LEBEN MIT BEHINDERUNG - Berliner Zeitung
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6 I <strong>LEBEN</strong> <strong>MIT</strong> <strong>BEHINDERUNG</strong> DIENSTAG, 18. JUNI 2013 I VERLAGSBEILAGE<br />
„Es ist moralische Pflicht, immerfortzuklatschen“<br />
Dramaturg Marcel Bugiel über Vorurteile und Unsicherheiten im Umgang mit behinderten Schauspielern<br />
Beim diesjährigen <strong>Berliner</strong><br />
Theatertreffen wurde besonders<br />
kontrovers über<br />
das Stück „Disabled Theater“ diskutiert.<br />
Hier stehen geistig behinderte<br />
Menschen auf der Bühne −<br />
was bei vielen Zuschauern nach<br />
wie vor Irritationen auslöst. Marcel<br />
Bugiel hat als Dramaturg an der<br />
Produktion mitgewirkt.<br />
HerrBugiel, wassind die Herausforderungen,<br />
wenn Menschen mit<br />
geistiger Behinderung Theater spielen?<br />
„Hochkultur“ und geistige Behinderung<br />
–das passt für die meisten<br />
Zuschauer erstmal nicht zusammen.<br />
Es gab zwar immer schon<br />
behinderte Figuren in der Theatergeschichte,<br />
aber dass Behinderte<br />
als Schauspieler selbst auf der<br />
Bühne stehen, gibt es streng genommen<br />
erst seit den 70er-Jahren.<br />
Da muss man auch heute noch<br />
gegen Vorurteile ankämpfen.<br />
Angesichts des „Disabled Theater“<br />
warimmer wieder derVorwurf zu hören,<br />
dass es hier nicht um Schauspielkunst<br />
sondern um die bloße<br />
Präsentation dieser Menschen<br />
gehe. Wassagen Sie dazu?<br />
Es ist wirklich so, dass sich<br />
90 Prozent aller Diskussionen nur<br />
um eine Frage drehen: Darf man<br />
das, darf man das nicht? Ist das<br />
eine Freakshow? Ist es okay, da<br />
auch wirklich hinzugucken?<br />
Und die Antwortdarauf lautet wie?<br />
Ja, natürlich ist das okay, da hinzugucken.<br />
Deswegen sind diese<br />
Erst seit den 70er-Jahren stehen Behinderte als Schauspieler auf der Bühne.<br />
DPA<br />
Leute doch Schauspieler geworden:<br />
um angesehen zu werden bei dem,<br />
wassie auf der Bühne tun.<br />
Warum haben die Zuschauer dann<br />
solche Schwierigkeiten damit?<br />
Weil Menschen mit Behinderung<br />
in der Öffentlichkeit nach wie<br />
vor kaum zu sehen sind. Und wenn,<br />
dann wurde uns als Kind beigebracht:<br />
Da guckt man nicht hin.<br />
Wer den Anblick behinderter Menschen<br />
gewöhnt ist, reagiertalso anders,<br />
meinen Sie?<br />
Ja natürlich. Die Heftigkeit vieler<br />
Reaktionen erklärtsich für mich<br />
zum großen Teil mit Unerfahrenheit<br />
und dementsprechender Unsicherheit.<br />
Die entlädt sich<br />
dann in Szenenapplaus<br />
an völlig unsinnigen<br />
Stellen, für absolute<br />
Nichtigkeiten.<br />
Andere Zuschauer<br />
haben das Gefühl, es<br />
ist ihre moralische<br />
Pflicht, immerfort zu<br />
klatschen, um die<br />
behinderten Schauspieler<br />
zu motivieren.<br />
Das sind Formen<br />
positiver Diskriminierung,aus<br />
purer<br />
Überforderung.Das Besondere bei<br />
„Disabled Theater“ ist auch, dass<br />
hier viele Zuschauer kommen, die<br />
nicht behinderte Schauspieler,<br />
sonderninerster Linie die neue Arbeit<br />
des Choreografen Jérôme Bel<br />
sehen wollten. Auf die Begegnung<br />
mit behinderten Menschen sind<br />
sie völlig unvorbereitet.<br />
Ablehnende Reaktionen gibt es<br />
doch sicher auch?<br />
Bei den Try-outs von „Disabled<br />
Theater“ im Vorfeld gab es heftige<br />
Auseinandersetzungen, nicht zuletzt<br />
mit den Eltern, sodass wir mit insgesamt<br />
schwierigen Aufführungen und<br />
Buhrufen gerechnet hatten. Das ist<br />
überhaupt nicht eingetreten. Vielleicht,<br />
weil niemand Behinderte auf<br />
der Bühne verletzten möchte. Das<br />
gilt übrigens auch für Kritiker.Kaum<br />
jemandtrautsich,eineschlechteKritik<br />
zu schreiben. Niemand möchte<br />
als behindertenunfreundlich gelten.<br />
Was muss man als Regisseur von<br />
Projekten mit geistig Behinderten<br />
mitbringen?<br />
Wenn ich als Regisseur<br />
erst richtig<br />
auflebe,wennnichtalles<br />
reibungslos nach<br />
Konzept läuft, und<br />
wenn ich akzeptiere,<br />
dass mir Widerstände<br />
und Unmöglichkeiten<br />
vielleicht den viel interessanteren<br />
Weg<br />
weisen können, dann<br />
ist die Wahrscheinlichkeit<br />
hoch, dass ich<br />
in der Arbeit mit diesen<br />
Menschen, die<br />
nicht der herrschenden Schauspieler-Normalität<br />
entsprechen, sehr<br />
glücklichwerdenkann.Wennichkonkrete<br />
Vorstellungen habe und Leute<br />
suche, die die einfach für mich umsetzen,<br />
dann wird das mit ihnen vermutlich<br />
eher schwierig.<br />
BENEDIKT PAETZHOLDT<br />
Dramaturg Marcel Bugiel<br />
Interview: Benedikt Paetzholdt<br />
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12163 Berlin<br />
Tel.: (030) 700 96 23-0<br />
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