jüdisches leben in bayern - Landesverband der Israelitischen ...
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Durch den Eisenbahnanschluss Gaukönigshofens<br />
im Jahr 1907 konnten sie ihren bäuerlichen Kunden<br />
nunmehr auch landwirtschaftliche Gerätschaften<br />
wie die berühmten „Massey Harris Mähmasch<strong>in</strong>en“<br />
[Michels S. 628], die sie <strong>in</strong> den USA<br />
kauften und nur noch zusammenmontieren mussten,<br />
anbieten und eroberten somit e<strong>in</strong>e Monopolstellung<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Region.<br />
Die beiden Brü<strong>der</strong>, <strong>der</strong> als weltmännisch geschil<strong>der</strong>te<br />
Vitus, <strong>der</strong> die kaufmännischen Angelegenheiten<br />
betreute, und se<strong>in</strong> eher volkstümlicher<br />
Bru<strong>der</strong> Ignaz, <strong>der</strong> die Kontakte zur bäuerlichen<br />
Kundschaft pflegte, engagierten sich auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
jüdischen und politischen Geme<strong>in</strong>de: Vitus wurde<br />
wegen se<strong>in</strong>es hohen Ansehens von 1912 bis<br />
zur Auswan<strong>der</strong>ung 1930 zum zweiten Kultusvorstand<br />
und Kassier <strong>der</strong> jüdischen Geme<strong>in</strong>de und<br />
1919 neben dem Viehhändler Ensle<strong>in</strong> Weikersheimer<br />
<strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>at gewählt; Ignaz engagiert<br />
sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>defeuerwehr, <strong>in</strong> <strong>der</strong> auch<br />
er bis zur Machtergreifung durch die Nazis das<br />
Amt des Kassiers <strong>in</strong>nehatte.<br />
Entwicklung <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
Aus verschiedenen Gedenkbüchern ersehen<br />
wir, wie <strong>in</strong> den Jahren seit dem Edikt von<br />
1861 auch viele Gaukönigshöfer Juden mit<br />
<strong>der</strong> Freizügigkeit von Berufs- und Wohnsitzwahl<br />
ihren Heimatort verlassen haben und <strong>in</strong><br />
die aufstrebenden Städte des Deutschen Reiches<br />
übersiedelten.<br />
Dies zeigt sich an <strong>der</strong> Bevölkerungsstatistik<br />
von 1786 bis 1942 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abhandlung von Jutta<br />
Sporck-Pfitzer [Würzburg 1988, S. 56/61]<br />
über die ehemaligen jüdischen Geme<strong>in</strong>den im<br />
Landkreis Würzburg: Die jüdische Geme<strong>in</strong>de<br />
wuchs von 73 Personen um 1786 auf 108 im<br />
Jahr 1816, um erst zum Ende des neunzehnten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts langsam aber stetig abzunehmen.<br />
So zählte die Gaukönigshöfer Kehilla<br />
1880 noch 99 Mitglie<strong>der</strong>, um bis 1933 mit<br />
54 Personen fast bis zur Hälfte zurückzugehen.<br />
Es ist wohl e<strong>in</strong> Zeichen <strong>der</strong> engen Vertrautheit<br />
von christlichen und jüdischen E<strong>in</strong>wohnern,<br />
dass nur 22 Gaukönigshöfer Juden<br />
Das Kleemann-Sefer <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lloyd Street Schul <strong>in</strong> Baltimore.<br />
rechtzeitig den Ort verließen und so viele bis<br />
zum traurigen Ende <strong>in</strong> ihrem Heimatort verblieben.<br />
So wurde etwas Gutes letztlich zu e<strong>in</strong>em<br />
Todesurteil: Die Liebe zur Heimat und<br />
das Vertrauen <strong>in</strong> den Staat. Insgesamt wurden<br />
nach <strong>der</strong> Aufstellung von alemannia.judaica<br />
im Internet 49 <strong>in</strong> Gaukönigshofen gebürtige<br />
o<strong>der</strong>/und wohnhafte jüdische Bürger Opfer<br />
<strong>der</strong> Schoa.<br />
Wenn sich an den Zerstörungen <strong>der</strong> Pogromnacht<br />
im November 1938 auch Gaukönigshöfer<br />
„Christen“ beteiligten, so demolierten<br />
wohl hauptsächlich Ochsenfurter SA- und SS-<br />
Männer die Synagoge und jüdische Wohnhäuser.<br />
Die bedeutende Viehhandelscompanie<br />
<strong>der</strong> Weikersheimers musste ebenso schließen<br />
wie die Manufakturwarenhandlung des Louis<br />
Kleemann und die kle<strong>in</strong>en Gemischwarenläden<br />
von Sali Grünebaum, Julius Katz und<br />
Leopold Vorchheimer, sowie <strong>der</strong> Kolonialwarenladen<br />
des Josef Thalheimer.<br />
Das Ende<br />
Am 21. März 1942 werden 25 Gaukönigshöfer<br />
Juden mit dem Zug nach Kitz<strong>in</strong>gen gebracht,<br />
von wo sie drei Tage später, nachdem ihnen<br />
noch e<strong>in</strong> Großteil ihres Reisegepäcks abgenommen<br />
wurde, zusammen mit 208 an<strong>der</strong>en<br />
fränkischen Juden aus <strong>der</strong> Region nach Izbica<br />
bei Lubl<strong>in</strong> deportiert werden. Außer <strong>der</strong> Postkarte<br />
des Just<strong>in</strong> Thalheimer, die doch auf e<strong>in</strong>e<br />
mögliche postalische Verb<strong>in</strong>dung nach dem<br />
Abtransport schließen lässt, gab es ke<strong>in</strong>e weiteren<br />
Spuren über das Schicksal <strong>der</strong> Juden aus<br />
Gaukönigshofen.<br />
Das „Klimensifer“<br />
Als ich <strong>in</strong> den Neunzigerjahren des letzten<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts öfters auf me<strong>in</strong>en Reisen <strong>in</strong> den<br />
USA auch Freunde <strong>in</strong> Baltimore und das dortige<br />
jüdische Museum und Archiv besuchte,<br />
gab mir e<strong>in</strong>e nette Dame <strong>der</strong> Archivverwaltung<br />
e<strong>in</strong>en H<strong>in</strong>weis auf das „Klimensifer“. Ich<br />
stand etwas verwirrt da und konnte mit dem<br />
Wort nichts anfangen. Die Dame g<strong>in</strong>g mit mir<br />
<strong>in</strong> die benachbarte „Lloyd Street Schul“, e<strong>in</strong>e<br />
<strong>der</strong> ältesten Synagogen <strong>in</strong> den USA, und zeigte<br />
mir voller Stolz e<strong>in</strong>e Torarolle: das „Klimensifer“.<br />
– Der Gaukönigshöfer Louis Kleemann<br />
hatte das Sefer bei <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung<br />
mitgenommen und es <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Heimat<br />
<strong>der</strong> Lloyd Street Shul geschenkt, wo es heute<br />
zu Anschauungszwecken dient, da es nicht<br />
mehr koscher ist und im Gottesdienst ke<strong>in</strong>e<br />
Verwendung mehr f<strong>in</strong>det.<br />
In Gaukönigshofen er<strong>in</strong>nert noch die zur Gedenkstätte<br />
umgebaute Synagoge, die Mikwe<br />
und das Schulhaus an die ehemalige Geme<strong>in</strong>de,<br />
an manchen Privathäusern lassen sich<br />
noch die Vertiefungen für die Mesusot <strong>in</strong> den<br />
Türstöcken erkennen und am Beispiel des<br />
„Kleemann – Sefer“ im fernen Baltimore wird<br />
jungen Juden Jiddischkeit erklärt.<br />
AM ISRAEL CHAI!<br />
Fußnoten:<br />
1 Michel, Thomas: Die Juden <strong>in</strong> Gaukönigshofen/<br />
Unterfranken [1550 – 1942] – Beiträge zur Wirtschafts-<br />
und Sozialgeschichte, Wiesbaden 1988,<br />
ISBN 3-515-05318-2.<br />
2 Liedel, Herbert/Dollhopf, Helmut: Jerusalem<br />
lag <strong>in</strong> Franken – Synagogen und jüdische Friedhöfe.<br />
Text: Rudolf Maria Bergmann, Würzburg<br />
2006, S. 54/59.<br />
3 Siehe auch: Synagogenarchiv Kitz<strong>in</strong>gen: Korrespondenz<br />
Distriktsrabb<strong>in</strong>er Imanuel Adler von<br />
1868 bis 1910, Rabb<strong>in</strong>at Kitz<strong>in</strong>gen [Auswahl<br />
Gaukönigshofen], <strong>in</strong>: Michael Schneeberger:<br />
F<strong>in</strong>dbuch G-A-G (Gaukönigshofen-Acholshausen-Gossmannsdorf),<br />
Würzburg 2013, Hoenle<strong>in</strong>-<br />
Projekt.<br />
4 Leo-Baeck-Institut, New York: Stern Collection:<br />
Magnus We<strong>in</strong>berg: Friedhofsregister Allersheim,<br />
Würzburg 1938 [Michael Schneeberger: E<strong>in</strong>zelliste<br />
Gaukönigshofen].<br />
5 Schaliach Zippur [hebr.] = Abgesandter <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de,<br />
d.h. Vorbeter; More Zedek [hebr.] =<br />
gerechter Lehrer [unterer Rang <strong>in</strong> <strong>der</strong> rabb<strong>in</strong>ischen<br />
Ausbildung].<br />
6 Michael Schneeberger: Familiendokumentation<br />
Bravmann/Unteraltertheim, Würzburg/New York<br />
2011.<br />
7 Siehe auch: Oskar Höfner: Kartei <strong>der</strong> jüdischen<br />
E<strong>in</strong>wohner, Gaukönigshofen 1987.<br />
8 Siehe auch: Dirk Rosenstock: Die unterfränkischen<br />
Judenmatrikeln von 1817, Würzburg 2008,<br />
S. 231.<br />
9 Joseph Prys: Die Familie von Hirsch auf Gereuth<br />
– erste quellenmäßige Darstellung ihrer<br />
Geschichte, München 1931.<br />
10 Erika Bosl: Die Familie von Hirsch auf Gereuth<br />
im 18. und 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>in</strong>: Treml/Weigand/<br />
Brockhoff: Geschichte und Kultur <strong>der</strong> Juden <strong>in</strong><br />
Bayern – Lebensläufe, München 1988.<br />
11 Michael Schneeberger: Stammbaum von Hirsch<br />
auf Gereuth/Gaukönigshofen, Würzburg 2012<br />
[Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />
12 Salomon W<strong>in</strong><strong>in</strong>ger: Große Jüdische National-<br />
Biographie, Cernauti 1928, S. 117/118.<br />
13 Behr, Hartwig/Rupp, Horst F.: Vom Leben und<br />
Sterben – Juden <strong>in</strong> Cregl<strong>in</strong>gen, Würzburg 1999,<br />
S. 50/53.<br />
14 Ihr Enkel Herbert Mai ist e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wenigen<br />
Über<strong>leben</strong>den von Riga-Jungfernhof und lebt<br />
heute <strong>in</strong> Kew Gardens, NY.<br />
15 Menk, Lars: A Dictionary of German-Jewish<br />
Surnames, Bergenfield, NJ [Avotaynu], p. 728.<br />
16 Schneeberger, Michael: Stammbaum Thalheimer/Gaukönigshofen,<br />
Würzburg 2011 [Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />
17 Strätz, Re<strong>in</strong>er: Biographisches Handbuch Würzburger<br />
Juden 1900–1945, Würzburg 1989, S. 226.<br />
18 Schneeberger, Michael: Family Tree of the levitic<br />
Weikersheimer Family from Königshofen im<br />
Gau, Würzburg 2011 [Hoenle<strong>in</strong>-Projekt].<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 31