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jüdisches leben in bayern - Landesverband der Israelitischen ...

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Neue Suchliste für geraubte Bücher<br />

Die Stadtbibliothek Nürnberg beherbergt e<strong>in</strong>e<br />

bedeutende Sammlung <strong>in</strong> <strong>der</strong> NS-Zeit geraubter<br />

Bücher, bestehend aus 9000 Schriften,<br />

die vor allem verfolgten Juden und Freimaurern<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit zwischen 1933 und 1945<br />

entzogen wurden. E<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Inhalt, Herkunft<br />

und Zusammensetzung vergleichbare Schriftensammlung<br />

existiert unseres Wissens <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er<br />

an<strong>der</strong>en deutschsprachigen Bibliothek.<br />

Diese Bestände, die heute unter dem Namen<br />

„Sammlung Israelitische Kultusgeme<strong>in</strong>de<br />

(IKG)“ zusammengefasst s<strong>in</strong>d, wurden bei<br />

Kriegsende <strong>in</strong> den Redaktionsräumen des antisemitischen<br />

Hetzblattes „Der Stürmer“ sowie<br />

<strong>in</strong> Julius Streichers Landgut <strong>in</strong> Cadolzburg<br />

bei Fürth aufgefunden. Knapp 1400 Namen<br />

von Vorbesitzern aus ganz Europa lassen<br />

sich auf <strong>der</strong> umfangreichen neuen Suchliste<br />

<strong>der</strong> Nürnberger Stadtbibliothek f<strong>in</strong>den, die<br />

vor kurzem auch im Internet veröffentlicht<br />

wurde.<br />

Seit 1997 bemühen sich die Stadt und die Israelitische<br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de Nürnberg geme<strong>in</strong>sam<br />

um e<strong>in</strong>e Erschließung und Restitution <strong>der</strong><br />

Sammlung, bzw. e<strong>in</strong>zelner Schriften daraus.<br />

Im September 2002 unterzeichneten die Israelitische<br />

Kultusgeme<strong>in</strong>de als Eigen tümer und<br />

Leihgeber und die Stadt als Leihnehmer e<strong>in</strong>en<br />

Vertrag zur dauerhaften Regelung des<br />

Verbleibs <strong>der</strong> Sammlung. Neben den juristischen<br />

Details wurden im Vertrag die Absichten<br />

bei<strong>der</strong> Seiten festgehalten. Dazu gehören<br />

die komplette Neukatalogisierung <strong>der</strong> Bestände,<br />

e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> Erfassung sämtlicher<br />

Besitzh<strong>in</strong>weise, die etwaige Restaurierung beschädigter<br />

Schriften und die erklärte Absicht,<br />

sie <strong>der</strong> Öffentlichkeit zugänglich zu machen.<br />

Bislang wurden unter den etwa 9000 Schriften<br />

<strong>in</strong>sgesamt 3690 provenienztragende Schriften<br />

festgestellt, 2200 Vorbesitzer – 1895 E<strong>in</strong>zelpersonen<br />

und 305 Körperschaften – konnten<br />

namhaft gemacht werden. Besitze<strong>in</strong>träge bzw.<br />

Provenienze<strong>in</strong>träge wurden <strong>in</strong> verschiedenster<br />

Form vorgefunden: Schriftzüge, Autorenwidmungen,<br />

Umschlags- und Rückenprägungen,<br />

Stempel und Prägestempel, Exlibris, Etiketten<br />

<strong>in</strong> Form von Buchhändler- und Buchb<strong>in</strong><strong>der</strong>zeichen,<br />

Briefe, Briefumschläge, Post- und<br />

Ansichtskarten, Briefmarken, Visitenkarten,<br />

Fotografien, Quittungen, Geldsche<strong>in</strong>e, Notizzettel,<br />

Formulare und Bibliothekskarteikärtchen.<br />

Die bisherigen Untersuchungen lassen auf die<br />

geographische Herkunft <strong>der</strong> Schriften aus 495<br />

Orten von Aachen bis Zurom<strong>in</strong> <strong>in</strong> 23 Län<strong>der</strong>n<br />

schließen, darunter Albanien, Chile, Deutschland,<br />

England, Italien, Li tauen, Polen, Russland,<br />

Schweiz, Ungarn und USA.<br />

Mit Hilfe von mehr als 500 Quellen – von<br />

Nachschlagewerken über Schriften bis h<strong>in</strong> zu<br />

Datenbanken und nicht zuletzt dem Internet<br />

– wurde aus den oft kryptischen und spärlichen<br />

H<strong>in</strong>weisen ermittelt, um welche Person<br />

o<strong>der</strong> Körperschaft es sich bei dem Vorbesitzer<br />

handelt. Der Austausch mit Zeitzeugen, Familienmitglie<strong>der</strong>n<br />

und Forschern <strong>in</strong> Archiven im<br />

In- und Ausland ergänzte diese Recherche.<br />

Die Publikation dieser Namen dient als s<strong>in</strong>nvolles<br />

Instrument für die Suche und Kontaktaufnahme<br />

<strong>der</strong> Vorbesitzer und <strong>der</strong>en Nachkommen.<br />

Seit Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Veröffentlichungen konnten<br />

knapp 200 Schriften an die ursprünglichen<br />

Vorbesitzer bzw. <strong>der</strong>en Nachkommen – Personen<br />

und Institutionen – <strong>in</strong> Canada, Deutschland,<br />

Großbritannien, Israel, Österreich, <strong>der</strong><br />

Schweiz und den USA zurückgegeben werden.<br />

Weitere Restitutionen an wenigstens 20<br />

Familien stehen unmittelbar zuvor.<br />

Die Bestände <strong>der</strong> Sammlung stammen größtenteils<br />

aus dem Besitz von Personen und Institutionen,<br />

die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit von 1933 bis 1945 zu<br />

Opfern <strong>der</strong> nationalsozialistischen Verfolgung<br />

wurden: Juden, Freimaurer, Mitglie<strong>der</strong> und<br />

Funktionäre <strong>der</strong> Arbeiterbewegung und Vertreter<br />

verschiedener christlicher Glaubensrichtungen.<br />

Ihr Besitz fiel e<strong>in</strong>em gewaltigen<br />

Raubzug anheim, dessen Ausmaße wir heute<br />

nur schätzen können. Die Menge <strong>der</strong> ursprünglich<br />

aufgefundenen Schriften ist unbekannt.<br />

Die Bestände wurden 1945 von <strong>der</strong><br />

US-Armee bzw. von <strong>der</strong> gleich nach Kriegsende<br />

e<strong>in</strong>gerichteten amerikanischen Militärregierung<br />

beschlagnahmt und zunächst teilweise<br />

<strong>der</strong> Stadtbibliothek Nürnberg übergeben.<br />

Ende 1945 o<strong>der</strong> Anfang 1946 übertrug<br />

die Militärverwaltung den Besitz dieser<br />

Schriften <strong>der</strong> sich eben neu konstituierenden<br />

<strong>Israelitischen</strong> Kultusgeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Nürnberg.<br />

Es kann darüber h<strong>in</strong>aus nicht ausgeschlossen<br />

werden, dass Teile <strong>der</strong> „Streicher-Bibliothek“,<br />

ganz ähnlich wie an<strong>der</strong>e Sammlungen von gedrucktem<br />

Raubgut, über das Central Collect<strong>in</strong>g<br />

Po<strong>in</strong>t <strong>in</strong> Offenbach am Ma<strong>in</strong> – <strong>der</strong> Hauptsammelstelle<br />

geraubter jüdischer Bibliotheken,<br />

Archivdokumente und Ritualgegenstände<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> amerikanischen Besatzungszone –<br />

auch nach Israel gelangten. E<strong>in</strong>e Erforschung<br />

dieser vermutlich sehr großen Bestände auf<br />

die Feststellung ihrer Herkunft an Hand <strong>der</strong><br />

Provenienze<strong>in</strong>träge steht noch aus.<br />

Die Sammlung IKG stellt sich uns heute nicht<br />

als Ergebnis e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>deutig erkennbaren, <strong>in</strong>haltlich<br />

bestimmten Sammlungswillens dar,<br />

son<strong>der</strong>n als Anhäufung von Fragmenten verschiedenster<br />

Schriftensammlungen, die zwar<br />

manche thematischen Schwerpunkte erkennen<br />

lassen, aber <strong>in</strong>sgesamt e<strong>in</strong> höchst heterogenes<br />

Gebilde ergeben, das letztlich dem räuberischen<br />

Impetus <strong>der</strong> Nazis geschuldet ist. Es<br />

werden auch nach noch so gründlichen Recherchen<br />

niemals sämtliche Geheimnisse und<br />

Rätsel dieser Schriftensammlung gelüftet werden<br />

können.<br />

Die Sammlung IKG umfasst heute Schriften <strong>in</strong><br />

28 Sprachen: Altsyrisch, Aramäisch/Chaldäisch,<br />

Bulgarisch, Dänisch, Deutsch, Englisch, Esperanto,<br />

F<strong>in</strong>nisch, Französisch, Griechisch (alt<br />

und neu), Hebräisch (alt und neu), Italienisch,<br />

Jiddisch, Late<strong>in</strong>isch, Lettisch, Nie<strong>der</strong>ländisch,<br />

Norwegisch, Polnisch, Portugiesisch, Rumänisch,<br />

Russisch, Schwedisch, Serbokroatisch,<br />

Tschechisch, Ungarisch und Ukra<strong>in</strong>isch.<br />

Anhand von Datumse<strong>in</strong>trägen lassen sich viele<br />

Bände auch nach ihrer zeitlichen Herkunft<br />

e<strong>in</strong>ordnen. Die Angaben <strong>in</strong> den Büchern<br />

beziehen sich auf den Zeitraum von 1648 bis<br />

1944, am häufigsten s<strong>in</strong>d Bücher aus den<br />

Jahren 1860 bis 1940 vertreten, was auch<br />

durch die Ersche<strong>in</strong>ungsdaten <strong>der</strong> katalo gi sierten<br />

Schriften belegbar ist.<br />

E<strong>in</strong>e Beson<strong>der</strong>heit stellen die Schriften dar,<br />

die dem Stürmer von se<strong>in</strong>en Lesern und<br />

Freunden zugesandt worden s<strong>in</strong>d. Unter diesen<br />

wie<strong>der</strong>um lassen sich auch geraubte Bücher<br />

nachweisen:<br />

„Dieses Buch fand ich am 8/VI 44 an <strong>der</strong> Adria,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abseits gelegenen Hause. Nachdem ich<br />

es mehreremale durchblättert habe, fand ich es<br />

als e<strong>in</strong> lehrreiches, von Juden nie<strong>der</strong>geschriebenes<br />

Werk, und stelle es dem Stürmer zur Verfügung.<br />

Zur Zeit im Felde, F. P. Nr. 05011 am<br />

26//X 1944, He<strong>in</strong>rich Tiefenthaler“ (Schriftzüge<br />

<strong>in</strong>: Moses Mendelssohns sämtliche Werke).<br />

E<strong>in</strong> weiteres Beispiel:<br />

„Dir, liebe Mutter, sei dieses Werk gewidmet zur<br />

Erhebung und Erbauung <strong>in</strong> den sabbatlichen<br />

Mußestunden de<strong>in</strong>es Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong>s von de<strong>in</strong>em<br />

dich liebenden Sohn Sebald. / Marisfeld, Erew<br />

Rosch Haschana Taw Resch Aj<strong>in</strong> Daled (=<br />

5674 = 1913/14), am Tage <strong>der</strong> Beendigung <strong>der</strong><br />

Schiwa für unseren lieben Vater (dt.-hebr.<br />

Schriftzug). Am 20. Elul 5683 Samstag den 1.<br />

September 1923 starb me<strong>in</strong> lieber guter Mann.<br />

Er ruhe <strong>in</strong> Frieden! Bertha Müller “ (E<strong>in</strong>trag <strong>in</strong>:<br />

Bibel- und Talmudschatz. E<strong>in</strong> Buch für die jüdische<br />

Familie).<br />

Der Nürnberger Kantor und Lehrer Sebald<br />

Müller wurde zusammen mit se<strong>in</strong>er Familie<br />

am 29. 11. 1941 nach Riga-Jungfernhof verschleppt<br />

und ermordet. Schriften aus se<strong>in</strong>er<br />

Sammlung konnten vor kurzem se<strong>in</strong>em Sohn<br />

als e<strong>in</strong>zigem Über<strong>leben</strong>den <strong>der</strong> Familie rückerstattet<br />

werden.<br />

Alle Fotos: Stadt Nürnberg<br />

Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 11

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