennt. Es gehört<br />

zum Glück des Wissenschaftlers<br />

auch aus sinnlosen Fragestellungen,<br />

hilfreiche bis bedeutende Ergebnisse<br />

herausquetschen zu können. Jetzt hat<br />

es mal wie<strong>der</strong> einer geschafft: Winfried<br />

Menninghaus, Literaturprofessor<br />

an <strong>der</strong> FU Berlin, hat erneut eine<br />

uralte Frage gestellt – Wozu Kunst?<br />

– und seine 300-seitige Antwort<br />

dem Suhrk<strong>am</strong>p Verlag zukommen<br />

lassen. Hierin seziert Menninghaus<br />

Kunst, Literatur, Tanz, Musik mit<br />

den selten zimperlichen Gerätschaften<br />

<strong>der</strong> Evolutionstheorie. Fragt nach<br />

dem in dieser Wissenschaftsdisziplin<br />

alles entscheidenden Nutzen für die<br />

„Fortentwicklung <strong>der</strong> Spezies durch<br />

die Weitergabe günstiger genetischer<br />

Merkmale“. Nun kann man sich vorstellen,<br />

dass eine solch hemdärmelige<br />

Behandlung, den zarten Früchtchen<br />

unseres Kulturbetriebs nicht gerade<br />

willkommen ist. Wie überhaupt die<br />

Frage nach dem Nutzen o<strong>der</strong> Sinn<br />

ihrer Tätigkeit und Werke, unter<br />

Künstlern verpönt bis tabu ist. Etwas<br />

Erleichterung verschafft im vorliegenden<br />

Falle, dass <strong>der</strong> „Scharfrichter“<br />

Menninghaus selbst Professor für<br />

Literatur ist, also zumindest eine<br />

gewisse Hingezogenheit zu Kunsterzeugnissen<br />

vorausgesetzt werden<br />

darf. Nicht auszudenken, hätte man<br />

auf „unsere Kunst“ einen Molekularbiologen,<br />

Verfassungsrechtler o<strong>der</strong><br />

Teilchenforscher losgelassen.<br />

Nun wird die Frage „Wozu Kunst“<br />

typischerweise von Kunstfeinden<br />

gestellt. Von Leuten also, die alles von<br />

<strong>der</strong> Erdoberfläche tilgen möchten,<br />

was nicht unmittelbar volkswirtschaftlich<br />

verwertbar ist. In <strong>der</strong> nun<br />

Jahrhun<strong>der</strong>te währenden Debatte<br />

um den Nutzen <strong>der</strong> Kunst führen die<br />

Kunstliebhaber aktuell folgende Vorteile<br />

ins Feld: Kunst als Bildungswert,<br />

als Erprobungsfeld zur Erlernung von<br />

„Schlüsselkompetenzen“ o<strong>der</strong> gleich<br />

einen „Standortfaktor Kreativität“;<br />

brechen also die Bedeutung <strong>der</strong> Kunst<br />

auf praktische Nutzwerte herunter<br />

und begeben sich so mit ihrer Verteidigung<br />

exakt in den Wertekanon <strong>der</strong><br />

Feinde <strong>der</strong> Kunst, wonach „gut ist,<br />

was <strong>der</strong> Wirtschaft dient“. Die klügere<br />

Verteidigung freilich hält Menninghaus<br />

bereit: Man möge sich vorstellen<br />

welche gravierenden Pathologien in<br />

<strong>der</strong> Gesellschaft entstünden, entferne<br />

man nur für die Dauer eines Jahres<br />

sämtliche Hervorbringungen <strong>der</strong><br />

Künste aus unserer Lebenswelt. Und<br />

weil er eben Wissenschaftler ist, reicht<br />

Menninghaus gleich Studienergebnisse<br />

hinterher, die belegen, dass <strong>der</strong><br />

Genuss von Kulturveranstaltungen,<br />

als auch die künstlerische Betätigung<br />

selbst, die Lebenserwartung des<br />

Individuums eindeutig verlängern –<br />

unabhängig von sonstigen Faktoren<br />

wie Ernährungsgewohnheiten, Einkommen<br />

etc. Hier deutet sich schon<br />

ein evolutionstheoretischer Vorteil<br />

des Kulturtreibens an, Künste scheinen<br />

ein soziales Klima zu schaffen,<br />

das ganz allgemein dem Überleben<br />

<strong>der</strong> Spezies zuträglich ist. Über die<br />

genauen Gründe kann nur spekuliert<br />

werden, da es - zumindest <strong>der</strong>zeit noch<br />

– keine Gesellschaft gibt, die komplett<br />

kunstfrei ist. Vorstellbar ist ein lin<strong>der</strong>n<strong>der</strong><br />

Effekt <strong>der</strong> Künste auf Par<strong>am</strong>eter<br />

wie die Konfliktträchtigkeit<br />

einer Gesellschaft, das Stressniveau<br />

und den allgemein vorherrschenden<br />

psychotischen Druck. Kunst, Kultur<br />

und Sport dienen typischerweise als<br />

Schauplätze unblutiger Stellvertreterkriege<br />

und bereiten ein Feld für<br />

gesellschaftliche Selbstreflektion, wie<br />

für kollektive Verarbeitungsprozesse.<br />

Desweiteren eröffnen sie Projektionsmöglichkeiten<br />

im Falle individueller<br />

existenzieller Krisen; sind insges<strong>am</strong>t<br />

also ein wichtiges Korrektiv zur Vermeidung<br />

extremer, unheilvoller o<strong>der</strong><br />

sonstiger fataler Entwicklungen.<br />

Diesen erfreulichen Bescheid erfahren<br />

wir freilich erst gegen Ende des<br />

Menninghaus’schen Buchs, zunächst<br />

gilt es die beinharten Gefilde <strong>der</strong> Darwinschen<br />

Weltsicht zu durchwaden.<br />

Der Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> Evolutionstheorie<br />

weist in seinem Tiermodell <strong>der</strong> Künste<br />

auf den Umstand hin, dass Vögel<br />

mit Hilfe kurzer Rufe untereinan<strong>der</strong><br />

kommunizieren. Ein schriller Laut<br />

reicht aus, um die Artgenossen auf<br />

Gefahren o<strong>der</strong> eine Nahrungsquelle<br />

hinzuweisen. Die Vogelgesänge jedoch<br />

sind viel kapriziöser und tragen keine<br />

Botschaft im Sinne einer Mitteilung,<br />

sie sind Aufführungen von Kunstfertigkeit<br />

und verweisen auf den<br />

individuellen Vogel selbst, nach dem<br />

Motto „hört her, wie schön ich singen<br />

kann“. Dadurch beeindrucken sie das<br />

an<strong>der</strong>e Geschlecht und entmutigen<br />

die Konkurrenz. Einleuchtend ist es<br />

für Menninghaus, darin Vorformen<br />

<strong>der</strong> menschlichen Künste des Singens,<br />

Tanzens und <strong>der</strong> Selbstverzierung<br />

auszumachen. Womit sexuelle Konkurrenz<br />

zwar in seine hypothetische<br />

Ursprungsgeschichte künstlerischer<br />

Praktiken eingeht, aber im Lauf <strong>der</strong><br />

Geschichte durch fortschreitende<br />

ästhetische Verfeinerungen <strong>der</strong><br />

Aspekt des sexuellen Werbens eine<br />

immer marginalere Rolle eingenommen<br />

hat, zugunsten <strong>der</strong> Nutzlosigkeit,<br />

des „l’art pour l’art“. In unserer Hingezogenheit<br />

zu den Künsten könnte<br />

also das schwache Echo von Affekten<br />

nachklingen, von denen uns bereits<br />

<strong>der</strong> Blick ins Tierreich Zeugnis gibt.<br />

Hier zeigt sich, dass Menninghaus<br />

eine Position zwischen hartem Darwinismus<br />

und klassischer Ästhetik<br />

einnimmt. Für einen orthodoxen Darwinisten<br />

ist klar: Wir singen, tanzen,<br />

spielen, schreiben, malen – für Sex.<br />

Während es seit den Tagen <strong>der</strong> klassischen<br />

Ästhetik selbstverständlich ist,<br />

den Nutzen <strong>der</strong> Künste darin zu sehen,<br />

dass sie von Nutzenerwägungen freigestellt<br />

sind. Menninghaus überwindet<br />

das simple Schema des „singing for<br />

sex“, indem er es um einige Faktoren<br />

erweitert. Der Kunsttreibende weise<br />

selbstverständlich auf seine Person hin,<br />

nehme aber das Publikum genauso für<br />

seine Kunst ein, die losgelöst von <strong>der</strong><br />

Person des Künstlers bestand habe.<br />

Wer Schönes hervorbringt, will nicht<br />

automatisch auch Sex. Die Kunst<br />

dreht sich ganz allgemein um das, was<br />

das menschliche Leben zu bieten hat:<br />

um die ganze Wirklichkeit <strong>der</strong> Kultur.<br />

Diese Differenzierung war beim alten<br />

Darwin schon vorgesehen. Einigen<br />

Kapiteln von „Descent of Man“ (1871)<br />

handeln von <strong>der</strong> Schönheit tierischer<br />

und menschlicher Körper. Das üppige<br />

Fe<strong>der</strong>kleid o<strong>der</strong> <strong>der</strong> gewaltige Lie<strong>der</strong>schatz<br />

mancher Vogelarten folgen laut<br />

Darwin einer Dyn<strong>am</strong>ik, <strong>der</strong>en vielfältige<br />

Neuerungen von Mensch und<br />

Tier „um ihrer selbst willen“ geliebt<br />

werden. Demnach ist Darwin kein<br />

Darwinist gewesen, denn für letztere<br />

ist Schönheit auf bloße Attraktivität<br />

reduziert, <strong>der</strong>en Formensprache einzig<br />

dem Nutzen <strong>der</strong> Arterhaltung diene.<br />

Darwin jedoch zöge trotz aller Empirie<br />

eine „Poetik des Kapriziösen“ in<br />

Erwägung.<br />

Menninghaus’ Brückenschlag ist hilfreich<br />

weil er Bewegung in verhärtete<br />

Positionen bringt. Seine vorläufige<br />

Neuverortung <strong>der</strong> Kunst zwischen<br />

den Polen Darwinismus und Ästhetizismus<br />

schenkt neue Luft zum Atmen<br />

und tut keiner <strong>der</strong> zwei Fraktionen<br />

weh: Kunst ist autonom, aber deshalb<br />

keineswegs funktionslos, son<strong>der</strong>n<br />

eine ganz eigene soziale Kraft.<br />

Hansjörg Fröhlich<br />

BRISE – 5

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