Jahresbericht 2005/06 - Gymnasium Liestal
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Decentiam oculi iudicant …<br />
Der Augen-Blick, der An-Stand und die Rück-Sicht<br />
15. August <strong>2005</strong><br />
212 neue Schüler/-innen besuchen<br />
ab heute die Maturabteilung, 116 die<br />
Fachmaturitätsabteilung am <strong>Gymnasium</strong><br />
<strong>Liestal</strong>. Wieder einmal ist das weibliche<br />
Geschlecht in der Mehrheit – sowohl in<br />
der Maturabteilung als auch in der FMS.<br />
Insgesamt werden 1073 junge Frauen<br />
und Männer – so viel wie nie zuvor<br />
– von 146 Lehrpersonen unterrichtet.<br />
Das Schulhaus muss 54 Klassen Raum<br />
bieten, was nur mit zusätzlichen Klassenzimmern<br />
in einem Pavillon möglich ist.<br />
«Die Augen urteilen. Sie erkennen Vorzüge und<br />
Fehler, sie nehmen wahr, ob jemand zornig<br />
oder gütig, fröhlich oder leidend, tapfer oder<br />
feige, kühn oder furchtsam ist.» Das geht sehr<br />
schnell: Zack, und unser Urteil ist ein für allemal<br />
gefällt. Wir urteilen aber nicht nur, wir werden<br />
auch ständig be- oder gar verurteilt. Was tun,<br />
wenn ständig ein Auge auf uns geworfen wird?<br />
Zum Glück liegt es in unserer Hand, ob<br />
wir im Zusammenleben entweder Zurückweisung<br />
oder Zuneigung ernten. Jede<br />
Person entscheidet, was ihr gut (an-)steht,<br />
und nimmt damit Einfluss auf den Blick und<br />
das Urteil der andern. Die Hirnforschung<br />
bringt es an den Tag: Eine freundliche<br />
Person aktiviert unser mentales Belohnungssystem.<br />
Dabei geht es nicht um Liebedienerei,<br />
neudeutsch: Einschleimen. Wer sich für<br />
den passenden An-Stand entscheidet,<br />
erhält Rück-Sicht, «R-E-S-P-E-C-T» (respectus),<br />
wie Aretha Franklin 1967 buchstabierend<br />
sang. Und sie fügte mit unnachahmlicher<br />
Eleganz (elegantia) hinzu: «Find out<br />
what it means to me.» In einem Augen-<br />
Blick können wir unser Gegenüber also<br />
einladen, nicht nur zu urteilen, sondern<br />
herauszufinden, welchen Respekt wir<br />
erwarten. Wäre doch was?<br />
PS: Der Eingangssatz stammt von Marcus<br />
Tullius Cicero (1<strong>06</strong> bis 43 v.Chr.) und lautet<br />
im Original: Decentiam (Anstand) oculi<br />
iudicant, nam et virtutes et vitia cognoscunt,<br />
iratum, propitium, laetantem, dolentem,<br />
fortem, ignavum, audacem timidumque<br />
cognoscunt.<br />
Helena: Heilige oder Hure?<br />
Im 5. Jahrhundert vor Christus versammelten<br />
sich die klügsten Köpfe im aufblühenden<br />
Athen und stellten alles in Frage,<br />
was als gut und recht, eben anständig<br />
galt. «Es sind ja Gesetze aufgestellt für<br />
die Augen, was sie sehen dürfen und was<br />
nicht; und für die Ohren, was sie hören<br />
dürfen und was nicht; und für die Zunge,<br />
was sie sagen darf und was nicht…» Nach<br />
Antiphon und anderen sogenannten Sophisten<br />
sind all diese Gesetze (griechisch:<br />
nomoi) nichts anderes als von Menschen<br />
festgelegte Konventionen ohne Anspruch<br />
auf absolute Gültigkeit. Ihnen stellt Antiphon<br />
die Natur (griechisch: physis), d.h.<br />
das natürliche Streben des einzelnen Menschen,<br />
seine Interessen durchzusetzen,<br />
entgegen.<br />
Gorgias trat eines Tages auf der Athener<br />
Agora auf, um mit allen rhetorischen<br />
Tricks seine Zuhörer zu überzeugen, dass<br />
Helena schuld am trojanischen Krieg sei,<br />
weil sie mit Paris durchgebrannt war. Am<br />
folgenden Tag hielt er eine zweite Rede, in<br />
der er seinem verblüfften Publikum ebenso<br />
überzeugend darlegte, dass Helena absolut<br />
unschuldig war. Ob Heilige oder Hure, das<br />
war von nun an eine Frage der Argumentationskraft.<br />
Begünstigt durch die Entstehung<br />
der direkten Demokratie in Athen, bewirkte<br />
die sophistische Bewegung ein Erwachen<br />
der (männlichen) Bürger zu autonom denkenden<br />
und handelnden Menschen: eine<br />
erste Aufklärung, welche einen Bildungsboom<br />
(griechisch: paideia) auslöste. Opfer<br />
dieser Entwicklung war das bis anhin für<br />
sicher gehaltene Wissen darum, was als<br />
anständig gilt und was nicht.<br />
Dieser Verlust drängte den Zeitgenossen<br />
Sokrates, die Frage, was Anstand<br />
oder Gerechtigkeit und andere sogenannte<br />
Tugenden wirklich sind, umso eindringlicher<br />
zu stellen. Weder er selbst noch seine<br />
Gesprächspartner konnten eine restlos<br />
überzeugende Antwort finden. Was ihn<br />
nicht davon abhielt, die Frage immer neu<br />
zu stellen und die Antwort zu suchen. Viele<br />
Jahrhunderte später verglich der Philosoph<br />
Albert Camus einen Menschen wie<br />
Sokrates mit Sisyphos. Camus meinte,<br />
man müsse sich Sisyphos als glücklichen<br />
Menschen vorstellen.<br />
Fachschaft Alte Sprachen<br />
Sisyphos, in einer Darstellung von Franz von Stuck