Istanbul im Kontext der Europäischen Stadt - TU Wien
Istanbul im Kontext der Europäischen Stadt - TU Wien
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<strong>Istanbul</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong><br />
Katharina Sucker<br />
Städte verän<strong>der</strong>n sich, ihre Bevölkerungszahlen wachsen o<strong>der</strong> schrumpfen, Arbeitsmarkt,<br />
Politik und kulturelle Lebensweisen lassen eine <strong>Stadt</strong> oft binnen<br />
kurzer Zeit zu einem an<strong>der</strong>en Ort werden. Der Dynamik des Wandels sind alle<br />
Elemente, die eine <strong>Stadt</strong> ausmachen, gleichermaßen unterworfen – mit einer<br />
Ausnahme. Das Bild <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> scheint einer an<strong>der</strong>en Logik unterworfen. Es<br />
scheint sich oftmals binnen weniger Jahre radikal zu än<strong>der</strong>n, o<strong>der</strong> es scheint<br />
vollkommen zu erstarren.<br />
So tragen Städte <strong>im</strong> asiatischen Raum kaum noch eine Erinnerung an ihre<br />
Tausende von Jahren alte Geschichte in sich, während die Städte Europas, zumindest<br />
in ihrem historischen Kern, in dem visuellen Erscheinungsbild einer<br />
mehrere Jahrhun<strong>der</strong>te zurückliegenden Epoche verharren.<br />
Welche Kräfte jedoch sind für die Entstehung und Verän<strong>der</strong>ung städtischer<br />
Strukturen verantwortlich, und was lässt sich über den Fortbestand des Bildes<br />
<strong>der</strong> europäischen <strong>Stadt</strong> sagen?<br />
Gerade <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> großer <strong>Stadt</strong>marketing-Projekte wie <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong><br />
Kulturhauptstadt steigt die Intensität <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> europäischen<br />
Lebensweise und <strong>der</strong> Beschaffenheit kultureller Werte, welche sich in den<br />
Räumen historisch gewachsener Städte nie<strong>der</strong>geschlagen haben. Dennoch gilt als<br />
europäisch, was sich an den Regelkatalog europäischer Idealbil<strong>der</strong> hält. Ob und<br />
inwiefern jedoch das, was die europäische Gesellschaft heute vorantreibt, mit<br />
diesen Idealbil<strong>der</strong>n kompatibel ist, scheint nicht von allzu großer Bedeutung zu<br />
sein.<br />
Als Titelträger <strong>der</strong> Europäische Kulturhauptstadt 2010 macht <strong>Istanbul</strong> diesen<br />
Konflikt nur allzu deutlich. Die Planungs- und Strukturverän<strong>der</strong>ungsmaßnahmen,<br />
welche <strong>im</strong> Hinblick auf die Europäisierung <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> vorgenommen<br />
worden sind, tragen zwar europäische Namen, weichen jedoch vom Bilde grün<strong>der</strong>zeitlicher<br />
Blockrandbebauung, sozialer Durchmischung und dem Wechselspiel<br />
zwischen öffentlichen und privaten Räumen eindeutig ab.<br />
<strong>Istanbul</strong> hat seine eigene Interpretation europäischer Lebensweise baulich<br />
geäußert, was für eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> gesellschaftlichen Realität<br />
von nicht unerheblichem Interesse ist.<br />
O. Frey · F. Koch (Hrsg.), Die Zukunft <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong>,<br />
DOI 10.1007/978-3-531-92653-7_20,<br />
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
344 Katharina Sucker<br />
Dieses liegt in <strong>der</strong> Erkenntnis begründet, dass <strong>der</strong> Gegenstand städtebaulicher<br />
Probleme verkannt wird, wenn Planungstätigkeiten auf <strong>der</strong> Grundlage von<br />
Wirklichkeiten getroffen werden, die nicht (mehr) bestehen.<br />
In diesem Fall kann davon ausgegangen werden, dass planerische Interventionen<br />
auf <strong>der</strong> Basis falscher Erkenntnisse vorgenommen werden und dieses<br />
solange gilt, wie die bauliche Struktur <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> wie<strong>der</strong> in einen Zustand <strong>der</strong><br />
Wechselwirkung mit <strong>der</strong> Gesellschaft gebracht wird. Dass dieser Zustand <strong>der</strong><br />
Inkongruenz für viele Städte Europas gilt, ist mehrfach beobachtet und beschrieben<br />
worden:<br />
„Die physische Gestalt <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> ist Produkt, Gefäß und Symbol sozialer<br />
Verhältnisse. Die Gesellschaft, die die Gestalt <strong>der</strong> traditionellen europäischen<br />
<strong>Stadt</strong> hervorgebracht hat, existiert nicht mehr.“ (Siebel 2004: 35)<br />
Die Aufgabe dieses Beitrages lautet nun zu überprüfen, warum die räumliche<br />
Entwicklung <strong>Istanbul</strong>s, einer <strong>Stadt</strong>, welche sich bis dahin mehr und mehr<br />
europäischen Rahmenbedingungen angenähert hat, dennoch vom Bild <strong>der</strong> europäischen<br />
<strong>Stadt</strong> abweicht und ob sich auf <strong>der</strong> Basis historisch vergleichen<strong>der</strong><br />
Evaluierungen Prognosen für die Zukunft <strong>der</strong> europäischen <strong>Stadt</strong> aufstellen lassen.<br />
Für diese Untersuchung ist es deshalb notwendig, jene Faktoren isoliert zu<br />
betrachten, welche die Struktur <strong>der</strong> europäischen <strong>Stadt</strong> haben entstehen lassen.<br />
Diese Faktoren werden dann auf ihre Gültigkeit, innerhalb <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>entwicklungsgeschichte<br />
<strong>Istanbul</strong>s überprüft, um zu einer Antwort auf die Frage zu gelangen,<br />
ob <strong>Istanbul</strong> für den wissenschaftlichen Diskurs als eine europäische <strong>Stadt</strong><br />
bezeichnet werden kann o<strong>der</strong> nicht.<br />
Basierend auf den Ergebnissen dieser Untersuchung sollen diejenigen Elemente,<br />
welche <strong>im</strong> historischen Rückblick als abweichend herausgestellt werden<br />
konnten, anschließend genauer betrachtet werden, um sie <strong>im</strong> Hinblick auf die<br />
verän<strong>der</strong>te Raumproduktion zu bewerten. Den Ausgangspunkt für diese Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
bietet die Definition Walter Siebels, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Basis von fünf<br />
unterschiedlichen Merkmalen die Gesamtheit des Begriffes <strong>der</strong> traditionellen<br />
europäischen <strong>Stadt</strong> zusammengefasst hat. Um uns näher mit den von Siebel angeführten<br />
Merkmalen auseinan<strong>der</strong>setzen zu können, sollen diese hier zunächst<br />
einmal genannt werden:<br />
Die erste ist die „Präsenz von Geschichte <strong>im</strong> Alltag des Städters“ (2004:<br />
13), <strong>der</strong>en Kern vor allem in <strong>der</strong> Emanzipationsgeschichte des Bürgertums<br />
<strong>im</strong> Zuge des ausklingenden feudalen Systems liegt.<br />
Die zweite beruft sich auf die <strong>Stadt</strong> als utopisches Versprechen und Wegbereiterin<br />
<strong>der</strong> wirtschaftlichen Unabhängigkeit und politischen Emanzipation<br />
(2004: 14).
<strong>Istanbul</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> 345<br />
Drittens gilt die <strong>Stadt</strong> als „beson<strong>der</strong>er Ort einer urbanen Lebensweise“,<br />
<strong>der</strong>en Beson<strong>der</strong>heit vor allem in <strong>der</strong> Trennung zwischen privater und öffentlicher<br />
Sphäre liegt, welche ihrerseits ihren Ausdruck <strong>im</strong> Raum <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> hat<br />
(2004: 14).<br />
Als vierter Aspekt erscheint wie<strong>der</strong>um das Bild von <strong>der</strong> Gestalt <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong><br />
<strong>Stadt</strong>, und zu guter Letzt schließt Siebel mit <strong>der</strong> sozialstaatlichen Regulierung<br />
<strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong>, welche ihre Wirkung unter an<strong>der</strong>em in<br />
<strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>planung durch die regulierenden Maßnahmen <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>verwaltung<br />
als zivilgesellschaftlicher Institution sowie durch den sozialen Wohnungsbau<br />
entfaltet (2004: 17f.).<br />
Die genannten Merkmale lassen sich in eine historische Ursache-Wirkungs-<br />
Abfolge einordnen, welche typisch ist für eine relative kleine Region in welcher<br />
mit Ausgang des Feudalismus erstmalig die <strong>Stadt</strong> zum Zentrum <strong>der</strong> Kapitalakkumulation<br />
erhoben wurde. Durch die Befreiung <strong>der</strong> Gesellschaft aus <strong>der</strong> Monarchie<br />
rückte diese selber ins Zentrum städtischer Verwaltung und etablierte<br />
sozialstaatliche Umverteilungsmechanismen welche jene vorrangegangen zentralistischen<br />
Strukturen ersetzte.<br />
Wir haben es also mit einem Erklärungsmodell für einen best<strong>im</strong>mten Typ<br />
von <strong>Stadt</strong> zu tun, welcher sich innerhalb des weltwirtschaftlichen Trends als<br />
einzigartig herausgebildet hat.<br />
Dennoch sind we<strong>der</strong> die kapitalistische Wirtschaft, noch die Etablierung<br />
bürgerlicher Verwaltungsstrukturen o<strong>der</strong> die Existenz eines Bürgertums überhaupt<br />
Phänomene welche nur die europäische <strong>Stadt</strong> vorzuweisen hat. Sie sollten,<br />
wie dies <strong>im</strong> eurozentristischen Diskurs oft geschieht, keinesfalls als zwangsläufig<br />
miteinan<strong>der</strong> verkoppelt dargestellt werden.<br />
Eine weltwirtschaftliche Perspektive ist für eine korrekte Platzierung dieser<br />
Beobachtungen daher von großer Bedeutung.<br />
Schon bei Siebel wird die Gültigkeit einzelner <strong>der</strong> genannten Merkmale auch für an<strong>der</strong>e<br />
Städte außerhalb Europas nicht ausgeschlossen.<br />
„Keines dieser Merkmale kann für sich genommen eine Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong><br />
<strong>Stadt</strong> begründen, denn keines benennt etwas, das einzig die Europäische<br />
<strong>Stadt</strong> charakterisieren würde. Für jedes finden sich Beispiele außerhalb Europas.<br />
Auch findet sich nicht jedes Merkmal gleichermaßen in je<strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> Europas. Aber in<br />
ihrer Summe beschreiben die fünf Merkmale einen Idealtypus von <strong>Stadt</strong>, <strong>der</strong> so nur<br />
auf die Europäische <strong>Stadt</strong> zutrifft.“<br />
( Siebel 2004: 12)<br />
Trotzdessen wird die räumliche Ausprägung <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>, ihr Bild, auf den für die<br />
postfeudale europäische Gesellschaft typischen Werdegang bezogen. Das Erklä-
346 Katharina Sucker<br />
rungsmodell Siebels legt also nahe, dass gerade das Ineinan<strong>der</strong>greifen <strong>der</strong> genannten<br />
Merkmale die räumliche Ausprägung <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> hervorgerufen<br />
hat.<br />
Um Rückwirkend zu einer Aussage über das Verhältnis zwischen Raumproduktion<br />
und Gesellschaft zu gelangen und dieses für die heutige Zeit <strong>der</strong><br />
<strong>Stadt</strong>entwicklung neu zu bewerten ist es deshalb notwendig, die genannten<br />
Merkmale unabhängig voneinan<strong>der</strong> und über den Rahmen des Erklärungsmodells<br />
hinaus zu betrachten.<br />
<strong>Istanbul</strong> ist dabei für unsere Untersuchung von beson<strong>der</strong>em Interesse, da ihr<br />
eine Entwicklungsgeschichte zugrunde liegt, an <strong>der</strong> sich alle Merkmale Walter<br />
Siebels nachvollziehen lassen. Sie kann also nach dessen Definition als dem<br />
Typus <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> zugehörend gelten. Dennoch würde sie bei einer<br />
weltgeschichtlichen <strong>Kontext</strong>ualisierung nicht als jene typische Europäische <strong>Stadt</strong><br />
bezeichnet werden, auf welche sich Siebels Erklärungsmodell bezieht. Die Auseinan<strong>der</strong>setzung<br />
mit Städten an<strong>der</strong>er Weltregionen ist daher von großer Bedeutung,<br />
um Hintergründe für die zeitgenössischen Probleme <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong><br />
<strong>Stadt</strong> zu ermitteln. <strong>Istanbul</strong> ist historisch an einer Schnittstelle unterschiedlicher<br />
Herrschaftsstrukturen einzuordnen. Sie steht bis heute <strong>im</strong> Spannungsfeld zwischen<br />
autoritativer Bürokratie und bürgerlicher Selbstverwaltung. Die Institutionalisierung<br />
von Privateigentum als Basis des europäischen Kapitalismus ist<br />
durch wie<strong>der</strong>holte Rezentralisierungsmaßnahmen wie<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong> in Frage<br />
gestellt worden und somit die Etablierung best<strong>im</strong>mter sozialstaatlicher Strukturen,<br />
welche sich in Europa in Wechselwirkung mit <strong>der</strong> Raumproduktion als typisierende<br />
kulturelle Traditionen und Lebensweisen herausgebildet haben. <strong>Istanbul</strong><br />
ist demzufolge ein Beispiel für eine <strong>Stadt</strong>, welche die globalen Tendenzen des<br />
Neoliberalismus quasi ungehin<strong>der</strong>t in die Raumproduktion integriert hat, und<br />
demonstriert deshalb die Wirklichkeiten auch <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen europäischen<br />
Gesellschaft anhand seiner räumlichen Ausprägung. In den folgenden Abschnitten<br />
soll nun näher auf die Merkmale Walter Siebels eingegangen werden.<br />
1 Zuerst die Bourgeoisie – zur Rolle bürgerlicher Tradition und<br />
Selbstverwaltung<br />
Bis zum Untergang des Osmanischen Reiches war <strong>Istanbul</strong> eine Handelsmetropole<br />
ohne einen etablierten Produktionssektor und somit auch ohne eine Klassengesellschaft<br />
<strong>im</strong> Sinne Webers (2002) Es existierte aber dennoch eine Bourgeoisie.<br />
Diese ging vornehmlich aus den Reihen einer ausländischen Handelselite<br />
hervor, welche den – in das Steuersystem des Reiches integrierten – Handelsstandort<br />
<strong>Istanbul</strong> als Umschlagplatz ihrer Waren nutzte.
<strong>Istanbul</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> 347<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Reformen von Tanz<strong>im</strong>at um 1850 ist diese städtische Elite<br />
unter an<strong>der</strong>em für die Institutionalisierung von Privateigentum verantwortlich,<br />
ein Recht welches sie für die Errichtung eigener kultureller Einrichtungen und<br />
<strong>der</strong>en Legalisierung als Privatbesitz anstrebte. Dies war voraussetzend für die<br />
Entstehung eines komplexen Verwaltungssystems, dem <strong>der</strong> Schutz von Privateigentum<br />
sowie das Management öffentlicher Einrichtungen und die Pflege öffentlichen<br />
Raumes zu teil wurde.<br />
Ein wichtiger Unterschied jedoch besteht <strong>im</strong> geringen Einfluss <strong>der</strong> Bourgeoisie<br />
auf einen weiterführenden Prozess <strong>der</strong> Demokratisierung und <strong>der</strong> Herausbildung<br />
<strong>der</strong> Kommune als starke zivilgesellschaftliche Institution. Im Falle<br />
<strong>Istanbul</strong>s ist die Bourgeoisie, so Tekeli, (1982: 71) durch den Staat selber in<br />
Leben gerufen worden und aus diesem Grunde weitaus weniger bedeutend als ihr<br />
europäisches Äquivalent was die Verfestigung ziviler Institutionen betrifft.<br />
Tekeli betont, dass – obwohl das Erstarken <strong>der</strong> Lokalverwaltung als zivilgesellschaftliche<br />
Institution durch die Beschaffenheit <strong>der</strong> Bourgeoisie gehemmt<br />
war – sie dennoch über eigene lokale Entscheidungsgewalt verfügte und dies<br />
auch <strong>im</strong> Interesse <strong>der</strong> Einwohnerschaft einzusetzen verstand. Auf lokalpolitischer<br />
Ebene lässt sich infolgedessen auch die Initiierung öffentlicher Verwaltungseinrichtungen<br />
und Dienstleistungen beobachten, die sich durch eine öffentliche<br />
Sphäre und eine entsprechende Bauweise manifestierte. Die strukturellen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> nach Durchsetzung <strong>der</strong> Reformen lässt uns leicht vergessen,<br />
dass – obwohl die Auswirkungen auf den Raum ähnlich denen <strong>der</strong> westeuropäischen<br />
Entwicklung gewesen sind – sie dennoch nicht auf die spezifisch<br />
Eigenarten einer Klassengesellschaft mit Emanzipationshintergrund beruhen.<br />
Der hauptsächliche Unterschied ist dabei dass trotz lokaler Dezentralisierung,<br />
<strong>der</strong> Staat selbst die fiskalische Umverteilung zur Erhaltung sozialer Gerechtigkeit<br />
in die Hand n<strong>im</strong>mt und diese in die <strong>Stadt</strong>produktionsmodalitäten<br />
einbezieht.<br />
An<strong>der</strong>s <strong>im</strong> frühindustriellen Europa: Dort ist das Streben nach Gerechtigkeit<br />
allein an die Fähigkeit <strong>der</strong> unteren Schichten gebunden, sich politisch zu organisieren<br />
und über zivile Organisationen ihre For<strong>der</strong>ungen nach wirtschaftlicher<br />
Teilhabe zu artikulieren. In <strong>Istanbul</strong> hat privater Grundbesitz in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> alleine<br />
– also ohne zivilgesellschaftlich gesteuerte Umverteilungsmechanismen – zur<br />
Etablierung öffentlicher Räume geführt, die <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> europäischer Urbanisierungstheorien<br />
leicht falsch interpretiert werden könnten.<br />
Die autoritative Tradition erlebte mit Untergang des Osmanischen Reiches<br />
einen Bruch. Das Abreißen gesellschaftlicher Kontinuität wurde unter Mustafa<br />
Kemal zum Paradigma einer Nationalstaatsbildung, <strong>der</strong> die Reproduktion <strong>der</strong><br />
westlichen Mo<strong>der</strong>ne zur Schaffung einer nationalen türkischen Bourgeoisie und<br />
Produktionswirtschaft als Hauptziel galt (Atasoy 2005: 36).
348 Katharina Sucker<br />
Da <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Turkifizierung die Wie<strong>der</strong>aneignung von in frem<strong>der</strong><br />
Hand befindlichem Eigentum mit einschloss, wurde <strong>der</strong> Nation die Basis für<br />
einen Übergang in eine auf zivilgesellschaftlichen Strukturen basierende Raumproduktion<br />
genommen. Gleichzeitig zu jenem augenscheinlichen strukturellen<br />
‘Rückschritt’ jedoch legte die verän<strong>der</strong>te Wirtschaftspolitik <strong>der</strong> Republik eine<br />
neue Grundlage für den Prozess <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>aneignung durch das Volk, welcher<br />
gekoppelt war an den Übergang in eine industrielle liberale Klassengesellschaft<br />
ähnlich <strong>der</strong> West-Europas, jedoch in einem weitaus früheren Entwicklungsstadium.<br />
Nach <strong>der</strong> Wirtschaftskrise und <strong>im</strong> Vakuum <strong>der</strong> Übergangsperiode setzte ein<br />
durch Binnenmigration hervorgerufenes massives Bevölkerungswachstum ein,<br />
welches die leer stehenden innerstädtischen Viertel füllte und sich anschließend<br />
weiter entlang <strong>der</strong> entstehenden Kleinindustrieareale am Goldenen Horn fortsetzte.<br />
Zu diesem Zeitpunkt befand sich die <strong>Stadt</strong> in einem Entwicklungsstadium, in<br />
welchem die einstmals in die osmanische <strong>im</strong>perialistische Kultur eingebetteten<br />
Strukturen sozialer Umverteilung bereits abgeschafft waren, es aber noch keine<br />
an<strong>der</strong>en sozialstaatlichen Werkzeuge <strong>der</strong> Integration gab. Aus diesem Grunde<br />
kam es zu einer Überlagerung <strong>der</strong> formellen bürgerlichen Strukturen des alten<br />
Handelszentrums durch informelle Strukturen.<br />
Dies führte dazu, dass <strong>Istanbul</strong> erstmals deutlich vom Bild <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong><br />
<strong>Stadt</strong> abrückte. Ehemalige, gutbürgerliche Viertel verloren recht schnell ihr kosmopolitisches<br />
Flair und verkamen während <strong>der</strong> 50 Jahre zu heruntergekommenen<br />
Unterhaltungsmeilen für eine vornehmlich männliche Arbeiter-Kundschaft,<br />
die nach <strong>der</strong> Arbeit aus den Industrie-Arealen in die alt-bürgerlichen Quartiere<br />
heraufzog.<br />
Solange die Erschließung <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> für die kemalistische Elite nach Norden<br />
voranschreiten konnte, wurde die Informalisierung des ehemaligen Zentrums<br />
nicht zum Problem kultureller Konfrontation. Jedoch entstand dabei mangels<br />
einer einheitlichen Entwicklungsstrategie ein Nebeneinan<strong>der</strong> von Formalität und<br />
Informalität, das von einer starken Nord-Süd-Dichotomie geprägt war, die zur<br />
Grundlage für eine duale <strong>Stadt</strong>entwicklung werden sollte. (vgl. Esen 2005a: 126)<br />
2 Emanzipation <strong>im</strong> Schnelldurchlauf. Sozialstaatliche Regulierung als<br />
Selbstbedienungskonzept<br />
Die Zeit, die mit <strong>der</strong> Landflucht und Verstädterung einsetzte, ist eigentlich eine<br />
Phase gewesen, die an gesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen das aufholen würde,<br />
was in <strong>Istanbul</strong> bereits mit den Tanz<strong>im</strong>at-Reformen begonnen hatte, sich aus<br />
zwei Gründen jedoch bislang nicht durchsetzen konnte. Erstens war die Etablie-
<strong>Istanbul</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> 349<br />
rung einer bürgerlich-selbstverwalteten <strong>Stadt</strong> durch die Hemmung zivilgesellschaftlicher<br />
Organisation <strong>im</strong> Osmanischen Reich gehemmt. Zweitens wurde jene<br />
osmanische Bourgeoisie mit Etablierung <strong>der</strong> Republik enteignet und durch antiliberale<br />
Paradigmen von einer Einmischung in das <strong>Stadt</strong>geschehen abgehalten.<br />
Ohne diese Voraussetzungen zum gesellschaftlichen Aufstieg waren die ersten<br />
20 Jahre <strong>der</strong> Republik eine Zeit <strong>der</strong> Stagnation. „Workers were not permitted to<br />
strike or form unions. In 1938 the association law consolidated the labour law<br />
by denying both the existence of classes and the right to establish class-based<br />
organizations.” (Atasoy 2005: 57)<br />
Es ergab sich jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg nun ein erneuter Richtungswechsel,<br />
mit dem sich <strong>Istanbul</strong> stärker als zuvor in den europäischen Entwicklungsdiskurs<br />
einzufügen begann. Die politische Lage für die Türkei während<br />
des Kalten Krieges machte die Demokratisierung des Parteiensystems erfor<strong>der</strong>lich,<br />
ein Schritt, <strong>der</strong> für den Aufstieg <strong>der</strong> Arbeiterklasse grundlegend war.<br />
Ihre auf diesem Wege erlernten Mechanismen <strong>der</strong> Integration und <strong>der</strong> Aneignung<br />
sind ausschlaggebend dafür, um hierfür eine Parallele zur <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong><br />
hinsichtlich von Siebels zweitem Kennzeichen ziehen zu können, dem <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong><br />
als Wegbereiter wirtschaftlichen Aufstiegs und politischer Emanzipation.<br />
Beschleunigt war die Geschichte <strong>der</strong> Emanzipation durch die Entwicklungsstrategie<br />
<strong>der</strong> 50er und 60er Jahre, welche alle staatlichen Ressourcen in den industriellen<br />
Sektor fließen ließ, um dadurch eine weitestgehende Unabhängigkeit<br />
von Importen von außen zu erreichen. „Die Konsequenz für die <strong>Stadt</strong>entwicklung<br />
war die Min<strong>im</strong>ierung sowohl staatlicher als auch privater Investitionen in<br />
die gebaute Umwelt.“ (Sengül 2005: 82)<br />
Die <strong>Stadt</strong>bevölkerung, welche bis 1980 um mehrere Millionen Menschen<br />
anwuchs, war ohne staatliche Unterstützung o<strong>der</strong> Daseinsvorsorge auf sich selbst<br />
angewiesen. Dennoch blieb trotz des Fehlens von sozialstaatlicher Reglementierung<br />
und sozialer Wohnungspolitik, welche laut Siebel in europäischen Städten<br />
die Bildung von Slums bislang verhin<strong>der</strong>t haben, das Aufkommen <strong>der</strong>selben in<br />
<strong>Istanbul</strong> aus (vgl. Siebel 2004: 17). Der Staat stellte den neuen Bewohnern <strong>Istanbul</strong>s<br />
ein an<strong>der</strong>es Modell <strong>der</strong> Integration bereit, das darin bestand, urbanen Grund<br />
und Boden von dem Prozess <strong>der</strong> Kapitalakkumulation auszuschließen. Während<br />
staatliche Investitionen zunehmend dazu verwendet wurden, den Prozess <strong>der</strong><br />
Industrialisierung voranzutreiben, fand die Produktion <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> auf Basis einer –<br />
durch Kleinkapital und eigene Ressourcen <strong>der</strong> wachsenden Bevölkerung finanzierten<br />
– „Selbst-Bedienungsurbanisierung“ (Esen 2005b) statt.<br />
Land als öffentliche Ressource, und nicht etwa sozialer Wohnungsbau und<br />
staatlich regulierte Gehälter, bildete das Integrationsmodell für das <strong>Stadt</strong>wachstum<br />
durch Migration. Im Übergang von zentraler Umverteilung zu zivilrechtlicher<br />
Regulierung entstand eine Situation des Konflikts zwischen dem alten und
350 Katharina Sucker<br />
dem neuen, auf Privateigentum basierenden Modell. Einerseits sah sich <strong>der</strong> Staat<br />
gezwungen, staatlichen Boden für die Urbanisierung zur freien Verfügung zu<br />
stellen, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite jedoch war er durch das Bewusstsein geprägt, dass<br />
die Überwindung <strong>der</strong> global-wirtschaftlichen Randposition nur durch eine kapitalistisch<br />
geprägte Boden-Wirtschaft zu gewährleisten sei (vgl. Atasoy 2005: 80;<br />
Sengül 2005: 82): „Das Eindringen <strong>der</strong> Siedler auf urbanen Grund und Boden<br />
mit <strong>der</strong> Absicht, ihn dauerhaft zu nutzen, stellte die Autorität des Staates als<br />
Hüter von Privateigentum und marktförmigem Tausch in Frage.“ (Atasoy 2005:<br />
80)<br />
In diesem Spannungsfeld begann <strong>der</strong> Staat damit, für einzelne Gebiete o<strong>der</strong><br />
Häuser Bauverbote o<strong>der</strong> Abrissmaßnahmen zu verhängen und damit eine Situation<br />
<strong>der</strong> permanenten sozialen Unsicherheit zu schaffen, die einen Prozess <strong>der</strong><br />
Anpassung an die Regeln <strong>der</strong> kapitalistischen Marktwirtschaft forcierte. Ohne<br />
die Existenz effektiver Planungsinstrumente zur Steuerung <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>entwicklung<br />
durch dezentrale Kommunalpolitik (vgl. Siebel 2004: 17) begann <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong><br />
Politisierung <strong>im</strong> kleinen Maßstab. „Sie organisierten sich schnell in Ortsverbänden<br />
politischer Parteien, zeigten ein reges Interesse an Lokalpolitik und verstanden<br />
es, ihre Wahlst<strong>im</strong>men gegen urbane Errungenschaften wie fließendes Wasser,<br />
Strom, Kanalisation, Straßen und nicht zuletzt Legalisierung auf dem besetzten<br />
Grund auszuhandeln.“ (Esen 2005b: 39)<br />
Ausschlaggebend für die Zielsetzung des vorliegenden Beitrages ist dabei in<br />
erster Linie die systematische Etablierung einer starken Kommunalpolitik, welche<br />
durch das neue Wählerpotential innerhalb <strong>der</strong> Migranten an Einfluss gewann<br />
und als Gegenleistung dafür sorgte, dass aus den Neuankömmlingen eine aufsteigende,<br />
politisch emanzipierte Mittelschicht wurde. Die Verteilung <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Ressource ‘Grund und Boden’ und ihre Bereitstellung für den Markt <strong>der</strong><br />
reinen Kapitalakkumulation sorgte für eine erfolgreiche Integration mehrerer<br />
Generationen armer Bauern und beför<strong>der</strong>te die neue, anatolisch-stämmige Klasse<br />
direkt in das Zentrum nationaler Politik. Die Gecekondu-Bewohner <strong>der</strong> ersteren<br />
Migrationswellen, die es in das Grundbuch geschafft hatten, kamen <strong>der</strong> Nachfrage<br />
<strong>der</strong> weiterhin wachsenden <strong>Stadt</strong>bevölkerung nach Wohnraum nach, indem sie<br />
auf ihren Grundstücken mehrgeschossige Apartmenthäuser errichteten. Dies war<br />
durch ein 1961 verabschiedetes Gesetz zur Legalisierung von Geschosseigentum<br />
möglich geworden und erfolgte ohne die Substitution des Staates durch ein System<br />
<strong>der</strong> „Baudienstleistung <strong>im</strong> Tausch gegen Stockwerke“ (mehr dazu in: Esen<br />
2005a: 40-43).<br />
Dabei erhielt <strong>der</strong> Baudienstleistende als Bezahlung eine vereinbarte Zahl an<br />
Stockwerken, die er anschließend verkaufte.<br />
Mit <strong>der</strong> Etablierung dieses so genannten Yapsat-Modells, welches das Gecekondu-Modell<br />
ablöste, vollzog sich die „Emanzipation des Wirtschaftsbürgers,
<strong>Istanbul</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> 351<br />
des Bourgeois, aus den geschlossenen Kreisläufen <strong>der</strong> Familie hin zur offenen<br />
Ökonomie als Marktwirtschaft“ (Siebel 2004: 13) in rasantem Tempo. Der Markt<br />
<strong>der</strong> Immobilienwirtschaft boomte und beför<strong>der</strong>te etliche Hun<strong>der</strong>ttausende aus<br />
dem Dasein des einfachen Arbeiters in das des Grundbesitzers mit geregelten<br />
finanziellen Einkommen. „Die <strong>Stadt</strong> als Hoffnung“ (Häußermann 1995; Siebel<br />
2004: 24) hatte sich, zumindest für den Zeitraum von zwei Dekaden nach den<br />
ersten Migrationswellen, auch für <strong>Istanbul</strong> erfüllt.<br />
3 Zwei zu berücksichtigende Aspekte bei <strong>der</strong> Entstehung von öffentlicher<br />
Sphäre<br />
Im <strong>Kontext</strong> europäischer Wirtschaftspolitik lässt sich die anfängliche Unterstützung<br />
mittelloser Einwan<strong>der</strong>er durch den Staat als spontane Strategie <strong>der</strong> Investition<br />
in seine Arbeitskraft verstehen. Sie ist durchaus vergleichbar mit den in<br />
Europa viel früher herausgebildeten wirtschaftlichen Interventionsmechanismen,<br />
welche ihrerseits auf westlichen Traditionen einer Produktionswirtschaft beruhen.<br />
Gleichzeitig ist die Reorganisation von Land in <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> ausschlaggebend<br />
für <strong>Istanbul</strong>s Übergang aus osmanischer Tradition in eine auf Privateigentum<br />
basierende westliche Tradition. Dennoch ist es wohl auf die Reduzierung eines<br />
Prozesses, <strong>der</strong> sich in West-Europa bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt, auf<br />
einen Zeitraum von knapp 50 Jahren zurückzuführen, dass sich die Legalität von<br />
Privateigentum nicht innerhalb kultureller Traditionen gefestigt hat. Dazu gehört<br />
auch die Etablierung eines Regelkataloges für die Vergabe von Baurechten,<br />
Baurichtlinien und <strong>der</strong> Verwaltung öffentlicher Räume. Diese Aufgaben <strong>der</strong><br />
urbanen Verwaltung wurden <strong>im</strong> Osmanischen Reich schlicht bürokratisch geregelt.<br />
Es ist auch auf diese Regulierung zurückzuführen, dass sich mit <strong>der</strong> Übertragung<br />
von Entscheidungsgewalten auf die Kommunen eine Polarität zwischen<br />
öffentlichem und privatem Raum herausbilden konnte. Die Etablierung <strong>der</strong> öffentlichen<br />
Sphäre fand <strong>im</strong> Osmanischen Reich jedoch weitestgehend unabhängig<br />
von den in Europa typischen wirtschaftlichen Strukturen, <strong>der</strong> Lohnarbeit und <strong>der</strong><br />
Klassengesellschaft statt.<br />
Im Gegensatz dazu führte die Etablierung <strong>der</strong> freien Marktwirtschaft in <strong>der</strong><br />
Türkei schnell zu einer Auflösung dieser urbanen Form, was eben daran liegt,<br />
dass die Balance von Regulierung und Privateigentum ausschlaggebend für die<br />
Polarität zwischen öffentlichem und privatem Raum ist, und eben nicht <strong>der</strong> Kapitalismus<br />
selbst. Die Beobachtung S<strong>im</strong>mels gilt deshalb nur innerhalb eines Rahmens,<br />
<strong>der</strong> sich auf Städte feudalen Ursprungs bezieht, welche ihre Regulationsmechanismen<br />
fest in die <strong>Stadt</strong>planung integriert haben. „Die Kapitalistische<br />
Wirtschaft und die städtische, auf quantitativen Beziehungen basierende Le-
352 Katharina Sucker<br />
bensweise bedingen sich <strong>der</strong>art, dass man schwer unterscheiden kann, ob die<br />
Erste sich einer Formierung durch die Zweite unterzog o<strong>der</strong> genau an<strong>der</strong>s herum“<br />
(S<strong>im</strong>mel 2002: 13).<br />
In <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen, neoliberalen <strong>Stadt</strong> befindet sich die Regulierung durch<br />
die öffentliche Hand nun auf dem Rückzug. Wirtschaftswachstum kann in diesem<br />
fortgeschrittenen Stadium des Kapitalismus fast nur noch durch die Produktion<br />
<strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>, den Urbanisierungsprozess selber gewährleistet werden. In <strong>der</strong><br />
neoliberalen <strong>Stadt</strong> also kommt es zu einer Umkehrung, indem die Stärke des<br />
Wirtschaftswachstums die Geschwindigkeit des Zerfalls <strong>der</strong> urbanen Lebensweise<br />
best<strong>im</strong>mt (vgl. Häußermann 2004: 26): „Der Siegeszug urbaner Lebensweise<br />
ging von Anfang an einher mit seiner Aushöhlung.“<br />
Dieser Zustand gilt für alle Städte, welche den Kapitalismus als Grundlage<br />
ihres Wirtschaftssystems haben, nämlich für jene Nationen, in denen Urbanisierung<br />
nur aufrecht erhalten werden kann, solange das wirtschaftliche System eine<br />
Basis <strong>der</strong> ökonomischen Integration durch stetiges Wirtschaftswachstum sichert<br />
(vgl. Häußermann 1995: 95)).“so lange es mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> insgesamt<br />
aufwärts ging, konnte die <strong>Stadt</strong> eine Integrationsmaschine sein,…“<br />
Ein zweiter Aspekt, den es zu beachten gilt, betrifft die öffentliche Sphäre<br />
als Raum zivilgesellschaftlichen Handelns. Zu Beginn <strong>der</strong> Republik ist in <strong>Istanbul</strong><br />
eine mutwillige Zerstörung des öffentlichen Raumes und mit ihm ein fortschreiten<strong>der</strong><br />
Verfall <strong>der</strong> öffentlichen Sphäre festzustellen. Bewertet man dieses<br />
Phänomen aus dem Blickwinkel <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong>, lassen sich hier wie<strong>der</strong>um<br />
Antworten auf Grundlage <strong>der</strong> Rolle erkennen, die dem öffentlichen Raum<br />
als politischem Ort zukommt. Mit <strong>der</strong> Republikanischen Volkspartei, die 1923<br />
die Macht übernahm, war dem Staat eine Exekutive unterstellt, welche aus den<br />
Reihen des Staates sein Personal bezog: „Der Staat hielt in <strong>der</strong> Gesellschaft die<br />
absolute Macht inne und die Republikanische Volkspartei (RPP) war ihm direkt<br />
unterstellt.“ (Atasoy 2005: 49) Die Einheit aus Staat und Regierung führte zur<br />
absoluten Autonomie und Macht <strong>der</strong> Republik auf kleinster Ebene und erlaubte<br />
fortan keine außer-parteiliche politische Aktivität. Die Einhaltung <strong>der</strong> Regeln<br />
machte sich bemerkbar in <strong>der</strong> Repression potentieller Opposition, dem Verbot<br />
von Versammlungen in öffentlichen Räumen sowie <strong>der</strong> Strafbarkeit des Zeigens<br />
politisch abweichen<strong>der</strong> Symbole. Die Einbindung <strong>der</strong> Zivilgesellschaft in die<br />
<strong>Stadt</strong>entwicklung war demzufolge anfangs unterbunden, was sich auch an den<br />
<strong>der</strong>zeitigen <strong>Stadt</strong>entwicklungsstrategien zeigt. Mit fortschreiten<strong>der</strong> Liberalisierung<br />
allerdings etabliert sich die öffentliche <strong>Stadt</strong> nicht wie<strong>der</strong> neu, wie dies in<br />
West-Europa nach autogerechter Sanierung und Fordismus <strong>der</strong> Fall gewesen ist,<br />
son<strong>der</strong>n verkümmert als dekoratives Überbleibsel <strong>im</strong> Diskurs einer <strong>Stadt</strong>entwicklung,<br />
die durch internationales Kapital als Hauptakteur des heutigen<br />
Trends vorangetrieben wird.
<strong>Istanbul</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> 353<br />
Öffentlicher Raum in <strong>der</strong> neoliberalen <strong>Stadt</strong> scheint nur dort reproduziert zu<br />
werden, wo er zivilgesellschaftlich verankert ist und als Tradition <strong>im</strong> Städtebau<br />
fortlebt. In seinem Buch „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ argumentiert<br />
Richard Sennett, dass dieses weitergereichte traditionelle Erbe für die Erhaltung<br />
<strong>der</strong> kosmopolitischen Lebensart ausschlaggebend ist (vergl. Sennett 2002).<br />
Verwaltung und Gestaltung des öffentlichen Raumes ist in <strong>der</strong> europäischen<br />
<strong>Stadt</strong>geschichte stets eine Aufgabe zivilgesellschaftlicher Organisation gewesen.<br />
Darüber hinaus gibt es ein Bewusstsein dafür, dass <strong>der</strong> Raum europäischer Städte<br />
‘erkämpfter’ Raum und deshalb von symbolischer Bedeutung ist, erinnert er<br />
doch an die Befreiung aus <strong>der</strong> Herrschaft des Feudalismus und den Werdegang<br />
<strong>der</strong> Demokratie.<br />
Im Gegensatz dazu ist die Lossagung <strong>der</strong> Türkei aus osmanischer Herrschaft<br />
nicht aus einer bürgerlichen Bewegung heraus entstanden, son<strong>der</strong>n durch<br />
einen bürokratischen, auf Regierungsebene ausgetragenen militaristischen Konflikt.<br />
Die Basis <strong>der</strong> Republik ist nicht <strong>der</strong> Werdegang <strong>der</strong> Demokratie, son<strong>der</strong>n<br />
eine Staatsbürokratie, welche – angelehnt an westliche Ideale – die Demokratie<br />
dem Volk auferlegt, aus dessen Reihen sie als zentralistische Macht ihr Bürgertum<br />
selber auswählt. Erst mit <strong>der</strong> Liberalisierungspolitik <strong>der</strong> achtziger Jahre<br />
etablierte sich eine einflussreiche neue Mittelklasse, welche damit begann, Anspruch<br />
auf den öffentlichen Raum <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> zu erheben, in erster Linie, um diesen<br />
zu einem Ort <strong>der</strong> Kapitalakkumulation <strong>im</strong> großen Stil werden zu lassen.<br />
3.1 Über die Definition einer neuen städtischen Kultur und die Fragmentierung<br />
des Raumes<br />
Bis in die achtziger Jahre verlief <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Urbanisierung weitgehend ungeplant.<br />
Die kleinteilige Verdichtung <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> durch die vorangegangenen<br />
Kleinkapitalinvestitionen à la Yapsat ließ, abgesehen von dezentralen Arealen,<br />
kaum eine großräumliche Verän<strong>der</strong>ung o<strong>der</strong> Erweiterung <strong>der</strong> Infrastruktur zu.<br />
Diese wurde nach 1980 nun von privaten Konzernen übernommen, welche den<br />
Bausektor zur treibenden Kraft <strong>der</strong> türkischen Wirtschaft werden ließ. Zu Beginn<br />
wirkte sich <strong>der</strong> Auftritt großer Akteure nur in halb-illegalen Neubauprojekten in<br />
den Randgebieten <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> aus, welche Wohnraum für die Oberschicht in Form<br />
von Gated Communities schuf. Später jedoch dehnte sich <strong>der</strong> Wirkungskreis<br />
privater Baudienstleister auch auf die zentraler gelegenen Teile <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> in Form<br />
von Sanierungs- und Transformationsmaßnahmen aus.<br />
Die Einführung des Mortgage-Systems um die Jahrhun<strong>der</strong>twende bedeutete<br />
den letzten Schritt aus <strong>der</strong> Tradition staatlicher Regulierung durch Nutzwerte,<br />
welche in <strong>der</strong> Grauzone <strong>der</strong> Informalität nun <strong>im</strong>mer weniger mit <strong>der</strong> stillschwei-
354 Katharina Sucker<br />
genden Akzeptanz <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>regierung rechnen konnten. Der Übergang zur Formalisierung<br />
bedeutet in jedem Falle die Angleichung an die Produktionsmechanismen<br />
<strong>der</strong> Städte westlicher Tradition auf <strong>der</strong> Stufe eines weit fortgeschrittenen<br />
Kapitalismus. Allerdings ist <strong>der</strong> Wandel von <strong>der</strong> Produktion <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> mit Nutzwert<br />
zur Produktion <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> reinen Marktwertes für <strong>Istanbul</strong> zur Endstation des<br />
Übergangs in einen europäischen Urbanisierungsdiskurs geworden. Regulierungen<br />
dieses Prozesses <strong>der</strong> Privatisierung und Hüter öffentlichen Raumes gibt es<br />
kaum, und somit steht <strong>der</strong> Zementierung gesellschaftlicher Ungleichheit durch<br />
die weitere Produktion <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> nichts <strong>im</strong> Wege.<br />
Betrachtet man diesen Prozess aus einem an<strong>der</strong>en Blickwinkel, so fällt auf,<br />
dass die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem kulturellen Erbe <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> und ihrer gesellschaftlichen<br />
Identität in die Spekulation und die Mechanismen des <strong>Stadt</strong>marketings<br />
eingebettet ist. Der Markt <strong>der</strong> Immobilienwirtschaft generiert eine enorme<br />
Anzahl an Marketing-Kampagnen, welche eine Flut von Immobilienanzeigen in<br />
allen Bereichen des Mediensektors hat entstehen lassen. Kulturelle Unterschiede<br />
und soziale Ungleichheiten sind innerhalb dieses Prozesses <strong>der</strong> Nährboden,<br />
durch den <strong>der</strong> Entwurf neuer Marketingstrategien gewährleistet ist.<br />
Dadurch wird je<strong>der</strong> Versuch sozio-kultureller Angleichung auf politischer<br />
Ebene durch die Raumproduktion gehemmt. In an<strong>der</strong>en Worten: Der Neoliberalismus<br />
führt zu einer direkten Übertragung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse<br />
auf die Raumproduktion und behin<strong>der</strong>t so eine mögliche Lösung bestehen<strong>der</strong><br />
Konflikte.<br />
Die Austragung kultureller Konflikte <strong>im</strong> Raum, welche sich <strong>im</strong> Rahmen <strong>der</strong><br />
neoliberalen Entwicklung mehr und mehr intensiviert hat, scheint gleichzeitig zu<br />
einer Überformung bestehen<strong>der</strong> Wertvorstellungen zu führen. Verfolgt man die<br />
städtebauliche Debatte, so lässt sich eine auf Opposition basierende Umformung<br />
<strong>der</strong> jeweiligen Ideale beobachten. Dort gilt es hauptsächlich das Gegenteil davon<br />
zum Ausdruck bringen zu wollen, was die an<strong>der</strong>en an Vorstellung in die <strong>Stadt</strong>produktion<br />
mit einbringen. Dabei ist „die öffentliche Präsenz, Einstellung, Haltung,<br />
Materialität und Form kulturellen Verhaltens des einen nahezu unerträglich<br />
für den an<strong>der</strong>en.“ (Esen 2005a: 123)<br />
Ein Beispiel dafür ist <strong>der</strong> Werdegang des Apartmenthauses in <strong>Istanbul</strong>. Zu<br />
Zeiten des Osmanischen Reiches Residenz <strong>der</strong> reichen, europäisch geprägten<br />
Handels-Elite, wurde es nach 1920 von <strong>der</strong> republikanischen Bourgeoisie übernommen.<br />
Viertel <strong>der</strong> Oberschicht wie Niantai entstanden nach westlichem<br />
Vorbild in <strong>der</strong> Nordstadt, während entlang <strong>der</strong> Industrieareale die Migrantenschaft<br />
mit selbst fabrizierten bescheidenen Einfamilienhäuschen vorlieb nahm. In<br />
den sechziger Jahren jedoch verkam das Apartmenthaus in Form des mehrfach<br />
aufgestockten und vermieteten Yapsat-Hauses zur standardisierten Wohnform<br />
<strong>der</strong> Arbeiterschaft. Der aus dem GeÇekondu entstandene drei- bis fünfstöckige
<strong>Istanbul</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> 355<br />
Apartmentblock (mit einfachsten Mitteln und unter Verwendung billigster Materialien<br />
erbaut), wurde daraufhin in den Kreisen <strong>der</strong> städtischen Elite als akzeptable<br />
Wohnform verworfen. In den siebziger Jahren begann man dann mit dem<br />
Bau <strong>der</strong> ersten Gated Community in Form einer Einfamilienhaus-Garten-<br />
Siedlung.<br />
Durch die fortschreitende Konsolidierung sind heute kaum noch Urbanisierungspraktiken<br />
außerhalb <strong>der</strong> neoliberalen Bautätigkeit auszumachen. Informelle<br />
Entwicklungen werden sofort und ohne Diskussion entfernt und ihre Verursacher<br />
in Areale non-partizipativen Wohnens umgesiedelt. Dies hat dazu geführt, dass<br />
<strong>der</strong> Konflikt um den Raum sich zunehmend auf eine rein visuelle Ebene konzentriert<br />
hat, welche sich zwar durch ihre Symbolik, nicht jedoch durch Praktiken<br />
urbanen Zusammenlebens unterscheidet. Aus <strong>der</strong> systematischen Unterbindung<br />
von Formen jedwe<strong>der</strong> Informalität lässt sich die Polarität <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong>entwicklung<br />
eher auf die Konsolidierung <strong>der</strong> informellen <strong>Stadt</strong> reduzieren (vgl. Bilgin<br />
2005: 93-96).<br />
Dennoch stehen die Zugehörigkeit und die Definition <strong>der</strong> eigenen kulturellen<br />
Identität <strong>im</strong> Zentrum <strong>der</strong> durch Großkapital regierten Raumproduktion, wobei<br />
es den Verfechtern eines alt-bürgerlichen <strong>Istanbul</strong>s sowie den Eroberern<br />
<strong>der</strong>en angestammter Territorien nicht so sehr um die Durchsetzung kultureller<br />
Lebensarten und Praktiken geht als vielmehr um die Herausstellung <strong>der</strong> eigenen<br />
Überlegenheit. Der Raum <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> wird <strong>im</strong> Verlauf <strong>der</strong> sozialen Wandels zum<br />
Austragungsort eines Kampfes um kulturelle Symbole, wobei <strong>der</strong> Zustand <strong>der</strong><br />
Symbolhaftigkeit selber zum Konfliktpunkt wird.<br />
4 Fazit<br />
An <strong>Istanbul</strong> lässt sich die Verwandlung einer <strong>Stadt</strong> als Ort sozialer Integration in<br />
einen Ort als Instrument <strong>der</strong> Kapitalakkumulation sehr deutlich zurückverfolgen.<br />
Dabei ist klar geworden, dass <strong>Istanbul</strong> sich heute in den globalen Trend des Neoliberalismus,<br />
<strong>der</strong> Kommodifizierung und <strong>der</strong> Privatisierung eingefügt hat. Die<br />
Konsequenzen treten dabei in <strong>der</strong> <strong>Istanbul</strong>er <strong>Stadt</strong>landschaft direkt und offen zu<br />
Tage. Sie erscheinen in einer extremen Form räumlicher Segregation, welche<br />
geför<strong>der</strong>t ist durch den Spielraum einer halb-legalen, undurchsichtigen Planung.<br />
Ausschlaggebend für diese Entwicklungen, so hat sich gezeigt, ist die Etablierung<br />
eines auf Privateigentum basierenden Systems sozialer Umverteilung. Trotz<br />
einer Verspätung um zwei Jahrhun<strong>der</strong>te ist das Ausmaß dieser Entwicklungen<br />
stärker als in Siebels idealtypischer Europäischer <strong>Stadt</strong>: Dies ist darauf zurückzuführen,<br />
dass die frühe Konsolidierung von Grund und Boden, ihre schon zu einem<br />
frühen Zeitpunkt entwickelte Infrastruktur als struktureller Rahmen für die
356 Katharina Sucker<br />
Bebauung sowie ein kulturell verankertes Bewusstsein für Gut und Recht <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit zu einem Fortbestand ihrer Struktur, weit über ihre soziale Gültigkeit<br />
hinaus, beigetragen hat. Für eine <strong>Stadt</strong>, welche neue soziale Ungleichheiten<br />
und Konflikte durch die Produktion ihrer Räume produziert, ist die Beschaffenheit<br />
dieser Räume best<strong>im</strong>mend für die Integration von Mechanismen zur einer<br />
gerechteren und flexibleren Verteilung öffentlicher Ressourcen. Auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Seite jedoch sind die bildhaften Qualitäten dieser Räume selber zur Handelsware<br />
des fortgeschrittenen Kapitalismus geworden wodurch das Bild <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> an sich<br />
viel von seiner Aussagefähigkeit über Potentiale dieser Art eingebüßt hat.<br />
<strong>Istanbul</strong> zeigt in diesem Sinne, wie akut das Problem neo-liberaler Produktionsmechanismen<br />
ist, während die strukturelle Erhaltung europäischer Städte<br />
ihre <strong>Stadt</strong>väter in vermeintlicher Sicherheit wiegt – doch es ist nicht alles Gold,<br />
was glänzt. <strong>Istanbul</strong> demonstriert das Verschwinden von Handlungsgrundlagen<br />
urbanen Zusammenlebens zugunsten kommodifizierter Gruppenzugehörigkeiten<br />
sowie die Risiken, die sich aus <strong>der</strong> Manipulierbarkeit <strong>der</strong> Gruppenidentitäten<br />
durch ihre Verkoppelung mit dem Medien- und Marketing-Sektor ergeben.<br />
Es erscheint müßig, über eine partizipative, sozial-integrative Urbanisierung<br />
nachzudenken, solange das wirtschaftliche Überleben <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> an die nachhaltige<br />
Produktion sozialer Ungleichheit gekoppelt ist. So ist die erfolgreiche Integration<br />
einer sich verzehnfachenden Bevölkerung durch eine nicht-geldwerte Form<br />
<strong>der</strong> Urbanisierung à la <strong>Istanbul</strong> eben auf die Logiken <strong>der</strong> <strong>Stadt</strong> als Ort <strong>der</strong> Kapitalakkumulation<br />
zurückzuführen.<br />
Die Idee, die es aus <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>Istanbul</strong> zu beziehen gilt,<br />
sollte darum eine sein, welche den Diskurs außerhalb von Verteilung öffentlicher<br />
Mittel bewegt, nämlich die Bewertung städtischer Räume gemäß ihres Nutzwertes.<br />
Die informelle, durch menschliche Ressourcen erbaute <strong>Stadt</strong> mag den Ansprüchen<br />
globaler Repräsentationsarchitektur nicht genüge zu tun. Dennoch hält<br />
die Produktion von <strong>Stadt</strong> durch das Potential <strong>der</strong> unteren Einkommensschichten<br />
den unbezahlbaren Wert <strong>der</strong> Möglichkeit zur Aneignung von Raum auf Basis<br />
eigener Nutzungskonzepte und Bedürfnisse bereit, und somit die Basis, <strong>Stadt</strong> als<br />
Wechselwirkung sozialer Realitäten und physischer Räume neu zu erfinden.
<strong>Istanbul</strong> <strong>im</strong> <strong>Kontext</strong> <strong>der</strong> <strong>Europäischen</strong> <strong>Stadt</strong> 357<br />
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